16. KAPITEL

 

»Oh, hier gefällt es mir«, sagte Caitlyn, als sie den Schlafsaal von Coco und Raquel in der Dragon Nest Academy betrat. »Es ist so bunt.«

»Das ist mein Bett.« Coco sprang auf ein Einzelbett mit einer leuchtend violetten Tagesdecke, die mit grellen pinkfarbenen Herzen bedruckt war.

»Mrs MacPhie hat erlaubt, dass wir unsere Sachen selber aussuchen«, sagte Raquel auf Portugiesisch. Sie kletterte auf ihr Bett, auf dem eine pinkfarbene Tagesdecke lag, die mit violetten Prinzessinnenkronen bedruckt war.

Caitlyn setzte sich auf den Rand von Cocos Bett und sah sich um. Die Wände waren rosa gestrichen, und ein violetter Fransenteppich lag auf dem Boden zwischen den beiden Betten. Toni hatte wirklich versucht, den zwei Mädchen hier ein Zuhause zu geben. Trotzdem waren die Kommoden und Nachttische deprimierend leer, es standen weder Spielzeug noch irgendein Mädchenkram herum.

Caitlyn kramte in ihrem Seidenbeutel und zog zwei ihrer russischen Puppen heraus. »Ich habe zu viele davon, deshalb hatte ich gehofft, ihr könntet für mich auf die beiden aufpassen.«

»Oh, die sind schön.« Coco krabbelte näher zu ihr.

Die kleinen Mädchen staunten, als Caitlyn eine der Puppen auseinandernahm.

»Da ist noch eine drinnen«, flüsterte Raquel.

Caitlyn reichte jedem Mädchen eine Matroschka.

»Danke!« Beide öffneten schnell ihre Puppen und plapperten dabei auf Portugiesisch.

Caitlyn lächelte. Ihre Schätze machten ihr jetzt, wo sie sie teilte, noch mehr Freude.

Sie war schon über eine Stunde in der Schule. Es hatte einige Male gebraucht, bis die Vampire sie, Toni, Carlos, Fernando und sein Gepäck transportiert hatten. Die Werpanther-Kinder hatten ihre Ankunft sehnsüchtig erwartet, und das Foyer war angefüllt mit begeisterten Rufen und Gelächter, als sie Fernando um den Hals fielen.

Caitlyn konnte nicht anders, als zu bemerken, wie viel leichter es ihm fiel, sich mit den Kindern zu beschäftigen, als Carlos, wie er sie umarmte und mit ihnen redete. Sie bezweifelte nicht, dass Carlos die Kinder liebte. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Und sie wusste, dass er sie um jeden Preis beschützen würde. Aber aus irgendeinem Grund zögerte er, sich ihnen emotional zu öffnen.

Der älteste der Werpanther-Jungen war der sechzehn Jahre alte Emiliano. Er war schlaksig und ein wenig ungelenk, aber Caitlyn bezweifelte nicht, dass er eines Tages genauso gut aussehend und grazil wie Carlos sein würde.

Die zwölfjährigen Zwillinge Teresa und Tiago kamen als Nächstes. Teresa trug massenweise Make-up, als versuchte sie verzweifelt, mindestens acht Jahre älter auszusehen. Caitlyn nahm sich vor, sie besser kennenzulernen, damit sie das Mädchen davon überzeugen konnte, dass sie natürlich schön war und sich nicht verbiegen musste.

Als Raquel und Coco angelaufen kamen, um Caitlyn zu umarmen, ging ihr das richtig ans Herz. Die Neunjährige und die Sechsjährige sahen so jung und verletzlich aus. Sie vermutete, dass sie sich ihnen so nahe fühlte, weil sie selbst neun Jahre alt gewesen war, als Shanna sie verlassen hatte. Sie hatte sich verlassen und alleine gefühlt, obwohl sie noch ihre Eltern und ihren Bruder gehabt hatte. Raquel und Coco waren noch viel mehr allein.

Caitlyns ganzes Leben lang waren streunende Hunde und Katzen zu ihr gekommen, um sich helfen zu lassen. Instinktiv hatten sie gewusst, dass Caitlyn sie verstehen und in ihr Herz lassen würde. Mit Coco und Raquel hatte dieses Phänomen eine neue Ebene erreicht, und ihr Herz antwortete darauf.

Die beiden gingen an ihrer Seite, jede an einer Hand, während Toni sie alle durch die Schule führte. Dragon Nest Academy befand sich in einem dreigeschossigen Anwesen mit H-förmigem Grundriss. In der Mitte befanden sich die Büroräume und Klassenzimmer. Im ersten und zweiten Stock des Westflügels gab es Schlafsäle für alleinstehende Männer. Einige verheiratete Paare, wie Ian und Toni oder Phil und Vanda, hatten ihre Zimmer im Erdgeschoss.

Der Ostflügel war den alleinstehenden Frauen vorbehalten. Coco und Raquel teilten sich im ersten Stock ein Zimmer, das sie Caitlyn dringend zeigen wollten. Sie war mit ihnen gegangen, während Carlos mit Fernando ging, um ihm zu helfen, sein neues Zimmer im Westflügel zu beziehen. Fernando hatte offiziell verkündet, dass er nach dem langen Flug nur noch ins Bett fallen wollte.

Caitlyn machte es sich auf Cocos Bett bequem. »Wo ist Teresas Zimmer?«

»Nebenan«, sagte Coco, während sie ihre fünf Puppen auf dem Kissen ausbreitete.

»Der Ostflügel wird jede Nacht abgeschlossen«, sagte Raquel.

Caitlyn setzte sich auf. »Aber ihr könnt doch noch das Haus verlassen? Wenn es zum Beispiel brennt?«

»Oh ja, wir können raus«, sagte Raquel. »Es kommt nur niemand rein.«

Coco lachte. »Onkel Carlos hat Angst, dass einer der Werwolf-Jungen uns mag. Er sagt, Hunde und Katzen passen nicht zusammen.«

Caitlyn schnaubte. »Lasst mich euch etwas sagen: Alle Männer sind Hunde.« Nachdem die Mädchen gelacht hatten, fuhr sie fort. »Ihr zwei seid zu jung, um euch Gedanken um Jungs zu machen.«

Raquel steckte ihre Puppen wieder ineinander. »Onkel Carlos sagt, wir sind die wertvollsten Mädchen auf dem Planeten. Unsere Spezies hängt von uns ab.«

Caitlyn zuckte zusammen. Eine so schwere Last sollte Carlos nicht auf die Schultern dieser Kinder legen. Sie musste mit ihm darüber reden.

»Teresa soll Emiliano heiraten«, sagte Coco.

»Teresa ist erst zwölf«, erhob Caitlyn Einspruch.

»Oh, nicht jetzt, sondern erst viel, viel später«, versicherte Raquel ihr. »In fünf Jahren oder so.«

Caitlyn verzog das Gesicht. »Und Teresa hat nichts dagegen?«

Raquel zuckte die Achseln. »Einen anderen als Emiliano kann sie nicht heiraten.«

»Er mag sie«, sagte Coco. »Er sieht sie immer an, wenn wir beim Essen sind.« Sie grinste Raquel an. »Ich habe gesehen, wie Tiago dich ansieht.«

Raquel schnaubte. »Er hat große Ohren. Du kannst ihn haben.«

Coco kaute auf ihrer Unterlippe. »Vielleicht können wir ihn teilen.«

»Man kann sich keinen Mann teilen!« Raquel verschränkte die Arme und machte ein angewidertes Geräusch.

»Augenblick mal.« Caitlyn stand auf. »Ihr seid noch viel zu jung, um ans Heiraten zu denken.«

Raquel starrte ihre Füße finster an. »Wir müssen unsere Spezies retten. Das sagt Onkel Carlos immer.«

Caitlyn stöhnte. »Onkel Carlos hat einen Tritt verdient.«

Raquel und Coco kicherten.

»Das würde ich gern sehen«, sagte Coco.

»Wenn jemand das schafft, dann Caitlyn«, fügte Raquel hinzu.

Die zwei Mädchen sahen voller Bewunderung und Hoffnung zu Caitlyn auf. Ihr wurde warm ums Herz, und das machte sie nur noch entschlossener. Diese Mädchen hatten eine Kindheit verdient, in der sie sich nicht darum sorgen mussten, ihre Spezies zu retten. Sie hatten bereits genug gelitten. Sie mussten in ihrem Leben eine Wahl haben. Wenn sie Carlos dabei helfen konnte, mehr Werpanther zu finden, würde das eine Last von ihnen nehmen. Und es erweiterte die Liste der infrage kommenden Partner für die Zukunft.

»Ich muss mit Emma sprechen.« Caitlyn ging zur Tür. »Ich bin bald wieder da.«

Nach zehn Minuten fand sie Emma und Angus im Sicherheitsbüro im Erdgeschoss, wo sie gerade etwas mit Ian MacPhie besprachen.

»Bist du bereit, ins Stadthaus zurückzukehren?«, fragte Emma.

»Ich würde gern mit euch reden, wenn es euch nichts ausmacht.« Caitlyn wartete darauf, dass Ian den Raum verließ, und unterbreitete ihnen dann ihren Vorschlag.

Angus und Emma sahen sie überrascht an. Als die beiden nicht sofort antworteten, redete sie weiter. »Ich habe Kontakte in den Botschaften von Bangkok und Chiang Mai. Ich spreche Thai. Ich kenne mich auch mit den Dialekten aus, die bei den Bergvölkern gesprochen werden, zu denen Carlos will.«

Angus hob eine Hand, um sie aufzuhalten. »Ich glaube, Carlos hat sich bereits um einen Übersetzer gekümmert.«

»Aber kann er einem Wildfremden vertrauen?«, fragte Caitlyn.

»Da hat sie nicht unrecht«, murmelte Emma. »Hatte Carlos nicht mit dem Übersetzer in Nicaragua Schwierigkeiten?«

»Als Übersetzerin ist sie unbezahlbar, das stimmt schon.« Angus sah Caitlyn besorgt an. »Aber schaffst du die Expedition in den Dschungel?«

»Wir müssen vielleicht nicht in den Dschungel«, sagte Caitlyn. »Ich habe schon immer Katzen und Hunde angezogen. Sie streben zu mir, so wie Raquel und Coco es im Garten von Romatech getan haben. Ich glaube, wenn ich bei Carlos bin, kommen die Werpanther zu uns.«

»Wie interessant.« Emma setzte sich auf den Rand des Schreibtischs.

»Ich habe schon eines der Bergvölker besucht, als ich noch für das Auswärtige Amt gearbeitet habe«, erklärte Caitlyn. »Ich glaube, wir könnten einfach bei diesem Stamm bleiben und uns dort von den Werpanthern finden lassen. Dann muss Carlos auch nicht ziellos durch den Dschungel streifen.«

Angus rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das sind alles gute Argumente. Was hält Carlos von deinem Einfall?«

Caitlyn rutschte hin und her. »Na ja, er...«

»Er ist garantiert dagegen«, sagte Emma. »Wahrscheinlich meint er, es ist zu gefährlich für dich.«

Caitlyn verzog das Gesicht. »Er hat so etwas erwähnt.«

»Es ist zu gefährlich«, murrte Angus.

Emma verdrehte die Augen. »Das sagen die Männer immer. Aber wenn du meinst, du schaffst es, Caitlyn, dann sehe ich keinen Grund, warum du nicht mit ihm gehen solltest.«

Caitlyn strahlte. »Danke.«

»Ich will nur wissen, warum«, fuhr Emma fort. »Warum willst du das riskieren? Mir ist klar, dass du dich zu Carlos hingezogen fühlst, aber du weißt doch, dass er auf diese Reise geht, um eine Partnerin zu finden.«

»Ich weiß.« Caitlyn seufzte. »Ich weiß auch, dass ich ihn vielleicht verliere. Aber ich will ihm trotzdem helfen. Ihm und den Kindern.«

Emma nickte. »In Ordnung. Ich sage, wir lassen sie gehen.« Sie sah ihren Mann fragend an.

Angus zögerte. »Bist du sicher, dass du das willst, Mädchen? Es könnte gefährlich werden. Auf jeden Fall wird es sehr ungemütlich.«

»Ich bin mir sicher.«

Angus nickte. »Dann hast du meinen Segen. Ich teile Carlos unsere Entscheidung mit.«

Nachdem Carlos Fernando dabei geholfen hatte, sein Zimmer im Westflügel zu beziehen, machte er sich auf den Weg ins Sicherheitsbüro, um mit Angus zu sprechen.

»Carlos?« Teresa kam ihm im Hauptkorridor entgegen. Sie schien nervös zu sein, ihre Zähne hatten rote Flecken davon, dass sie auf ihrer Unterlippe gekaut hatte, die mit einer dicken Schicht Lippenstift beschmiert war. »Kann ich mit dir sprechen? Unter vier Augen?«

»Ja.« Seine erste Befürchtung war, dass einer der Werwolf-Jungen sich in sie verliebt hatte. Auf dem Campus der Schule lebten zehn Werwolf-Jungen, die alle zum Alpha ausgebildet wurden, und Teresa war das einzige Mädchen in ihrem Alter. Es half auch nicht, dass sie immer versuchte, älter zu wirken. Er fragte sich, wie er sie überreden konnte, weniger Make-up zu benutzen, ohne ihre Gefühle zu verletzen.

Er folgte ihr in einen Raum voller Tische und Stühle und einem Fernseher.

Teresa ging im Raum auf und ab. »Das ist das Lehrerzimmer, aber jetzt ist niemand hier.«

»Das sehe ich.« Er sah ihr eine Weile dabei zu, wie sie nervös auf und ab ging. Was auch immer ihr auf dem Herzen lag, es fiel ihr schwer, darüber zu reden. »Ist dir einer der Jungen zu nahe gekommen?«

»Nein.« Sie rang ihre Hände ineinander.

Carlos fiel noch eine Möglichkeit ein. Sie hatte vielleicht angefangen zu menstruieren, was bedeutete, dass sie beim nächsten Vollmond ihre erste Wandlung vollziehen würde. »Ist die Zeit für deine erste Wandlung gekommen?«

»Ich... ich weiß nicht. Ich glaube nicht.« Sie atmete tief ein.

»Ich will nicht, dass du fortgehst.«

»Fernando ist hier bei euch...«

»Das ist es nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich will nicht, dass du noch einmal dein Leben riskierst, nur um eine Frau zu finden.«

Carlos seufzte. »Du weißt, dass ich eine Partnerin brauche. Und du und die anderen Mädchen, ihr braucht eine Werpanther-Frau, die euch hilft, wenn eure Zeit für die erste Wandlung gekommen ist.«

Teresa hob ihr Kinn. »Ich brauche niemanden, der mir hilft. Ich kann mich um mich selbst kümmern. Und ich kann mich um dich kümmern. Ich will deine Frau sein.«

Carlos wich vor Schreck einen Schritt zurück. Die Vorstellung war so haarsträubend, dass er beinahe laut losgelacht hätte. Stattdessen drehte er ihr den Rücken zu und räusperte sich. Merda! Wie konnte er ihr klarmachen, wie lächerlich das war, ohne ihre Gefühle zu verletzen?

Er drehte sich langsam um und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. »Es ist sehr lieb von dir, mir so ein Angebot zu machen, aber ich fürchte, es würde Emiliano am Boden zerstören.«

»Er kommt darüber hinweg. Er kann Raquel haben, und Tiago bekommt Coco. Siehst du, es passt alles perfekt.«

Carlos wich zur Tür zurück und stieß sie weit auf. »Emiliano ist perfekt für dich. Er ist sechzehn...«

»Er ist nur ein Junge. Nichts im Vergleich zu dir. Er hat nicht deine zusätzlichen Gaben.«

»Ich wünsche meine Gaben niemandem. Der Preis dafür ist viel zu hoch.«

Teresa trat auf ihn zu. »Ich weiß, was es dich gekostet hat. Du hast das alles durchlitten, um uns zu retten. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, um es dir zurückzuzahlen.«

»Du schuldest mir nichts, Teresa.«

»Aber ich liebe dich«, drängte sie.

Er zuckte zusammen. »Bewunderung ist nicht Liebe. Du weißt noch nichts von der Liebe. Du bist zu jung...«

»Sag das nicht!«, rief sie. »Ich habe gesehen, wie meine Eltern hingerichtet und ins Feuer geworfen worden sind. Ich habe mehr durchgemacht als Leute, die zweimal so alt sind wie ich.«

Carlos' Herz zog sich schmerzhaft in seiner Brust zusammen. Er hatte es schwer genug, mit all den Erinnerungen fertigzuwerden, die ihn täglich heimsuchten. Wie in aller Welt sollten diese Kinder damit umgehen können? »Menina, du bist zwölf Jahre alt. Ich bin achtundzwanzig. Es wäre nicht richtig«

Tränen flossen ihre Wangen hinab. »Ich will nur helfen. Warum hasst du mich dafür?«

Merda. Das hatte er vollkommen in den Sand gesetzt. Und jetzt traute er sich nicht einmal mehr, das Mädchen auch nur zu umarmen, weil sie weinte. »Ich könnte dich nie hassen. Tu mir einen Gefallen, ja? Setz dich hin und rühr dich nicht vom Fleck.«

Sie setzte sich an einen der Tische. »Ich würde alles für dich tun, Carlos.«

Er stöhnte innerlich auf und rannte ins Schulbüro. Glücklicherweise waren Toni und Ian gerade dort. Er erklärte ihnen schnell die Situation, und Toni eilte davon, um Teresa zu trösten.

Carlos lief unruhig im Büro auf und ab. Seine Expedition konnte nicht länger warten. Er musste fort von Teresa. Und von Caitlyn. Er drehte sich zu Ian um. »Weißt du, wo Angus ist?«

»Er ist im Sicherheitsbüro, mit seiner Frau und Caitlyn Whelan.«

Carlos erstarrte. Was machte Caitlyn bei den beiden? Ihm kam ein Verdacht, bei dem sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht gerade tat, was er vermutete. Er rannte gerade auf den Flur, als Angus aus dem Büro kam. »Ich muss mit dir sprechen.«

»Gut. Ich muss auch mit dir sprechen.« Angus öffnete eine Tür. »Das Zimmer hier ist leer. Komm rein.«