9. Kapitel


Für Heike vergingen der Rest des Vormittages und der halbe Nachmittag mit nervtötenden Verhören. Nach einem Aufruf der Polizei in den Medien hatten sich zahlreiche Zeugen gemeldet, die einen Verdächtigen gesehen haben wollten. Aber schon bald zeigte sich, dass es nur die üblichen Wichtigtuer waren.
Nachdem Heike dem siebten selbst ernannten Augenzeugen für seine Mühe gedankt hatte, lehnte sie sich in ihrem Bürosessel zurück. Sie nippte an dem Automatenkaffee, der in einem Plastikbecher vor ihr auf dem Tisch stand.
»Es ist, als wäre dieser Mörder nur ein Phantom oder ein Geist. Das ist natürlich Unsinn. Aber irgendjemand muss ihn doch gesehen haben!«
»Bei der Tat selbst?«, fragte Ben. »Es dauert nur ein paar Sekunden, jemanden niederzuschießen. Dann steckt der Täter die Waffe in die Tasche und verschwindet. Eine Faustfeuerwaffe kann man gut am Körper verbergen. Aber das muss ich dir ja nicht sagen.«
»Nein, nicht wirklich«, meinte Heike. Sie wollte noch mehr sagen. Aber in diesem Moment kam einer der Büroboten, die innerhalb des Präsidiums für den Transport von Akten und ähnlichem zuständig waren.
Doch er brachte einen riesigen Blumenstrauß!
»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, witzelte Heike.
»Die sind auch nicht von mir«, entgegnete der Bote. Er war etwas humorlos. »Die wurden am Eingang abgegeben. Sie sind schon durchleuchtet worden.«
Heike nickte. Als Polizistin musste sie immer damit rechnen, eine Bombe geschickt zu bekommen. Ob nun als Päckchen oder in einem Blumenstrauß versteckt. Ihr fiel spontan auch mindestens ein Verdächtiger ein, der sie gewiss liebend gerne in die Luft gesprengt hätte.
Marius Evermann!
Doch dieser Blumenstrauß war nicht von ihm, sondern von Georg. Gerührt las Heike die kleine Begleitkarte.
»Liebste, ich muss immer an dich denken. Ich freue mich schon auf unser nächstes Wiedersehen. dein Georg.«
Bei diesen einfachen Worten wurde Heike warm ums Herz. Sie seufzte wohlig und schaute eine Weile auf den lustigen Wandkalender der Polizei-Gewerkschaft, ohne etwas wahrzunehmen.
Ihr Kollege Ben sprach sie nicht an. Obwohl die beiden gerade zusammen ihren aktuellen Fall durchgingen, vertiefte er sich scheinbar interessiert in einen Hamburger Stadtplan.
Ben konnte sehr sensibel für Heikes Stimmungen sein, wenn er wollte. Doch als die Hauptkommissarin nach einigen Minuten beschloss, ihre romantische Schwärmerei zu Gunsten des Dienstalltags zu beenden, klingelte ohnehin das Telefon.
Heike hob den Hörer ab.
»7. Sonderkommission Mord, Stein am Apparat.«
Eine dunkle Männerstimme meldete sich.
»Ich bin Dr. Arnold, Dienst habender Stationsarzt der Station K 2, Betriebsteil Ochsenzoll vom Klinikum Nord.«
»Ah.« Heike stieß langsam die Luft aus ihren Lungen. Trotz dieser etwas umständlichen Vorstellung wusste sie sofort genau, wo dieser Dr. Arnold arbeitete.
Nämlich in einer Nervenheilanstalt!
Der Begriff »Ochsenzoll« genügte. Jeder Hamburger wusste, was damit gemeint war. Dort wurde man eingeliefert, wenn die Seele krank war.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Dr. Arnold?«
»Ein Patient wurde heute hier eingeliefert, nachdem seine Wunden in der Notaufnahme vom AKH St. Georg versorgt wurde. Es lag ein Selbstmordversuch vor.«
»Ich verstehe.« Heike machte sich bereits Notizen. »Und wie lautet der Name dieses Patienten?«
»Erik Evermann. Er äußert immer wieder den Wunsch, mit Ihnen zu sprechen, Frau Hauptkommissarin. Der Patient ist sehr unruhig. Wir könnten ihn natürlich ruhig stellen, aber ...«
»Aber was, Herr Dr. Arnold?«
»Aber ich persönlich glaube, dass er sich etwas von der Seele reden will. Es geht ja offenbar um einen Kriminalfall, um Mord. Sie arbeiten bei der Mordkommission ...«
»Sonderkommission Mord heißt das offiziell, aber egal. Kann ich jetzt gleich kommen, Herr Doktor? Und darf ich noch einen Kollegen mitbringen?«
»Selbstverständlich.«
Der Arzt beschrieb noch kurz, wie sie zu der Station finden würden. Dann wurde das Gespräch beendet.
Heike berichtete Ben im Telegrammstil, was der Nervenarzt gesagt hatte. Die beiden Kriminalisten erhoben sich und eilten hinaus.
»Wir können meinen Wagen nehmen, Heike.«
»Nichts dagegen.«
Sie gingen zum Parkplatz und stiegen in Bens Passat-Kombi. Heikes Kollege lenkte sein Auto Richtung Norden. Sie fuhren auf die Langenhorner Chaussee. Der Klinikum-Komplex befand sich hoch im Norden der Stadt Hamburg, fast schon an der Grenze zu Schleswig-Holstein.
Das Krankenhaus Ochsenzoll bestand aus zahlreichen kleineren Gebäuden, die in einem parkähnlichen Gelände standen. Es wirkte beinahe schon wie ein kleines Dorf. Aber die Menschen, die hier lebten, hatten ausnahmslos schwere Probleme. Darüber konnte auch die idyllische Umgebung nicht hinwegtäuschen.
Ben fand die Station K 2 auf Anhieb. Allerdings waren sowohl er als auch Heike im Rahmen ihres Dienstalltags schon öfter zu Besuchen hier gewesen. So mancher Mörder war nicht Herr seiner Sinne, wenn er die Bluttat verübte.
Die beiden Kriminalisten zeigten ihre Dienstausweise vor. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie in ein kleines Arztbüro geführt wurden.
Dr. Arnold war ein dünner Mann mit Stirnglatze und dicker Brille. Er reichte Heike und Ben seine schmale kalte Rechte.
»Gut, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich erhoffe mir einen therapeutischen Wert von diesem Gespräch, das will ich ganz offen sagen. Der Patient beschäftigt sich offenbar mit einem schweren inneren Problem.«
»Das wissen Sie gewiss besser als wir, Doktor. Unser Job ist es nur, die Aussage aufzunehmen. Allerdings will ich nicht leugnen, dass ich mir auch etwas davon erhoffe«, sagte Heike.
Der Nervenarzt nickte.
»Ich werde Sie jetzt zu ihm bringen. Aber ich habe eine Bitte. Beschränken Sie das Gespräch auf zwanzig Minuten. Der Blutverlust hat den Patienten doch sehr geschwächt.«
»Was ist denn eigentlich genau passiert?«
»Herr Evermann hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Und zwar auf einer Toilette in einem Kaufhaus in der Nähe der Mönckebergstraße. Zum Glück, muss man sagen. Dort ist er schnell gefunden worden. Eine Verkäuferin hat erste Hilfe geleistet, bevor der Notarzt gekommen ist. Aber Sie wissen wahrscheinlich, dass Patienten mit eindeutigen Selbstmordabsichten grundsätzlich hierher verlegt werden.«
»Ja, das ist uns bekannt.«
Der Arzt bemerkte offenbar Heikes Ungeduld. Er führte sie und Ben zu einem Patientenzimmer.
Erik Evermann lag in einem Bett. Er blickte auf die Eberesche vor dem Fenster. Seine beiden Handgelenke waren stark bandagiert.
Der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem angespannten Gesicht, als er Heike erkannte.
»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte der Nervenarzt. »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich nach zwanzig Minuten zurückkehren.«
»Selbstverständlich, Herr Doktor.«
Die Tür schloss sich hinter Dr. Arnold. Heike deutete auf Ben.
»Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Wilken. Ich habe ihn mitgebracht, damit er Ihre Aussage bezeugen kann. Sie wollen doch mir gegenüber aussagen, oder?«
»Oh ja«, seufzte der Verletzte. »Vielleicht kriege ich dann endlich diesen Schrecken aus meinem Kopf.«
»Welchen Schrecken meinen Sie, Herr Evermann?«
Heike hatte diese Frage gestellt. Sie und Ben nahmen links und rechts von dem Krankenbett Platz.
»Den Schrecken, dass mein eigener Vater meine zukünftige Frau auf dem Gewissen hat!«
Erik Evermann sprach gepresst. Aber der Sinn seiner Worte war nicht misszuverstehen.
»Heißt das, Ihr Vater hat Julia Sander getötet?«
»Nicht er selbst, Frau Stein. Mein Vater macht sich niemals die Hände schmutzig.« Erik Evermann lachte ohne Humor. »Er hat einen Killer angeheuert, stellen Sie sich das vor! Ich dachte, so etwas gibt es nur in amerikanischen Filmen. Aber die Wirklichkeit ist manchmal schlimmer als jeder Fernsehkrimi.«
»Woher wissen Sie das mit dem Auftragskiller?«
»Weil ich zufällig ein Telefonat mitgehört habe! Ich bin ja momentan im Haus meiner Eltern, wie Sie wissen. Da hat mein Vater leider vergessen, die Tür ganz zu schließen, als sein Bluthund angerufen hat. Selbst der große Marius Evermann macht mal einen Fehler ...«
Der Verletzte stieß ein irres Kichern aus.
»Was genau haben Sie mitgehört, Herr Evermann?«
»Es ging um diesen Mordauftrag, Frau Stein. Sie haben sich um das Geld gestritten. Kein Wunder, meinem Vater geht es immer nur ums Geld. Um Geld und Ansehen. Er wollte dem Kerl nicht mehr zahlen. Offenbar sollte der Killer noch ein paar weitere Bluttaten begehen, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu lenken ...«
Ben schlug die Augen nieder. Heike hätte triumphieren können. Genau das hatte sie die ganze Zeit gesagt. Aber ihre Kollegen wollten nicht auf sie hören. Doch solche Gefühle waren der Hauptkommissarin fremd. Es kam ihr nur darauf an, endlich den Mörder zu fassen.
»Konnten Sie mitbekommen, wo sich dieser Killer aufhält, Herr Evermann?«
»Leider nein.«
»Oder seinen Namen? Hat Ihr Vater seinen Namen erwähnt?«
Der Patient schüttelte den Kopf.
»Wollen Sie uns erzählen, warum ... warum Ihrer Meinung nach Ihr Vater den Mordauftrag erteilt haben könnte?«, fragte Heike vorsichtig. »Natürlich nur, wenn Sie es mögen.«
Erik Evermann grinste schief und hielt seine verbundenen Handgelenke hoch.
»Ich kann Sie beruhigen, Frau Stein. Ich werde diesen Unsinn nicht noch einmal machen. Ich bin froh, mir jetzt alles von der Seele reden zu können. Vielleicht hätte ich das schon früher tun sollen. Aber da waren auch diese verdammten Beruhigungsmittel, die mir mein Vater hat einflößen lassen. Die haben mich ruhig gemacht, ja. Ich wollte nur noch Ruhe. Und gibt es eine größere Ruhe als den Tod?«
»Erzählen Sie mir von Julia Sander.«
Für einen Moment leuchtete es in den matten Augen des Verletzten.
»Sie war ... wundervoll. So wie das Leben selbst. Manchmal benahm sie sich launisch wie ein Kind. Aber man konnte ihr nie lange böse sein, so wie man auf das eigene Kind vermutlich auch nicht sauer ist, wenn es eine Dummheit begeht.«
»Beging Julia Sander viele Dummheiten, Herr Evermann?«
»Sie werden vielleicht von ihren Männergeschichten gehört haben. Aber das bedeutete nichts. Für Julia waren diese Affären wie ein Spiel. Sie war eben wie ein Kind, das gerne spielt.«
»Und Sie, Herr Evermann? Konnten Sie es denn ertragen, Ihre Freundin mit anderen Männern teilen zu müssen?«
Für einen Moment herrschte Stille in dem Krankenzimmer.
»Ja, das konnte ich«, sagte der Verletzte langsam. »Das wird Sie vielleicht erstaunen, aber Julia und ich hatten ein ganz besonderes Verhältnis. Ich war nämlich der einzige Mann, den sie geliebt hat.«
Erik Evermann machte diese Aussage mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass zumindest er selbst ganz fest daran glaubte. Jedenfalls war das Heikes Eindruck.
»Ihr Vater hat aber Julia Sander offenbar mit anderen Augen gesehen.«
Ein bitterer Zug erschien auf Eriks Gesicht.
»Darauf können Sie wetten, Frau Stein! Für ihn war sie eine Schlampe, ein Miststück – ach, er hatte noch viel schlimmere Ausdrücke für sie. Dass ich sie geliebt habe, konnte er sowieso nicht verstehen. Das waren ›Flausen‹ für ihn. ›Ich werde dir die Flausen schon austreiben‹. Das waren seine Worte. Immer wieder habe ich mir diesen Satz anhören müssen.«
»Julia Sander hat also das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Vater verschlechtert?«
»Was für ein Verhältnis? Er hat mich als sein Eigentum betrachtet, Frau Hauptkommissarin! Wenn Sie das ein Verhältnis oder eine Beziehung nennen wollen ... Meine Mutter und ich waren sein Eigentum. Sie haben ihn ja erlebt, nehme ich an. Ich glaube nicht, dass er sich Ihnen gegenüber besonders umgänglich gezeigt hat ...«
»Nein, das hat er wirklich nicht«, gab Heike zu. Sie musste an den hasserfüllten Blick denken, den Marius Evermann ihr beim Treffen der Kauffahrer-Gesellschaft zugeworfen hatte.
»Für meinen Vater ist das Leben ein Krieg. Seltsam eigentlich, dass er Kaufmann geworden ist und nicht Offizier. Obwohl, so merkwürdig ist das auch nicht. Denn Tradition bedeutet meinem Vater alles. Unsere Familie verdankt ihren Reichtum dem Handel, Frau Stein. Wir sind ein alteingesessenes Hamburger Geschlecht, Kaufleute seit mindestens acht Generationen. Darum musste mein Vater natürlich auch Kaufmann werden. Und er hat mich gezwungen, in Amerika zu studieren. An der besten Wirtschaftsschule, die er sich leisten konnte.«
»Ich nehme an, mit Ihrem Studienabschluss steht Ihnen eine große Karriere ins Haus.«
»Oh ja!« Erik Evermann lachte bitter. »Sogar mein Selbstmordversuch wird daran nichts ändern. Mit meinem Abschluss kann ich mir die erstklassigen Managementposten aussuchen.«
»Wollten Sie deshalb nach Las Vegas?«, fragte Heike unvermittelt. »Um dort im Schnellverfahren Julia Sanders zu heiraten und ein neues Leben zu beginnen?«
»Ja, davon habe ich geträumt. Irgendwie aus dem Machtbereich meines Vaters entkommen und mit Julia glücklich werden.«
»Hat Julia Ihnen von den Morddrohungen erzählt, die sie bekommen hat?«
Erik Evermann schüttelte den Kopf. Er wirkte ehrlich überrascht.
»Nein, wann soll das gewesen sein?«
»Ein paar Tage vor ihrem Tod, nehme ich an.«
»Julia wirkte in letzter Zeit manchmal ... bedrückt, Frau Stein. Ich habe das auf den Dauerstreit mit meinem Vater geschoben. Natürlich hatte mein Vater seine Pläne mit mir. Ich sollte heiraten, aber natürlich standesgemäß.« Er lachte bitter auf. »Er hatte sogar schon eine Braut für mich ausgesucht. Wie im Mittelalter kam ich mir vor. Ich sollte die Tochter eines anderen Hamburger Großkaufmanns ehelichen. Geld findet zu Geld, wie es so schön heißt. Eine frisch gebackene Juristin mit einer großen Karriere vor sich. Zwar eiskalt wie eine Hundeschnauze, aber das kümmerte meinen Vater nun wirklich nicht.«
»Wäre es nicht einfacher gewesen, die Juristin zu heiraten und Julia als Geliebte zu behalten?«
Heike hatte ihre Frage bewusst herausfordernd gestellt. Und sie erzielte den erhofften Effekt.
»Ich habe schon begriffen, dass Sie mich für einen Weichling halten«, stieß Erik Evermann hervor. »Ich konnte meinem Vater nicht die Stirn bieten, habe immer nach seiner Pfeife getanzt. Sogar bei unserem ersten Treffen in meinem Elternhaus habe ich Ihnen teilweise das erzählt, was mir mein Vater eingetrichtert hat.«
»Ja, so hörte es sich wirklich an.«
»Aber trotz allem wollte ich Julia! Und zwar nicht als ein Spielzeug für nebenbei, sondern als meine Gefährtin an meiner Seite. Ich glaube, das hat mein Vater auch begriffen. Und damit habe ich Julias Todesurteil unterschrieben.«
»Es ist nicht Ihre Schuld, dass Ihr Vater Ihre Freundin ermorden ließ!«, sagte Heike eindringlich. »Das dürfen Sie sich nicht einreden. Liebe ist nicht berechenbar. Und man kann nicht einfach jemanden töten lassen, der einem nicht gefällt. Das wird auch Ihr Vater begreifen müssen.«
Nun schaltete sich Ben in das Gespräch ein. Er hatte die ganze Zeit still daneben gesessen und nur mitgeschrieben.
»Ihr Vater hat also eindeutig gesagt, dass er den Mordauftrag erteilt hat?«
»Ja, und dass er noch mehr Geld zahlen wollte. Wörtlich sagte er: ich will Ihnen das Geld lieber persönlich geben. Mitwisser kann ich nicht gebrauchen.«
»Das wäre natürlich eine Möglichkeit, sowohl Ihren Vater als auch den Auftragsmörder zu erwischen«, dachte Ben laut nach. »Nämlich in dem Moment, wo die Geldübergabe stattfindet.«
In diesem Moment kam Dr. Arnold ins Krankenzimmer.
»Es tut mir leid, aber der Patient braucht jetzt wirklich Ruhe!«
Heike stand auf und legte ihre Hand auf Erik Evermanns Schulter. Seine Haut fühlte sich eiskalt an.
»Sie haben uns sehr geholfen. Ich werde ein Protokoll unseres Gesprächs abtippen lassen. Dann schicke ich Ihnen einen Beamten, damit Sie Ihre Aussage durchlesen und unterschreiben können.«
Erik nickte. Im nächsten Moment war er eingeschlafen. Sein Bericht musste ihn wirklich sehr angestrengt haben. Die beiden Kriminalisten bedankten sich bei dem Stationsarzt und eilten hinaus.
»Was sagst du zu einem Kaffee, Heike? Mir klebt die Zunge am Gaumen.«
»Mir auch, Ben. Zum Glück gibt es hier auf dem Gelände eine Cafeteria.«
Dort saßen Heike und Ben eine Weile später und stärkten sich mit Kaffee und dänischem Plundergebäck.
»Dieser Erik ist ein armer Teufel«, sagte Ben. »Ein anderer Kerl in seiner Situation hätte den Vater umgebracht. Bei Erik ging die Wut gegen ihn selbst.«
»Beides ist nicht gut, würde ich sagen. Dieser Vater ist auf jeden Fall brandgefährlich. Wenn Marius Evermann sich zum Herrn über Leben und Tod aufspielt, gehört er jedenfalls dringend aus dem Verkehr gezogen.«
Ben stimmte Heike zu.
»Ich frage mich nur, ob die Beweislage ausreicht. Das mitgehörte Telefonat ist doch das einzige, was wir vorweisen können.«
»Du meinst, wir kriegen keinen Haftbefehl für Marius Evermann?«
Heike riss ihre großen Augen erschrocken auf.
»Es wäre immerhin möglich. Vergiss nicht, dass er ein wichtiger und sehr einflussreicher Mann in unserer Stadt ist.«
»Der Innensenator hat sich nicht von ihm einschüchtern lassen«, sagte Heike.
»Der Innensenator stellt aber nicht die Haftbefehle aus. Ich persönlich bin von Evermann seniors Schuld jetzt auch überzeugt, Heike. Aber ob das ausreicht, um ihn nach Santa Fu zu bringen?« So wurde die Hamburger Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel im Volksmund genannt.
»Fahren wir zunächst ins Präsidium zurück«, schlug Heike vor. »Mal sehen, was Dr. Magnussen zu der aktuellen Beweislage sagt.«
Der Himmel hatte sich inzwischen bezogen. Auf dem Weg zum Parkplatz spürten sie bereits die ersten dicken Tropfen auf ihren Körpern. Kaum saßen sie im Auto, als der Wolkenbruch losging.
Ben stellte die Scheibenwischer auf Schnellbetrieb.
»Hamburger Wetter! Ich habe vorhin noch überlegt, ob ich am Wochenende die Rasenkanten schneiden sollte ...«
Heike musste unwillkürlich schmunzeln. Die Probleme des Alltags waren es, die ihren harten Job erst erträglich machten.
Wenn man dauernd mit gewaltsamem Tod zu tun hatte, sehnte man sich nach harmlosen Schwierigkeiten wie den Rasenkanten, die geschnitten werden mussten. Oder bei Heike die defekte Beleuchtung an ihrem Mountainbike. Es wäre doch wirklich peinlich, wenn sie als Hauptkommissarin wegen so einer Sache mit einem Bußgeld belegt würde ...
Im Präsidium wartete bereits die nächste Überraschung auf sie.
»Moment, sie kommt gerade rein!«, sagte Melanie Russ zu jemandem, mit dem sie telefonierte. Wild winkte Heikes Kollegin zu ihr hinüber.
Heike steuerte auf Melanies Platz zu.
»Für dich, Heike!« Mit diesen Worten gab Melanie Heike den Hörer. Und sie fügte hinzu: »Michael!«
Heike zog die Augenbrauen zusammen und fragte sich, wie viele hundert Michaels sie kannte. Oder waren es Tausende?
Doch als sie die Stimme hörte, wusste sie sofort Bescheid. Michael Sturup war ebenfalls Polizist. Doch er arbeitete nicht bei der Sonderkommission Mord, sondern beim Sondereinsatzkommando.
»Heike? Ich habe da was für euch, schätze ich. Du machst doch den Serienmörder-Fall, oder?«
»Wenn man das so nennen will ...«
»Was?«
»Schon gut, Michael. Ja, ich mache den Fall. Und was weiter?«
»Wir haben heute Eddie Behrens und seine Leute verhaftet. Es gab ein paar Rangeleien, aber die Kerle haben schnell gemerkt, dass mit meinen Jungs nicht gut Kirschen essen ist!«
»Gratuliere zu dem Erfolg, Michael. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, was das mit meinem Fall ...«
»Nicht so ungeduldig, Frau Kollegin. Bei dem Zugriff ist uns ein Mann in die Hände gefallen, der nicht zu Behrens' Bande gehört.«
»So etwas kommt leider vor.«
»Ja, aber es kommt nicht immer vor, dass gleich auf Polizeibeamte geschossen wird!«
»Verdammt!« Heike biss sich auf die Unterlippe. »Hat einer deiner Jungs ...?«
»Zum Glück hatten wir alle unsere Kevlar-Westen an. Sonst wäre Frank jetzt in dem Großen Polizeirevier dort oben im Himmel. Aber was ich sagen wollte: Die Waffe von dem Kerl ist genau diejenige, mit der die Parkmorde begangen wurden!«
Eigentlich war es ja nur ein Mord gewesen. Aber das war Heike in diesem Moment herzlich egal. Sie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern jagte.
»Bist du sicher?«
»Ich nicht, Heike. Aber die Kollegen vom Labor haben eine Schnellanalyse gemacht. Ein Irrtum ist zu 99 Prozent ausgeschlossen.«
»Habt Ihr den Verdächtigen schon vernommen?«
»Nee, wir haben erst mal genug mit Behrens' Leuten zu tun. Am liebsten würde ich ihn gleich dir überlassen. Auf jeden Fall bleibt er uns erhalten, also als U-Häftling meine ich. Allein schon wegen dem versuchten Mord an unserem Kollegen. Ich schicke euch den Täter gleich rüber!«
Heike bedankte sich. Als sie aufgelegt hatte, brach sie in einen Jubelschrei aus. Alle schauten zu ihr hinüber. Heike berichtete Ben und Melanie Russ im Telegrammstil, was sie gerade erfahren hatte.
»Ja, bei derartig schweren Beschuldigungen wird dieser Knabe wohl kaum auf Kaution freigelassen«, sagte Ben.
»Das wäre auch wirklich idiotisch«, meinte Melanie.
Heike und Ben gingen zu ihrem eigenen Arbeitsplatz hinüber. Wenige Minuten später führten zwei SEK-Beamte den Gefangenen hinein. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt.
Einer der Beamten überreichte Heike eine Kopie des vorläufigen Untersuchungsberichtes der Schusswaffe. Danach musste die Kriminalistin quittieren, dass sie den Gefangenen übernommen hatte.
Dann gingen die SEK-Leute wieder.
Heike musterte den Festgenommenen kurz. Er war für einen Mann recht klein, nicht viel größer als sie selbst. Sein dunkelbraunes Haar war modisch kurz geschnitten und gepflegt.
Er trug eine hellbraune Bundfaltenhose und ein dazu passendes dunkelbraunes Jackett mit Fischgrätmuster, darunter einen cremefarbenen Rollkragenpulli. Die Kleidung machte einen sehr gepflegten Eindruck. Der Mann war glatt rasiert, mit einem leichten Bartschatten am Kinn. Allerdings war inzwischen auch schon später Nachmittag.
Heike führte den Gefangenen in einen Verhörraum. Ben kam ebenfalls mit. Die Kriminalistin stellte sich und ihren Kollegen vor.
»Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Sie können alleine aussagen oder Sie können einen Rechtsbeistand hinzuziehen. – Welche Möglichkeit wählen Sie?«
»Einstweilen keine davon«, sagte der Gefangene mit unverkennbarem Schweizer Akzent. »Holen Sie jemanden von der Staatsanwaltschaft. Ich möchte erst mit einem Staatsanwalt reden.«
Der Verbrecher machte einen ruhigen, fast entspannten Eindruck, wie Heike zu ihrem Missfallen bemerkte. Er saß so selbstverständlich in dem Verhörraum, als würde er sich in seinem eigenen Wohnzimmer aufhalten. Die Hände waren auf der Tischplatte gefaltet, nachdem Heike ihm die Handschellen abgenommen hatte. Entkommen würde er im Präsidium ohnehin nicht können.
Die Hauptkommissarin zuckte mit den Schultern.
»Wie Sie wollen ...«
Ben rief bei der Staatsanwaltschaft an. Eine gute halbe Stunde später erschien ein Dienst habender Staatsanwalt auf der Bildfläche, der sich als Dr. Meinhardt vorstellte.
»Ich will allein mit ihm sprechen«, sagte der Gefangene. Dr. Meinhardt warf Heike und Ben einen Blick zu.
»Wenn Sie bitte draußen warten würden ...«
Heike kochte vor Wut. Aber was blieb ihr anders übrig? Die beiden Kriminalisten gingen an ihre Schreibtische zurück.
»Dieser Schweizer ist kalt wie eine Hundeschnauze, Ben! Ich wette, er wird mit dem Staatsanwalt einen Deal ausmachen!«
»Sicher, darum hat er ihn rufen lassen. Aber was soll's? Wir sind hier nicht in Amerika. Mord bleibt Mord, da kann sich auch unser Schweizer Freund nicht herauswinden. Und sehr weit darf ihm auch der Staatsanwalt nicht entgegenkommen.«
»Das weiß ich auch, Ben. Mich wurmt es nur, dass dieser verflixte Mörder mit uns umspringt, als wären wir seine Lakaien.«
»Hauptsache, er gesteht«, brummte der vernünftige Ben. Heike holte zunächst einmal Kaffee. Sie warteten und warteten. Endlich kam der Staatsanwalt wieder aus dem Verhörraum. Er schloss seine Aktentasche.
»Herr Augustin wird Ihnen nun alles sagen, was er weiß«, sagte Dr. Meinhardt.
»Sind Sie mit ihm handelseinig geworden?«
Heike konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen.
»Das ist Sache der Staatsanwaltschaft«, erklärte der Jurist förmlich. Heike ließ die Sache auf sich beruhen. Sie wusste nur, dass dieser Augustin nicht freigelassen werden konnte, da er ein Kapitalverbrechen auf dem Kerbholz hatte. Und das war ihr erst mal am Wichtigsten.
Sie kehrten in den Verhörraum zurück. Der Kriminelle zeigte sich nun plötzlich sehr entgegenkommend.
»Fragen Sie nur, was Sie wollen. Ich werde nach bestem Wissen antworten.«
»Das tun wir, keine Sorge«, entgegnete Heike trocken. »Kommen wir zunächst zu den Personalien.«
»Ich heiße Lukas Augustin. Geboren wurde ich am 3. April 1972 im Kanton St. Gallen.«
»Schweizer Staatsbürger?«
»Jawohl.«
»Weshalb sind Sie zurzeit in Hamburg?«
»Geschäfte.«
»Aha. Ich habe hier einen ballistischen Untersuchungsbericht. Daraus geht hervor, dass sich heute in Ihrem Besitz eine Pistole der Marke Ruger KP 90 D befand. Aus dieser Waffe wurden in den letzten Tagen Schüsse auf mehrere Menschen abgefeuert. Können Sie dazu Angaben machen?«
»Ich bin es gewesen«, sagte Augustin freimütig. Ich habe die junge Frau im Stadtpark erschossen, außerdem den alten Mann in Rothenburgsort und den Jogger in Bergedorf verwundet.«
Heike und Ben tauschten einen viel sagenden Blick aus. Es kam selten vor, dass ein Mordverdächtiger so schnell geständig war. Oftmals musste man ihn stundenlang befragen, bis er endlich seine Schuld eingestand. Wahrscheinlich war ein schnelles Geständnis ein Teil der Vereinbarung zwischen Augustin und dem Staatsanwalt ...
»Warum haben Sie diese Taten begangen?«
»Weil ich dafür bezahlt wurde.«
Augustin griff in die Tasche. Er holte ein Foto hervor und legte es auf den Tisch.
»Ich sollte diese Frau töten. Außerdem noch auf ein paar andere Leute in Parkanlagen schießen, damit der Verdacht auf einen verrückten Serienmörder fällt.«
Heike atmete tief durch. Sie betrachtete die Aufnahme. Sie zeigte eine junge Frau in Minirock und ärmelloser Bluse, die lächelnd an der Reling eines Schiffes lehnte. Im Hintergrund sah man Wasser und ein Stück Küstenstreifen, außerdem einen Fahnenmast mit der dänischen Flagge.
Die junge Frau war niemand anders als Julia Sander!
»Sie haben dieses Foto von der Person bekommen, die Ihnen den Mordauftrag erteilt hat?«
»Jawohl, Frau Hauptkommissarin«, entgegnete der Mörder brav.
Heike stellte nun die entscheidende Frage.
»Wer hat Sie bezahlt, damit Sie diese Frau töten und die anderen Taten zur Tarnung begehen?«
»Der Name des Mannes lautet Marius Evermann.«
Heike empfand in diesem Moment keinen Triumph, obwohl der Auftragskiller das bestätigte, was sie die ganze Zeit angenommen hatte. Evermann hatte ein Menschenleben auslöschen lassen. Sollte Heike sich angesichts dieser Tatsache darüber freuen, dass sie Recht behalten hatte?
»Würden Sie Marius Evermann wieder erkennen?«
»Selbstverständlich, Frau Hauptkommissarin. Ich habe mich einmal mit ihm getroffen. Bei dieser Gelegenheit gab er mir das Foto.«
Heike betrachtete noch einmal die Aufnahme. Wahrscheinlich hatte der Sohn, Erik Evermann, den Schnappschuss gemacht. Vermutlich bei einem gemeinsamen Ausflug mit seiner Freundin. Sein Vater hatte dann vermutlich später das Foto an sich genommen, um dem Auftragsmörder sein Zielobjekt zu zeigen. Heike spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.
Zu was für einem Hass musste dieser Mann fähig sein!
»Wie sind Sie mit Herrn Evermann in Kontakt gekommen?«
Lukas Augustin ließ ein schmales Lächeln sehen.
»Sie werden verstehen, dass ich darüber keine Auskunft geben möchte. Das spielt für meine Taten auch keine Rolle.«
»Das überlassen Sie gefälligst uns!«, sagte Heike scharf. »Sie wollen also nicht verraten, wer Sie mit Marius Evermann zusammengebracht hat?«
Der Schweizer verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Geschäftsgeheimnis.«
Heike wusste nicht recht, ob sie sich über Augustins Art ärgern sollte oder nicht. Er war so geständig, wie es sich eine Kriminalistin von einem Beschuldigten nur wünschen konnte. Andererseits missfiel ihr, dass er seine Auftragsmorde anscheinend als eine ganz normale Dienstleistung betrachtete ...
Die Hauptkommissarin lehnte sich zurück.
»Schildern Sie bitte den Tathergang aus Ihrer Sicht«, forderte sie ihn auf.
»Gerne, Frau Stein. – Ich hielt mich vor meinem Schuss auf Julia Sander bereits einige Tage in Hamburg auf. Über eine Wohnungsagentur hatte ich mir eine möblierte Wohnung gemietet. Ich mag keine Hotels. Sie sind oft kalt und unpersönlich.«
Es war Heike herzlich egal, was Lukas Augustin mochte oder nicht. Sie forderte ihn mit einer Geste dazu auf, fortzufahren.
»Ich traf mich also mit Herrn Evermann. Er gab mir das Foto und verriet mir außerdem, wo Julia Sander arbeitete und wohnte. Die Idee, sie im Park zu töten, stammt von ihm.«
»Es war also von Anfang an klar, dass es noch weitere Opfer geben sollte? Um uns auf eine falsche Fährte zu locken?«
Und das wäre ja beinahe auch gelungen, fügte Heike in Gedanken hinzu.
Der Mörder nickte.
»Ja, ich sollte noch zwei weitere Menschen in anderen Hamburger Parks niederschießen. Damit die Öffentlichkeit und die Polizei an einen verrückten Serientäter glaubt. Ich habe allerdings darauf verzichtet, diese beiden weiteren Personen zu töten. Ich bin gegen unnötige Gewalt.«
Diese Worte aus dem Mund des Killers klangen für Heike wie der pure Zynismus. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Lukas Augustin konnte niemandem mehr gefährlich werden. Im Gegensatz zu seinem Anstifter Marius Evermann, der noch frei herumlief ...
»Kommen wir zurück zum 4. April, als Sie Julia Sander erschossen. Bitte schildern Sie mit eigenen Worten, was sich an diesem Tag zugetragen hat.«
Der Schweizer nickte.
»Ich hatte schon einige Tage lang die Zielperson unauffällig verfolgt. Manchmal schien es, als würde sie mich bemerken. Aber es ist mir immer gelungen, im Hintergrund zu bleiben. Jedenfalls bin ich davon überzeugt. Das gehört für mich zur Profiarbeit.«
Heikes Magen drehte sich um. Dieser Killer sprach über seine finsteren Taten, als ob er ein besonders sorgfältiger Handwerker wäre. Vielleicht sah er sich selbst ja auch so. Die Hauptkommissarin war jedenfalls erleichtert, dass ihre Kollegen Lukas Augustin erwischt hatten. Wenn auch mehr oder weniger zufällig.
»Halten wir uns an die Fakten, Augustin«, sagte Heike kalt. »Auch am Tag des Mordes sind Sie also dem zukünftigen Opfer nachgestiegen.«
»Sagen wir: Ich habe Julia Sander im Auge behalten, Frau Hauptkommissarin. Sie wollte zur U-Bahn-Station gehen, wie ich vermute. Sie nahm immer die Abkürzung durch den Stadtpark. Das kam mir natürlich wie gerufen, denn die anderen Aktionen sollte ich ja ebenfalls in Parks ausführen.«
»Sie gingen ihr also nach ...«
»Eine Weile ging ich ihr nach, Frau Stein. Dann bemerkte sie plötzlich, dass sie von mir verfolgt wurde. Sie begann zu laufen. Ich rannte natürlich nicht hinter ihr her. Jedenfalls nicht direkt. Ich wollte ja kein Aufsehen erregen.«
»Natürlich nicht«, warf Heike ironisch ein. Dieser Berufsverbrecher ging ihr mit seiner Selbstzufriedenheit gewaltig auf die Nerven. Aber falls Lukas Augustin ihren Sarkasmus bemerkte, reagierte er nicht darauf.
»Ich trug an dem Tag Sportschuhe, außerdem einen dunklen Freizeitanzug und einen Rucksack. Ich habe einen Bogen geschlagen, an der Brunnenhalle vorbei, und bin an Julia Sander auf einem Parallelweg vorbeigelaufen.«
»In welche Richtung flüchtete Ihr Opfer?«
»Zur Hindenburgstraße.«
Heike nickte. Bislang deckte sich die Aussage des Verbrechers mit den Ermittlungen.
»Ich habe zwischen einigen Bäumen auf Julia Sander gewartet«, fuhr der Killer fort. »Sie lief mir förmlich in die Arme. Als sie mich bemerkte, war es schon zu spät. Ich habe nur einmal geschossen und sie wie geplant tödlich getroffen.«
Heike wurde zunehmend wütender darüber, wie teilnahmslos dieser Kerl von der Ermordung des jungen Mädchens sprach. Sie musste sich zur Ruhe zwingen. Auch eine Kriminalistin ist nur ein Mensch.
»Haben Sie einen Schalldämpfer eingesetzt?«
Zum ersten Mal zeigte das glatte Gesicht des Schweizers so etwas wie Verblüffung.
»Ja, woher wissen Sie ...?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe eine Schlussfolgerung aus den Fakten gezogen. Es ist für mich nämlich nicht vorstellbar, dass man am helllichten Tag ohne Schalldämpfer in einem belebten Park schießen kann, ohne dabei bemerkt zu werden.«
»Respekt, Frau Hauptkommissarin! Genau das war auch meine Überlegung. Ich brauchte mindestens drei oder vier Minuten Vorsprung. Daher hatte ich den Dämpfer schon vorher auf meine Pistole geschraubt. Als Julia Sander zu Boden fiel, war gerade kein anderer Mensch in Sichtweite. Das musste ich ausnutzen. Ich schleifte die Leiche unter ein Gebüsch, wo sie nicht sofort gefunden werden konnte.«
»Was hätten Sie getan, wenn Sie jemand dabei beobachtet hätte?«
»Ich hätte behauptet, erste Hilfe leisten zu wollen. Aber es hat mich ja keiner gesehen. Es war schon fast am Morgen des nächsten Tages, bis die Leiche gefunden wurde. Das habe ich jedenfalls in der Zeitung gelesen.«
»Manchmal steht dort sogar die Wahrheit«, zischte Heike. »Sie haben ja nun schon oft und gerne betont, dass Sie ein Profi sind, Augustin. Aber in manchen Dingen haben Sie sich sehr unprofessionell verhalten.«
»Wirklich?« Der Killer klang fast gekränkt.
»Ja. Kein Profi lässt sich mit der Waffe erwischen, mit der er auf drei Menschen geschossen hat. Das ist doch durch ballistische Untersuchungen nachweisbar, wie Ihnen zweifellos bekannt ist. Warum haben Sie den Ballermann nicht in die Elbe geworfen? Sind Sie krankhaft geizig?«
»Nein, bin ich nicht.« Augustins Blick schweifte fast Hilfe suchend zu Ben hinüber. Doch dessen Miene war genauso undurchdringlich wie die von Heike. »Es ist nur so ... Hamburg ist nicht meine Stadt. Ich habe hier keine guten Verbindungen. In Zürich oder Berlin könnte ich mir jederzeit eine neue Ausrüstung besorgen. Aber hier ... hier hakt es schon an einfachen falschen Ausweispapieren. Wenn ich die rechtzeitig bekommen hätte, würde ich jetzt nicht hier sitzen.«
»Sie sagen das so ruhig. Macht es Ihnen gar nichts aus, dass Sie sich wegen Ihrer Taten vor Gericht verantworten müssen?«
»Natürlich macht es mir etwas aus. Aber soll ich deshalb die ganze Zeit in den Teppich beißen vor Wut? Ich habe diesmal verloren. Das ist eben mein Risiko als ...«
»... als Vollblutprofi, wollten Sie wahrscheinlich sagen«, höhnte Heike. »Aber das Foto Ihres Opfers haben Sie auch in der Tasche behalten.«
»Das ist sozusagen meine Lebensversicherung gewesen. Ich hatte es ja persönlich von Marius Evermann bekommen. Wenn er Schwierigkeiten gemacht hätte ...«
»Wollten Sie ihn erpressen, Augustin?«
»Sagen wir: Ich wollte ihn davon überzeugen, mich nach Vereinbarung zu bezahlen. Morgen hatte ich vor, ihn noch einmal wegen einer zusätzlichen Summe zu treffen.«
»Also doch Erpressung?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich brauchte mehr Geld, um aus Hamburg zu verschwinden. Es war ganz im Sinne von Marius Evermann, dass ich die Stadt verlasse. Er erklärte sich bereit, sich morgen mit mir zu treffen.«
»Kommen wir noch einmal auf die Tat zurück«, sagte Heike. »Sie haben also die Leiche ins Gebüsch geschleift. Was haben Sie danach getan?«
»Ich bin zu Fuß zur U-Bahn-Station Alte Wöhr gegangen. Dort hatte ich einen Leihwagen geparkt. So konnte ich entweder mit der U-Bahn oder mit dem Auto fliehen, falls mir etwas verdächtig vorkam. Aber es ist mir niemand gefolgt. Meine Pistole samt Schalldämpfer habe ich direkt nach dem Schuss wieder in meinem Rucksack verstaut. Nachdem mir niemand gefolgt ist, bin ich zu meiner möblierten Wohnung an der Eiffestraße gefahren.«
Heike nickte. Auch wenn sie Lukas Augustin verabscheute, musste sie doch zugeben, dass er ziemlich clever war. Schlimmer noch – sie hätten ihn vielleicht niemals erwischt, wenn er nicht zufällig in den Einsatz gegen Eddie Behrens geraten wäre ...
»Ich denke, das reicht für den Moment«, sagte die Kriminalistin. Sie massierte ihre schmerzende Nackenmuskulatur.
»Wegen der übrigen Taten können wir das Verhör auch morgen fortsetzen. Die Anklage lautet einstweilen auf Mord, Mordversuch und Widerstand gegen die Staatsgewalt in mehreren Fällen. Sie werden jetzt zunächst in die Untersuchungshaft gebracht.«
Ben telefonierte, um den Verbrecher fortschaffen zu lassen. Nach einigen Minuten kamen zwei uniformierte Kollegen.
Lukas Augustin stand auf.
»Sie sind sehr charmant, Frau Hauptkommissarin. Schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen kennen gelernt haben.«
»Schafft mir den Kerl bitte aus den Augen, Freunde!«, sagte Heike zu den uniformierten Polizisten.
Augustin grinste zynisch. Gleich darauf schloss sich die Tür hinter ihm und seinen Begleitern.
»Ein Auftragskiller als Herzensbrecher«, stöhnte Heike. »Das hat mir gerade noch gefehlt. – Komm', Ben. Ich bin gespannt, was Dr. Magnussen zu unserem Ermittlungsstand zu sagen hat.«
Es dauerte noch eine Weile, bis der Kriminaloberrat Zeit für seine beiden Mitarbeiter fand. Doch dann begrüßte er sie mit überraschender Herzlichkeit.
»Frau Stein, Herr Wilken! Was für eine erfreuliche Wendung dieses so aussichtslos erscheinenden Falls. Ich bin wirklich heilfroh, dass unser Sondereinsatzkommando diesen Serienmörder ...«
Heike fiel ihrem Vorgesetzten ins Wort. Sie konnte einfach nicht anders.
»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Magnussen. Aber Lukas Augustin ist kein Serienmörder. Er hat einen Mord begangen, und zwar im Auftrag von Marius Evermann!«
»Das ist nicht erwiesen ...«, begann der Kriminaloberrat. Doch Heike knallte ihm das Urlaubsfoto von Julia Sander auf den Tisch.
»Und was ist das hier, Dr. Magnussen? Seit wann haben verrückte Serienmörder Schnappschüsse von ihren zukünftigen Opfern in den Taschen? Dieses Foto hat Augustin von Evermann bekommen. Und zwar deshalb, damit er garantiert die richtige Frau erschießt! Wann sehen Sie endlich ein, dass Evermann der zweite Schurke in diesem Drama ist?«
Dicke Schweißperlen hatten sich auf der Stirn des Kriminaloberrats gebildet. Heikes Temperamentsausbruch war ihm offenbar unheimlich.
»Beruhigen Sie sich doch, Frau Stein! Dieser Fall hat Sie sehr mitgenommen, so scheint es mir. Mit der Aussage dieses Lukas Augustin und diesem Foto erscheint mir das Ausstellen eines Haftbefehls wirklich vertretbar.«

*

Am liebsten wäre Heike sofort losgerast. Doch sie sah ein, dass die Verhaftung von Marius Evermann hundertprozentig korrekt über die Bühne gehen musste. Der mächtige Mann war im Stande, wegen möglicher Formfehler seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Also durfte es keine Formfehler geben.
Während sie auf den Haftbefehl warteten, gingen Heike und Ben in die Kantine. Heike war so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen hinunterbekam. Aber dann löffelte sie doch eine Schale mit kaltem Nudelsalat und trank eine Cola dazu. Unkonzentriert blieb ihr Blick an einem Fernsehgerät hängen, das in einer Ecke flimmerte. Es war auf einen Privatsender eingestellt.
»Das gibt es doch nicht!«, rief Heike plötzlich. Sie deutete auf den Bildschirm.
Ben, der mit dem Rücken zum Fernseher saß, zuckte mit den Schultern.
»Ja, ich finde es auch nervig. Müssen diese Dinger denn überall laufen? Nirgendwo hat man seine Ruhe ...«
»Das meine ich doch nicht, Ben! Schau' mal hin!«
Der Kriminalhauptkommissar drehte sich um. Auf dem TV-Schirm war gerade eine Verhaftungsszene zu sehen. Zwei SEK-Polizisten mit Gesichtsmasken, Kampfanzügen und Helmen schleiften einen Festgenommenen in einen Gefangenentransporter.
»Schwerer Schlag gegen die St. Pauli-Mafia!«, rief der Kommentator mit sich fast überschlagender Stimme. »Heute Nachmittag gelang es einem Spezialkommando der Hamburger Polizei ...«
»Das war Lukas Augustin«, sagte Ben. »Man konnte ganz deutlich sein Gesicht sehen.«
»Wenn der Teufel es so will, schaut sich Marius Evermann auch diese Sendung an«, stöhnte Heike. »Dann weiß er, dass wir seinen Killer kassiert haben. Normalerweise dürfte er noch nichts davon ahnen. – Wir sollten jetzt aufbrechen und ihn uns greifen. Notfalls ohne Haftbefehl, wegen Verdunkelungsgefahr oder so.«
Sie wollte aus der Kantine eilen. Ben folgte ihr. Da kam ihnen Peter Mertens entgegen.
»Hier ist euer Haftbefehl«, sagte er und schwenkte das amtliche Dokument.
Heike riss es ihm aus der Hand. Sie und Ben rannten zum Parkplatz.
»Wohlerzogene Menschen sagen danke schön«, murmelte Kriminaloberkommissar Peter Mertens.