1. Kapitel
Das Telefon klingelte fünf Minuten vor dem Wecker.
Kriminalhauptkommissarin Heike Stein tastete schlaftrunken nach dem
Mobiltelefon auf ihrem Nachtschränkchen.
»Hallo ...?«
»Hier ist Ben. Guten Morgen.«
Heike fuhr sich mit der linken Hand durch ihre strohblonde
Kurzhaarfrisur, während sie mit der Rechten das Telefon an ihr Ohr
hielt.
Ben, das war Benjamin Wilken, ihr Kollege und Dienstpartner bei der
Kriminalpolizei Hamburg.
»So gut wird der Morgen nicht sein, wenn du mich schon so früh aus
dem Bett scheuchst.«
»Das stimmt leider, Heike. Wir haben eine Leiche. Der Fund wurde
soeben gemeldet. Soll ich dich abholen?«
»Kommt drauf an.« Heike rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Wo ist
denn der Tatort?«
»Im Stadtpark. In der Nähe von der Brunnenhalle.«
»Nein, da fahre ich selbst hin. Ist ja nur ein Katzensprung von
hier.«
»Wie du willst. Wir sehen uns dann am Tatort. Ciao.«
Kriminalhauptkommissar Ben Wilken beendete das Gespräch. Auch Heike
deaktivierte ihr Telefon wieder. Sie schwang ihre langen, wohl
geformten Beine aus dem Bett.
Missgelaunt tappte sie auf nackten Fußsohlen ins Bad. Natürlich war
ein unnatürlicher Tod immer eine schreckliche Sache. Obwohl sie nun
schon zwei Jahre bei der Mord-Sonderkommission des
Landeskriminalamtes Hamburg Dienst tat, ließ sie der Anblick eines
getöteten Menschen immer noch nicht kalt. Und das war auch gut so,
wie sie fand. Schließlich war sie kein Automat, keine
Verbrechensbekämpfungsmaschine!
Als sie die ersten heißen Wasserstrahlen der Dusche auf ihrem
Körper spürte, erwachten die Lebensgeister allmählich.
In Windeseile hatte Heike sich fertig geduscht, frottiert und
angezogen. Obwohl sie normalerweise viel Wert auf ihr Styling
legte, kleidete sie sich an diesem Morgen einfach und sportlich.
Eine Jeans, ein Pulli und ein Tweed-Jackett. Auf Make-up
verzichtete sie größtenteils. Schließlich war sie in
Eile.
Bevor Heike ihre Wohnung in der Isestraße verließ, schob sie noch
das Clipholster mit ihrer Dienstwaffe in den Jeansgürtel.
Eine Minute später schwang sie sich auf ihr Mountainbike und trat
in die Pedale. Heike besaß keinen Privat-PKW. Sie trug ihr Gehalt
lieber in die Boutiquen als in die Auto-Reparaturwerkstätten.
Außerdem sah sie einen fahrbaren Untersatz für sich selbst als
reine Geldverschwendung an.
Im Dienst konnte sie ohnehin auf den Fuhrpark des
Landeskriminalamtes zurückgreifen. Oder sie nahm die U-Bahn, denn
die Haltestelle Eppendorfer Baum hatte sie beinahe vor der Haustür.
Schlimmstenfalls konnte sie immer noch ein Taxi benutzen.
Heike kam gut voran. Die richtige Rushhour hatte noch nicht
angefangen. Sie fuhr durch die Maria-Louisen-Straße, überquerte die
Barmbeker Straße und bog rechts in den Grasweg ein. Hier begann
schon der Stadtpark.
Sie musste nicht lange suchen.
Zwei Einsatzfahrzeuge parkten mit rotierendem Blaulicht.
Uniformierte Kollegen hatten das Gelände weiträumig abgesperrt. Die
Technische Abteilung packte bereits ihre Ausrüstung aus dem
VW-Transporter.
Heike warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sechs Uhr neunzehn.
Keine schlechte Leistung, wenn man bedachte, dass Ben sie erst um
fünf Uhr fünfundfünfzig aus süßem Schlaf geklingelt hatte
...
Wenn man vom Teufel spricht, dachte die Kommissarin. Ben kam in
einem zivilen Dienstwagen aus Richtung Norden angerollt. Heikes
Kollege lebte mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in einem
Reihenhaus in Ahrensburg, nördlich von Hamburg.
Heike bremste und warf ihr Fahrrad achtlos ins Gras. Es würde wohl
kaum jemand die Nerven haben, es unter den Augen der wachsamen
Streifenwagenbesatzungen zu klauen. Ben stieg aus. Die beiden
Kriminalbeamten eilten aus verschiedenen Richtungen auf die
Fundstelle der Leiche zu. Beide präsentierten ihre Dienstausweise.
Sie konnten nicht verlangen, dass jeder uniformierte Polizist sie
persönlich als Kollegen in Zivil erkannte.
Ben begrüßte Heike per Handschlag. Er war ein hoch gewachsener und
gut aussehender Mann Anfang dreißig. An diesem Morgen trug er beige
Chinos, ein lachsfarbenes Flanellhemd und eine
Wildlederjacke.
Heike verstand sich gut mit ihm, aber sie waren »nur« befreundete
Kollegen. Es gab böse Zungen im Präsidium, die sie als das
»Traumpaar vom LKA« (Landeskriminalamt) bezeichneten. Aber dahinter
steckte Neid oder Eifersucht, wie Heike vermutete. Der eine oder
andere Kollege hätte vielleicht gerne mit ihr Dienst geschoben. Und
so manche Kollegin hätte gerne an Heikes Stelle neben Ben im
Einsatzfahrzeug gesessen.
Getratscht wurde eben überall, wo mehr als zwei Leute zusammen
arbeiteten ...
»Morgen, Heike«, begrüßte Ben sie. »Es sieht so aus, als ob wir den
Fall kriegen. Da dachte ich, wir schauen uns gleich mal an, was
Sache ist.«
Heike nickte.
»Ich würde gerne die Leiche sehen.«
Bringen wir es hinter uns, fügte sie in Gedanken hinzu. Ein
uniformierter Kollege kam zu ihnen – wie ein Schauspieler, der auf
sein Stichwort gewartet hat.
»Ich bin Obermeister Hoffmann vom Neunten«, stellte er sich vor.
»Wir waren gerade auf Streife, als uns ein Jogger anhielt. Er
meldete einen Leichenfund.«
»Wo war das?« Heike zückte ihr Notizbuch.
»Am Jahnring, Frau Hauptkommissarin. Wir haben den Zeugen ins Auto
geladen und sind zu der Fundstelle gefahren. Kann nicht länger als
eine Minute gedauert haben.«
Heike nickte. Sie war mit der Geographie des Stadtparks in etwa
vertraut. Der Jahnring war eine große Durchgangsstraße nördlich des
Parkgeländes. Der Park selbst wurde von der Hindenburgstraße
sozusagen in zwei Hälften geteilt. Und in der linken Hälfte war die
Leiche gefunden worden.
Der Uniformierte machte eine auffordernde Handbewegung. Er führte
sie zu einem Gebüsch, wo sich die Technische Abteilung bereits
nützlich machte. In grellem Flutlicht wurden Fotos geschossen, die
Männer sicherten Spuren und nahmen Proben.
Inmitten der emsig tätigen Spezialisten lag der bleiche Körper
einer jungen Frau. Zu Lebzeiten musste die Tote eine Schönheit
gewesen sein. Langes dunkles Haar wallte auf ihre Schultern. Der
erstarrte Blick drückte grenzenloses Erstaunen aus.
Bekleidet war die Tote mit einem Regenmantel, einem knielangen
taillierten Kleid sowie halbhohen Pumps.
»Sexualdelikt?«, fragte Heike mit aller Ruhe, zu der sie bei dieser
Frage fähig war.
Obermeister Hoffmann zuckte mit den Schultern.
»Das sollen die Ärzte entscheiden. Aber wenn Sie mich fragen
...«
»Ich frage Sie!«
»Welcher Sexverbrecher würde ihr denn nach der Tat ordentlich die
Unterwäsche wieder hochziehen? Noch nicht einmal ihre Strumpfhose
ist kaputt oder heruntergerissen.«
Das stimmte natürlich. Heike ärgerte sich darüber, dass ihr so
etwas Offensichtliches nicht selbst aufgefallen war.
»Vielleicht hat der Kerl versucht, sich an ihr zu vergehen«,
mutmaßte Ben. »Und als sie sich gewehrt hat, da fielen die
Schüsse.«
Er deutete auf die Einschussstelle unmittelbar unter dem
Herzen.
»Hat der Zeuge die Schüsse gehört?«, fragte Heike.
Der Uniformierte schüttelte den Kopf.
»Der hat gar nichts gehört. Er hat sie gesehen, als er die
Hindenburgstraße überquert hat. Unter dem Gebüsch dort. Ihr heller
Regenmantel ist ihm aufgefallen.«
»Diesen Zeugen können wir uns auch später noch zur Brust nehmen«,
meinte Ben. Er blickte auf. »Da kommt ja Dr. Lehmann.«
Der Dienst habende Pathologe kletterte aus seinem privaten uralten
VW Käfer, nahm sein Köfferchen und eilte tatendurstig auf die
Leiche zu.
»Wir werden natürlich erst bei der Obduktion in der Gerichtsmedizin
genaue Ergebnisse vorlegen können«, sagte der Pathologe. »Aber
einen kleinen Überblick kann ich Ihnen schon jetzt geben. Wenn Sie
sich etwas gedulden wollen ...«
»Sicher.«
Heike und Ben traten beiseite, um Dr. Lehmann seine Arbeit tun zu
lassen. Auch die Technische Abteilung machte unverdrossen
weiter.
Heike schaute auf die Sonne, die vor nicht allzu langer Zeit über
den Bäumen des Stadtparks aufgegangen war. Ein schöner Morgen. Viel
zu schön zum Sterben.
Einer der mit weißen Overalls bekleideten Techniker kam auf sie
zu.
»Ist das Ihr Fall?«
»Bis jetzt sieht es so aus.«
»Dann wird Sie das hier interessieren.«
Wie ein Zauberkünstler zog er eine Damen-Schultertasche
hervor.
»Die hat im Gebüsch gelegen. Ich wette, sie gehörte der Toten. Wenn
Sie sich Einweg-Handschuhe anziehen und vorsichtig sind, dürfen Sie
mal drin stöbern. Wir brauchen die Tasche aber für die
kriminaltechnische Untersuchung zurück.«
»Versteht sich.«
Genau wie Ben hatte Heike stets Latex-Einweghandschuhe bei sich.
Man wusste schließlich nie, was man während eines langen
Diensttages untersuchen musste.
Die beiden Kriminalbeamten zogen Handschuhe an. Dann hielt Ben die
Umhängetasche auf, während Heike vorsichtig den Inhalt
checkte.
»Typisches Frauen-Kuddelmuddel, Ben. Lippenstift, Puderdose,
Kopfschmerztabletten, Reserve-Tampons ... ah! Das könnte eine
Brieftasche sein.«
Und so war es auch. Das Behältnis bestand aus Kunstleder. Heike
blätterte darin herum.
»Unsere unbekannte Leiche hat jetzt einen Namen. Sie heißt Julia
Marie Sander, geboren am 3. September 1982 in Göttingen. Nicht in
Hamburg gemeldet.«
»Wenn das die Innenbehörde erfährt!«
»Deine Witze waren auch schon mal besser, mein Lieber. Jedenfalls
besaß Julia Sander einen Ausweis für ein Hamburger Fitnessstudio,
noch gültig bis Ende nächsten Jahres. Sie war auch mal bei Burger
King, jedenfalls ist hier eine Quittung von dem Laden. Dann ihre
Chipcard von der Krankenkasse, ihre EC-Karte, Monatskarte vom HVV
(Hamburger Verkehrsverbund), Kreditkarte ... und achtzig Euro und
50 Cent in bar.«
»Klingt nicht nach einem Raubmord.«
»Absolut nicht. Und ein Sexualdelikt liegt wohl auch nicht
vor.«
Glücklicherweise, fügte sie in Gedanken hinzu. Dadurch wurde Julia
Sanders zwar nicht wieder lebendig, aber wenigstens war ihr eine
solche Tat erspart geblieben. So sah jedenfalls Heike die
Dinge.
»Willst du einen Kaffee?«
Bens Frage kam überraschend, aber Heike stimmte begeistert zu. Den
konnte sie jetzt wirklich brauchen. Sie gaben die Handtasche an die
Technische Abteilung zurück. Wenn alles ausgewertet war, würden sie
sowieso den Inhalt auf ihre Schreibtische im Präsidium
bekommen.
Der Hauptkommissar holte eine Thermosflasche aus dem Auto und gab
Heike einen Plastikbecher. Gleich darauf füllte er ihn mit der
dampfenden, aromatischen Flüssigkeit.
»Mmmh, der ist gut«, meinte Heike nach dem ersten Schluck. »Du
denkst aber auch an alles, zu so früher Stunde.«
»Ehrlich gesagt hat Maja ihn gekocht, während ich mich geduscht und
rasiert habe.«
Maja, das war Bens Frau. Heike kannte sie persönlich und fand sie
äußerst sympathisch. Nicht nur deshalb hätte die Kommissarin
niemals eine Affäre mit ihrem Kollegen angefangen. Was Männer
anging, hatte sie einen eisernen Grundsatz: Verheiratete und Männer
mit fester Freundin waren tabu. Das war für Heike eine Frage der
Selbstachtung. Sie wollte keine Familie zerstören.
Außerdem hatten ja auch noch andere Mütter schöne Söhne. Und da
Heike sich nicht gerade im Kohlenkeller verstecken musste, mangelte
es ihr eigentlich nie an Verehrern ...
Die Vögel zwitscherten an diesem Morgen besonders laut. Aber
vielleicht kam es der Kommissarin auch nur so vor. Oder die Tiere
waren empört, weil sie durch das grelle Flutlicht in ihrer Ruhe
gestört wurden.
Eine halbe Stunde später kam Dr. Lehmann zu ihnen.
»Kriminalbeamter müsste man sein«, meckerte er. »Dann könnte man
Kaffee trinken und würde noch dafür bezahlt.«
»Ich schiebe 53 unbezahlte Überstunden vor mir her«, entgegnete
Heike trocken. »Was haben Sie denn zu bieten, Doktor?«
»Nicht viel«, behauptete der Pathologe und zückte seine speckige
Kladde. »Die Tote ist Mitte zwanzig. Der Tod trat durch einen
Schuss aus einer Feuerwaffe ein, vermutlich Pistole oder Revolver.
Das Projektil wurde noch nicht gefunden. Offenbar war nur ein
einziger Schuss notwendig, um die tödliche Wirkung eintreten zu
lassen.«
»Hat ein Kampf stattgefunden?«, fragte Ben.
»Sie meinen, ob das Opfer mit dem Täter gerungen hat? Dafür spricht
nichts. Keine Quetschungen an den Extremitäten, keine Kratzwunden
oder ähnliches. Allerdings ist der Fundort wohl nicht der Tatort.
Die Kollegen von der Technischen meinten, das Opfer sei hierher
geschleift worden. Vermutlich, nachdem der Tod eingetreten
ist.«
Heike spitzte die Lippen. Nun wurde es interessant.
»Können Sie in etwa sagen, wann die Frau erschossen wurde, Dr.
Lehmann?«
»Ohne Laboranalyse ..., über den Daumen gepeilt gestern Nachmittag
zwischen sechzehn und achtzehn Uhr.«
»Das war am helllichten Tag!«, rief Ben. »Eine Frau wird am
helllichten Tag mitten im Stadtpark niedergeschossen – und keiner
soll es bemerkt haben?«
Der Pathologe zog ein Gesicht, als ob der Kriminalist ihn
persönlich beleidigt hätte.
»Für Schlussfolgerungen sind Sie zuständig, Herr Wilken! Ich halte
mich an die Tatsachen. – Sie bekommen dann den schriftlichen
Obduktionsbericht so schnell wie möglich!«
Dr. Lehmann rauschte davon wie eine eingeschnappte
Operndiva.
»Du weißt doch, wie empfindlich er ist«, tadelte Heike.
»Kann sein – aber soll ich deswegen etwas völlig Unmögliches
glauben?«
»Wir brauchen einfach mehr Fakten, Partner. Mal sehen, ob ich uns
welche beschaffen kann.«
Mit diesen Worten ging Heike zu Kommissar Paul Sommer hinüber. Der
grauhaarige Kriminaltechniker leitete das
Spurensicherungsteam.
»Wie lange braucht ihr noch, Paul?«
»Schwer zu sagen, Heike. Meine Jungs haben eine Spur gefunden. Es
scheint so, dass die Frau da hinten irgendwo ermordet
wurde.«
Er fuchtelte mit der rechten Hand Richtung Nordwesten.
»›Da hinten irgendwo‹ ist mir zu vage.«
»Wir sind ja auch noch nicht fertig, Heike. Weißt du was? Es macht
mich nur nervös, wenn ihr uns bei der Arbeit ständig auf die Finger
guckt. Ihr kriegt die Ergebnisse so schnell wie möglich.«
»Kannst du uns denn jetzt schon was Bestimmtes sagen?«
Der Kriminaltechniker überlegte kurz.
»Ja. Der Fundort ist definitiv nicht der Tatort. Die Frau wurde
nicht hier im Gebüsch erschossen. Außerdem haben wir Abdrücke von
Sportschuhen gefunden, die dem Täter gehören können.«
»Die Leiche wurde von einem Jogger gefunden«, wandte Heike
ein.
»Weiß ich. Aber dessen Fußabdrücke sehen anders aus. Wenn ich mit
meiner Vermutung Recht habe, müsst ihr nach einem Mörder mit
Schuhgröße 44 fahnden.«
Wie viele Männer mit dieser Schuhgröße es allein in Hamburg wohl
gab? Doch Heike verkniff sich eine ironische Bemerkung. Paul und
seine Leute gaben ihr Bestes. Da wäre es nur schäbig gewesen, sich
über sie lustig zu machen. Wenn Heike das getan hätte, wäre sie
nicht besser gewesen als die Leute, die ihr und Ben eine heiße
Liebesaffäre andichteten ...
»Danke, Paul«, sagte Heike mit einem freundlichen Lächeln. »Wenn
wir euch sowieso nur im Weg herumstehen, fahren wir schon mal ins
Präsidium.«
Der Leiter des Spurensicherungsteams versuchte nicht, seine
Erleichterung zu verbergen. Heike nahm nun doch Bens Mitfahrangebot
an. Sie schob ihr Mountainbike einfach hinten in den Kombi ihres
Kollegen. Nachdem sie sich auf den Beifahrersitz gepflanzt hatte,
startete Ben den Wagen.
Ich verstehe nicht, wie jemand am helllichten Tag im Stadtpark
abgeknallt werden kann, ohne dass jemand es bemerkt«, brummte
er.
»Schalldämpfer«, sagte Heike spontan.
Ben lachte lauthals. Die Hauptkommissarin bedachte ihn mit einem
Unheil verkündenden Seitenblick. Sie konnte es nicht leiden, wenn
man sie auslachte.
»Entschuldige, Heike – aber das hier ist kein James-Bond-Film! Wie
lange bist du jetzt bei der Sonderkommission Mord?«
»Zwei Jahre, wieso?«
»Ist dir in dieser Zeit auch nur ein einziger Fall untergekommen,
wo eine schallgedämpfte Schusswaffe benutzt wurde?«
»Nein, aber ...«
»Wir sind hier nicht in Chicago, Heike. Schalldämpferwaffen, das
ist etwas für Profis. Warum sollte ein Berufskiller am helllichten
Tag im Stadtpark auftreten? Ich tippe eher auf einen
Geisteskranken, der wahllos um sich geschossen hat.«
Heike war anderer Meinung. Aber sie hielt einstweilen den Mund.
Vorerst konnten sie ohnehin nur die Ergebnisse der Technischen
Untersuchung abwarten. Der Obduktionsbefund von Dr. Lehmann würde
frühestens am nächsten Tag folgen.
Und dann stand natürlich noch die Morgenbesprechung der Abteilung
auf dem Plan ...
Ben lenkte seinen Wagen auf das Gelände des neuen
Polizeipräsidiums. Hier befanden sich auch eine Kaserne der
Bereitschaftspolizei sowie die Landespolizeischule. Ironischerweise
war auch das Präsidium weniger als zwei Kilometer vom Tatort
entfernt. Es war, als ob der Täter durch seine Untat nicht nur
Heike, sondern auch die Hamburger Polizei allgemein herausfordern
wollte.
Aber solche Gedanken waren Unsinn! Oder? Heike machte sich
jedenfalls eine Notiz in ihrem Unterbewusstsein.
Heike und Ben stiegen aus dem Auto und betraten das Präsidium,
nachdem sie sich legitimiert hatten. Die beiden Kriminalbeamten
teilten sich ein Großraumbüro mit den übrigen Mitgliedern der
Sonderkommission Mord. Sie alle bearbeiteten auch andere
Gewaltverbrechen, wenn nicht gerade ein Tötungsdelikt
anlag.
Heike mochte die Atmosphäre im neuen Präsidium, das inzwischen
allerdings gar nicht mehr so neu war.
Immerhin roch es noch nach frisch ausgepackten Computerbildschirmen
und ebenso frisch gebrühtem Automatenkaffee. Ihr gefielen auch die
vielen Grünpflanzen, die als Raumteiler in dem riesigen Büroraum
dienten. Dadurch entstand eine – wenn auch gebändigte –
Dschungelstimmung.
Die Zeit verging mit einigen Routinearbeiten, bis um zehn Uhr die
morgendliche Einsatzbesprechung stattfand. Hierfür versammelten
sich Heike und Ben zusammen mit den anderen Kollegen in einem
kleineren Raum, dessen Einrichtung aus einem lang gestreckten
Tisch, Stühlen und einem Overheadprojektor bestand.
Um Punkt zehn Uhr kam Kriminaloberrat Dr. Clemens Magnussen
hereingeschneit. Der Leiter der Sonderkommission Mord war ein
schmaler Mann mit hellen Augen und einem sorgfältig gebürsteten
Schnurrbart. Seine besondere Eigenart bestand in seiner
Tabakspfeife, die er praktisch ständig im Mund hatte.
Doch im Gegensatz zu Sherlock Holmes, dem Urvater aller
Kriminalisten, war Dr. Magnussen Nichtraucher. Er stopfte niemals
Tabak in seine Pfeife. Dr. Magnussen ließ sich gerne mit Pfeife
fotografieren. Und natürlich musste sie auch dabei sein, wenn er
gelegentlich im Fernsehen auftrat. Der Kriminaloberrat war der
Meinung, dass seine unauffällige Erscheinung durch die Pfeife etwas
Unverwechselbares bekäme.
Da konnte Heike ihm nur zustimmen. Ohne sein Maskottchen wäre Dr.
Magnussen ein Mann gewesen, an den man sich schwerlich
erinnerte.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren!«
Mit diesen Worten nahm der Kriminaloberrat an der Stirnseite des
Tisches Platz. Sofort breitete er diverse Schnellhefter und Faxe
aus, die er unter dem Arm bei sich geführt hatte.
»Frau Stein und Herr Wilken, was können Sie uns über das neueste
Tötungsdelikt im Stadtpark sagen?«
Heike und Ben gaben die bisher bekannten Fakten wieder. Dr.
Magnussen zog die Stirn kraus.
»Demnach gibt es also für die Tat selbst keine Zeugen?«
»Bisher haben sich jedenfalls keine von sich aus gemeldet«, sagte
Ben. »Aber wenn wir einen Aufruf über die Medien starten
...«
»Das sollten wir auf jeden Fall tun. – Frau Stein, Sie kümmern sich
um die Hintergründe des Opfers. Vielleicht gab es ja doch ein
Motiv, diese Julia Sander zu ermorden.«
»Ja, das werde ich tun. Und ein Motiv ist sicher vorhanden, Herr
Kriminaloberrat. Weshalb wurde sie sonst getötet?«
Heikes Vorgesetzter machte eine unbestimmte Handbewegung.
»Ein geisteskranker Mörder sucht sich seine Opfer oftmals wahllos
aus. Wenn man da überhaupt von Aussuchen sprechen kann. Ganz zu
schweigen von einem Serienmörder ...«
Heike konnte ihre Verärgerung nicht länger unterdrücken.
»Bisher deutet überhaupt nichts auf einen Serienmörder hin, Herr
Dr. Magnussen!«
Es kam Heike so vor, als ob auch in der Kriminalistik die Moden
wechselten. So sehr sie bei Kleidern Interesse an und Verständnis
für neue Trends hatte, so sehr störte sie diese Masche in ihrem
Beruf.
Nach Heikes Erfahrung mordeten Mörder nicht, um einer bestimmten
Mode zu folgen. Es gab immer ein Interesse am Tod des Opfers. Das
war vor hundert Jahren nicht anders als heute.
Doch der Kriminaloberrat schien sich aus irgendwelchen Gründen für
einen Serienmörder als Täter zu erwärmen. Ob Ben ihm diesen Floh
ins Ohr gesetzt hatte?
Heike tauschte einen Blick mit ihrem Kollegen. Aber das konnte
eigentlich nicht sein. Schließlich war Ben immer in ihrem Blickfeld
gewesen, seit sie das Präsidium betreten hatten.
»Wir werden jedenfalls in alle Richtungen ermitteln«, verkündete
Heikes und Bens Vorgesetzter. »Solange wir noch kein überzeugendes
Motiv für die Tat haben, kommt auch ein geistesgestörter
Serienmörder in Frage.«
Während Dr. Magnussen sprach, klopfte er im Rhythmus seiner Worte
mit dem Pfeifenkopf auf den Kunststoff des Besprechungstisches. Ein
Takt, der keinen Widerspruch duldete.
Heike beschloss, sich einstweilen zurückzuhalten. Es gab keinen
Grund, jetzt schon einen Zwergenaufstand zu veranstalten. Die junge
Polizistin war sicher, dass sie Gründe dafür finden würde, warum
jemand Julia Sander getötet hatte ...
Der Kriminaloberrat verteilte die Arbeit. Heike und Ben sollten im
unmittelbaren beruflichen und privaten Umfeld des Opfers
recherchieren.
Ihre Kollegen Melanie Russ und Bernd Engel sollten die Parkwächter
befragen, die am Vortag und während der Nacht Dienst
hatten.
»Und Herr Wagner und Herr Koch, Sie nehmen sich die Kartei vor. Ich
möchte wissen, was für Gewaltverbrechen wir in den letzten fünf
Jahren in Hamburger Parkanlagen hatten. Vielleicht ergibt sich ja
ein Verhaltensmuster, in das die jetzige Tat
hineinpasst.«
Kriminalpsychologie für Anfänger, dachte Heike ironisch. Aber bevor
sie ihre freche Zunge nicht mehr im Zaum halten konnte, stürmte sie
lieber hinaus. Man musste den Arbeitstag nicht unbedingt damit
anfangen, sich mit dem Chef in die Haare zu kriegen.
Auf ihrem Schreibtisch erwartete sie bereits eine positive
Überraschung. Die Technische Abteilung hatte ihr die Umhängetasche
des Opfers zukommen lassen. Oder jedenfalls die Dinge, die nicht
näher untersucht werden mussten.
»Eine Mitarbeiter-Rabattkarte von Paris Moderne«, sagte Heike,
während sie die Brieftasche des Opfers genauer als am Morgen unter
die Lupe nahm.
»Was ist das?«, fragte Ben, der ihr gefolgt war. Ihre beiden
Schreibtische waren mit den Frontseiten gegeneinander
geschoben.
»Eine exklusive Boutique im Hanseviertel«, erklärte Heike. Sie
erwähnte nicht, dass sie selbst dort schon ein paar sündhaft teure
Stücke erstanden hatte. Sie wusste schließlich, dass Ben ein
Modemuffel war. Zum Glück hatte seine Frau Maja Geschmack. Sie
kaufte nämlich immer die Kleider für ihn, wie Heike
wusste.
»Mode ... das machst dann wohl besser du, Heike«, sagte Ben
prompt.
Es erstaunte die Kriminalistin überhaupt nicht, diese Antwort von
ihrem Kollegen zu hören. Sie nickte und schaute die Brieftasche
weiter durch.
»Hier ist eine Visitenkarte – Erik Evermann, MBA. Was soll das
sein?«
»Master of Business Administration«, erwiderte Ben, der die fast
unheimliche Fähigkeit zur Entschlüsselung von Abkürzungen besaß.
Dabei schreckte er auch nicht vor Fremdsprachen zurück. »Das ist
ein amerikanischer Universitätsabschluss. Vermutlich hat der gute
Erik auf der anderen Seite des Großen Teichs studiert.«
»Willst du den Typen checken, Ben? Falls er noch ein paar
Abkürzungen drauf hat, beißt er bei dir auf Granit.«
Der Hauptkommissar grinste und steckte die Visitenkarte ein. Heike
hingegen nahm auch das Schlüsselbund von Julia Sander an sich. Ihre
Adresse stand zwar nicht im Personalausweis, aber auf einem
Abholzettel für eine Postsendung. Dieser hatte ebenfalls in der
Umhängetasche gelegen.
»An der Ohlsdorfer Straße hat sie gewohnt«, dachte Heike laut nach.
»Das ist zumindest ein Grund, warum sie den Park durchquert
hat.«
»Verstehe ich nicht.«
»Weil du in Autofahrerkategorien denkst, Ben. Angenommen, sie
wollte zur U-Bahn-Station Borgweg. Wenn man nicht den Stadtpark
durchquert, muss man einen Riesenumweg über die Barmbeker Straße
machen.«
»Oder man steigt an der Station Hudtwalckerstraße ein«, meinte Ben
trocken. »Das reicht mir nicht, um ihre Anwesenheit im Park zu
erklären. – Apropos: Soll ich dich mitnehmen, wenn ich zu diesem
Erik Evermann fahre? Ich könnte dich irgendwo absetzen.«
»Nein, danke. Ich will mir in der U-Bahn alles noch mal durch den
Kopf gehen lassen.«
Ben zuckte mit den Schultern.
»Wie du willst. Wenn es was Wichtiges gibt, können wir uns ja mit
den Handys verständigen. Sonst treffen wir uns im Präsidium
wieder.«
Mit diesen Worten dampfte Ben ab. Heike war froh, für den Moment
alleine zu sein. So gern sie ihren Kollegen auch mochte – oft
konnte sie besser denken, wenn sie sich nicht ständig mit ihm
austauschen musste.
Heike ließ ihr Mountainbike im Präsidium und fuhr mit der U-Bahn
bis zum Gänsemarkt. Dort, zwischen dem Rathaus und dem Alsterufer,
lagen die teuersten Grundstücke Hamburgs.
Vor dem Betreten des Hanseviertels nahm Heike noch schnell ein
Brötchen und einen Kaffee in einem Stehausschank zu sich. Sie
wollte in dem exklusiven Laden nicht durch Magenknurren aus der
Rolle fallen. Und ein Frühstück hatte sie bisher nicht
gehabt.
Es war ungefähr ein halbes Jahr her, seit Heike zum letzten Mal das
Paris Moderne betreten hatte – damals als Kundin. Eine Verkäuferin
kam lächelnd auf sie zu. Wie viele gute Modistinnen hatte sie ein
erstklassiges Personengedächtnis.
»Ich freue mich, dass Ihre Wege Sie wieder zu uns geführt haben.
Wünschen Sie eine Beratung oder ...«
Heike präsentierte sofort ihren Dienstausweis.
»Ich bin heute in amtlicher Eigenschaft hier. Ich möchte die
Besitzerin sprechen.«
Die Verkäuferin wirkte überrascht. So ging es vielen Leuten, wenn
sie erfuhren, dass Heike Polizistin war. Ein Mann hatte einmal
allen Ernstes gesagt, sie sei viel zu hübsch für eine
Ordnungshüterin. Eine Bemerkung, die Heike für ihre Kolleginnen als
ungerecht und gemein empfand.
»Frau Ostendorf wird gleich zu Ihnen kommen. Einen Moment Geduld
bitte.«
Während die Verkäuferin davoneilte, schaute Heike sich die neuesten
Designerteile an. Vermutlich kamen sie wirklich direkt aus
Paris.
Wer so etwas trug, konnte Aufsehen erregen, sogar auf Hamburgs
Flaniermeile Jungfernstieg.
Die Preise ließen Heike allerdings sofort an ihre belastete
Kreditkarte denken. Schnell hängte sie diese traumhafte Bluse
wieder weg.
»Sie wünschen?«
Heike drehte sich um. Trotz ihrer hohen Pumps war Brigitte
Ostendorf fast lautlos herangekommen. Die Geschäftsfrau trug ein
Kostüm, das für die Verhältnisse von Paris Moderne beinahe
unscheinbar wirkte.
Aber Frau Ostendorf war selbst nicht der Modeltyp, auch wenn sie
diese Mode verkaufte. Ihre Hände und Füße waren zu groß, ihre
Gesichtskonturen wirkten fast männlich.
Zweifellos eine harte Geschäftsfrau, sagte sich Heike.
Sie zeigte noch einmal Ihren Dienstausweis.
»Hauptkommissarin Heike Stein von der Kriminalpolizei. Ich muss Sie
bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten.«
»Ach wirklich?« Frau Ostendorf hob ihre Augenbrauen um einen
Zentimeter. Schlagartig klang ihre Stimme unerträglich arrogant.
»Und mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?«
»Sie dürfen«, konterte Heike. Auch sie konnte eiskalt sein, wenn
sie wollte. Und in diesem Moment wollte sie es. »Es hat einen
gewaltsamen Todesfall gegeben. Wir haben Grund zu der Annahme, dass
Sie das Opfer kannten.«
Die coole Fassade der Geschäftsfrau bröckelte. Offenbar hatte die
Boutiquenbesitzerin nicht damit gerechnet, dass es um Mord gehen
könnte.
»K... kommen Sie doch in mein Privatbüro, bitte.«
Es war, als ob Frau Ostendorf bei jedem Schritt, den sie
zurücklegte, kleiner werden würde. Jedenfalls klang sie nicht mehr
so selbstherrlich, als sie in dem kleinen Büroraum erneut den Mund
aufmachte.
»Wer ... wer wurde denn getötet?«
»Das Opfer heißt – oder hieß – Julia Sander. Sie war eine
Mitarbeiterin von Ihnen?«
»Julia ...« So, wie Frau Ostendorf den Namen aussprach, klang er
wie ein Erleichterungsseufzer. Heike wunderte sich nicht über diese
Reaktion. Sie hatte unzählige Male Ähnliches erlebt. Jeder Zeuge
sorgte sich ganz besonders um einen bestimmten Menschen. Den
Ehemann, den Geliebten, das Kind oder die alte Mutter. Wenn dann
herauskam, dass dieser Mensch nicht hatte sterben müssen, war die
Beruhigung natürlich sehr groß.
»Die kleine Julia ist also getötet worden«, stellte Frau Ostendorf
nochmals fest.
»Sie klingen nicht sehr erstaunt.«
Heike hatte sich gegen den Schreibtisch gelehnt und die Arme vor
der Brust verschränkt. Sie blickte Julias Ex-Arbeitgeberin direkt
ins Gesicht. Ob die Osterndorf geliftet worden war? Bei manchen
Menschen konnte man das sehen. Aber die Boutiquenbesitzerin hatte
gewiss genügend Geld, um sich anständig verschönern zu
lassen.
Frau Ostendorf ließ ein geschäftsmäßiges Lächeln sehen.
»Man sollte nichts Schlechtes über Tote sagen, Frau ... äh ...
Hauptkommissarin. Mir selbst hat Julia auch niemals Anlass zur
Klage gegeben. Sie war pünktlich, wurde niemals krank – und vor
allem konnte sie arbeiten! Sie war sich für nichts zu schade. Die
Kundinnen mochten sie. Viele wollten nur von Julia bedient werden.
Sie war meine Erste Verkäuferin.«
»Könnte Neid im Kolleginnenkreis im Spiel gewesen sein?«
»Das glaube ich nicht. Vor allem kann ich mir nicht vorstellen,
dass eine meiner anderen Damen Julia deshalb ermordet haben
soll.«
Heike schaute auf ihre Armbanduhr.
»Es ist gleich halb zwölf. Haben Sie sich noch gar nicht gewundert,
dass Ihre pünktliche Erste Verkäuferin heute zu spät
kommt?«
Die Geschäftsfrau schüttelte den Kopf.
»Nein, denn Julia hat zurzeit Urlaub. Ihr Urlaubsgesuch kam etwas
überraschend, aber wegen ihrer guten Leistungen wollte ich ihr
natürlich keinen Stein in den Weg legen. Zumal momentan auch bei
uns nicht gerade Hauptsaison ist.«
Die Kriminalistin horchte auf.
»Urlaub also ... hat sie gesagt, ob sie wegfahren will? Und wenn
ja, mit wem?«
»Mit irgendeinem Kerl natürlich!«, platzte Frau Ostendorf heraus.
Heike war erstaunt über die heftige Reaktion ihrer sonst so
beherrscht wirkenden Gesprächspartnerin. Doch gleich darauf hatte
die Boutiquenbesitzerin sich wieder in der Gewalt. »Verzeihen Sie
meinen Ausbruch ... ich finde wirklich, über Tote sollte man nichts
Schlechtes sagen.«
»Das kommt darauf an. Wenn diese Aussage dazu führt, dass der
Mörder von Julia Sander gefasst werden kann ... Was wissen Sie,
Frau Ostendorf? Muss ich Sie über die Folgen einer Falschaussage
belehren?«
Frau Ostendorf machte eine unbestimmte Handbewegung.
»Falschaussage, das klingt so dramatisch. Ich will einfach keinen
Ärger, das ist alles.«
»Sagen Sie mir einfach, was Sie wissen.«
Die Geschäftsfrau faltete die Hände vor dem Mund. Offenbar suchte
sie nach den richtigen Worten.
»Julia war ein Flittchen!«, stieß sie schließlich hervor.
»Ein Flittchen?«
»Sie haben richtig gehört, Frau Hauptkommissarin. Ich nehme an, bei
der Polizei sind Sie an direkte Sprache gewöhnt.«
»Ja, das bin ich. Aber könnten Sie bitte näher beschreiben, wie Sie
das meinen?«
»Julia war wirklich eine gute Mitarbeiterin und auch eine beliebte
Kollegin, glaube ich. Die anderen Damen haben ihr ihren beruflichen
Erfolg gegönnt. Aber sie hatte keinen Stil, was Männer
anbelangt.«
»Sie meinen, Sie trieb sich mit primitiven Kerlen herum?«
Die Geschäftsfrau lachte hart.
»Sie trieb sich mit jedem Wesen herum, das sich morgens das Gesicht
rasieren muss.«
»Das klingt heftig.«
»Und doch war es so, Frau Hauptkommissarin! Julia sah gut aus. Sie
konnte jeden Mann haben. Aber auch wirklich jeden. Alter oder
Herkunft spielten dabei keine Rolle. Ich habe sie verwarnt. Ihr
Privatleben muss vor den Türen von Paris Moderne bleiben, habe ich
ihr gesagt. Und daran hat sie sich gehalten.«
»Ich kann kaum glauben, dass jemand in Zeiten von AIDS noch so
lebt.«
»Und doch war es so. Sie hat sich ja oft genug mit ihren
Eroberungen gebrüstet. Außerdem habe ich sie manchmal nach
Feierabend mit den Kerlen um die Häuser ziehen sehen.«
»Gab es nicht vielleicht einen, der aus der Menge herausstach? Ein
fester Freund oder so?«
»Oh doch, den gab es. Ein gewisser Erik. Ich habe ihn einmal
gesehen, als er sie von der Arbeit abholen wollte. Ein hübscher
Junge war das, beste Manieren, gut gekleidet, ein zukünftiger
Gentleman. Er hat mir richtig leid getan.«
»Warum?«
»Da fragen Sie noch?«, entgegnete Frau Ostendorf. »Weil er in ein
Mädchen verliebt war, das jeder andere Kerl auch haben konnte, wenn
er wollte. Ich weiß nicht, ob dieser Erik nichts von Julias
Männergeschichten wusste. Oder es nicht wissen wollte.«
»Hatte Julia vor, mit Erik zu verreisen?«
»Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt verreisen wollte«,
entgegnete die Boutiquenbesitzerin. »Auf jeden Fall hat Julia eine
große Überraschung angekündigt, wenn sie in 14 Tagen aus dem Urlaub
zurückkommt. Und nun ist sie tot.«
Heike schrieb fleißig mit.
»Und worin diese Überraschung bestehen sollte, wussten sie
das?«
»Davon ist mir nichts bekannt. – Darf ich auch etwas fragen, Frau
Hauptkommissarin?«
»Fragen Sie.«
»W... wo ist Julia gestorben? Und ... wie?«, stotterte Frau
Ostendorf.
»Nach dem momentanen Ermittlungsstand«, sagte Heike dienstlich,
»wurde Frau Sander mit einer Faustfeuerwaffe erschossen. Und zwar
im Stadtpark.«
»Und der Täter?«
»Der wird von uns ermittelt. Deshalb bin ich hier, Frau Ostendorf.
Ich will mir ein Bild von dem Opfer machen. Dann wird es viel
leichter, ihren Mörder zu finden.«
Die Boutiquenbesitzerin öffnete den Mund, um zu antworten. Doch in
diesem Moment klingelte Heikes Handy. Die Kriminalistin
entschuldigte sich und aktivierte das Gerät.
»Hier spricht Magnussen!« Die Stimme ihres Vorgesetzten klang
beinahe begeistert. »Fahren Sie bitte sofort zum Trauns Park.
Kennen Sie den?«
»Der liegt in Rothenburgsort, nicht wahr?«
»Genau. Dort hat es vor ungefähr einer Stunde einen weiteren
Mordanschlag gegeben!«