6. Kapitel


»Frau Stein – sofort in mein Büro!«
Schon am Tonfall ihres Chefs hörte Heike am nächsten Morgen, dass ihr Ärger ins Haus stehen würde. Und so war es auch.
Dr. Magnussen warf ihr einen Unheil verkündenden Blick zu.
»Ich habe hier eine offizielle Beschwerde über Sie, Frau Stein.«
»Wirklich, Herr Dr. Magnussen?«
»Ja, mit solchen Dingen treibe ich keine Späße!« Der Kriminaloberrat sah in diesem Moment allerdings auch nicht so aus, als ob er jemals einen Witz machen würde. Sein Schnurrbart sträubte sich förmlich. Er hieb die Zähne in das Mundstück seiner kalten Pfeife. »Sie sind gestern in das Haus der Familie Evermann eingedrungen und haben sich völlig unmöglich benommen!«
Heike zuckte mit den Schultern.
»Ich habe nur versucht, eine ganz normale Zeugenaussage zu bekommen. Das erwies sich als äußerst schwierig. Herr Evermann senior war nicht sehr kooperativ, ehrlich gesagt.«
»Sie haben ihn des Mordes an Julia Sander bezichtigt!«
»So hat er das aufgefasst, Herr Dr. Magnussen. In Wirklichkeit habe ich nur festgestellt, dass er das Opfer kannte und über ihren Tod nicht gerade betrübt war. Das sind simple Tatsachen.«
»Sie wollten auch ein Alibi von ihm!«
»Natürlich. Aber das ist doch Routine, oder? Schließlich kannte er das Opfer. Wenn ich beispielsweise umgebracht werde, wird der Ermittler auch von Ihnen ein Alibi haben wollen, Herr Dr. Magnussen. Weil Sie mich eben auch kennen ...«
Der Kriminaloberrat starrte Heike an. Er schien zu überlegen, ob er ihre Bemerkung als Frechheit oder persönliche Beleidigung verstehen sollte. Aber er wusste im Grunde, dass sie Recht hatte. Dr. Magnussen schlug nun einen versöhnlicheren Ton an.
»Gewiss, Sie haben nur Ihre Pflicht getan, Frau Stein. Vielleicht wissen Sie auch nicht so genau, was für eine Bedeutung der Familie Evermann zukommt.«
»Sie sind offenbar reich und mächtig.«
»Das ist fast noch untertrieben«, seufzte der Kriminaloberrat. »Die Evermanns genießen höchstes Ansehen in unserer Stadt.«
»Aber hier geht es um Mord! Und ich bin überzeugt, dass der Tod von Julia Sander für Evermann senior nicht ungelegen kam. Er konnte sie offenbar nicht leiden und hatte andere Pläne mit seinem Sohn. Eine Heirat zwischen Julia Sander und Erik Evermann war nicht vorgesehen.«
Der Kriminaloberrat seufzte.
»Sie haben sich völlig verrannt, Frau Stein. Daher sehe ich mich gezwungen, Ihnen den Fall zu entziehen.«
»Aber das können Sie nicht machen!«, rief Heike spontan.
»Ich bin Ihr Vorgesetzter!«, sagte Dr. Magnussen kalt. »Und ich bestimme, wie die anfallenden Aufgaben verteilt werden. Sie bearbeiten ab sofort das Tötungsdelikt aus Harvestehude.«
Heike nickte grimmig. In Harvestehude war ein toter Mann in einem Pensionszimmer aufgefunden worden. Er hatte keine Papiere bei sich. Auch sonst nichts, was auf seine Identität hinwies. Er hatte sich unter falschem Namen in der Pension eingemietet. Dann war er von einem Unbekannten erschlagen worden.
Sein Tod lag inzwischen ein halbes Jahr zurück. Dass der Täter noch ermittelt werden konnte, war so gut wie unwahrscheinlich. Daher galt die Arbeit an diesem Fall in der Sonderkommission Mord als eine Art Beschäftigungstherapie – wenn sonst nichts Dringendes anlag ...
Heike öffnete den Mund, um erneut zu protestieren. Aber Dr. Magnussen machte mit seinem Pfeifenstiel eine Bewegung, als wolle er ihr das Wort abschneiden.
»Ich will nichts mehr hören. Holen Sie sich die Harvestehude-Akte aus dem Archiv, Frau Stein!«
Heike drehte sich wortlos um. Sie kämpfte mit den Tränen. Stärker als je zuvor war sie der Meinung, auf der richtigen Fährte zu sein.
Vielleicht hatte Evermann senior ja von der geplanten Hochzeit in Las Vegas erfahren. Dadurch war er dann endgültig auf die Idee verfallen, Julia Sander aus dem Weg zu räumen.
Erik Evermann hatte die junge Frau offenbar wirklich geliebt. So sehr, dass er sich ihretwegen gegen seinen Vater gestellt hatte?
Denkbar war das schon, obwohl der junge Evermann jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst war. Mit Beruhigungsmitteln betäubt hatte er gewiss keine Kraft mehr, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Zumal es jetzt auch keinen Grund mehr gab.
Denn Julia lebte nicht mehr ...
Schicksalsergeben holte sich die Kriminalistin die Harvestehude-Akte. Zwei Stunden lang blätterte sie unkonzentriert darin und trank nebenbei Kaffee.
Da klingelte das Telefon. Sie griff zum Hörer.
»7. Sonderkommission Mord, Stein am Apparat.«
»Hier spricht Georg, Heike.«
»Georg!«
Sofort wurde Heike warm ums Herz. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie immer noch Georgs Lippen auf den ihren spüren.
»Schön, deine Stimme zu hören«, flötete sie.
»Ich freue mich auch, dich direkt erreicht zu haben. Als echte Hamburgerin kannst du mir bestimmt weiterhelfen.«
»Das wird sich zeigen.«
»Ich habe über die Firma eine Einladung zum Monatstreffen einer so genannten Kauffahrer-Gesellschaft bekommen ...«
Heike pfiff ganz undamenhaft durch die Zähne.
»Respekt, Respekt. Dann musst du in deinem Beruf wohl wirklich gut sein.«
»Na ja, so unbegabt bin ich wohl nicht«, meinte Georg bescheiden. »Wieso, ist das eine große Ehre, von denen eingeladen zu werden?«
»Und ob. Die Kauffahrer-Gesellschaft ist ein exklusiver Hamburger Klub, der auf das Jahr 1311 zurückzuführen ist.«
»Jetzt bin ich aber wirklich beeindruckt, Heike. Ernsthaft.«
»Solltest du auch sein. Die Kauffahrer-Gesellschaft war ursprünglich ein Verein von Händlern, die damals ihre Segelschiffe in alle Welt hinausschickten. Daher der Name. Später durften dann auch andere Größen aus Wirtschaft und Politik Mitglieder werden. Jedenfalls sind die mächtigsten Männer Hamburgs in der Kauffahrer-Gesellschaft organisiert.«
»Dann ist also seriöse Kleidung anzuraten?«
»Ja, in Bermuda-Shorts solltest du nicht dorthin gehen«, witzelte Heike.
»Ich hatte eigentlich gehofft, dass du mich begleitest.«
»Ich?«
»Ja, auf der Einladung steht ›mit Dame‹. Und ich habe eigentlich keine Lust, den ganzen Abend mit mir völlig unbekannten Hamburger Wirtschaftsbossen zu plaudern.«
»Hingehen musst du auf jeden Fall«, drängte Heike. »Es wäre eine Beleidigung der Kauffahrer-Gesellschaft, einfach die Einladung zu ignorieren. Das würde dir deine Firma nie verzeihen.«
»Vielen Dank für die freundliche Warnung. Du kommst also mit?«
»Jemand muss ja auf dich aufpassen«, schmunzelte Heike. Außerdem reizte sie die Aussicht, einmal an einem solchen Treffen teilnehmen zu dürfen. Es war wirklich eine Ehre, die nicht jedem Bürger zuteil wurde.
Georg konnte sich als Nicht-Hamburger doppelt geschmeichelt fühlen, an diesem Zusammentreffen teilzunehmen.
»Dann hole ich dich also heute Abend ab, Heike«, sagte Georg.
»Heute Abend schon?! Wieso ...?«
»Ich habe diese Einladung hier herumliegen lassen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie wichtig das ist. Du hast mich gerade eben erst darüber aufgeklärt. Und außerdem hätte ich bis gestern nicht gewusst, mit wem ich dorthin gehen sollte.«
»Gibt es bei deinem Job keine charmanten Damen?«, neckte Heike ihn.
»Doch, wahrscheinlich schon. Aber ich möchte nur mit dir zu diesen Ur-Hanseaten gehen.«
»Ach, du bist süß. Bis heute Abend dann.«
Heike beendete das Gespräch. Georgs Anruf hatte sie aus ihrer trüben Stimmung gerissen. Sie konnte es nun besser ertragen, von ihrem Chef auf ein Abstellgleis geschoben zu werden.
Nun musste sie sich aber spontan mit einem ganz anderen Problem herumschlagen.
Was sollte sie zu dieser exklusiven Veranstaltung anziehen ...?
Der Rest des Arbeitstages verging mit Routinearbeiten. Heike bekam nur am Rand durch Ben mit, dass die Ballistiker inzwischen ein Ergebnis vorlegen konnten.
»Alle drei Opfer – die Tote und die beiden Verletzten – wurden aus derselben Waffe beschossen, und zwar mit Patronen im Kaliber 9 mm Parabellum. Nach der Aufschlaggeschwindigkeit und der Mannstoppwirkung zu urteilen wurde eine Faustfeuerwaffe eingesetzt. Kein Gewehr.«
Das Laborergebnis bestätigte nur, wovon Heike ohnehin fest ausgegangen war. Die Taten wurden von demselben Verbrecher mit derselben »Handschrift« begangen. In allen drei Fällen hatte der Täter präzise gefeuert und sich danach sozusagen in Luft aufgelöst. Sie hatten immer noch keine brauchbare Beschreibung des Schützen. Es fehlten ohnehin gute Anhaltspunkte, wenn man einmal von seinen Sportschuhspuren absah.
Am Feierabend zwang Heike sich beinahe gewaltsam, auf jede weitere Grübelei zu verzichten. Sie hatte an dem Tag genug Frust mit ihrem Vorgesetzten erlebt. Nun konnte sie sich auf einen tollen Abend an der Seite von Georg freuen!
Als Heike ihre Wohnungstür aufschloss, hörte sie das Rumoren. Automatisch griff sie nach ihrer Dienstwaffe, die sie in einem Clipholster am Rockbund trug. Doch gleich darauf entspannte sie sich, weil sie den unverwechselbaren Duft ihrer Vermieterin wahrgenommen hatte.
Theresa Winter benutzte ein unaufdringliches, aber unverkennbares Parfum. Eigentlich hätte es Heike stören können, dass ihre Vermieterin in ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung herumgeisterte.
Aber das tat es nicht. Erstens hatte sie Frau Winter selbst den Ersatzschlüssel anvertraut. Und zweitens betrachtete sie die ältere Frau eher als eine Freundin, mit der man über alles reden konnte.
Die Seniorin mit der taubengrauen Dauerwelle stand in Heikes Wohnzimmer.
»Hallo, mein Deern. Ich hab' dir ein paar Blumen hingestellt.«
Sie deutete auf den üppigen Frühlingsstrauß, den sie in einer Vase auf Heikes Couchtisch platziert hatte.
»Danke, Theresa. Die sind wunderschön.«
Die ältere Frau lächelte. Sie sah in ihrem knielangen schwarzen Rock und dem malvenfarbenen Rollkragenpulli jünger aus, als sie tatsächlich war. Ihr aktives Leben hielt sie in Form.
»Hast du Zeit für einen fixen Kaffee, Heike?«
»Aber immer. Allerdings habe ich heute Abend eine Verabredung.«
Theresa Winter zwinkerte ihrer Mieterin zu.
»Bist du verliebt?«
Heike seufzte und schaute durch das offen stehende Fenster hinunter auf die Enten, die sich übermütig auf dem Wasser des Isebek-Kanals balgten.
»Das ist Antwort genug«, stellte Theresa fest. Sie ging in Heikes Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Bald darauf saßen die beiden Frauen in der Frühstücksecke und ließen sich die heiße, aromatische Flüssigkeit zusammen mit ein paar Keksen schmecken.
»Also ich weiß nicht, Heike. Dafür, dass du verliebt bist, machst du einen ziemlich kleinlauten Eindruck. Liegt dir diese Einbruchserie im Magen?«
Die Kriminalistin schüttelte den Kopf.
»Du weißt doch, dass ich für Mord und Totschlag zuständig bin.«
»Ach ja, war mir im Moment entfallen. Ärgert dich dann dieser Serienmörder, von dem die Zeitungen immer schreiben?«
»Ich darf dir keine Dienstgeheimnisse weitergeben, Theresa. Aber allgemein geht es darum, dass mein Chef mir meinen aktuellen Fall entzogen hat.«
Sie erzählte in groben Zügen, was an dem Tag im Präsidium geschehen war. Natürlich erwähnte sie keine Einzelheiten. Das hatte nichts mit Misstrauen gegen ihre Vermieterin zu tun, sondern entsprach einfach den Vorschriften. Und mit denen nahm Heike es schon genau. Wenn Dr. Magnussen das auch nicht immer glauben wollte ...
Die ältere Frau war empört.
»So ein Knilch! Musst du dir das denn gefallen lassen?«
»Ich könnte natürlich zum Personalrat gehen. Aber ich wollte auch in Zukunft noch mit meinem Chef zusammenarbeiten.«
Theresa nickte.
»Ja, das ist schwierig.«
»Es war schön, dir mein Herz ausschütten zu können«, sagte Heike und linste auf die Küchenuhr. »Aber ich muss mich allmählich mal umziehen ...«
Theresa Winter verstand den Wink mit dem Zaunpfahl.
»Dann wünsche ich dir viel Spaß. Auf bald – und viel Spaß heute Abend!«
»Danke, Theresa.«
Eine Stunde später beäugte die Hauptkommissarin kritisch das Ergebnis ihres Stylings.
Heike trug ein bodenlanges champagnerfarbenes Abendkleid mit schmaler, figurnaher Silhouette. Es modellierte geradezu ihre schlanke Figur. Der Georgette-Stoff war mit verspielten Pailletten und Zierstäbchen bestickt. Der Gehschlitz reichte bis knapp über das Knie. Der Rücken war tief dekolletiert.
An Schmuck hatte sie nur eine schlichte Goldkette und einen Armreif aus demselben Material angelegt. Die Hauptkommissarin fragte sich allerdings, ob ihre Garderobe nicht zu gewagt war. Aber für solche Gedanken war es nun zu spät. Es läutete an der Tür.
Heike ging hin, um zu öffnen.
Georg kam die Treppe hinaufgesprungen. Er sah in seinem schwarzen Smoking einfach umwerfend aus. Heike legte den Kopf in den Nacken und fühlte ein wohliges Brennen in ihrem Inneren, als Georg sie zur Begrüßung in seine Arme zog und ihr einen langen und zärtlichen Kuss gab.
»Du bist einfach zauberhaft«, sagte ihr neuer Freund mit rauer Stimme. Dann überreichte er ihr eine einzelne, langstielige Baccararose. Irgendwie musste er es geschafft haben, sie bisher vor Heikes Augen zu verbergen.
»Die will ich schnell noch ins Wasser stellen.«
Georg folgte ihr ins Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf den üppigen Frühlingsstrauß, den Heikes Vermieterin gebracht hatte.
»Wie ich sehe, hast du noch mehr Verehrer.«
»Ja, ich stapele sie unter dem Bett«, erwiderte Heike ernsthaft. »Aber manche stelle ich auch hochkant in den Einbauschrank ...«
Georg machte ein Gesicht, als würde er in eine Zitrone beißen.
»Ach, Unsinn!«, rief sie lachend. »Ich wollte dich doch nur hochnehmen!«
»An deinen Humor muss ich mich erst noch gewöhnen«, sagte Georg trocken. »Aber dafür wird heute Abend wohl sicher Gelegenheit sein. Das Taxi wartet übrigens unten.«
»Ach du liebe Zeit! Aber ich bin schon so gut wie fertig!«
Heike griff noch schnell nach ihrem kleinen Abendtäschchen. Dann hakte sie sich bei Georg unter und verließ mit ihm gemeinsam die Wohnung.
Das Taxi fuhr Richtung Süden. Von weitem sah man manchmal die Lichter am Rande der Alster aufblitzen. Aber es war nicht allzu weit.
Die Versammlung der Kauffahrer-Gesellschaft fand in den Sälen des Curio-Hauses unweit der Universität statt. Eigene Räumlichkeiten hatte der Verein trotz seiner millionenschweren Mitglieder nicht.
Beruhigt stellte Heike fest, dass ihr eigenes Outfit bei weitem nicht das Frivolste war. Einige der anwesenden Damen waren Schauspielerinnen und Schlagerstars. Sie wollten offenbar um jeden Preis für Aufsehen sorgen.
Dabei war die Presse gar nicht zugelassen ...
Es hatten sich bereits mehrere Hundert Menschen in eleganter Abendgarderobe versammelt. Würdig aussehende Diener trugen Tabletts mit Champagnerkelchen umher. Die Getränke fanden lebhaften Zuspruch. Überhaupt war die Stimmung locker und fröhlich.
»Ich habe noch niemals so viel Hamburger Prominenz an einem Ort versammelt gesehen, Georg.«
»Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass mir als Stuttgarter die meisten Gesichter nichts sagen. – Obwohl, ist das nicht der Erste Bürgermeister, da hinten? Den kenne ich aus dem Fernsehen.«
»Ja, das ist er wirklich. Die beiden jungen Burschen mit den eckigen Köpfen sind seine Leibwächter. Ohne geht es leider heutzutage nicht mehr. Jedenfalls ist hier alles versammelt, was im Norden Rang und Namen hat. – Siehst du den Herrn mit dem weißen Vollbart, da neben der Säule?«
»Ja. Wer ist das?«
»Einer der größten Kaffeeimporteure Deutschlands. Also eine enorm wichtige Persönlichkeit, wenn man bedenkt, wie viel Kaffee in unserem Land konsumiert wird.«
»Kennst du auch diese Tussi mit den grün gefärbten Haaren, Heike?«
»Sie ist ein Musicalstar, glaube ich. Sie ... oh, verflixt!«
Heike unterbrach sich selbst. Und dafür gab es einen guten Grund. Sie war nämlich selbst in diesem Moment gesehen und auch erkannt worden.
Marius Evermann starrte in ihre Richtung. Er stand mit einigen anderen Herren zusammen. Der Vater von Julia Sanders Freund lief rot an. Das konnte man sogar auf die Entfernung sehen. Und zwar gewiss nicht vor Beschämung, sondern vor Wut!
Wenn Blicke töten könnten, wäre für Heike jede Hilfe zu spät gekommen. Mehr als je zuvor war die Hauptkommissarin überzeugt, dass er etwas mit dem Tod von Julia Sander zu tun hatte. Warum sonst hätte er so schnell dafür gesorgt, dass Heike von diesem Fall abgezogen wurde?
Und nun? Jetzt musste der Eindruck entstehen, dass Heike ihm sogar privat auf den Fersen blieb. Obwohl sie natürlich überhaupt nicht wusste, dass sie ihn hier treffen würde.
Aber wenn sie es gewusst hätte?
Dann wäre ich trotzdem gekommen, dachte Heike eigensinnig. Dieser Kerl sollte nicht glauben, dass er sie einschüchtern könnte ...
»Was hast du, Heike?«, fragte Georg dazwischen. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Einen Geist nicht gerade. Aber ...«
Es gab schon wieder eine Unterbrechung. Nun passierten zwei Dinge gleichzeitig. Irgendwo aus einem Nebenraum kam der Innensenator mit seinem Gefolge.
Marius Evermann erkannte ihn und stürmte auf den obersten Leiter der Hamburger Polizei los. Außerdem erschien ein junger Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug, der Georg kumpelhaft auf die Schulter klopfte.
»Amüsieren Sie sich, Herr Lindinger?«
Georg lächelte.
»Ich möchte Ihnen Frau Stein vorstellen, meine Begleiterin. Sie stammt aus Hamburg und ist meine ganz persönliche Fremdenführerin. – Heike, das ist Heiner Borchert. Wir haben beruflich miteinander zu tun. Ihm verdanke ich diese Einladung.«
Heiner Borchert gab Heike doch tatsächlich einen Handkuss! Die Hauptkommissarin kam sich vor wie in einer Operette.
»Darf ich Ihnen den Georg kurz entführen, Frau Stein? Wir müssen etwas Geschäftliches besprechen.«
»Natürlich.« Heike lächelte. »Ich werde schon nicht verloren gehen.«
»Ich bin gleich wieder bei dir, Heike«, sagte Georg. Dann wurde er von diesem Heiner Borchert beiseite genommen. Heike wandte sich diskret ab und ging ein paar Schritte. Vom Tablett eines vorübereilenden Dieners nahm sie sich einen Champagnerkelch. Den konnte sie jetzt gebrauchen.
Unwillkürlich schaute sie in die Richtung, wo zuletzt Marius Evermann und ihr oberster Dienstherr gestanden hatten. Aber beide waren momentan wie vom Erdboden verschluckt.
Heike fühlte sich nicht gerade wohl in ihrer Haut. Sie trank schnell ein paar Schlucke, um die trüben Gedanken zu vertreiben.
»Man hört ja schlimme Sachen über Sie!«
Heike zuckte zusammen, als sie die Männerstimme vernahm. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Innensenator von hinten an sie herangetreten war. Sie drehte sich um. Ihr oberster Dienstherr stand wirklich vor ihr. Seine beiden Leibwächter blieben in angemessenem Abstand links und rechts von ihm.
»G... guten Abend, Herr Innensenator«, sagte Heike und ärgerte sich gleichzeitig über ihre eigene Unsicherheit. Was hatte sie denn schon Furchtbares getan? Nicht mehr, als einen Verdächtigen in einem Mordfall zu befragen.
Der Politiker schmunzelte. Er war ein sehr hoch gewachsener Mann mit wirrem Grauschopf. Zwischen den Fingern seiner rechten Hand hielt er eine qualmende Havanna.
»Sie kennen mich offenbar, junge Frau. Ich muss gestehen, dass ich leider noch nicht das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft gemacht habe.«
»I... ich bin Kriminalhauptkommissarin Heike Stein, 7. Sonderkommission Mord.«
Heike stellte sich darauf ein, dass ihr oberster Dienstherr sie nun gewaltig zusammenstauchen würde.
»Ja, wie gesagt, man hört schlimme Dinge über Sie. Für Herrn Evermann sind Sie nur ›diese unmögliche Person‹. Er hat mir gerade sein Leid geklagt. Sie sollen seinen schwer kranken Sohn belästigt und ihn selbst schwerer Verbrechen bezichtigt haben. – Können Sie mir mal kurz aus Ihrer Sicht erzählen, was da abgelaufen ist?«
Das tat Heike nur allzu gerne. Sie hatte jetzt ohnehin nichts mehr zu verlieren. Sie berichtete von ihrem Verdacht, dass eine Mordserie nur vorgetäuscht werden sollte. Sie erzählte von der geplanten heimlichen Hochzeit zwischen Erik Evermann und Julia Sander. Und natürlich davon, wie abweisend Eriks Vater auf die Zeugenbefragung reagiert hatte.
»Es ist offensichtlich, dass Herr Evermann das Opfer nicht ausstehen konnte!« Heike trug diesen Satz so leidenschaftlich vor, dass sie ihre Lautstärke dämpfen musste. Schließlich sprach sie inmitten von Hunderten anderer Menschen mit ihrem obersten Dienstherren.
»Tja«, sagte der Innensenator nur. Er paffte seine Zigarre. Es war unmöglich, aus seinem Gesicht seine Gedankengänge abzulesen. »Auch Sie dürften Herrn Evermann sicherlich nicht zu Ihren Verehrern zählen, meine Liebe.«
»Damit kann ich leben, Herr Innensenator!«
Der Politiker ließ plötzlich ein kurzes, trockenes und lautes Lachen hören.
»Frau Stein, wollen Sie gar nicht wissen, was ich dem Herrn Evermann geantwortet habe?«
»D... doch.« Ohne es zu wollen geriet Heike wieder ins Stammeln. Der Senator lächelte.
»Ich habe ihm gesagt, dass ich meinen Beamten nicht in den Rücken falle.« Heike konnte es kaum glauben, was sie da hörte. Aber der hoch gewachsene Mann sprach weiter. »Ich habe außerdem Herrn Evermann darauf hingewiesen, dass Sie mein vollstes Vertrauen genießen. Das war vielleicht kühn von mir, weil ich das ja behauptet habe, bevor ich mit Ihnen sprechen konnte. Aber nun bin ich ganz sicher. Frau Stein, Sie werden Ihre Arbeit gut machen.«
»Momentan bin ich ja noch von dem Fall suspendiert«, bemerkte Heike traurig, obwohl das Lob des Innensenators ihr wie Öl herunterging.
»Nun, das lässt sich ja ändern, nicht? – Nun haben wir aber genügend dienstliche Probleme gewälzt. Ich sehe, dass Ihr Begleiter zurückkehrt. Da will ich nicht länger stören. Ich wünsche noch einen angenehmen Abend.«
Der Innensenator klopfte Heike auf die Schulter. Dann entfernte er sich winkend, mit der Zigarre im Mund und seinen beiden Leibwächtern im Schlepptau.
Heike konnte förmlich das Poltern des großen Steins hören, der ihr vom Herzen fiel. Das Gespräch hatte ihr ungeheuren Auftrieb gegeben. Es war erleichternd, dass sich nicht jeder ihrer Vorgesetzten so leicht einschüchtern ließ wie Dr. Magnussen.
»Du kannst ja gar nicht mehr aufhören zu grinsen«, sagte Georg, der sich nun wieder zu ihr gesellte. »Dieser alte Knabe muss dich ja ganz ungeheuer beeindruckt haben.«
Heike hob die Augenbrauen.
»Das klingt ja fast eifersüchtig!«
»Manche Frauen haben eben eine Schwäche für reifere Männer mit grauen Schläfen. Ich muss zugeben, dass dieser Zigarrenraucher nicht übel aussieht. Außerdem ist er gewiss ein bedeutender Mann, wenn er hier mit zwei Leibwächtern auftritt.«
»Wenn es dich beruhigt: Dieser Herr ist der Innensenator der Stadt Hamburg, also mein höchster Vorgesetzter. Und wir mussten gerade eine wichtige dienstliche Angelegenheit besprechen. So wie du gerade mit deinem Kollegen ebenfalls etwas Geschäftliches durchgehen musstest.«
»Diesen Seitenhieb habe ich wohl verdient«, seufzte Georg mit gespielter Verzweiflung.
»Nun schneide doch kein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Davon haben wir hier in Hamburg schon genug!«
Lachend stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte Georg einen Kuss auf die Wange. In diesem Moment erblickte sie über seine Schulter hinweg Marius Evermann. Er stand in ungefähr sechs Metern Entfernung zu ihr. Zwischen ihnen waren Gruppen von plaudernden anderen Gästen.
Dennoch erkannte Heike den nackten Hass in seinem Blick!
Für einen Moment wurde ihr mulmig zu Mute. Doch von solchen Gefühlen hatte sie sich in ihrem Dienstalltag noch nie irritieren lassen. Angst konnte man ruhig einmal haben. Auch eine Polizistin war schließlich ein Mensch und keine Maschine. Die Furcht durfte sie nur nicht davon abhalten, ihre Pflicht zu tun.
»Was ist mit dir?«, fragte Georg. »Du bist auf einmal so ... seltsam.«
Heike lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
»Ich bin nur eine einfache Deern aus Hamburg-Barmbek. Dieser Prominenten-Auftrieb ist gewöhnungsbedürftig für mich.«
»Du bist trotzdem die schönste Frau hier.«
Heike blickte Georg in die Augen. Und sie sah, dass er es ernst meinte. Für ihn war sie wirklich die schönste Frau unter all diesen prominenten Damen der Kauffahrer-Gesellschaft.
»Wie lange musst du denn hier bleiben, bevor du dich unauffällig aus dem Staub machen kannst?«, fragte Heike betont unschuldig. Sie strich mit ihrem Zeigefinger an Georgs Smoking-Revers hinab.
»Nicht allzu lange, hoffentlich«, schmunzelte er. »Ich bin ja nur ein einfacher Bub aus Stuttgart, der einen Computer bedienen kann und den hier sowieso kein Mensch kennt.«
Heike und Georg blieben noch eine Weile. Sie erlebten ein Ritual mit, das der Kauffahrer-Gesellschaft gute Geschäfte und freie Fahrt auf allen Weltmeeren bringen sollte.
Sechs ältere Herren im Frack, aber mit mittelalterlichen Hüten stimmten einen Singsang an, wobei sie Fahnen schwenkten.
Georg verstand kein Wort. Heike ging es nicht viel besser, denn die Kauffahrer benutzten die Sprache des Jahres 1311.
Am Ende der kleinen Darbietung brandete tosender Applaus auf. Einige Herren pfiffen sogar schrill vor Begeisterung. Das war die Gelegenheit, um unauffällig zu verschwinden.
»So viel Temperament hätte ich den kühlen Norddeutschen gar nicht zugetraut«, sagte Georg, als sie draußen die milde Nachtluft genossen. Eine leichte Brise wehte von der Alster her.
»Du wirst dich noch wundern, wie leidenschaftlich wir sein können.«
Heike befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze. Sie empfing Georgs Kuss, nach dem sie sich gesehnt hatte. Doch ihre Lust auf diesen Mann war damit noch nicht gestillt. Es musste nun weitergehen.
»Fahren wir doch zu mir«, schlug sie mit heiserer Stimme vor. Anstatt zu antworten küsste Georg sie auf den Nacken. Und das war Antwort genug, wie Heike fand.
Sie fischte ihr Handy aus ihrem Abendtäschchen und bestellte ein Taxi. Es dauerte keine fünf Minuten, bis der Wagen vor dem Curio-Haus an die Bordsteinkante fuhr.
Heike und Georg stiegen ein. Die Kriminalistin nannte ihre Adresse. Im Fond des Mercedes küssten sie sich weiter. Heike fand es wunderbar, mit geschlossenen Augen durch ihre nächtliche Heimatstadt gefahren zu werden und dabei in den Armen eines aufregenden Mannes zu liegen.
Das Taxi hielt in der Isestraße. Heike gab ein großzügiges Trinkgeld, um den Fahrer für die kurze Strecke zu entschädigen. Sie wusste, wie kümmerlich die Existenz vieler Droschkenkutscher in der Hansestadt war.
In ihrem Schlafzimmer drehte Heike nur kurz das Licht an. Sie griff nach einem Stabfeuerzeug und entzündete lieber die zwei Dutzend Bienenwachskerzen, die an der Schmalseite des Raumes mit genügend Sicherheitsabstand zum Bett arrangiert waren. Das Fenster stand halb offen. Man hörte die Enten auf dem Kanal quaken und schnattern.
»Du bist eine Romantikerin«, sagte Georg und knipste das Deckenlicht wieder aus. »Ich habe es geahnt.«
Das waren für längere Zeit die letzten Worte, die gesprochen wurden. Sie streiften sich gegenseitig die Kleider vom Leib.
Heike strich mit beiden Händen über Georgs muskulöse Brust, glitt dann tiefer, bis sie das pochende, steil nach oben stehende Glied umfasste.
Die Liebenden küssten sich lange und intensiv. Der leicht feuchte Windhauch vom Kanal her ließ die Kerzenflammen unruhig werden. Schatten irrlichterten über die Wände des Schlafzimmers.
Heike zog Georg auf ihr Bett. Seine harten Bartstoppeln auf der zarten Haut ihrer Brust fühlten sich aufregend an, obwohl der erste Kontakt leicht schmerzhaft war. Ihre Brustwarzen reckten sich ihm sehnsüchtig entgegen.
Georg küsste erst die linke, dann die rechte Brustwarze. Heikes Herz klopfte so laut, dass man es im ganzen Haus hören konnte. Jedenfalls kam es ihr so vor.
Stöhnend fuhr sie mit beiden Händen durch sein Haar, während er sie eng umschlungen hielt und sachte immer tiefer glitt.
Sein heißer Atem auf ihrem flachen Bauch verursachte ihr eine Gänsehaut am ganzen Körper. Bereitwillig spreizte Heike die Schenkel in Erwartung der Wonne, die ihr nun geschenkt werden sollte.
Und Georg enttäuschte sie nicht.
Scharf sog Heike die Luft durch ihre Nasenlöcher ein, als sie Georgs Zungenspitze an ihrer intimsten Stelle spürte. Dieser Mann verstand es, wie er eine Frau glücklich machen konnte. Glühend heiß pochte das Blut durch Heikes Adern, entflammt von ihrer eigenen Leidenschaft und von der Erregung, in die sie ihren neuen Freund versetzt hatte.
Denn für Georg war dieses Spiel mindestens genauso erfüllend wie für sie selbst. Das spürte sie ganz deutlich. Lange hielt es Heike allerdings nicht mehr aus. Dafür war sie in einer viel zu aufgereizten Stimmung.
Schon nach wenigen Minuten wurde sie durch Georgs raffinierte Liebestechnik einem gewaltigen Höhepunkt ausgeliefert, der sie innerlich erbeben ließ. Vielleicht auch äußerlich, denn die Bettfedern knarrten verdächtig.
Mit erotisch verschleiertem Blick sah die junge Frau, wie Georg von irgendwoher ein Kondom genommen hatte, es auspackte und über seinen immer noch harten Penis streifte.
Ein Gentleman, dachte sie fiebernd, ich habe einen echten Gentleman kennen gelernt, der die Verhütung nicht stillschweigend den Frauen überlässt ...
Das Liebesspiel selbst war kurz, aber intensiv. Heike und Georg hatten sich gegenseitig zu sehr aufgeputscht. Sie konnten und wollten nun nicht mehr den ersehnten Höhepunkt hinauszögern.
Obwohl sie das erste Mal miteinander schliefen, kam es ihnen seltsam vertraut vor. Vielleicht lag das daran, dass sie sich so gut verstanden.
Der Höhepunkt ihres Freundes riss auch Heike ein weiteres Mal mit. Sie presste Georg fest an sich. Engumschlungen erlebten sie die Nachwehen des herrlichen Liebesaktes.
Irgendwann schliefen sie ein.