6. KAPITEL

 

Auf dem Parkplatz von Romatech Industries stieg Caitlyn aus dem Mietwagen und zuckte erschrocken zusammen, als sie sah, wie weit ihr Rock auf der Fahrt von Manhattan hierher hochgerutscht war. Sie zog den Saum zurecht, sodass er wieder knapp bis zu ihren Knien reichte, und knöpfte dann ihre Jacke zu. Sie sah noch einmal in die Lederaktenmappe, um sicherzugehen, dass ihr Lebenslauf und alle Zeugnisse darin waren.

Vor ein paar Stunden hatte sie sich dazu entschlossen, den Job bei MacKay Security and Investigation anzunehmen. Ein Gespräch mit ihrem Vater hatte ihr bei der Entscheidung geholfen. Sean hatte sie gebeten, sich in der Behörde mit ihm zu treffen, und dort in seinem Büro hatte er ihr die schockierenden Neuigkeiten eröffnet. Vampire gab es wirklich, und wenn sie sich seinem Stake-Out Team anschloss, konnte sie dabei helfen, die schrecklichen Blutsauger zu vernichten.

Zuerst hatte sie so getan, als wäre sie schockiert, aber es hatte keinen Grund gegeben, irgendeine Reaktion vorzutäuschen. Ihr Dad schien vergessen zu haben, dass sie im Raum war. Er war auf und ab gelaufen und hatte wild mit den Armen gestikuliert, gebrüllt und geflucht. Am Ende musste sie ihren Schrecken nicht mehr vortäuschen. Sean war so sehr von seinem Hass auf Vampire verzehrt, dass sie um seinen Verstand fürchtete. Er wollte sie alle umbringen. Jeden einzelnen.

Vor Angst, dass er sich eines Tages einreden würde, Shannas liebe Kinder wären Teufelsbrut und müssten deshalb vernichtet werden, hatte sich ihr die Kehle zugeschnürt. Nachdem sie den gehässigen Tiraden ihres Vaters zehn Minuten lang zugehört hatte, war sie aufgestanden und hatte ihr Bedauern darüber verkündet, dass sie sein Jobangebot nicht annehmen konnte.

»Was?«, hatte er gebrüllt. »Du kannst nicht ablehnen. Es ist deine moralische Pflicht, mir im Kampf gegen diese Monster zu helfen.«

»Ich... Ich kann nicht. Es tut mir leid.«

Er hatte einen weiteren Fluch gemurmelt und war im Raum auf und ab gegangen. »Ich mache dir keine Vorwürfe, wenn du Angst hast. Diese verdammten Parasiten sind furchterregend.«

Du auch. »Es tut mir leid, Dad.« Sie war eilig vor ihm geflohen und hatte ein Taxi zum Central Park genommen. Dort war sie auf den Wegen entlanggewandert, ohne die leuchtenden Beete von Narzissen zu bemerken, und hatte in Gedanken mit den neuesten Verwicklungen in ihrem Leben gerungen. In ihrer Kindheit hatte sie ihrem Vater vertraut und geglaubt, Shanna hätte sie verlassen. Jetzt war alles auf den Kopf gestellt. Vampire. Gestaltwandler. Malcontents. Ein Vater, der davon besessen war, sie alle umzubringen.

Und inmitten all der Verwirrung sah sie die unschuldigen Gesichter von Constantine und Sofia vor sich, und ihr Herz erfüllte sich mit Wärme. Sie erinnerte sich an die tränenreiche Freude, wieder mit ihrer Schwester vereint zu sein. Sie erinnerte sich an das Gefühl von Carlos' Armen, als er sie festhielt, und die Berührung seiner Lippen auf ihren. Und sie erinnerte sich daran, wie Coco und Raquel sie gebraucht hatten. Sie hatte sich so richtig und vollständig gefühlt, als hätte man ihr die heilige Mission aufgetragen, die zwei Mädchen zu beschützen.

Ihr Dad bot ihr ein Leben, das von Hass getrieben wurde, ihre Schwester dagegen ein Leben erfüllt von Liebe. Am Ende war ihr die Entscheidung leichtgefallen.

Caitlyn war zu Romatech gefahren, um das Jobangebot von MacKay Security and Investigation anzunehmen. Sie trug ihr bestes Kostüm und hohe Absätze. Ihr langes Haar hatte sie im Nacken zu einem ordentlichen Knoten geschlungen. Statt der roten bestickten Seidenhandtasche aus Singapur hatte sie eine schwarze Lederhandtasche mitgebracht.

So sehr sie den Job auch wollte, sie war immer noch skeptisch, was die Welt der Vampire anging. Nur für den Fall, dass es gefährlich war, ihren nackten Hals in deren Gegenwart zu zeigen, hatte sie sich einen Seidenschal umgebunden.

Auf dem Weg zum Eingang raste ihr Puls. War Carlos dort drinnen? Hatte er noch einmal an sie gedacht?

Die Tür öffnete sich, und Emma MacKay begrüßte sie. »Kommen Sie rein.«

»Danke.« Caitlyn betrat das Foyer. Ihre hohen Absätze klapperten dabei auf dem Marmorboden. Vielleicht war sie zu schick angezogen. Ihre neue Chefin trug einfache Jeans und einen grünen Pullover. Schwer zu glauben, dass sie ein Vampir war. Sie sah ganz normal aus und verhielt sich auch so.

Emma verschloss die Tür und drückte einige Knöpfe auf einem Sicherheitsfeld. »Wir müssen nachts aufpassen, weil das die Zeit ist, in der die Malcontents angreifen könnten.«

»Shanna hat mir ein wenig von ihnen erzählt«, sagte Caitlyn. »Sie hassen das synthetische Blut, das hier hergestellt wird.«

»Ja. Sie hängen dem veralteten Glauben nach, dass Vampire überlegen sind und das Recht haben, Sterbliche zu benutzen und auszunutzen, wie es ihnen gefällt. In Wahrheit waren sie auch früher schon eine Bande Schläger und Krimineller, und zu Untoten zu werden hat sie nur noch schlimmer gemacht. Sie sind eine Bande gnadenloser Killer, und wir tun unser Bestes, sie zu bekämpfen.«

Caitlyn unterdrückte ein Schaudern. Bei Shanna hatte der Job wie ein aufregendes Abenteuer geklungen - um die Welt reisen, sie zu einem sichereren Ort für die Sterblichen machen - aber jetzt fragte sie sich, wie gefährlich dieser Job werden konnte. »Was für Kräfte haben diese Malcontents?«

»Levitation, Teleportation, Gedankenkontrolle, übermenschliche Geschwindigkeit und verstärkte Sinneswahrnehmungen«, erklärte Emma, während sie Caitlyn den linken Korridor hinabführte. »Aber keine Sorge. Wir haben ein paar ausgezeichnete Vampirkrieger mit den gleichen Kräften auf unserer Seite. Und wir haben Angestellte mit allen möglichen Gaben und Fähigkeiten. Gestaltwandler, Sterbliche - gerade erst haben wir eine Sterbliche eingestellt, die Lügen erkennen kann. Robbys Frau, Olivia MacKay. Sie haben sie vielleicht schon kennengelernt.«

»Das habe ich. Als ich heute Morgen ins Stadthaus eingezogen bin, habe ich Olivia und Lara getroffen.«

Emma lächelte. »Sind sie nicht nett?«

»Ja.« Caitlyn hatte die beiden sofort gemocht. Sie hatte auch bemerkt, dass Olivia die Frau in der Laube in der Nacht zuvor gewesen war. Natürlich hatte sie nicht den Mann kennengelernt, der Olivia so zum Schreien brachte. Der war tagsüber tot.

»Ich fürchte ein wenig, nicht die richtigen Voraussetzungen für den Job mitzubringen«, gab Caitlyn zu. »Lara hat mir erzählt, sie war früher bei der Polizei. Und Olivia hat für das FBI gearbeitet.«

Emma legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Die beiden haben ihre eigenen Begabungen, aber Ihre ist wirklich einzigartig. Sie können in nur wenigen Stunden eine neue Sprache lernen, richtig?«

Caitlyn nickte. »Und ich verstehe jede Sprache, die man zu mir spricht.«

Emma riss die Augen auf. »Das ist erstaunlich. Liebe Güte, wir hätten Sie vor einem Monat gut gebrauchen können. Wir haben damals in Bulgarien Jagd auf Casimir gemacht, und keiner von uns hat die Sprache gesprochen.«

»Wer ist Casimir?«

»Der Anführer der Malcontents.« Emma deutete nach rechts. »Hier ist das Spielzimmer für Shannas Kinder und daneben ihre Zahnarztpraxis. Sie dürften bald ankommen.«

Die obere Hälfte der Tür zum Spielzimmer stand offen. Caitlyn spähte hinein und entdeckte Regale voller Spielsachen, Bücher und Stofftiere. Ein Schaukelstuhl stand in einer Ecke. Der Teppich war bedruckt, um wie eine Stadt mit Straßen und Gebäuden auszusehen.

Sie lachte in sich hinein. Auch wenn die Kinder ihrer Schwester zur Hälfte Vampir waren, gelang es Shanna, ihnen eine ziemlich normale Kindheit zu schenken.

Emma seufzte. »Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Wir haben nicht vor, Sie jemals in Gefahr zu bringen, aber wir haben es mit einem sehr gefährlichen Feind zu tun, also könnte es dennoch dazu kommen. Jeder Angestellte von MacKay wird in Selbstverteidigung ausgebildet, nur um sicherzugehen. Sind Sie damit einverstanden?«

Caitlyn musste schlucken. Der potenziellen Gefahr konnte sie nicht aus dem Weg gehen. Selbst wenn sie sich dem Stake- Out Team ihres Vaters anschloss, musste sie darauf vorbereitet sein, irgendwann mit einem Malcontent zusammenzutreffen. Wenigstens war sie bei MacKay S & I von Vampiren umgeben, die die gleichen Fähigkeiten wie die Malcontents besaßen. Und sie konnte ihre Schwester, ihre Nichte und ihren Neffen sehen. »Ich weiß, wie gefährlich es werden kann.«

Emma nickte. »Wir tun unser Bestes, um Sie zu beschützen.« Sie schnaubte. »Shanna würde mich wahrscheinlich im Schlaf pfählen, wenn ich zuließe, dass Ihnen etwas zustößt.«

Eine Tür am Ende des Korridors öffnete sich, und ein großer Mann in einem Kilt kam heraus. Caitlyn erkannte ihn als den rothaarigen Mann, der in der Nacht zuvor Basketball gespielt hatte.

»Angus.« Emma ging mit einem Lächeln zu ihm. »Das ist Caitlyn Whelan.«

Er streckte eine Hand aus. »Freut mich.«

Caitlyn schüttelte ihm die Hand. »Danke.«

Angus schlang einen Arm um Emma. »Hast du Miss Whelan schon davon überzeugt, für uns zu arbeiten?«

Als Emma zögerte, antwortete Caitlyn selbst. »Ja, hat sie. Es wäre mir ein Vergnügen.«

Strahlend lächelte Emma sie an. »Super!« Sie umarmte Caitlyn. »Danke, Liebes.«

Angus lachte in sich hinein. »Ausgezeichnet.«

»Yo, Schnecke.« Ein großer Mann füllte den Türrahmen aus und grinste Caitlyn an. Er trug eine Kakihose und ein marineblaues Polohemd. »Willkommen in unserem Haufen. Ich bin Phineas McKinney, auch bekannt als Dr. Phang.«

Caitlyn hatte auch ihn schon beim Basketballspiel gesehen. »Sie sind ein Vampirarzt?«

»Ich bin der Love Doctor.« Er zwinkerte ihr zu. »Jede Nacht bereit, in Fragen der Romantik beratend zur Seite zu stehen.«

»Danke. Das werde ich mir merken.«

»Dir sind sicher schon die ganzen glücklich verheirateten Pärchen hier aufgefallen.« Phineas stellte den Kragen von seinem Polohemd auf. »Ist es Zufall, dass so viel eheliches Glück entsteht, während der Love Doctor sich vor Ort befindet? Ich glaube kaum.«

Angus schnaubte. »Lassen Sie sich von seinen Albernheiten nicht täuschen, Miss Whelan. Phineas ist auf dem Schlachtfeld ein wilder Krieger, und der Feind hat ihn fürchten gelernt.«

»Oh, yeah, ich bin ein böser Kerl.« Phineas machte einen Moonwalk. »Böse bis auf die Knochen, Baby.« Er drehte sich im Kreis und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Au!«

»Und wenn er sich noch etwas professioneller benehmen könnte«, Angus sah ihn eindringlich an, »würde ich ihn zum Leiter der Sicherheitsabteilung hier bei Romatech befördern.«

Phineas blieb mitten in seinem Tanz stehen und riss die Augen vor Schreck weit auf. »Kein Scheiß? Ich meine, ist das Ihr Ernst, Sir?«

Angus Mundwinkel zuckten. »Ist es. Du übernimmst hier die Leitung. Connor ist immer noch manchmal vor Ort, aber er wird sich darauf konzentrieren, Roman und seine Familie zu beschützen.«

»Aye, aye, Captain.« Phineas salutierte.

Angus drehte sich zu Caitlyn um. »Sie müssen noch in Selbstverteidigung ausgebildet werden. Carlos ist als Ihr Trainer eingeteilt, bis er zu seiner Reise aufbricht.«

Caitlyn atmete tief ein. Wo wollte Carlos hin? War das die Reise, wegen der er sich letzte Nacht gestritten hatte, bevor es zu der Ohrfeige gekommen war? Er hatte davon gesprochen, eine Partnerin zu brauchen, aber darüber wollte sie nicht nachdenken. Das Wichtigste war jetzt, dass er sie ausbilden würde. Das bedeutete, sie verbrachten Zeit zu zweit.

»Ich hole eben die Formulare, die Sie ausfüllen müssen.« Emma schlüpfte ins Büro, und Angus folgte ihr.

Caitlyn trat ein und war sofort fasziniert von der Wand mit den Überwachungsmonitoren. Sie konnte die Eingangshalle und Korridore von Romatech überblicken und erkannte auch die Cafeteria. Sie sah den vorderen Parkplatz und das Basketballfeld. Die Laube und die Gärten.

Sie schluckte, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. Wenn das Büro letzte Nacht besetzt gewesen war, hatte man sie und Carlos beim Küssen gesehen. Sie versuchte, sich zu erinnern. Als sie in die Cafeteria zurückgekommen war, hatte Howard dort Kuchen gegessen. Vielleicht war der Kuss noch ein Geheimnis. Der heißeste, atemberaubendste Kuss ihres Lebens.

Sie wandte sich von den Monitoren ab und bemerkte, dass der hintere Teil des Büros mit einem Gitter abgesperrt war. Was für ein riesiges Arsenal von Waffen, Gewehren und Schwertern! Sie bekam vor Schreck eine Gänsehaut.

Das Gewalttätigste, was sie in ihren sechsundzwanzig Lebensjahren getan hatte, war, Kakerlaken mit Gummistiefeln zu zertreten. Und das war ein traumatisches Erlebnis gewesen, wenn man bedachte, wie riesig die Kakerlaken in Südostasien waren. Im Angesicht von großen bösen Vampiren mit Fangzähnen stellte sie sich vielleicht als Schwächling heraus.

Sieh es als Abenteuer an, rief sie sich in Erinnerung. Gewalt hatte sie immer verabscheut, aber sie liebte das Abenteuer. Und sie gab nicht so einfach auf. Sie war mutig genug gewesen, um an fremden exotischen Orten zu leben. Stark genug, um zu überleben, auch wenn sie sich immer einsam gefühlt hatte.

Sie war nicht mehr allein. Sie hatte Shanna und diese neuen Freunde. Als sie versuchte, sich zu beruhigen, spürte sie ein Kribbeln in ihrem Nacken, als würde man sie beobachten. Langsam drehte sie sich um. Phineas saß bequem in einem Stuhl vor dem Schreibtisch. Er lächelte sie freundlich an.

Sie erwiderte das Lächeln. Er war es nicht. Das Gefühl war etwas Heißes und... Gefährliches, als hätte jemand sie zu seiner Beute auserkoren. Angus und Emma standen vor dem Tisch, hatten ihr den Rücken zugedreht und blätterten durch einen Stapel Papiere.

Sie erstarrte. Hinter dem Schreibtisch, halb versteckt zwischen Angus und Emma, saß Carlos. Er starrte sie mit seinen eindringlichen Augen an, die bernsteinfarben glühten. Jeder Nerv in ihr begann zu vibrieren.

Sie zog eine Augenbraue hoch. Wollte er einfach dasitzen und nicht mit ihr reden? »Wie geht es dir?«

Seine Wangenmuskeln zuckten.

Angus drehte sich zu ihr um. »Miss Whelan, Carlos haben Sie, glaube ich, letzte Nacht schon kennengelernt.«

Sie öffnete den Mund, um dies zu bestätigen, aber das amüsierte Funkeln in Angus' Augen ließ sie zögern. Wusste er von dem Kuss?

»Wir haben uns kennengelernt.« Carlos stand langsam auf. »Kurz.«

»Ich habe ihn beim Basketballspielen gesehen«, murmelte Caitlyn.

»Oh yeah, Alter.« Phineas lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Carlos war der beste Spieler bei den Klauen. Er hat die Wolfjungen in den Schatten gestellt.«

»Aye.« Angus sah Carlos scharf an. »Ich habe gehört, du hast letzte Nacht einen Treffer erzielt.« Er sah Caitlyn an und dann wieder zu Carlos. »Das wird sich nicht auf deine Pflichten auswirken, hoffe ich?«

Carlos gebräuntes Gesicht nahm eine rosige Färbung an. »Nein, Sir.«

Caitlyn spürte, wie ihre eigenen Wangen heiß und rot anliefen. Angus weiß es.

»Wir haben im Stadthaus die Sicherheitsmaßnahmen verschärft«, fuhr Angus fort. »Phineas und Carlos, ich möchte, dass ihr wieder dort einzieht. Wir brauchen keine Wachen hier, wenn alle Vampire zum Todesschlaf ins Stadthaus gehen. Und weil Miss Whelan dort lebt, macht es das für dich einfacher, Carlos. Du kannst sie tagsüber ausbilden und gleichzeitig die Vampire bewachen.«

Carlos nickte. »Ich gehe packen.« Er ging um den Schreibtisch herum und stapfte aus dem Büro.

Emma sammelte einen Stapel Papiere zusammen. »Kommen Sie mit mir, Caitlyn. Sie können die Formulare im Konferenzzimmer ausfüllen.«

Während Emma einen Raum an der gegenüberliegenden Seite des Korridors betrat, blieb Caitlyn stehen und sah Carlos nach. Er hatte fast das Foyer erreicht. Genau wie Phineas trug er ein marineblaues Polohemd und eine Kakihose, doch auch die schlichte Kleidung konnte seine außergewöhnliche Art, sich zu bewegen, nicht verbergen. Geschmeidig und kontrolliert, maskulin und gleichzeitig elegant. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er als Katze im Dschungel seiner Beute nachstellte.

Er bog in die Eingangshalle ein, schaute zurück und blieb stehen. Einen prickelnden Moment lang begegneten sich ihre Blicke. Dann wanderte sein heißer Blick ihren Körper hinab und blieb an ihren nackten Beinen hängen, ehe er ihr wieder ins Gesicht schaute. Ihre Knie wurden weich. Wie viel von dem Monster lauerte unter der gut aussehenden menschlichen Fassade? Würde er schnurren, wenn sie ihn hinter den Ohren kraulte?

»Caitlyn?«, rief Emma.

»Ja.« Zögerlich wandte sie sich von Carlos' heißen Bernsteinaugen ab. Sie betrat das Konferenzzimmer und setzte sich auf den Stuhl, den Emma ihr anbot. Mit großer Mühe versuchte sie, jeden Gedanken an Carlos weit von sich zu schieben, damit sie sich auf das Geschäftliche konzentrieren konnte.

»Wir haben einige Formulare, die Sie ausfüllen müssen.« Emma legte die Papiere auf den Tisch vor sie hin. »Und Sie können sich noch aussuchen, welche Krankenversicherung Sie möchten.«

»Danke.« Caitlyn zog einen Stift aus ihrer Aktentasche, zusammen mit ihrem Lebenslauf und den Zeugnissen.

»Ich teile Ihnen noch eine Waffe für die Arbeit zu. Bin gleich wieder da.« Emma ging aus dem Zimmer.

Eine Waffe? Caitlyn musste schlucken. Ihr Vater hatte immer Waffen besessen, und er hatte ihr und ihrem Bruder den sicheren Umgang damit beigebracht. Über die Jahre hatte er Dylan oft mit auf den Schießstand genommen. Sie selbst durfte nur ein einziges Mal mit. Die Peinlichkeit war für ihren Vater wohl nur schwer zu ertragen gewesen.

Sie stöhnte innerlich auf. Sollte sie Emma gestehen, wie viel Angst sie vor Waffen hatte? Oder dass sie nicht einmal eine Scheune treffen konnte?

Sie schüttelte die Zweifel ab. Ihr unheilvoller Ausflug auf den Schießstand war zehn Jahre her. Dieses Mal würde sie sich besser anstellen. Sie musste. Ihr Leben hing vielleicht davon ab.

Das Waffenlager ihres Vaters war jetzt, da sie wusste, dass er schon immer bei der CIA angestellt gewesen war, viel verständlicher. Als junges Mädchen war sie in dem Glauben aufgewachsen, er würde friedlich in einem Büro für das Auswärtige Amt arbeiten. Das war gelogen gewesen. Jetzt fragte sie sich, welche Lügen er ihr noch aufgetischt hatte. Warum hatte Shanna nie einen ihrer Briefe bekommen?

Sie schob die Zweifel beiseite und begann die Formulare auszufüllen. Nach einigen Minuten kam Emma wieder und stellte eine kleine Schachtel auf den Tisch.

»Das ist Übungsmunition aus Plastik.« Sie öffnete die Schachtel, damit Caitlyn den Inhalt sehen konnte. »Ich habe Ihnen eine Neun-Millimeter Automatik zugeteilt. Carlos ist damit beschäftigt zu packen, deshalb habe ich Phineas gebeten, Sie auf unseren Schießstand im Keller mitzunehmen.«

»Okay.« Caitlyn sah die Munition misstrauisch an. Obwohl die Patronen aus Plastik waren, sahen sie immer noch ziemlich tödlich aus.

Emma hockte sich an die Tischkante. »Carlos will dringend bald zu seiner Reise aufbrechen, wenn es Ihnen also nichts ausmacht, fängt er Ihre Ausbildung gleich morgen an.«

Caitlyns Herz klopfte wild vor Vorfreude. »Okay.«

Emma betrachtete sie eingehend. »Wissen Sie noch, wie ich gesagt habe, dass Vampire verstärkte Sinne haben? Ich kann Ihren Herzschlag hören. Gerade hat er sich beschleunigt.«

Caitlyns Gesicht wurde warm. »Ich bin... aufgeregt wegen des neuen Jobs.«

»Angus hat mir erzählt, was er letzte Nacht auf einem der Monitore gesehen hat.«

Caitlyn zuckte zusammen. »Es war nichts. Wirklich.« Nur der heißeste Kuss, den sie je erlebt hatte.

»Na gut, vielleicht hat Angus übertrieben.« Emma lächelte. »Er kann ein hoffnungsloser Romantiker sein. Er hat gesagt, Sie und Carlos haben sich so heiß geküsst, dass er befürchten musste, der Garten fängt Feuer.«

War es so offensichtlich gewesen? Caitlyns Wangen brannten. »Ich... Es ist einfach so passiert. Normalerweise küsse ich keine Fremden.«

»Ich verurteile Sie nicht.« Emma berührte ihren Arm. »Ich mache mir nur Sorgen um Sie.«

Caitlyn stieß ein tiefes Seufzen aus und ließ die Schultern hängen. »Shanna hat gesagt, ich soll mich nicht mit ihm einlassen.«

Emmas Blick war voller Verständnis. »Das ist vielleicht das Beste. Er bricht bald auf seine Expedition auf, um Jagd auf weitere Exemplare seiner Art zu machen.«

»Werpanther?«

»Ja. Sie sind eine vom Aussterben bedrohte Spezies«, erklärte Emma. »Soweit wir wissen, sind er und seine fünf Adoptivkinder die einzigen Werpanther, die es noch gibt.«

Dies versetzte Caitlyn einen Stich. Jetzt wusste sie, warum Carlos sie zurückwies. Er brauchte eine Werpantherin als Partnerin.

Neugierig betrachtete Emma sie. »Aber es scheint merkwürdig, dass er Sie küsst, obwohl er vorhat, bald aufzubrechen.«

Caitlyn zuckte die Achseln. »Es ist... einfach so passiert. Ich werde keine Schwierigkeiten damit haben, mit ihm zu arbeiten.«

»Sie wollen ihn nicht noch einmal küssen?«

Caitlyn öffnete den Mund, um zuzustimmen, aber ihre Kehle schnürte sich zu, und sie konnte die Worte nicht herauszwingen. Liebe Güte, sie verzehrte sich danach, ihn noch einmal zu küssen.

»Oje. »Emma lehnte sich zurück. »Vielleicht sollten wir Sie lieber von Lara oder Olivia ausbilden lassen.«

»Ich will Carlos«, platzte es aus ihr heraus, und sie fuhr zusammen. »Ich meine, in einer rein geschäftlichen Beziehung. Ganz professionell.«

Emma schnaubte. »Ich erkenne einen freudschen Versprecher, wenn ich ihn höre.« Sie klopfte mit den Fingern auf den Tisch. »Interessant.«

»Das ist er.«

»Ich meinte die Situation.« Emma sah sie besorgt an. »Sie sollten darüber nachdenken.«

Caitlyn seufzte. Das wusste sie, doch immer wenn es um Carlos ging, setzte ihr Hirn aus.

Emma stand auf und sammelte die Papiere ein. »Wir sind hier fertig. Phineas bringt Sie runter zum Schießstand.«