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Ich liebe das Menschengewirr bei Harrods. Ich liebe es, hier oben zu sitzen und eine ganz traditionelle Teatime zu genießen, bei der ich die zahlreichen Besucher beobachten kann. Touristen mit Kindern und Rucksäcken, die nur die Karte studieren und dann kopfschüttelnd wieder gehen (kein Wunder bei den Preisen). Frauen, von denen ich nur die Augen sehen kann unter ihren schwarzen Burkas. Ältere Damen, die allein für den Tee hierher kommen und sich mit Freundinnen treffen.
Vor mir auf dem Tisch steht eine silberne Etagere, belegt mit winzigen Sandwiches, Shortbreads und kleinen Cupcakes. Drei volle grüne Tüten liegen zu meinen Füßen – ich hätte nicht gedacht, dass mir Shopping so viel Spaß macht, wenn ich nicht selbst dafür bezahlen muss. In meinem Portemonnaie befindet sich Adrians schwarze Kreditkarte, die mir hier tatsächlich Herzen öffnet. Eigentlich wollte ich nicht, aber jetzt bin ich froh, dass ich auf ihn gehört habe.
Seit vier Wochen wohne ich nun schon bei ihm und arbeite mit Adrian an seinen Büchern. Mein Zimmer in Newcastle hat Jonathan übernommen. Cat hat geweint, als ich die fünf Umzugskisten mit meinen Habseligkeiten geholt habe, aber dann überreichte Adrian ihr einen Schlüssel für ein kleines, sehr schönes Apartment in Shoreditch und sie war wieder glücklich. Seitdem hat sie mich schon zweimal in London besucht, allerdings war sie eher für die Privatpartys von Nelson hier, zu denen Adrian ihr Zutritt verschafft hat. Im Gegensatz zu mir weiß sie die Vorzüge seiner Clubs offenbar zu schätzen. Und neuerdings ist ihr Ehrgeiz an ihrem Studium wieder erwacht, weil sie so schnell wie möglich fertig werden und umziehen möchte. Mit Jonathan.
Ich nippe an dem köstlichen grünen Tee, der in der filigranen Porzellantasse dampft, und greife nach meiner Handtasche, um das Päckchen herauszuholen. Adrian hat es mir heute Morgen in die Hand gedrückt, nachdem ich gesagt habe, dass ich mir einen Tag für mich wünsche. Zusammen mit seiner Kreditkarte, die ich empört zurückgeben wollte, aber er hat mich überredet. Jetzt ist es drei Uhr, meine Füße brennen vom vielen Laufen und ich bin erschöpft, als hätte ich zehn Stunden am Stück gearbeitet. Und glücklich.
In einer der Tüten befindet sich ein schwarzes, sündhaft teures winziges Etwas, das ich natürlich für ihn gekauft habe. Zusammen mit hübschen schwarzen Pumps, die eine kleine Schleife an der Ferse haben, und Nahtstrümpfen. Ich weiß, dass er so was mag, und ich habe mir selbst darin gefallen. Jetzt freue ich mich auf sein Gesicht, wenn ich ihm meine Errungenschaften heute Abend vorführen werde.
Vorsichtig löse ich das braune Papier vom Päckchen. Zuerst fällt ein kleines schwarzes Buch heraus – der Moleskine. Mein Herz rast, als ich es hastig aufschlage und durch die Seiten blättere. Die zahlreichen Frauennamen stehen immer noch darin, aber alle anderen Informationen sind durchgestrichen und unkenntlich gemacht. E-Mail-Adressen, Telefonnummern ... nichts mehr da. Nur die Namen sind geblieben. Als ich an die Seite mit dem Buchstaben G komme, bleibt mir die Luft weg. Sie ist herausgerissen, stattdessen steht da in seiner sorgfältigen, geschwungenen Handschrift:
Sorry, Kleines, aber diese Daten sind mir zu wichtig. Mit dem Rest kannst du tun, was du willst.
Meine Augen werden ganz heiß, und als ich die Papierbögen aus dem Umschlag ziehe und den Titel lese, läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken. Himmel, er hat es ernst gemeint, sie existiert tatsächlich und war nicht nur ein Trick, um mich nach London zu locken! Es ist ... seine Biografie. Die ausgedruckten Seiten sind sorgfältig geheftet.
Adrian Moore – ein Leben zwischen Liebe und Wahnsinn
(Anmerkung des Autors: Dieses Buch ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern einer ganz speziellen Person gewidmet, von der ich weiß, dass sie es wertschätzen und sorgfältig damit umgehen wird.)
Ich lese, stundenlang. Zwischendurch bestelle ich frischen Tee, aber für die vielen Menschen um mich herum habe ich keinen Blick mehr. Fieberhaft blättere ich durch die Seiten, lese jedes einzelne Wort, ohne auch nur eine Stelle auszulassen. Meine Augen brennen, ab und zu tropft eine Träne auf eine der Seiten und durchnässt das Papier, verschmiert die Druckerschwärze.
Ich lese von Adrian, seiner Kindheit. Der Enttäuschung über seine Eltern, den ewigen Kampf und die Schuldzuweisung mit seiner Mutter, die ständig neue Männer in das Leben der beiden Jungs schleppte. Den Konkurrenzkampf mit seinem Bruder, die viel zu frühe Vaterrolle, die er für seine kleine Stiefschwester übernahm, weil seine Mutter unter der erneuten Trennung litt.
Ich lese von Drogen, von seiner Jugendliebe, die ihn für einen anderen, reicheren Mann verließ, weil sie nicht an ihn glaubte und ihn für einen ewigen Verlierer hielt, einen verträumten Spinner. Und zunächst schien es, als sollte sie recht behalten. Die ersten beiden Romane von John Karry bekamen Lobeshymnen der Feuilletons, gewannen zwei renommierte Literaturpreise, aber leider brachten sie nur sehr wenig Geld ein, von dem er unmöglich leben konnte.
Ich lese von den Jahren, die geprägt waren von Verlustschmerz. Von Carol und den schrecklichen Schuldgefühlen, die ihn beinahe in den Selbstmord getrieben hätten. Von der Erkenntnis, dass die Dinge, die wir unterlassen, häufig wichtiger für unser Leben sind als die Dinge, die wir tun. Von Unsicherheiten, Verzweiflung.
Dann kommt Gisele. Eine neue Welt, die ihm mehr über die Liebe und Beziehungen offenbart als alle Erfahrungen vorher. Die Probleme zwischen Männern und Frauen, das Problem, als Mann immer stark und dominant sein zu müssen, auch wenn man sich zwischendurch gar nicht so fühlt, den Wunsch vieler Frauen, schwach sein zu dürfen und sich hinzugeben, obwohl das in der heutigen Zeit politisch unkorrekt ist. Vom ewigen Kampf der Geschlechter, die sich suchen und nicht finden wollen, weil sie Angst haben. Ich lese über seine Verluste und seine Trauer, weitere Schuldgefühle. Weine über den Schmerz, den er mit tiefgründigen, feinsinnigen Worten schildert und mich dadurch miterleben lässt.
Schließlich der Bestseller – vom Verlag kalkuliert, trotzdem in seinem ungeheuren Ausmaß überraschend für alle. Auch für Adrian, der sich plötzlich mit einer starken Beliebtheit konfrontiert sieht und Schwierigkeiten hat, zwischen ehrlicher Zuneigung und Anbiederei zu unterscheiden. Der den Glauben an die Liebe verloren hat in all den Jahren, mit den Erfahrungen, die er sammelte. Bis er eines Tages auf der Buchmesse eine Frau trifft, die mit ihrer Art, ihrer Stimme und ihren Worten eine Saite in ihm zum Klingen bringt, die er lange vermisst hat. Eine Frau, die ihn mit ihrer Ehrlichkeit dazu zwang, sich Gefühlen zu öffnen, die er nicht mehr zulassen wollte.
Die junge Kellnerin räumt geräuschvoll meinen Tisch ab und mustert mich besorgt, weil meine Augen geschwollen sind und meine Nase in einem herrlichen Rot leuchtet. Himmel, ich hätte das nicht in der Öffentlichkeit lesen sollen, aber ich konnte einfach nicht mehr aufhören.
»Möchten Sie noch etwas trinken? Einen Whisky?« Sie neigt den Kopf zur Seite und lächelt, und ich nicke dankbar.
»Großartige Idee, ja! Danke!«
Als sie weggeht, schlage ich die letzte Seite auf und lese einen handschriftlichen Eintrag.
Kleines ...
Ich hoffe, ich habe kein Bild zerstört mit diesem Buch. Du weißt, was Gilbert Chesterton gesagt hat: Ein guter Roman verrät die Wahrheit über den Romanhelden, ein schlechter Roman verrät die Wahrheit über den Autor. Dies ist kein Roman – dies ist nur die Wahrheit über den Autor. Hoffentlich ist es trotzdem nicht so schlecht, wie Du vielleicht befürchtet hast. Allerdings fehlen Seiten, denn natürlich ist die Biografie noch nicht vollständig.
Du fehlst, Kleines.
Ich wünsche mir nichts mehr, als dass Du ein Teil dieses Buches wirst. Der wichtigste, der letzte Teil. Ein Teil von mir, und ein Teil von John Karry, wenn Du willst. Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, Dich zu verlieren. Ich kenne den Schmerz, deshalb habe ich keine Angst mehr davor. Und ich hoffe, dass auch Du Deine Ängste endlich loswerden kannst, wenn Du mich besser verstehst. Wenn Du weißt, warum manche Dinge so geschehen sind. Wenn die Gespenster der Vergangenheit auch in Deinen Augen zu dem geworden sind, was sie sein sollen – ein Schattentheater, dessen Vorhang längst gefallen ist.
In Liebe
Dein
Adrian
»Ich hoffe, das sind Freudentränen?«
Die dunkelhaarige Kellnerin mit den riesigen Augen stellt einen köstlich duftenden Malt Whisky vor mich und betrachtet mich neugierig. Ich nicke und lache unter den Tränen, die meine Wangen nässen.
»Oh Gott, ja. Sie können sich nicht vorstellen ...«
»Sind Sie nicht die Freundin von Adrian Moore?«, fragt sie dann plötzlich, bevor sie sich zu mir setzt und mir das Glas hinschiebt. »Ich kenne Sie doch aus der Zeitung. Sind Sie’s?«
Mein Magen flattert, hastig trinke ich einen Schluck. Jesus, daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Natürlich fand die Presse die ganze Sache mit Benedict und Gisele heraus und Adrian musste einige Schlagzeilen über sich ergehen lassen, nachdem Benedict verhaftet wurde. Er wartet auf sein Urteil, da Jenna ihn mit einer Aussage belastet hat, die mich wiederum entlastet hat. Denn ihrer Meinung nach ist Gisele nicht ganz freiwillig in den Freitod gegangen – Benedict war nicht länger bereit, sie mit Adrian zu teilen, und als sie nicht von Adrian loslassen konnte, hat er sie mit Tabletten vergiftet und vor Adrians Wohnung platziert, um ihm damit etwas anzuhängen. Die Polizei rollt die ganze Sache neu auf, und erst seit einer Woche ist wieder etwas Ruhe in den Medien eingekehrt. Heute war der erste Tag, an dem ich das Haus verlassen konnte, ohne einer Horde Paparazzi in die Arme zu laufen.
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein. Ich bin nur neugierig.«
Sie lächelt freundlich und ich bezahle meine Rechnung, weil es immer leerer wird hier oben. Schon fast Dinnerzeit, du meine Güte. Hoffentlich ist er nicht sauer, weil ich den ganzen Tag unterwegs war! Immerhin konnte er so in Ruhe arbeiten; wenn ich mit ihm im Arbeitszimmer sitze, wird er doch einfach zu häufig ... abgelenkt.
Grinsend schnappe ich mir meine Tüten und mache mich auf den Weg zurück ins Penthouse, das nur ein paar Meter entfernt liegt. Vor allem bin ich gespannt, ob meine Lieferung schon angekommen ist und was Adrian dazu sagen wird, dass ich so eigenmächtig gehandelt habe.
*
»Sorry, hat etwas länger gedauert!«, rufe ich, als die Lifttür sich öffnet, und stelle meine Einkaufstaschen im Flur ab. »Hallo?«
»Kleines? Ich bin ... hier.«
Oh-oh. Er klingt nicht gerade fröhlich und ich frage mich, ob es an meiner sagenhaften Verspätung liegt oder an der Lieferung. Ich streife die Sneakers ab und gehe weiter, bis ich ihn im Wohnzimmer entdecke. Inmitten einiger ziemlich großer ... Pflanzen. Sein Gesicht verdüstert sich, als er mich sieht, und ich spüre, wie meine Wangen heiß werden.
»Nett«, sagt er dann, sein linker Mundwinkel verzieht sich nach oben. »Eine schöne Idee.«
»Ich ... oh Gott.« Entsetzt schlage ich die Hand vor den Mund. Der ganze weiße Raum ist voller Bäume, Blumen und Palmen. Herr im Himmel, das habe ich doch gar nicht alles bestellt! »Das muss ein Versehen sein, Adrian! Ich hab nur ein paar Blumen ... weil es so kahl hier war und ich dachte, Pflanzen könnten ...« Mein Herz wummert. Wie konnten die so dämlich sein?
»Komm her«, sagt er und streckt beide Arme aus, noch immer grinsend. Wie in Trance gehe ich auf ihn zu und starre dabei verwirrt auf das Sammelsurium von verschiedenen Pflanzen. »Niedlich, dass wir beide dieselbe Idee hatten. Zur selben Zeit.«
»Was?« Ich sehe ihm in die Augen. Er fährt mit dem Daumen über meine Unterlippe, bevor er sich zu mir herabbeugt und mich küsst. Unwillkürlich presse ich mein Becken fester gegen seins.
»Ich habe Pflanzen bestellt. So wie du. Jetzt müssen wir offenbar in einem Urwald leben.«
»Ach du ...« Ich breche in Gelächter aus und schüttle den Kopf. »Das kann doch nicht wahr sein!«
Mit Schwung legt er die Arme um mich und hat mich in wenigen Sekunden hochgehoben. Ich schmiege mich an ihn, mein Herz klopft schnell und in meinem Magen flattert Aufregung.
»Lauf nie wieder von mir weg, Kleines«, flüstert er und trägt mich rüber ins Schlafzimmer. »Es ist nicht nötig, um mir zu beweisen, dass du die größere Macht über mich hast.«
»So, habe ich das?«, frage ich und ziehe eine Braue hoch, bevor er mich aufs Bett fallen lässt. Ich wünschte, ich hätte die neuen Dessous und Strümpfe angezogen und würde nicht in Socken und Jeans vor ihm liegen, aber sein hungriger Blick bedeutet wohl, dass es ihm egal ist. Also ist es auch mir egal.
»Dabei bin ich mir sicher, dass ich dich viel mehr liebe als du mich«, flüstere ich, während er sich über mich beugt und meine Hose aufknöpft. Langsam. Noch langsamer zieht er sie über meine Hüften nach unten und küsst dabei meine Beine, Zentimeter für Zentimeter, während er leise weiterspricht.
»Liebe bedeutet nicht, die größte Macht über den anderen zu haben. Sondern ihm so zu vertrauen, dass man ihm die größte Macht freiwillig überlässt.« Kurz hebt er seinen Kopf, um mich anzusehen, und als sein Blick mich trifft, durchflutet Hitze meinen ganzen Körper. Mein Herz zieht sich zusammen. So viel liegt in diesem Blick. Alles. Er muss es nicht aussprechen, ich sehe es, spüre es, und trotzdem halte ich den Atem an und sehe ihm so tief in die Augen, dass ich das Gefühl habe, ganz und gar nackt zu sein.
»Ich liebe dich, Gwendolyn Hamlin, und ich gebe dir diese Macht von Herzen. Bleib bei mir. Lass zu, dass wir uns gegenseitig brauchen, so wie ich dich brauche.«
»Ich liebe dich auch«, flüstere ich. »So sehr. Mit dir fühle ich mich sicher und ganz. Und wunderschön. Du bist nicht so schwarz, wie ich dachte.«
Oh Gott, das ist er in der Tat nicht. Ich liebe seine sanfte Seite. Aber ich liebe es auch, wenn er mich über seinen Schoß wirft, wenn seine Hände mir beweisen, dass er grob und zärtlich zugleich sein kann. Wenn ich nur noch fühlen und genießen kann. Wenn er mich quält, indem er meine Erregung schürt und mir keine Erfüllung gönnt.
»Die Welt ist nicht nur schwarz und weiß, Kleines. Es gibt viele wunderschöne Farben darin.« Er zieht meine Socken aus und massiert sanft meine Zehen, während er mich ernst ansieht. »Es bedeutet auch nicht, kein Rückgrat zu haben, wenn man das erkennt. Es bedeutet nur, dass man erwachsen wird und die vielen Facetten der Welt akzeptieren kann. Unser Leben bietet so viel Platz dafür.«
Mir wird warm. Adrian rutscht nach oben zu mir, stützt die Hände neben meinem Kopf auf und sieht mich an. Sein Gesicht ist nur noch Zentimeter von meinem entfernt, ich spüre seinen Atem auf meiner Haut. All meine Körperhaare richten sich auf, als wollten sie ihm entgegenkommen.
»Rau oder zärtlich heute, Madame?«, fragt er grinsend.
»Beides«, flüstere ich, bevor ich ihn mit beiden Händen zu mir herabziehe und ihn küsse. Und dann verschwindet die Welt um uns herum. Die Geräusche verstummen, die Farben verblassen, und in meinem Kopf verstummen endlich die Stimmen der Vergangenheit. Die Rügen meiner Mutter. Die Lügen von Julius. Die unbekannte Stimme meines Vaters, den ich nie kennengelernt habe. Die bösen Stimmen meiner Vernunft, die mir einreden wollten, nicht gut genug zu sein. Das Weiß um uns herum, das Schwarz, vor dem ich mich so lange gefürchtet habe.
Als er mich endlich erobert und wir uns voller Leidenschaft vereinen, höre ich mein eigenes Stöhnen. Spüre unsere Körper, die zu einem werden wollen. So dicht, so tief. Dann wird alles in mir Rot, die Welt scheint zu explodieren und als roter Staub auf uns zurückzufallen. Ich sehe ihm keuchend in die Augen, während sich alles in mir verkrampft, pulsiert, zusammenzieht.
Rot. Was für eine wunderschöne Farbe. Unsere Farbe ...
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