4. Kapitel


Am nächsten Morgen hatte die 7. Sonderkommission Mord erneut einen Alarm.
Diesmal ließ sich Heike von ihrem Kollegen Ben abholen. Der Park, in dem der Anschlag stattgefunden hatte, war zu weit von ihrer Wohnung entfernt. Mit dem Mountainbike wäre es eine halbe Tagesreise gewesen ...
Es war acht Uhr morgens. Heike fand nur mühsam in die Realität. Zu schön waren ihre Träume gewesen. Georg hatte sich in der vergangenen Nacht mit einem leidenschaftlichen Kuss vor ihrer Haustür von ihr verabschiedet.
Der Stuttgarter war offenbar ein Gentleman, der nicht gleich am ersten Abend aufs Ganze ging. Und das konnte Heike nur Recht sein. Für ein flüchtiges Abenteuer war sie sich zu schade. Jedenfalls hatte sie sich bis über beide Ohren in den gut aussehenden Süddeutschen verliebt. Sie musste sich zwingen, allmählich aus ihren romantischen Tagträumen zu erwachen. Und sich auf ihren Job zu konzentrieren ...
»Die Tat ist also in Bergedorf geschehen?«, hakte sie bei Ben nach, der seinen Passat Richtung Osten lenkte.
»Ja, buchstäblich am äußersten Rand von Hamburg. Du kennst den Bergedorfer Schlossgarten?«
»Ja, da gibt es doch so einen richtigen alten Burggraben.«
»Sozusagen. Jedenfalls ist es auch eine Parkanlage. Und dort wurde vor gut einer Stunde die Tat begangen. Wahrscheinlich passt sie in unsere Serie. Ob dieselbe Waffe benutzt wurde wie bei Julia Sander und Wilhelm Krone, werden die Ballistiker erst morgen sagen können.«
»Was ist mit dem Opfer, Ben?«
»Oberschenkeldurchschuss, aber keine Lebensgefahr. Ich muss dir übrigens Abbitte leisten, Heike.«
»Wieso?«
»Diesmal ist es ganz eindeutig, dass ein Schalldämpfer benutzt worden sein muss. Ich dachte immer, so ein Zubehör wäre nur etwas für das Organisierte Verbrechen. Aber offenbar kann auch ein durchgedrehter Serienmörder ...«
»Nun hör' doch mal auf mit deinem Serienmörder!«, gab Heike leicht genervt zurück.
»Wieso ist es klar, dass der Täter einen Schalldämpfer benutzt hat?«
»Weil mehrere Zeugen in Hör- und Sichtweite waren, als der Schuss fiel«, antwortete Ben. »Keiner von ihnen hat aber auch nur das leiseste Schussgeräusch gehört. Das Opfer – er heißt Marcus Brunner – joggte durch den Schlossgarten und fiel plötzlich hin. Alle Zeugen glaubten, er sei mit dem Fuß umgeknickt oder so etwas. Als sie ihm zu Hilfe eilten, entdeckten sie die blutende Wunde. Aber da waren seit der Tat schon zwei oder drei Minuten vergangen.«
Sie kamen mit dem Passat gut durch. Schon bald erblickten sie im Zentrum des Stadtteils Bergedorf von weitem das Schloss, in dem ein Museum untergebracht war. Der Schlosspark selbst war eher klein. Er wurde von einem Wassergraben umgeben. Auf vier kleinen Brücken oder Stegen konnte man dorthin gelangen.
Die Technische Abteilung war wieder einmal bereits vor Ort.
»Gute Nachrichten am frühen Morgen!«, rief einer der Techniker, als Ben und Heike aus dem Passat stiegen. »Wir haben Fußspuren von dem mutmaßlichen Täter. Wahrscheinlich ist es der gleiche Galgenvogel wie bei dem Stadtpark-Mord.«
Die beiden Kriminalbeamten gingen auf den Schlossgarten zu.
»Ich verstehe nicht, warum du immer noch zweifelst, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben, Heike.«
»Weil er nicht in Serie mordet, Ben! Ermordet hat er nur Julia Sander, aber dafür auch mit professioneller Genauigkeit. Und mit der gleichen Präzision hat er Wilhelm Krone und Marcus Brunner nur angeschossen. Er hätte sie auch umbringen können, kein Zweifel.«
»Und warum hat er es nicht getan?«
»Weil er ein Profi ist, der nur Julia Sander erledigen sollte.«
Ben seufzte und verdrehte die Augen in Richtung des leicht bewölkten Morgenhimmels. Aber immerhin widersprach er nicht weiter, was Heike schon als einen Teilerfolg für sich verbuchte.
Es gab drei Zeugen, die aufgeregt neben einem Streifenwagen der uniformierten Kollegen warteten. Es waren eine Joggerin, ein Postbote mit Fahrrad und ein ziemlich angetrunkener Nachtschwärmer. Sie alle sagten jedenfalls das Gleiche aus. Sie waren im Schlossgarten unterwegs gewesen. Alle hatten Marcus Brunner im Blickfeld gehabt, als er plötzlich gestürzt war. Keiner von ihnen hatte einen Schuss gehört.
»Es gab also wirklich kein Geräusch?«, bohrte Heike nach.
»Na ja, so ein leiser Knall«, räumte der Postbote ein. »So, als ob eine aufgeblasene Brötchentüte zum Platzen gebracht wird. Und zwar nicht direkt neben einem, sondern weiter entfernt.«
Die Kriminalistin nickte. Vermutlich ohne es zu wissen, hatte der Briefzusteller das Geräusch eines schallgedämpften Schusses gut beschrieben.
Doch den Täter hatte niemand gesehen. Die Technische Abteilung stellte nicht nur die Fußabdrücke sicher. Sie fand auch heraus, dass der Verbrecher nach der Tat mit einem Fahrrad geflüchtet sein musste.
Aber das war inzwischen fast zwei Stunden her. Eine Großfahndung würde jetzt nichts mehr bringen. Abgesehen davon, dass es immer noch keine Täterbeschreibung gab.
»Der Täter ist schlau«, sagte Ben. »Verflixt schlau. Der Chef wird nicht gerade begeistert sein.«

*

Das war noch untertrieben. Dr. Magnussens Gesicht war weiß vor Wut, als sich später am Vormittag die 7. Sonderkommission Mord zur Einsatzbesprechung im Präsidium versammelte.
Der Kriminaloberrat deutete anklagend auf einen Stapel Zeitungen. So, als ob seine Untergebenen die Artikel geschrieben hätten.
»Die Presse fällt über uns her, meine Damen und Herren! Ein Serienmörder läuft in Hamburg frei herum, und die Polizei schläft. Das ist der Grundtenor von allen Leitartikeln an diesem Morgen!«
Heike war diplomatisch genug, den Mund zu halten. Wenn der Chef in dieser Stimmung war, würde sie ihn niemals von ihrer Theorie überzeugen können. Sie beschloss, lieber erst genügend Fakten zu sammeln.
»Die Presse ist immer unfair«, maulte Peter Mertens. »Wir können tun, was wir wollen. Für die machen wir immer alles falsch.«
Dr. Magnussen kaute auf seiner kalten Tabakspfeife herum.
»Machen Sie den Ballistikern Dampf! Ich möchte endlich wissen, was für eine Waffe bei den Mordanschlägen benutzt wurde. Vielleicht gibt es ja Zeugen, die den Täter gesehen haben. Wir müssen versuchen, ein Phantombild zu erstellen.«
Heike griff zu einer kleinen Notlüge.
»Ich glaube, das erste Opfer – Julia Sander – wollte sich im Park mit ihrem Freund treffen. Vielleicht hat er ja den Täter zufällig gesehen, ohne zu ahnen, dass dieser auf seine Freundin geschossen hat.«
»Sehr gut!«, sagte Dr. Magnussen. »Warum ist der Mann nicht schon längst vernommen worden?«
»Er hat einen Kreislaufzusammenbruch erlitten, als er die Nachricht vom Tod seiner Freundin erhielt«, berichtete Ben wahrheitsgemäß. Er hatte natürlich Heikes Trick durchschaut. Aber er war kollegial genug, sie nicht zu verpfeifen.
Der Chef verteilte weitere Aufgaben. Ben selbst wurde abkommandiert, um den angeschossenen Marcus Brunner zu befragen. Der Verletzte war ins AKH Bergedorf geschafft worden.
»Ich erwarte Ergebnisse, meine Damen und Herren! Dieser Fall muss schnellstmöglich erfolgreich abgeschlossen werden!«
Mit diesem Satz entließ Dr. Magnussen seine Untergebenen in den Dienstalltag. Beim Herausgehen nahm Ben Heike beiseite.
»Du solltest nicht mit dem Feuer spielen. Es könnte sonst passieren, dass du dir die Finger verbrennst!«, riet er ihr.
»Ich weiß schon, was ich tue«, entgegnete Heike selbstbewusst. »Außerdem hat der Chef gesagt, dass er Ergebnisse erwartet.«
Heikes Dienstpartner brummelte etwas Unverständliches und verzog sich Richtung Parkplatz. Heike telefonierte nach einem Taxi und ließ sich zum Universitätskrankenhaus Eppendorf fahren.
Dort erfuhr sie nach einigem Hin und Her, dass Erik Evermann nach Hause entlassen worden war. Heike bedankte sich. Sie drehte sich auf dem Absatz um und eilte zum Ausgang. Da rief eine Krankenschwester hinter ihr her.
»Warten Sie, Frau Kommissarin!«
Heike stoppte. Die Frau in Weiß kam hinter ihr her.
»Der Patient ist nicht in sein Single-Apartment zurückgekehrt. So weit ich weiß, will er einstweilen bei seinen Eltern bleiben. Ein Chauffeur in Livree hat ihn abgeholt. Bisher habe ich so etwas nur im Fernsehen gesehen.«
Heike bedankte sich noch einmal ganz herzlich. Wie sich herausstellte, hatte das Krankenhaus sogar die Adresse von Erik Evermanns Eltern aufgenommen. Heike rief mit ihrem Handy ein Taxi herbei.
Sie ließ sich zu den Evermanns chauffieren. Die Straßenangabe sagte ihr nichts. Doch der Fahrer war schon bald auf dem Weg nach Blankenese.
Dieses ehemalige Fischerdorf war heutzutage eines der reichsten Quartiere der reichen Stadt Hamburg, wie Heike wusste. An den Hängen von grün bewachsenen Hügeln standen weiße Villen in Exklusivlage, mit unverbaubarem Panoramablick auf die Elbe.
Wer hier lebte, hatte es geschafft. Oder besser gesagt: Er war in die richtige Familie hineingeboren worden. Denn Neureiche gab es nur wenige in Blankenese. Dort residierte das »alte Geld«. Patrizier und andere Großkaufleute, deren Familien seit Jahrhunderten in Hamburg das Sagen hatten ...
Der Taxifahrer fuhr von der Sülldorfer Landstraße hinunter und links an dem Golfplatz vorbei, den es hier selbstverständlich auch gab. Weiter südlich befand sich der Waldpark Falkenstein. Noch eine weitere der zahlreichen Hamburger Parkanlagen!
Das Taxi hielt in einer stillen Seitenstraße. Inmitten eines weitläufigen Gartens hinter schmiedeeisernen Gittern stand eine Villa. Sie war so weiß, dass sie zweifellos jedes Jahr einmal neu gestrichen wurde. Anders war dieses gepflegte Aussehen bei dem Hamburger Schmuddelwetter nicht möglich.
Heike bezahlte den Fahrer.
»Sorry, dass das Trinkgeld so bescheiden ausfällt«, sagte sie lächelnd. »Ich wohne nämlich nicht hier.«
»Habe ich mir gedacht. Die Reichen geben nämlich überhaupt kein Trinkgeld. – Tschüss denn!«
Der Taximann ließ seinen Benz wieder anrollen. Heike trat näher. An dem schmiedeeisernen Tor befand sich nur ein schlichtes Namensschild: »Evermann«.
Die Kriminalistin drückte auf die Klingel. Gleichzeitig bemerkte sie, dass sich die Linse einer Überwachungskamera auf sie richtete. Immerhin gab es auch eine Gegensprechanlage.
»Sie wünschen?«
Eine metallische Männerstimme erklang.
»Mein Name ist Kriminalhauptkommissarin Stein. Ich habe einige Fragen an Herrn Erik Evermann.«
»Ich fürchte, Herr Evermann ist immer noch unpässlich.«
»Dann möchte ich mit jemandem von der Familie sprechen. Es ist dringend, es geht um Mord.«
Heike musste nun ihren Dienstausweis deutlich sichtbar vor die Überwachungskamera halten. Sie ärgerte sich gewaltig darüber, wie eine Bittstellerin behandelt zu werden. Wenn die Evermanns sie einschüchtern wollten, erreichten sie jedenfalls genau das Gegenteil.
Nach einer unendlich lang erscheinenden Zeit wurde ein Türsummer betätigt. Heike stieß die schwere Pforte auf. Der Kies knirschte unter ihren Pumps, als sie die erstklassigen gepflegten Wege zur Villa hinaufging.
Ein Butler empfing sie. Der Gesichtsausdruck des geschniegelten Dieners glich dem einer hungrigen Dogge.
»Ich weiß wirklich nicht, ob ich Sie vorlassen kann, meine Dame. So ganz ohne Termin ...«
Heike baute sich vor dem alten Knaben auf. Sie war einen Kopf kleiner als der Butler. Aber das störte sie keineswegs.
»Ich bin nicht Ihre Dame, sondern Hauptkommissarin bei der Kriminalpolizei! Und wenn ich mit niemandem hier sprechen kann, dann muss ich von Verdunkelungsgefahr und Beihilfe zu einer Straftat ausgehen. Ich kann auch alle Bewohner dieses Hauses auf das Präsidium vorladen lassen!«
Heikes energisches Auftreten beeindruckte den Butler offenbar.
»Ich ... ich will sehen, ob Herr Evermann senior einige Minuten Zeit für Sie findet.«
»Zu gütig!«, sagte Heike ironisch.
Sie blieb in der weitläufigen, marmorgetäfelten Halle stehen. In dunklen Farben gehaltene Ölgemälde an den Wänden porträtierten frühere Evermann-Generationen. Sie hatten den Grundstock für den jetzigen Reichtum gelegt. Im Grunde ähnelten sich die Bilder. Sie zeigten Männer mit harten Gesichtern, die statt eines Herzens vermutlich eine Rechentafel in der Brust hatten.
Aber vielleicht war das auch nur ein Vorurteil von Heike, weil sie so abweisend behandelt wurde.
Bald darauf erschien der Butler wieder.
»Herr Marius Evermann lässt bitten.«
Der Butler führte Heike in ein holzgetäfeltes Büro. In Vitrinen standen Schiffsmodelle, Segler und Dampfschiffe. Die hölzernen Bücherregale reichten bis zur Decke. Hinter einem schweren Eichen-Schreibtisch thronte ein Mann, der wie eine lebendige Ausgabe seiner porträtierten Vorfahren wirkte.
Marius Evermann.
Heike schätzte den großen und schweren Mann auf Anfang bis Mitte sechzig. Er trug einen maßgeschneiderten Geschäftsanzug. Für solche Dinge hatte die modebegeisterte Heike einen untrüglichen Blick. Evermanns Haar war ergraut und glatt zurückgekämmt. Unter seinen dunklen Augen befanden sich schwere Tränensäcke. Die Mundwinkel waren in einer verachtungsvollen Geste heruntergezogen.
»Sie sind Frau ...« Evermann vollendete den Satz nicht.
»Ich bin Hauptkommissarin Heike Stein von der 7. Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes Hamburg, um genau zu sein. Ich habe einige Fragen an Ihren Sohn, Erik Evermann.«
»Er ist nicht zu sprechen.« Die offensichtlich befehlsgewohnte Stimme des reichen Mannes duldete keinen Widerspruch.
»Sagt das der Arzt?«
»Nein, aber ...«
Heike hatte die Spielchen satt.
»Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Sohn vorgeladen wird, dann lassen Sie mich zu ihm.«
Evermanns Mundwinkel zuckten. Er war es offenbar nicht gewohnt, dass man so mit ihm redete.
»Was bilden Sie sich ein, Frau Stein? Wie lautet überhaupt die Anklage?«
»Ihr Sohn ist nicht angeklagt. Aber er stand in einem gewissen Verhältnis zu einem Mordopfer, einer gewissen Julia Sander.«
Es entging Heike nicht, dass Evermann ironisch die Luft durch die Nase ausstieß.
Einen Platz hatte er der Beamtin bisher noch nicht angeboten. Aber das störte Heike nicht. Schließlich war sie nicht hierher gekommen, um es sich in den zweifellos wertvollen Kirschholzsesseln für Besucher bequem zu machen. Sondern vielmehr um die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen!
»Sagt Ihnen der Name Julia Sander etwas, Herr Evermann?«
»Das war eines der zahlreichen Flittchen, die hinter meinem Sohn her sind, nicht wahr?«
»Es klingt nicht, als ob Sie ihren Tod bedauern würden.«
Evermann schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte, dass die Stifte tanzten.
»Wenn Sie mir etwas anhängen wollen, werde ich unverzüglich meinen Anwalt einschalten, Frau Hauptkommissarin.«
Heike zuckte mit den Schultern.
»Das ist Ihr gutes Recht. Ich habe nur Tatsachen festgestellt. Sie kannten offenbar Julia Sander. Und Sie schätzten die junge Frau nicht.«
»Warum hätte ich sie wohl schätzen sollen? Weil sie sich an meinen Sohn herangemacht hat? Oder besser gesagt: an unser Familienvermögen! Und warum soll ich Krokodilstränen weinen, weil ein Verrückter sie im Park erschossen hat?«
»Wir wissen noch nicht, ob es wirklich ein Verrückter war.«
»Das steht zumindest in der Zeitung. Ich habe den Fall nicht weiter verfolgt. Ich bin ein viel beschäftigter Mann.«
»Papier ist geduldig, Herr Evermann. In unserem Land herrscht nun einmal Pressefreiheit. Aber die Polizei ermittelt in alle Richtungen. Und deshalb möchte ich gerne mit Ihrem Sohn sprechen. Er kann mir möglicherweise wertvolle Hinweise geben, die zur Ergreifung des Täters führen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können!«, knurrte Evermann unhöflich.
»Die Polizei ist ja noch nicht einmal in der Lage, einen einfachen Einbrecher zu fangen.«
»Die Einbruchserie, auf die Sie anspielen, ist nicht meine Angelegenheit. Sonst wäre der Täter längst hinter Schloss und Riegel.«
Heike fand selbst, dass ihr letzter Satz sich reichlich angeberisch anhörte. Aber sie musste hier einfach großspurig auftreten, sonst ging sie unter.
»Ich werde jedenfalls nach dem Butler läuten, damit er Sie zu meinem Sohn führt. Aber ich bitte Sie um seiner Gesundheit willen: Machen Sie es kurz!«
Heike fand, dass Evermann zum ersten Mal seit ihrem Eintreten in diesen Raum so etwas wie Menschlichkeit an den Tag legte. Sein Sohn schien ihm wirklich ans Herz gewachsen zu sein.
»Wo ist eigentlich Ihre Frau?«, fragte Heike möglichst beiläufig.
»Meine Frau hat sich hingelegt. Ihre Gesundheit ist nicht die Beste. – Verdächtigen Sie sie etwa auch?«
»Von Verdächtigung kann gar keine Rede sein, Herr Evermann. Mich würde trotzdem interessieren, wo Sie am Sonntagnachmittag zwischen 15 und 18 Uhr waren.«
»Das ist eine Unverschämtheit!«, zischte der mächtige Mann. »Ihr Verhalten wird Folgen haben, Frau Hauptkommissarin!«
»Beantworten Sie meine Frage.«
»Ich war auf dem Golfplatz, wie jeden Sonntag. Das werden Ihnen mein Caddy sowie mindestens fünf Klubkameraden bestätigen können.«
»Das klingt nach einem hieb- und stichfesten Alibi«, sagte Heike honigsüß. »Könnte ich nun bitte Ihren Sohn ...?«
Weiß vor Wut befahl Evermann seinem Butler, die Kriminalistin zu seinem Sohn zu bringen.
Erik Evermann lag in einem Liegestuhl hinter dem Haus. Aber er sonnte sich nicht, sondern war vollständig bekleidet.
Über seinen Beinen lag eine dünne Wolldecke. Sein Gesicht wirkte wächsern, als er es Heike zuwandte. Vermutlich stand er unter starken Beruhigungsmitteln. Heike hatte in ihrem Beruf schon genügend Leute kennen gelernt, die das Leben nur noch ruhig gestellt ertragen konnten.
Sie präsentierte ihren Dienstausweis.
»Herr Evermann, ich bin Hauptkommissarin Stein von der 7. Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes. Ich untersuche den Tod von Julia Sander.«
Als sie den Namen erwähnte, zuckte es im Gesicht des jungen Mann. Es war, als ob sie ihm eine Ohrfeige verpasst hätte.
»Julia, natürlich. Ihr Mörder läuft noch frei herum. Bitte nehmen Sie Platz.«
Heike setzte sich auf eine zweite Sonnenliege. Immerhin war der Sohn höflicher als der Vater. Das harte, kantige Evermann-Gesicht hatte er trotzdem schon. Aber Heike musste zugeben, dass er nicht übel aussah. Julia hatte einen guten Geschmack gehabt.
»Wer könnte einen Grund haben, um Ihre Freundin zu töten?«
Erik machte eine hilflose Geste.
»Julia war ein lieber Mensch. Vielleicht zu lieb. Sie sah immer in allem nur das Positive. Auch in den Menschen. Sie konnte niemandem lange böse sein.«
»Ihre Freundin hat ... viele Männer gekannt«, sagte Heike vorsichtig.
Erik nickte langsam.
»Ja, aber geliebt hat sie nur mich. Da bin ich hundertprozentig sicher.«
Heike schaute ihm in seine schönen Augen.
»Kann es sein, dass Sie und Julia bald heiraten wollten?«
Erik wurde etwas lebendiger.
»Wie können Sie das wissen? Es war ein Geheimnis zwischen Julia und mir!«
»Ich war in der Wohnung Ihrer Freundin. Die Polizei muss so etwas tun, wenn ein Verbrechen geschehen ist. Dort habe ich jedenfalls die Tickets nach Las Vegas gesehen.«
»Ja, in Vegas kann man sich innerhalb von ein paar Minuten trauen lassen«, sagte Erik. »Es soll auch sehr schön sein ... bis dass der Tod euch scheidet ...«
Seine Augen füllten sich mit Tränen. Heike hatte noch niemals besonders gut Männer weinen sehen können. Sie schaute zur Seite. Erik schnäuzte sich geräuschvoll. Sie sah, wie er eine blaue Kapsel aus einem Fläschchen schüttelte und ohne Wasser herunterwürgte.
Als er wieder sprach, klang seine Stimme wie eine jüngere Version der Stimme seines Vaters.
»Sie war nicht gut für mich. Sie hätte mich ins Unglück gestürzt. Das muss ich einsehen, auch wenn es sehr schmerzhaft ist. Gehen Sie jetzt bitte, Frau Hauptkommissarin.«
Heike erhob sich. Sie wollte Erik noch nach seinem Alibi fragen, verzichtete aber darauf. Bei ihm war sie sich hundertprozentig sicher, dass er das Mädchen nicht ermordet hatte.
Und sein Vater? Da sah die Sachlage schon anders aus. Heike hatte viel zu tun. Als sie das Grundstück verließ, konnte sie förmlich spüren, wie sich die verhassten Blicke von Evermann senior in ihren Rücken bohrten ...