9. Kapitel
Für Heike vergingen der Rest des Vormittages und der halbe
Nachmittag mit nervtötenden Verhören. Nach einem Aufruf der Polizei
in den Medien hatten sich zahlreiche Zeugen gemeldet, die einen
Verdächtigen gesehen haben wollten. Aber schon bald zeigte sich,
dass es nur die üblichen Wichtigtuer waren.
Nachdem Heike dem siebten selbst ernannten Augenzeugen für seine
Mühe gedankt hatte, lehnte sie sich in ihrem Bürosessel zurück. Sie
nippte an dem Automatenkaffee, der in einem Plastikbecher vor ihr
auf dem Tisch stand.
»Es ist, als wäre dieser Mörder nur ein Phantom oder ein Geist. Das
ist natürlich Unsinn. Aber irgendjemand muss ihn doch gesehen
haben!«
»Bei der Tat selbst?«, fragte Ben. »Es dauert nur ein paar
Sekunden, jemanden niederzuschießen. Dann steckt der Täter die
Waffe in die Tasche und verschwindet. Eine Faustfeuerwaffe kann man
gut am Körper verbergen. Aber das muss ich dir ja nicht
sagen.«
»Nein, nicht wirklich«, meinte Heike. Sie wollte noch mehr sagen.
Aber in diesem Moment kam einer der Büroboten, die innerhalb des
Präsidiums für den Transport von Akten und ähnlichem zuständig
waren.
Doch er brachte einen riesigen Blumenstrauß!
»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, witzelte Heike.
»Die sind auch nicht von mir«, entgegnete der Bote. Er war etwas
humorlos. »Die wurden am Eingang abgegeben. Sie sind schon
durchleuchtet worden.«
Heike nickte. Als Polizistin musste sie immer damit rechnen, eine
Bombe geschickt zu bekommen. Ob nun als Päckchen oder in einem
Blumenstrauß versteckt. Ihr fiel spontan auch mindestens ein
Verdächtiger ein, der sie gewiss liebend gerne in die Luft
gesprengt hätte.
Marius Evermann!
Doch dieser Blumenstrauß war nicht von ihm, sondern von Georg.
Gerührt las Heike die kleine Begleitkarte.
»Liebste, ich muss immer an dich denken. Ich freue mich schon auf
unser nächstes Wiedersehen. dein Georg.«
Bei diesen einfachen Worten wurde Heike warm ums Herz. Sie seufzte
wohlig und schaute eine Weile auf den lustigen Wandkalender der
Polizei-Gewerkschaft, ohne etwas wahrzunehmen.
Ihr Kollege Ben sprach sie nicht an. Obwohl die beiden gerade
zusammen ihren aktuellen Fall durchgingen, vertiefte er sich
scheinbar interessiert in einen Hamburger Stadtplan.
Ben konnte sehr sensibel für Heikes Stimmungen sein, wenn er
wollte. Doch als die Hauptkommissarin nach einigen Minuten
beschloss, ihre romantische Schwärmerei zu Gunsten des
Dienstalltags zu beenden, klingelte ohnehin das Telefon.
Heike hob den Hörer ab.
»7. Sonderkommission Mord, Stein am Apparat.«
Eine dunkle Männerstimme meldete sich.
»Ich bin Dr. Arnold, Dienst habender Stationsarzt der Station K 2,
Betriebsteil Ochsenzoll vom Klinikum Nord.«
»Ah.« Heike stieß langsam die Luft aus ihren Lungen. Trotz dieser
etwas umständlichen Vorstellung wusste sie sofort genau, wo dieser
Dr. Arnold arbeitete.
Nämlich in einer Nervenheilanstalt!
Der Begriff »Ochsenzoll« genügte. Jeder Hamburger wusste, was damit
gemeint war. Dort wurde man eingeliefert, wenn die Seele krank
war.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Dr. Arnold?«
»Ein Patient wurde heute hier eingeliefert, nachdem seine Wunden in
der Notaufnahme vom AKH St. Georg versorgt wurde. Es lag ein
Selbstmordversuch vor.«
»Ich verstehe.« Heike machte sich bereits Notizen. »Und wie lautet
der Name dieses Patienten?«
»Erik Evermann. Er äußert immer wieder den Wunsch, mit Ihnen zu
sprechen, Frau Hauptkommissarin. Der Patient ist sehr unruhig. Wir
könnten ihn natürlich ruhig stellen, aber ...«
»Aber was, Herr Dr. Arnold?«
»Aber ich persönlich glaube, dass er sich etwas von der Seele reden
will. Es geht ja offenbar um einen Kriminalfall, um Mord. Sie
arbeiten bei der Mordkommission ...«
»Sonderkommission Mord heißt das offiziell, aber egal. Kann ich
jetzt gleich kommen, Herr Doktor? Und darf ich noch einen Kollegen
mitbringen?«
»Selbstverständlich.«
Der Arzt beschrieb noch kurz, wie sie zu der Station finden würden.
Dann wurde das Gespräch beendet.
Heike berichtete Ben im Telegrammstil, was der Nervenarzt gesagt
hatte. Die beiden Kriminalisten erhoben sich und eilten
hinaus.
»Wir können meinen Wagen nehmen, Heike.«
»Nichts dagegen.«
Sie gingen zum Parkplatz und stiegen in Bens Passat-Kombi. Heikes
Kollege lenkte sein Auto Richtung Norden. Sie fuhren auf die
Langenhorner Chaussee. Der Klinikum-Komplex befand sich hoch im
Norden der Stadt Hamburg, fast schon an der Grenze zu
Schleswig-Holstein.
Das Krankenhaus Ochsenzoll bestand aus zahlreichen kleineren
Gebäuden, die in einem parkähnlichen Gelände standen. Es wirkte
beinahe schon wie ein kleines Dorf. Aber die Menschen, die hier
lebten, hatten ausnahmslos schwere Probleme. Darüber konnte auch
die idyllische Umgebung nicht hinwegtäuschen.
Ben fand die Station K 2 auf Anhieb. Allerdings waren sowohl er als
auch Heike im Rahmen ihres Dienstalltags schon öfter zu Besuchen
hier gewesen. So mancher Mörder war nicht Herr seiner Sinne, wenn
er die Bluttat verübte.
Die beiden Kriminalisten zeigten ihre Dienstausweise vor. Es
dauerte nur wenige Minuten, bis sie in ein kleines Arztbüro geführt
wurden.
Dr. Arnold war ein dünner Mann mit Stirnglatze und dicker Brille.
Er reichte Heike und Ben seine schmale kalte Rechte.
»Gut, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich erhoffe mir einen
therapeutischen Wert von diesem Gespräch, das will ich ganz offen
sagen. Der Patient beschäftigt sich offenbar mit einem schweren
inneren Problem.«
»Das wissen Sie gewiss besser als wir, Doktor. Unser Job ist es
nur, die Aussage aufzunehmen. Allerdings will ich nicht leugnen,
dass ich mir auch etwas davon erhoffe«, sagte Heike.
Der Nervenarzt nickte.
»Ich werde Sie jetzt zu ihm bringen. Aber ich habe eine Bitte.
Beschränken Sie das Gespräch auf zwanzig Minuten. Der Blutverlust
hat den Patienten doch sehr geschwächt.«
»Was ist denn eigentlich genau passiert?«
»Herr Evermann hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Und zwar auf
einer Toilette in einem Kaufhaus in der Nähe der Mönckebergstraße.
Zum Glück, muss man sagen. Dort ist er schnell gefunden worden.
Eine Verkäuferin hat erste Hilfe geleistet, bevor der Notarzt
gekommen ist. Aber Sie wissen wahrscheinlich, dass Patienten mit
eindeutigen Selbstmordabsichten grundsätzlich hierher verlegt
werden.«
»Ja, das ist uns bekannt.«
Der Arzt bemerkte offenbar Heikes Ungeduld. Er führte sie und Ben
zu einem Patientenzimmer.
Erik Evermann lag in einem Bett. Er blickte auf die Eberesche vor
dem Fenster. Seine beiden Handgelenke waren stark
bandagiert.
Der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem angespannten Gesicht,
als er Heike erkannte.
»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte der Nervenarzt. »Mit Ihrer
Erlaubnis werde ich nach zwanzig Minuten zurückkehren.«
»Selbstverständlich, Herr Doktor.«
Die Tür schloss sich hinter Dr. Arnold. Heike deutete auf
Ben.
»Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Wilken. Ich habe ihn
mitgebracht, damit er Ihre Aussage bezeugen kann. Sie wollen doch
mir gegenüber aussagen, oder?«
»Oh ja«, seufzte der Verletzte. »Vielleicht kriege ich dann endlich
diesen Schrecken aus meinem Kopf.«
»Welchen Schrecken meinen Sie, Herr Evermann?«
Heike hatte diese Frage gestellt. Sie und Ben nahmen links und
rechts von dem Krankenbett Platz.
»Den Schrecken, dass mein eigener Vater meine zukünftige Frau auf
dem Gewissen hat!«
Erik Evermann sprach gepresst. Aber der Sinn seiner Worte war nicht
misszuverstehen.
»Heißt das, Ihr Vater hat Julia Sander getötet?«
»Nicht er selbst, Frau Stein. Mein Vater macht sich niemals die
Hände schmutzig.« Erik Evermann lachte ohne Humor. »Er hat einen
Killer angeheuert, stellen Sie sich das vor! Ich dachte, so etwas
gibt es nur in amerikanischen Filmen. Aber die Wirklichkeit ist
manchmal schlimmer als jeder Fernsehkrimi.«
»Woher wissen Sie das mit dem Auftragskiller?«
»Weil ich zufällig ein Telefonat mitgehört habe! Ich bin ja
momentan im Haus meiner Eltern, wie Sie wissen. Da hat mein Vater
leider vergessen, die Tür ganz zu schließen, als sein Bluthund
angerufen hat. Selbst der große Marius Evermann macht mal einen
Fehler ...«
Der Verletzte stieß ein irres Kichern aus.
»Was genau haben Sie mitgehört, Herr Evermann?«
»Es ging um diesen Mordauftrag, Frau Stein. Sie haben sich um das
Geld gestritten. Kein Wunder, meinem Vater geht es immer nur ums
Geld. Um Geld und Ansehen. Er wollte dem Kerl nicht mehr zahlen.
Offenbar sollte der Killer noch ein paar weitere Bluttaten begehen,
um die Polizei auf eine falsche Fährte zu lenken ...«
Ben schlug die Augen nieder. Heike hätte triumphieren können. Genau
das hatte sie die ganze Zeit gesagt. Aber ihre Kollegen wollten
nicht auf sie hören. Doch solche Gefühle waren der Hauptkommissarin
fremd. Es kam ihr nur darauf an, endlich den Mörder zu
fassen.
»Konnten Sie mitbekommen, wo sich dieser Killer aufhält, Herr
Evermann?«
»Leider nein.«
»Oder seinen Namen? Hat Ihr Vater seinen Namen erwähnt?«
Der Patient schüttelte den Kopf.
»Wollen Sie uns erzählen, warum ... warum Ihrer Meinung nach Ihr
Vater den Mordauftrag erteilt haben könnte?«, fragte Heike
vorsichtig. »Natürlich nur, wenn Sie es mögen.«
Erik Evermann grinste schief und hielt seine verbundenen
Handgelenke hoch.
»Ich kann Sie beruhigen, Frau Stein. Ich werde diesen Unsinn nicht
noch einmal machen. Ich bin froh, mir jetzt alles von der Seele
reden zu können. Vielleicht hätte ich das schon früher tun sollen.
Aber da waren auch diese verdammten Beruhigungsmittel, die mir mein
Vater hat einflößen lassen. Die haben mich ruhig gemacht, ja. Ich
wollte nur noch Ruhe. Und gibt es eine größere Ruhe als den
Tod?«
»Erzählen Sie mir von Julia Sander.«
Für einen Moment leuchtete es in den matten Augen des
Verletzten.
»Sie war ... wundervoll. So wie das Leben selbst. Manchmal benahm
sie sich launisch wie ein Kind. Aber man konnte ihr nie lange böse
sein, so wie man auf das eigene Kind vermutlich auch nicht sauer
ist, wenn es eine Dummheit begeht.«
»Beging Julia Sander viele Dummheiten, Herr Evermann?«
»Sie werden vielleicht von ihren Männergeschichten gehört haben.
Aber das bedeutete nichts. Für Julia waren diese Affären wie ein
Spiel. Sie war eben wie ein Kind, das gerne spielt.«
»Und Sie, Herr Evermann? Konnten Sie es denn ertragen, Ihre
Freundin mit anderen Männern teilen zu müssen?«
Für einen Moment herrschte Stille in dem Krankenzimmer.
»Ja, das konnte ich«, sagte der Verletzte langsam. »Das wird Sie
vielleicht erstaunen, aber Julia und ich hatten ein ganz besonderes
Verhältnis. Ich war nämlich der einzige Mann, den sie geliebt
hat.«
Erik Evermann machte diese Aussage mit einer solchen
Selbstverständlichkeit, dass zumindest er selbst ganz fest daran
glaubte. Jedenfalls war das Heikes Eindruck.
»Ihr Vater hat aber Julia Sander offenbar mit anderen Augen
gesehen.«
Ein bitterer Zug erschien auf Eriks Gesicht.
»Darauf können Sie wetten, Frau Stein! Für ihn war sie eine
Schlampe, ein Miststück – ach, er hatte noch viel schlimmere
Ausdrücke für sie. Dass ich sie geliebt habe, konnte er sowieso
nicht verstehen. Das waren ›Flausen‹ für ihn. ›Ich werde dir die
Flausen schon austreiben‹. Das waren seine Worte. Immer wieder habe
ich mir diesen Satz anhören müssen.«
»Julia Sander hat also das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem
Vater verschlechtert?«
»Was für ein Verhältnis? Er hat mich als sein Eigentum betrachtet,
Frau Hauptkommissarin! Wenn Sie das ein Verhältnis oder eine
Beziehung nennen wollen ... Meine Mutter und ich waren sein
Eigentum. Sie haben ihn ja erlebt, nehme ich an. Ich glaube nicht,
dass er sich Ihnen gegenüber besonders umgänglich gezeigt hat
...«
»Nein, das hat er wirklich nicht«, gab Heike zu. Sie musste an den
hasserfüllten Blick denken, den Marius Evermann ihr beim Treffen
der Kauffahrer-Gesellschaft zugeworfen hatte.
»Für meinen Vater ist das Leben ein Krieg. Seltsam eigentlich, dass
er Kaufmann geworden ist und nicht Offizier. Obwohl, so merkwürdig
ist das auch nicht. Denn Tradition bedeutet meinem Vater alles.
Unsere Familie verdankt ihren Reichtum dem Handel, Frau Stein. Wir
sind ein alteingesessenes Hamburger Geschlecht, Kaufleute seit
mindestens acht Generationen. Darum musste mein Vater natürlich
auch Kaufmann werden. Und er hat mich gezwungen, in Amerika zu
studieren. An der besten Wirtschaftsschule, die er sich leisten
konnte.«
»Ich nehme an, mit Ihrem Studienabschluss steht Ihnen eine große
Karriere ins Haus.«
»Oh ja!« Erik Evermann lachte bitter. »Sogar mein Selbstmordversuch
wird daran nichts ändern. Mit meinem Abschluss kann ich mir die
erstklassigen Managementposten aussuchen.«
»Wollten Sie deshalb nach Las Vegas?«, fragte Heike unvermittelt.
»Um dort im Schnellverfahren Julia Sanders zu heiraten und ein
neues Leben zu beginnen?«
»Ja, davon habe ich geträumt. Irgendwie aus dem Machtbereich meines
Vaters entkommen und mit Julia glücklich werden.«
»Hat Julia Ihnen von den Morddrohungen erzählt, die sie bekommen
hat?«
Erik Evermann schüttelte den Kopf. Er wirkte ehrlich
überrascht.
»Nein, wann soll das gewesen sein?«
»Ein paar Tage vor ihrem Tod, nehme ich an.«
»Julia wirkte in letzter Zeit manchmal ... bedrückt, Frau Stein.
Ich habe das auf den Dauerstreit mit meinem Vater geschoben.
Natürlich hatte mein Vater seine Pläne mit mir. Ich sollte
heiraten, aber natürlich standesgemäß.« Er lachte bitter auf. »Er
hatte sogar schon eine Braut für mich ausgesucht. Wie im
Mittelalter kam ich mir vor. Ich sollte die Tochter eines anderen
Hamburger Großkaufmanns ehelichen. Geld findet zu Geld, wie es so
schön heißt. Eine frisch gebackene Juristin mit einer großen
Karriere vor sich. Zwar eiskalt wie eine Hundeschnauze, aber das
kümmerte meinen Vater nun wirklich nicht.«
»Wäre es nicht einfacher gewesen, die Juristin zu heiraten und
Julia als Geliebte zu behalten?«
Heike hatte ihre Frage bewusst herausfordernd gestellt. Und sie
erzielte den erhofften Effekt.
»Ich habe schon begriffen, dass Sie mich für einen Weichling
halten«, stieß Erik Evermann hervor. »Ich konnte meinem Vater nicht
die Stirn bieten, habe immer nach seiner Pfeife getanzt. Sogar bei
unserem ersten Treffen in meinem Elternhaus habe ich Ihnen
teilweise das erzählt, was mir mein Vater eingetrichtert
hat.«
»Ja, so hörte es sich wirklich an.«
»Aber trotz allem wollte ich Julia! Und zwar nicht als ein
Spielzeug für nebenbei, sondern als meine Gefährtin an meiner
Seite. Ich glaube, das hat mein Vater auch begriffen. Und damit
habe ich Julias Todesurteil unterschrieben.«
»Es ist nicht Ihre Schuld, dass Ihr Vater Ihre Freundin ermorden
ließ!«, sagte Heike eindringlich. »Das dürfen Sie sich nicht
einreden. Liebe ist nicht berechenbar. Und man kann nicht einfach
jemanden töten lassen, der einem nicht gefällt. Das wird auch Ihr
Vater begreifen müssen.«
Nun schaltete sich Ben in das Gespräch ein. Er hatte die ganze Zeit
still daneben gesessen und nur mitgeschrieben.
»Ihr Vater hat also eindeutig gesagt, dass er den Mordauftrag
erteilt hat?«
»Ja, und dass er noch mehr Geld zahlen wollte. Wörtlich sagte er:
ich will Ihnen das Geld lieber persönlich geben. Mitwisser kann ich
nicht gebrauchen.«
»Das wäre natürlich eine Möglichkeit, sowohl Ihren Vater als auch
den Auftragsmörder zu erwischen«, dachte Ben laut nach. »Nämlich in
dem Moment, wo die Geldübergabe stattfindet.«
In diesem Moment kam Dr. Arnold ins Krankenzimmer.
»Es tut mir leid, aber der Patient braucht jetzt wirklich
Ruhe!«
Heike stand auf und legte ihre Hand auf Erik Evermanns Schulter.
Seine Haut fühlte sich eiskalt an.
»Sie haben uns sehr geholfen. Ich werde ein Protokoll unseres
Gesprächs abtippen lassen. Dann schicke ich Ihnen einen Beamten,
damit Sie Ihre Aussage durchlesen und unterschreiben
können.«
Erik nickte. Im nächsten Moment war er eingeschlafen. Sein Bericht
musste ihn wirklich sehr angestrengt haben. Die beiden
Kriminalisten bedankten sich bei dem Stationsarzt und eilten
hinaus.
»Was sagst du zu einem Kaffee, Heike? Mir klebt die Zunge am
Gaumen.«
»Mir auch, Ben. Zum Glück gibt es hier auf dem Gelände eine
Cafeteria.«
Dort saßen Heike und Ben eine Weile später und stärkten sich mit
Kaffee und dänischem Plundergebäck.
»Dieser Erik ist ein armer Teufel«, sagte Ben. »Ein anderer Kerl in
seiner Situation hätte den Vater umgebracht. Bei Erik ging die Wut
gegen ihn selbst.«
»Beides ist nicht gut, würde ich sagen. Dieser Vater ist auf jeden
Fall brandgefährlich. Wenn Marius Evermann sich zum Herrn über
Leben und Tod aufspielt, gehört er jedenfalls dringend aus dem
Verkehr gezogen.«
Ben stimmte Heike zu.
»Ich frage mich nur, ob die Beweislage ausreicht. Das mitgehörte
Telefonat ist doch das einzige, was wir vorweisen
können.«
»Du meinst, wir kriegen keinen Haftbefehl für Marius
Evermann?«
Heike riss ihre großen Augen erschrocken auf.
»Es wäre immerhin möglich. Vergiss nicht, dass er ein wichtiger und
sehr einflussreicher Mann in unserer Stadt ist.«
»Der Innensenator hat sich nicht von ihm einschüchtern lassen«,
sagte Heike.
»Der Innensenator stellt aber nicht die Haftbefehle aus. Ich
persönlich bin von Evermann seniors Schuld jetzt auch überzeugt,
Heike. Aber ob das ausreicht, um ihn nach Santa Fu zu bringen?« So
wurde die Hamburger Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel im Volksmund
genannt.
»Fahren wir zunächst ins Präsidium zurück«, schlug Heike vor. »Mal
sehen, was Dr. Magnussen zu der aktuellen Beweislage
sagt.«
Der Himmel hatte sich inzwischen bezogen. Auf dem Weg zum Parkplatz
spürten sie bereits die ersten dicken Tropfen auf ihren Körpern.
Kaum saßen sie im Auto, als der Wolkenbruch losging.
Ben stellte die Scheibenwischer auf Schnellbetrieb.
»Hamburger Wetter! Ich habe vorhin noch überlegt, ob ich am
Wochenende die Rasenkanten schneiden sollte ...«
Heike musste unwillkürlich schmunzeln. Die Probleme des Alltags
waren es, die ihren harten Job erst erträglich machten.
Wenn man dauernd mit gewaltsamem Tod zu tun hatte, sehnte man sich
nach harmlosen Schwierigkeiten wie den Rasenkanten, die geschnitten
werden mussten. Oder bei Heike die defekte Beleuchtung an ihrem
Mountainbike. Es wäre doch wirklich peinlich, wenn sie als
Hauptkommissarin wegen so einer Sache mit einem Bußgeld belegt
würde ...
Im Präsidium wartete bereits die nächste Überraschung auf
sie.
»Moment, sie kommt gerade rein!«, sagte Melanie Russ zu jemandem,
mit dem sie telefonierte. Wild winkte Heikes Kollegin zu ihr
hinüber.
Heike steuerte auf Melanies Platz zu.
»Für dich, Heike!« Mit diesen Worten gab Melanie Heike den Hörer.
Und sie fügte hinzu: »Michael!«
Heike zog die Augenbrauen zusammen und fragte sich, wie viele
hundert Michaels sie kannte. Oder waren es Tausende?
Doch als sie die Stimme hörte, wusste sie sofort Bescheid. Michael
Sturup war ebenfalls Polizist. Doch er arbeitete nicht bei der
Sonderkommission Mord, sondern beim
Sondereinsatzkommando.
»Heike? Ich habe da was für euch, schätze ich. Du machst doch den
Serienmörder-Fall, oder?«
»Wenn man das so nennen will ...«
»Was?«
»Schon gut, Michael. Ja, ich mache den Fall. Und was
weiter?«
»Wir haben heute Eddie Behrens und seine Leute verhaftet. Es gab
ein paar Rangeleien, aber die Kerle haben schnell gemerkt, dass mit
meinen Jungs nicht gut Kirschen essen ist!«
»Gratuliere zu dem Erfolg, Michael. Aber ich weiß ehrlich gesagt
nicht, was das mit meinem Fall ...«
»Nicht so ungeduldig, Frau Kollegin. Bei dem Zugriff ist uns ein
Mann in die Hände gefallen, der nicht zu Behrens' Bande
gehört.«
»So etwas kommt leider vor.«
»Ja, aber es kommt nicht immer vor, dass gleich auf Polizeibeamte
geschossen wird!«
»Verdammt!« Heike biss sich auf die Unterlippe. »Hat einer deiner
Jungs ...?«
»Zum Glück hatten wir alle unsere Kevlar-Westen an. Sonst wäre
Frank jetzt in dem Großen Polizeirevier dort oben im Himmel. Aber
was ich sagen wollte: Die Waffe von dem Kerl ist genau diejenige,
mit der die Parkmorde begangen wurden!«
Eigentlich war es ja nur ein Mord gewesen. Aber das war Heike in
diesem Moment herzlich egal. Sie spürte, wie das Adrenalin durch
ihre Adern jagte.
»Bist du sicher?«
»Ich nicht, Heike. Aber die Kollegen vom Labor haben eine
Schnellanalyse gemacht. Ein Irrtum ist zu 99 Prozent
ausgeschlossen.«
»Habt Ihr den Verdächtigen schon vernommen?«
»Nee, wir haben erst mal genug mit Behrens' Leuten zu tun. Am
liebsten würde ich ihn gleich dir überlassen. Auf jeden Fall bleibt
er uns erhalten, also als U-Häftling meine ich. Allein schon wegen
dem versuchten Mord an unserem Kollegen. Ich schicke euch den Täter
gleich rüber!«
Heike bedankte sich. Als sie aufgelegt hatte, brach sie in einen
Jubelschrei aus. Alle schauten zu ihr hinüber. Heike berichtete Ben
und Melanie Russ im Telegrammstil, was sie gerade erfahren
hatte.
»Ja, bei derartig schweren Beschuldigungen wird dieser Knabe wohl
kaum auf Kaution freigelassen«, sagte Ben.
»Das wäre auch wirklich idiotisch«, meinte Melanie.
Heike und Ben gingen zu ihrem eigenen Arbeitsplatz hinüber. Wenige
Minuten später führten zwei SEK-Beamte den Gefangenen hinein. Seine
Hände waren mit Handschellen gefesselt.
Einer der Beamten überreichte Heike eine Kopie des vorläufigen
Untersuchungsberichtes der Schusswaffe. Danach musste die
Kriminalistin quittieren, dass sie den Gefangenen übernommen
hatte.
Dann gingen die SEK-Leute wieder.
Heike musterte den Festgenommenen kurz. Er war für einen Mann recht
klein, nicht viel größer als sie selbst. Sein dunkelbraunes Haar
war modisch kurz geschnitten und gepflegt.
Er trug eine hellbraune Bundfaltenhose und ein dazu passendes
dunkelbraunes Jackett mit Fischgrätmuster, darunter einen
cremefarbenen Rollkragenpulli. Die Kleidung machte einen sehr
gepflegten Eindruck. Der Mann war glatt rasiert, mit einem leichten
Bartschatten am Kinn. Allerdings war inzwischen auch schon später
Nachmittag.
Heike führte den Gefangenen in einen Verhörraum. Ben kam ebenfalls
mit. Die Kriminalistin stellte sich und ihren Kollegen
vor.
»Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Sie können alleine
aussagen oder Sie können einen Rechtsbeistand hinzuziehen. – Welche
Möglichkeit wählen Sie?«
»Einstweilen keine davon«, sagte der Gefangene mit unverkennbarem
Schweizer Akzent. »Holen Sie jemanden von der Staatsanwaltschaft.
Ich möchte erst mit einem Staatsanwalt reden.«
Der Verbrecher machte einen ruhigen, fast entspannten Eindruck, wie
Heike zu ihrem Missfallen bemerkte. Er saß so selbstverständlich in
dem Verhörraum, als würde er sich in seinem eigenen Wohnzimmer
aufhalten. Die Hände waren auf der Tischplatte gefaltet, nachdem
Heike ihm die Handschellen abgenommen hatte. Entkommen würde er im
Präsidium ohnehin nicht können.
Die Hauptkommissarin zuckte mit den Schultern.
»Wie Sie wollen ...«
Ben rief bei der Staatsanwaltschaft an. Eine gute halbe Stunde
später erschien ein Dienst habender Staatsanwalt auf der
Bildfläche, der sich als Dr. Meinhardt vorstellte.
»Ich will allein mit ihm sprechen«, sagte der Gefangene. Dr.
Meinhardt warf Heike und Ben einen Blick zu.
»Wenn Sie bitte draußen warten würden ...«
Heike kochte vor Wut. Aber was blieb ihr anders übrig? Die beiden
Kriminalisten gingen an ihre Schreibtische zurück.
»Dieser Schweizer ist kalt wie eine Hundeschnauze, Ben! Ich wette,
er wird mit dem Staatsanwalt einen Deal ausmachen!«
»Sicher, darum hat er ihn rufen lassen. Aber was soll's? Wir sind
hier nicht in Amerika. Mord bleibt Mord, da kann sich auch unser
Schweizer Freund nicht herauswinden. Und sehr weit darf ihm auch
der Staatsanwalt nicht entgegenkommen.«
»Das weiß ich auch, Ben. Mich wurmt es nur, dass dieser verflixte
Mörder mit uns umspringt, als wären wir seine Lakaien.«
»Hauptsache, er gesteht«, brummte der vernünftige Ben. Heike holte
zunächst einmal Kaffee. Sie warteten und warteten. Endlich kam der
Staatsanwalt wieder aus dem Verhörraum. Er schloss seine
Aktentasche.
»Herr Augustin wird Ihnen nun alles sagen, was er weiß«, sagte Dr.
Meinhardt.
»Sind Sie mit ihm handelseinig geworden?«
Heike konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen.
»Das ist Sache der Staatsanwaltschaft«, erklärte der Jurist
förmlich. Heike ließ die Sache auf sich beruhen. Sie wusste nur,
dass dieser Augustin nicht freigelassen werden konnte, da er ein
Kapitalverbrechen auf dem Kerbholz hatte. Und das war ihr erst mal
am Wichtigsten.
Sie kehrten in den Verhörraum zurück. Der Kriminelle zeigte sich
nun plötzlich sehr entgegenkommend.
»Fragen Sie nur, was Sie wollen. Ich werde nach bestem Wissen
antworten.«
»Das tun wir, keine Sorge«, entgegnete Heike trocken. »Kommen wir
zunächst zu den Personalien.«
»Ich heiße Lukas Augustin. Geboren wurde ich am 3. April 1972 im
Kanton St. Gallen.«
»Schweizer Staatsbürger?«
»Jawohl.«
»Weshalb sind Sie zurzeit in Hamburg?«
»Geschäfte.«
»Aha. Ich habe hier einen ballistischen Untersuchungsbericht.
Daraus geht hervor, dass sich heute in Ihrem Besitz eine Pistole
der Marke Ruger KP 90 D befand. Aus dieser Waffe wurden in den
letzten Tagen Schüsse auf mehrere Menschen abgefeuert. Können Sie
dazu Angaben machen?«
»Ich bin es gewesen«, sagte Augustin freimütig. Ich habe die junge
Frau im Stadtpark erschossen, außerdem den alten Mann in
Rothenburgsort und den Jogger in Bergedorf verwundet.«
Heike und Ben tauschten einen viel sagenden Blick aus. Es kam
selten vor, dass ein Mordverdächtiger so schnell geständig war.
Oftmals musste man ihn stundenlang befragen, bis er endlich seine
Schuld eingestand. Wahrscheinlich war ein schnelles Geständnis ein
Teil der Vereinbarung zwischen Augustin und dem Staatsanwalt
...
»Warum haben Sie diese Taten begangen?«
»Weil ich dafür bezahlt wurde.«
Augustin griff in die Tasche. Er holte ein Foto hervor und legte es
auf den Tisch.
»Ich sollte diese Frau töten. Außerdem noch auf ein paar andere
Leute in Parkanlagen schießen, damit der Verdacht auf einen
verrückten Serienmörder fällt.«
Heike atmete tief durch. Sie betrachtete die Aufnahme. Sie zeigte
eine junge Frau in Minirock und ärmelloser Bluse, die lächelnd an
der Reling eines Schiffes lehnte. Im Hintergrund sah man Wasser und
ein Stück Küstenstreifen, außerdem einen Fahnenmast mit der
dänischen Flagge.
Die junge Frau war niemand anders als Julia Sander!
»Sie haben dieses Foto von der Person bekommen, die Ihnen den
Mordauftrag erteilt hat?«
»Jawohl, Frau Hauptkommissarin«, entgegnete der Mörder
brav.
Heike stellte nun die entscheidende Frage.
»Wer hat Sie bezahlt, damit Sie diese Frau töten und die anderen
Taten zur Tarnung begehen?«
»Der Name des Mannes lautet Marius Evermann.«
Heike empfand in diesem Moment keinen Triumph, obwohl der
Auftragskiller das bestätigte, was sie die ganze Zeit angenommen
hatte. Evermann hatte ein Menschenleben auslöschen lassen. Sollte
Heike sich angesichts dieser Tatsache darüber freuen, dass sie
Recht behalten hatte?
»Würden Sie Marius Evermann wieder erkennen?«
»Selbstverständlich, Frau Hauptkommissarin. Ich habe mich einmal
mit ihm getroffen. Bei dieser Gelegenheit gab er mir das
Foto.«
Heike betrachtete noch einmal die Aufnahme. Wahrscheinlich hatte
der Sohn, Erik Evermann, den Schnappschuss gemacht. Vermutlich bei
einem gemeinsamen Ausflug mit seiner Freundin. Sein Vater hatte
dann vermutlich später das Foto an sich genommen, um dem
Auftragsmörder sein Zielobjekt zu zeigen. Heike spürte, wie ihr ein
eiskalter Schauer über den Rücken lief.
Zu was für einem Hass musste dieser Mann fähig sein!
»Wie sind Sie mit Herrn Evermann in Kontakt gekommen?«
Lukas Augustin ließ ein schmales Lächeln sehen.
»Sie werden verstehen, dass ich darüber keine Auskunft geben
möchte. Das spielt für meine Taten auch keine Rolle.«
»Das überlassen Sie gefälligst uns!«, sagte Heike scharf. »Sie
wollen also nicht verraten, wer Sie mit Marius Evermann
zusammengebracht hat?«
Der Schweizer verschränkte trotzig die Arme vor der
Brust.
»Geschäftsgeheimnis.«
Heike wusste nicht recht, ob sie sich über Augustins Art ärgern
sollte oder nicht. Er war so geständig, wie es sich eine
Kriminalistin von einem Beschuldigten nur wünschen konnte.
Andererseits missfiel ihr, dass er seine Auftragsmorde anscheinend
als eine ganz normale Dienstleistung betrachtete ...
Die Hauptkommissarin lehnte sich zurück.
»Schildern Sie bitte den Tathergang aus Ihrer Sicht«, forderte sie
ihn auf.
»Gerne, Frau Stein. – Ich hielt mich vor meinem Schuss auf Julia
Sander bereits einige Tage in Hamburg auf. Über eine
Wohnungsagentur hatte ich mir eine möblierte Wohnung gemietet. Ich
mag keine Hotels. Sie sind oft kalt und unpersönlich.«
Es war Heike herzlich egal, was Lukas Augustin mochte oder nicht.
Sie forderte ihn mit einer Geste dazu auf, fortzufahren.
»Ich traf mich also mit Herrn Evermann. Er gab mir das Foto und
verriet mir außerdem, wo Julia Sander arbeitete und wohnte. Die
Idee, sie im Park zu töten, stammt von ihm.«
»Es war also von Anfang an klar, dass es noch weitere Opfer geben
sollte? Um uns auf eine falsche Fährte zu locken?«
Und das wäre ja beinahe auch gelungen, fügte Heike in Gedanken
hinzu.
Der Mörder nickte.
»Ja, ich sollte noch zwei weitere Menschen in anderen Hamburger
Parks niederschießen. Damit die Öffentlichkeit und die Polizei an
einen verrückten Serientäter glaubt. Ich habe allerdings darauf
verzichtet, diese beiden weiteren Personen zu töten. Ich bin gegen
unnötige Gewalt.«
Diese Worte aus dem Mund des Killers klangen für Heike wie der pure
Zynismus. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Lukas Augustin
konnte niemandem mehr gefährlich werden. Im Gegensatz zu seinem
Anstifter Marius Evermann, der noch frei herumlief ...
»Kommen wir zurück zum 4. April, als Sie Julia Sander erschossen.
Bitte schildern Sie mit eigenen Worten, was sich an diesem Tag
zugetragen hat.«
Der Schweizer nickte.
»Ich hatte schon einige Tage lang die Zielperson unauffällig
verfolgt. Manchmal schien es, als würde sie mich bemerken. Aber es
ist mir immer gelungen, im Hintergrund zu bleiben. Jedenfalls bin
ich davon überzeugt. Das gehört für mich zur
Profiarbeit.«
Heikes Magen drehte sich um. Dieser Killer sprach über seine
finsteren Taten, als ob er ein besonders sorgfältiger Handwerker
wäre. Vielleicht sah er sich selbst ja auch so. Die
Hauptkommissarin war jedenfalls erleichtert, dass ihre Kollegen
Lukas Augustin erwischt hatten. Wenn auch mehr oder weniger
zufällig.
»Halten wir uns an die Fakten, Augustin«, sagte Heike kalt. »Auch
am Tag des Mordes sind Sie also dem zukünftigen Opfer
nachgestiegen.«
»Sagen wir: Ich habe Julia Sander im Auge behalten, Frau
Hauptkommissarin. Sie wollte zur U-Bahn-Station gehen, wie ich
vermute. Sie nahm immer die Abkürzung durch den Stadtpark. Das kam
mir natürlich wie gerufen, denn die anderen Aktionen sollte ich ja
ebenfalls in Parks ausführen.«
»Sie gingen ihr also nach ...«
»Eine Weile ging ich ihr nach, Frau Stein. Dann bemerkte sie
plötzlich, dass sie von mir verfolgt wurde. Sie begann zu laufen.
Ich rannte natürlich nicht hinter ihr her. Jedenfalls nicht direkt.
Ich wollte ja kein Aufsehen erregen.«
»Natürlich nicht«, warf Heike ironisch ein. Dieser Berufsverbrecher
ging ihr mit seiner Selbstzufriedenheit gewaltig auf die Nerven.
Aber falls Lukas Augustin ihren Sarkasmus bemerkte, reagierte er
nicht darauf.
»Ich trug an dem Tag Sportschuhe, außerdem einen dunklen
Freizeitanzug und einen Rucksack. Ich habe einen Bogen geschlagen,
an der Brunnenhalle vorbei, und bin an Julia Sander auf einem
Parallelweg vorbeigelaufen.«
»In welche Richtung flüchtete Ihr Opfer?«
»Zur Hindenburgstraße.«
Heike nickte. Bislang deckte sich die Aussage des Verbrechers mit
den Ermittlungen.
»Ich habe zwischen einigen Bäumen auf Julia Sander gewartet«, fuhr
der Killer fort. »Sie lief mir förmlich in die Arme. Als sie mich
bemerkte, war es schon zu spät. Ich habe nur einmal geschossen und
sie wie geplant tödlich getroffen.«
Heike wurde zunehmend wütender darüber, wie teilnahmslos dieser
Kerl von der Ermordung des jungen Mädchens sprach. Sie musste sich
zur Ruhe zwingen. Auch eine Kriminalistin ist nur ein
Mensch.
»Haben Sie einen Schalldämpfer eingesetzt?«
Zum ersten Mal zeigte das glatte Gesicht des Schweizers so etwas
wie Verblüffung.
»Ja, woher wissen Sie ...?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe eine Schlussfolgerung aus den Fakten
gezogen. Es ist für mich nämlich nicht vorstellbar, dass man am
helllichten Tag ohne Schalldämpfer in einem belebten Park schießen
kann, ohne dabei bemerkt zu werden.«
»Respekt, Frau Hauptkommissarin! Genau das war auch meine
Überlegung. Ich brauchte mindestens drei oder vier Minuten
Vorsprung. Daher hatte ich den Dämpfer schon vorher auf meine
Pistole geschraubt. Als Julia Sander zu Boden fiel, war gerade kein
anderer Mensch in Sichtweite. Das musste ich ausnutzen. Ich
schleifte die Leiche unter ein Gebüsch, wo sie nicht sofort
gefunden werden konnte.«
»Was hätten Sie getan, wenn Sie jemand dabei beobachtet
hätte?«
»Ich hätte behauptet, erste Hilfe leisten zu wollen. Aber es hat
mich ja keiner gesehen. Es war schon fast am Morgen des nächsten
Tages, bis die Leiche gefunden wurde. Das habe ich jedenfalls in
der Zeitung gelesen.«
»Manchmal steht dort sogar die Wahrheit«, zischte Heike. »Sie haben
ja nun schon oft und gerne betont, dass Sie ein Profi sind,
Augustin. Aber in manchen Dingen haben Sie sich sehr
unprofessionell verhalten.«
»Wirklich?« Der Killer klang fast gekränkt.
»Ja. Kein Profi lässt sich mit der Waffe erwischen, mit der er auf
drei Menschen geschossen hat. Das ist doch durch ballistische
Untersuchungen nachweisbar, wie Ihnen zweifellos bekannt ist. Warum
haben Sie den Ballermann nicht in die Elbe geworfen? Sind Sie
krankhaft geizig?«
»Nein, bin ich nicht.« Augustins Blick schweifte fast Hilfe suchend
zu Ben hinüber. Doch dessen Miene war genauso undurchdringlich wie
die von Heike. »Es ist nur so ... Hamburg ist nicht meine Stadt.
Ich habe hier keine guten Verbindungen. In Zürich oder Berlin
könnte ich mir jederzeit eine neue Ausrüstung besorgen. Aber hier
... hier hakt es schon an einfachen falschen Ausweispapieren. Wenn
ich die rechtzeitig bekommen hätte, würde ich jetzt nicht hier
sitzen.«
»Sie sagen das so ruhig. Macht es Ihnen gar nichts aus, dass Sie
sich wegen Ihrer Taten vor Gericht verantworten müssen?«
»Natürlich macht es mir etwas aus. Aber soll ich deshalb die ganze
Zeit in den Teppich beißen vor Wut? Ich habe diesmal verloren. Das
ist eben mein Risiko als ...«
»... als Vollblutprofi, wollten Sie wahrscheinlich sagen«, höhnte
Heike. »Aber das Foto Ihres Opfers haben Sie auch in der Tasche
behalten.«
»Das ist sozusagen meine Lebensversicherung gewesen. Ich hatte es
ja persönlich von Marius Evermann bekommen. Wenn er Schwierigkeiten
gemacht hätte ...«
»Wollten Sie ihn erpressen, Augustin?«
»Sagen wir: Ich wollte ihn davon überzeugen, mich nach Vereinbarung
zu bezahlen. Morgen hatte ich vor, ihn noch einmal wegen einer
zusätzlichen Summe zu treffen.«
»Also doch Erpressung?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich brauchte mehr Geld, um aus
Hamburg zu verschwinden. Es war ganz im Sinne von Marius Evermann,
dass ich die Stadt verlasse. Er erklärte sich bereit, sich morgen
mit mir zu treffen.«
»Kommen wir noch einmal auf die Tat zurück«, sagte Heike. »Sie
haben also die Leiche ins Gebüsch geschleift. Was haben Sie danach
getan?«
»Ich bin zu Fuß zur U-Bahn-Station Alte Wöhr gegangen. Dort hatte
ich einen Leihwagen geparkt. So konnte ich entweder mit der U-Bahn
oder mit dem Auto fliehen, falls mir etwas verdächtig vorkam. Aber
es ist mir niemand gefolgt. Meine Pistole samt Schalldämpfer habe
ich direkt nach dem Schuss wieder in meinem Rucksack verstaut.
Nachdem mir niemand gefolgt ist, bin ich zu meiner möblierten
Wohnung an der Eiffestraße gefahren.«
Heike nickte. Auch wenn sie Lukas Augustin verabscheute, musste sie
doch zugeben, dass er ziemlich clever war. Schlimmer noch – sie
hätten ihn vielleicht niemals erwischt, wenn er nicht zufällig in
den Einsatz gegen Eddie Behrens geraten wäre ...
»Ich denke, das reicht für den Moment«, sagte die Kriminalistin.
Sie massierte ihre schmerzende Nackenmuskulatur.
»Wegen der übrigen Taten können wir das Verhör auch morgen
fortsetzen. Die Anklage lautet einstweilen auf Mord, Mordversuch
und Widerstand gegen die Staatsgewalt in mehreren Fällen. Sie
werden jetzt zunächst in die Untersuchungshaft gebracht.«
Ben telefonierte, um den Verbrecher fortschaffen zu lassen. Nach
einigen Minuten kamen zwei uniformierte Kollegen.
Lukas Augustin stand auf.
»Sie sind sehr charmant, Frau Hauptkommissarin. Schade, dass wir
uns nicht unter anderen Umständen kennen gelernt haben.«
»Schafft mir den Kerl bitte aus den Augen, Freunde!«, sagte Heike
zu den uniformierten Polizisten.
Augustin grinste zynisch. Gleich darauf schloss sich die Tür hinter
ihm und seinen Begleitern.
»Ein Auftragskiller als Herzensbrecher«, stöhnte Heike. »Das hat
mir gerade noch gefehlt. – Komm', Ben. Ich bin gespannt, was Dr.
Magnussen zu unserem Ermittlungsstand zu sagen hat.«
Es dauerte noch eine Weile, bis der Kriminaloberrat Zeit für seine
beiden Mitarbeiter fand. Doch dann begrüßte er sie mit
überraschender Herzlichkeit.
»Frau Stein, Herr Wilken! Was für eine erfreuliche Wendung dieses
so aussichtslos erscheinenden Falls. Ich bin wirklich heilfroh,
dass unser Sondereinsatzkommando diesen Serienmörder ...«
Heike fiel ihrem Vorgesetzten ins Wort. Sie konnte einfach nicht
anders.
»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Magnussen. Aber Lukas Augustin ist
kein Serienmörder. Er hat einen Mord begangen, und zwar im Auftrag
von Marius Evermann!«
»Das ist nicht erwiesen ...«, begann der Kriminaloberrat. Doch
Heike knallte ihm das Urlaubsfoto von Julia Sander auf den
Tisch.
»Und was ist das hier, Dr. Magnussen? Seit wann haben verrückte
Serienmörder Schnappschüsse von ihren zukünftigen Opfern in den
Taschen? Dieses Foto hat Augustin von Evermann bekommen. Und zwar
deshalb, damit er garantiert die richtige Frau erschießt! Wann
sehen Sie endlich ein, dass Evermann der zweite Schurke in diesem
Drama ist?«
Dicke Schweißperlen hatten sich auf der Stirn des Kriminaloberrats
gebildet. Heikes Temperamentsausbruch war ihm offenbar
unheimlich.
»Beruhigen Sie sich doch, Frau Stein! Dieser Fall hat Sie sehr
mitgenommen, so scheint es mir. Mit der Aussage dieses Lukas
Augustin und diesem Foto erscheint mir das Ausstellen eines
Haftbefehls wirklich vertretbar.«
*
Am liebsten wäre Heike sofort losgerast. Doch
sie sah ein, dass die Verhaftung von Marius Evermann
hundertprozentig korrekt über die Bühne gehen musste. Der mächtige
Mann war im Stande, wegen möglicher Formfehler seinen Hals aus der
Schlinge zu ziehen. Also durfte es keine Formfehler
geben.
Während sie auf den Haftbefehl warteten, gingen Heike und Ben in
die Kantine. Heike war so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen
hinunterbekam. Aber dann löffelte sie doch eine Schale mit kaltem
Nudelsalat und trank eine Cola dazu. Unkonzentriert blieb ihr Blick
an einem Fernsehgerät hängen, das in einer Ecke flimmerte. Es war
auf einen Privatsender eingestellt.
»Das gibt es doch nicht!«, rief Heike plötzlich. Sie deutete auf
den Bildschirm.
Ben, der mit dem Rücken zum Fernseher saß, zuckte mit den
Schultern.
»Ja, ich finde es auch nervig. Müssen diese Dinger denn überall
laufen? Nirgendwo hat man seine Ruhe ...«
»Das meine ich doch nicht, Ben! Schau' mal hin!«
Der Kriminalhauptkommissar drehte sich um. Auf dem TV-Schirm war
gerade eine Verhaftungsszene zu sehen. Zwei SEK-Polizisten mit
Gesichtsmasken, Kampfanzügen und Helmen schleiften einen
Festgenommenen in einen Gefangenentransporter.
»Schwerer Schlag gegen die St. Pauli-Mafia!«, rief der Kommentator
mit sich fast überschlagender Stimme. »Heute Nachmittag gelang es
einem Spezialkommando der Hamburger Polizei ...«
»Das war Lukas Augustin«, sagte Ben. »Man konnte ganz deutlich sein
Gesicht sehen.«
»Wenn der Teufel es so will, schaut sich Marius Evermann auch diese
Sendung an«, stöhnte Heike. »Dann weiß er, dass wir seinen Killer
kassiert haben. Normalerweise dürfte er noch nichts davon ahnen. –
Wir sollten jetzt aufbrechen und ihn uns greifen. Notfalls ohne
Haftbefehl, wegen Verdunkelungsgefahr oder so.«
Sie wollte aus der Kantine eilen. Ben folgte ihr. Da kam ihnen
Peter Mertens entgegen.
»Hier ist euer Haftbefehl«, sagte er und schwenkte das amtliche
Dokument.
Heike riss es ihm aus der Hand. Sie und Ben rannten zum
Parkplatz.
»Wohlerzogene Menschen sagen danke schön«, murmelte
Kriminaloberkommissar Peter Mertens.