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Cat ist nicht nach Hause gekommen letzte Nacht. Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, jetzt wecken mich bohrende, dumpfe Kopfschmerzen. Hervorgerufen durch zu wenig Schlaf und zu viele Tränen. Außerdem ist mir kalt, weil ich in dem dünnen Kleid und ohne Decke geschlafen habe, aber Adrians Sakko liegt zusammengeknüllt unter meinem Kopf. Ich fühle mich wie ein Zombie.

Schlecht gelaunt klettere ich unter die Dusche, trockne mich anschließend ab und gehe in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Gedanken kreisen in meinem Kopf, Wortfetzen, Bilder wie Lichtblitze. Ich möchte mich ausschalten, finde aber den Schalter nicht. Stattdessen ärgere ich mich kurz über den gähnend leeren Kühlschrank, ein Normalzustand, seitdem Kilian nicht mehr hier wohnt. Sogar die Milch ist alle, wie doof ist das denn? Ich hasse schwarzen Kaffee, aber einen Morgen wie diesen überlebe ich nicht ohne. Also schnappe ich mir entschlossen Portemonnaie und Schlüssel und gehe einkaufen. Unterwegs schreibe ich Cat eine SMS und frage, wann sie nach Hause kommt und ob ich Donuts mitbringen soll. Sie antwortet, völlig ohne schlechtes Gewissen. Bagel. Und Himbeermarmelade. Lieber Himmel, ich hoffe sehr, dass mit ihr und Jonathan alles okay ist und sie keinen Grund hat für so eine Zuckerattacke!

Trotz des Nieselregens sind die Menschen freundlich. Irgendwie scheinen sogar alle gute Laune zu haben. Nur ich nicht. Ich leide, und das darf meinetwegen jeder sehen. Das Problem ist nur, dass ich selbst der Grund für mein Leid bin und auf niemanden sauer sein kann!

Wie oft habe ich von dem Gefühl gelesen, innerlich zerrissen zu sein? Erst jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt. Ein großer Teil von mir sehnt sich nach Adrian, nach seiner Berührung, seiner Stimme. Ich will ihn anfassen, küssen, mit ihm schlafen, bei ihm sein. Ich rieche ihn auch jetzt – dieses unnachahmliche Parfum von Adrian Moore. Die verlockende Mischung aus dezentem Aftershave, Whisky, frischem Schweiß, wenn wir miteinander geschlafen haben. Ich will ihm zuhören, wenn er spricht, jedes Wort in mich aufsaugen, und ich will ihn ansehen, während er schreibt oder liest oder schläft. Die Falte auf seiner Stirn beobachten, wie sie immer tiefer wird, je intensiver er nachdenkt. Mich fragen, was gerade in seinem Kopf vorgeht, welche Sätze er formuliert oder worüber er grübelt. Noch nie im Leben habe ich mich so sehr nach etwas gesehnt, und noch nie hatte ich gleichzeitig so große Angst vor etwas. Die Gefühle drohen mich zu zerreißen, ich komme mir vor wie an ein riesiges Bungeeseil gebunden, an dem aus beiden Richtungen jemand zieht. Oben und unten. Hoch und tief. Himmelhochjauchzend ...

Hat Adrian recht und es ist Schicksal, dass wir uns auf der Buchmesse getroffen haben? Ich glaube nicht an Schicksal, auch nicht an Horoskope und sonstigen übersinnlichen Kram. Dazu bin ich viel zu nüchtern. Außerdem müsste ich sonst glauben, dass ein Stier wie ich niemals mit einem Skorpion wie Adrian glücklich werden würde. Nicht, dass ich das nachgelesen hätte oder so ...

Eifersüchtig, dominant, einschüchternd. Ja, das alles trifft wohl auf Adrian zu, aber es ist Blödsinn zu glauben, dass jeder Skorpionmann so wäre. Nein, genauso gut könnte ich an Schicksal glauben. Oder an so was wie Liebe auf den ersten Blick. Oder an Alf.

Als ich die Wohnungstür aufschließe, höre ich Stimmen aus der Küche. Cat ist wieder da, und sie ist offensichtlich nicht allein. Immerhin ist eine von uns glücklich, ich gönne es ihr von Herzen. Grinsend gehe ich hinein, stelle die Papiertüte auf den Tisch und ziehe meine Jacke aus, während ich laut »Guten Morgen!« rufe.

Die beiden fahren auseinander, als hätte ich sie beim Kiffen erwischt, dabei haben sie nur geknutscht. Nehme ich mal an. Cat starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Gwen?«

»Ja?«, frage ich zurück und mache Anstalten, die wenigen Einkäufe in den Kühlschrank zu räumen.

»Gwen ... warst du gerade einkaufen?«

»Nein, ich hab die Sachen der alten Dame nebenan geklaut. Natürlich war ich gerade einkaufen.« Himmel, hat Jonathan ihr gestern den Verstand aus dem Leib gevögelt oder was? Genervt drehe ich mich um und frage mich, was mit ihnen los ist. Jonathan beißt sich so heftig auf die Unterlippe, dass es sogar mir vom Hinsehen wehtut. Cat ist rot angelaufen, ich weiß genau wie sie aussieht, wenn sie versucht, ernst zu bleiben.

»Was?«

»Äh ... vielleicht hättest du dir vorher etwas ... anziehen sollen?«

Jonathan gibt so merkwürdig glucksende Geräusche von sich, dass ich erst ihn irritiert ansehen muss, bevor ich an mir runtergucke und den roten Filz entdecke. Filz? Oh verdammt, ich bin mit meinen Hausschuhen einkaufen gegangen und hab es nicht mal bemerkt! Ich schlage mir lachend die Hand vor die Stirn und schüttle den Kopf.

»Gott, ich hab glatt vergessen, mir Schuhe anzuziehen. Wie doof ist das denn?«

»Nicht nur Schuhe«, sagt Cat mit bedrohlichem Unterton, und dann gibt es kein Halten mehr. Die beiden brechen in schallendes Gelächter aus, das meine Ohren zum Klingen bringt. Was zum Teufel ...?

Meine Beine sind schwarz. Okay. Aber das ist ... das ist eine Strumpfhose! Mein Gesicht wird knallheiß. Ich bin in Strumpfhose und Pantoffeln einkaufen gegangen! Kein Wunder, dass die Leute alle so gute Laune hatten!

Cat heult vor Lachen. »Entschuldige, Süße, aber das ist ... wirklich ... dass ausgerechnet dir so was passiert!«

»Krieg dich wieder ein!«, knurre ich und lasse mich hastig auf einen Stuhl fallen, weil mir einfällt, dass die vermaledeite Strumpfhose nicht mal blickdicht ist. Jonathan hat also gesehen, dass meine Unterhose nicht aus der Kollektion von Victoria‘s Secret stammt, sondern aus der Kinderabteilung von Marks & Spencer. Und nicht nur er! Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und stöhne entsetzt.

»Hey, mach dir nix draus! Einigen Leuten hast du bestimmt den Tag gerettet mit der Aktion. Was meinst du, was die zu Hause zu erzählen haben?« Cat wischt ihre Lachtränen von der Wange und kommt zu mir, um mich zu drücken. »Ich mach Frühstück, okay?«

Mir ist der Appetit gründlich vergangen. Herr im Himmel, so was ist mir tatsächlich noch nie passiert! Das hätte eher zu Cat gepasst. Aber ich war offenbar so in Gedanken versunken, dass ich das überhaupt nicht bemerkt habe. Schön, dass wenigstens die beiden Spaß an dieser peinlichen Geschichte haben.

Cat kichert immer wieder, während sie ein paar Dinge aus dem Kühlschrank holt und auf den Tisch stellt. Ich höre, wie sie die Kaffeemaschine anwirft und Jonathan in unseren Schränken nach Geschirr und Besteck kramt.

Ich trinke Kaffee, esse aber nichts, weil ich trotz Hungers überhaupt keinen Appetit habe. Dazu kommt, dass Cat und Jonathan mich nervös machen. Sie füttern sich gegenseitig wie kleine Kinder und flüstern sich zwischendurch komische Sachen ins Ohr. Das junge Glück ist für mich nur schwer zu ertragen, auch wenn ich mir deshalb gemein vorkomme. Eigentlich sollte ich mich für Cat freuen und meine eigenen Sorgen ignorieren, sie ist schließlich meine beste Freundin. Ich fühle mich aber gerade wie Cruella de Vil und hasse mich selbst für diesen Neid.

Jonathan verabschiedet sich nach dem Frühstück zum Sport, ich räume den Tisch ab. Als ich gerade die schmutzigen Teller ins Spülbecken lege und Wasser einlaufen lasse, kommt Cat von hinten zu mir und legt mir die Arme um die Hüften.

»Also ... erzähl.«

»Was denn?«

»Nun stell dich nicht dumm, Gwen! Ich habe gestern Abend gesehen, wie Adrian Moore auf die Bühne gestürmt ist und dich nach draußen gezerrt hast. Das Nächste, was ich von dir gesehen habe, war deine Unterhose. Irgendwas ist also passiert, und ich will jetzt alles wissen! Erzähl mir nicht wieder, ihr habt in London nur gearbeitet und ein bisschen geknutscht, denn das kaufe ich dir im Leben nicht ab!«

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Okay, ich hatte mich gewundert, warum Cat mich nicht auf den gestrigen Abend angesprochen hat, aber offenbar wollte sie Jonathan gegenüber Stillschweigen bewahren. Wofür ich ihr sehr dankbar bin. Noch immer in Strumpfhose spüle ich weiter ab und fasse einen Entschluss.

»Gut, ich erzähle es dir. Alles. Aber du musst versprechen, nicht sauer auf mich zu sein und mir nicht den Kopf zu waschen.« 

Cat mustert mich von oben bis unten, dann nickt sie. »Das mit dem Kopf weiß ich noch nicht, aber ich bin ganz Ohr!«

Eine Stunde später hat meine beste Freundin den ersten Tropfen Alkohol an diesem Tag getrunken und sieht ein bisschen fertig aus. »Ich kann nicht glauben, dass du einfach abgehauen bist, Gwen. Entschuldige, ich wollte dir keine Standpauke halten und das werde ich auch nicht. Aber ... warum?«

»Du weißt, warum«, antworte ich und ziehe die Beine an meinen Körper, dann schlinge ich die Arme darum und stütze mein Kinn auf die Knie. Mir war nicht wohl bei diesem Gespräch, doch jetzt bin ich erleichtert, mich ihr anvertraut zu haben. »Ich kann das nicht, was er will. Das bin ich einfach nicht.«

»Fahr nach London, schlaf mit ihm, bis du nicht mehr laufen kannst, und lass es einfach passieren. Ehrlich, das ist ein guter Rat von mir, und ich meine ihn ernst!«

»Ich fahre ja nach London – aber nicht zu ihm! Ich werde stattdessen einen wirklich genialen Autor treffen und vielleicht endlich den Weg für meine berufliche Zukunft ebnen. Mit John Karry.«

»Gwen! Du bekommst einen Mann wie Adrian Moore auf dem Silbertablett serviert, er will dich, er ist hinter dir her und sogar so eifersüchtig, dass er nach Newcastle fährt, um bei der Premiere eines winzigen Theaters die Bühne zu stürmen ... Was willst du denn noch?«

Mein Schädel brummt vom vielen Denken, und ich finde gar keine vernünftige Antwort.

»Ich weiß, dass du unter der Sache mit Julius gelitten hast. Ich weiß auch, dass du Adrians Vorlieben nichts abgewinnen kannst und das alles unheimlich findest. Dass du dir Sorgen machst, ob das gut gehen kann. Na und? Er hat ja nicht gesagt, dass er dich anketten und verprügeln will, oder? Du wolltest doch immer einen Schriftsteller. Einen intelligenten, humorvollen Mann, zu dem du aufsehen kannst. Himmel, Gwen, er überragt dich um mehr als eine Kopflänge. Ist das nicht groß genug?«

»Darum geht es gar nicht!« Ich schüttle stöhnend den Kopf. »Ich habe Angst, Cat. Einfach nur riesige Angst. Weil ich der ganzen Sache nicht gewachsen bin. Er ist so ... dominant. So einnehmend. Er will nicht nur mit mir schlafen, er will mich besitzen. Wie soll ich mit so einem Menschen leben, geschweige denn glücklich werden? Er hat schlimme Dinge erlebt, ja. Das habe ich auch, wenn auch andere. Wir sind beide verletzt und tragen Narben auf der Seele, aber ich sehe nicht, dass wir uns irgendwie helfen können.«

»Ich schon.« Cat sieht mich fest an und wirkt plötzlich ungewöhnlich ernst. »Ich weiß, was du gleich sagen wirst. Du bist noch keine fertige Psychologin, solange du dein Studium nicht beendet hast, bla bla bla. Hier ist trotzdem meine Meinung: Adrian sucht nach einer Frau, die er beschützen kann, für die er Verantwortung übernehmen kann, die aber trotzdem selbstständig ist. Und das bist du ohne Zweifel. Du suchst nach einem Mann, dem du vertraust und der dir das Gefühl gibt, wirklich geliebt zu werden. Ich bin mir sicher, dass Adrian dir das bieten kann. Ich weiß, du findest ihn zu schön, zu oberflächlich, zu reich und kannst nicht glauben, dass er sich ernsthaft für jemanden wie dich interessiert. Du befürchtest, nur ein Spielzeug zu sein, das er schnell leid ist, und wieder verletzt zu werden. Ich gebe zu, die Gefahr besteht. Aber ...« Sie beugt sich weiter über den Tisch, den Blick fest mit meinem verhakt. »Es besteht immerhin auch die Chance, dass es gut geht. Wenn du mich fragst, liegt die bei ziemlich genau fünfzig Prozent. Du musst es nur wollen.«

»Du verstehst mich nicht, Cat! Adrian und ich, wir sind wie Feuer und Wasser. Du kennst meine Geschichte, du weißt, was ich erlebt habe. Mit meiner Mutter, mit Julius ... wie sollte ich mich jemals auf einen Mann mit so einem Kontrollwahn einlassen können? Der mich heimlich beobachtet, mich belügt, von mir aber bedingungslose Ehrlichkeit fordert? Der mich verfolgt und sogar ausflippt, wenn mich ein anderer auf einer Bühne küsst. In einer Theatervorstellung! Ich kann damit nicht leben.«

Meine Wangen sind feucht geworden, weil ich offenbar weine. Ich hab es nicht mal bemerkt. Cat greift über den Tisch nach meinen Händen und zieht sie in ihre Richtung. Hält mich ganz fest.

»Ich habe auch Angst, Gwen. Aber diese Angst darf mich doch nicht lähmen und dazu bringen, gar nichts zu tun! Wenn wir nicht durch das, was wir riskieren und was dann auch mal schiefgeht, stark werden, werden wir nie stark. Ein Verlust macht uns stark, aber auch eine Enttäuschung. Du hast vor zwei Jahren geglaubt, nie über Julius hinwegzukommen. Über das, was er dir angetan hat. Und jetzt sieh dich an – du bist auf dem besten Weg dazu! Also ruf Adrian an, oder schreib ihm einen Brief oder was auch immer, und sag ihm, dass du bereit bist. Bereit, dein Leben zu riskieren. Mit ihm.«

Nun fließen meine Tränen ungebremst. »Cat, ich ... will nicht.«

Ich weiß, dass man Menschen nicht verändern kann. Es ist ein ewiger Irrglaube, dass man sich verliebt und der andere so ist, wie man ihn am Anfang gesehen hat. Irgendwann stellt sich heraus, dass man sich selbst in der verliebten Blindheit ein eigenes Bild gemacht hat, und man versucht verzweifelt, den wahren Menschen nach diesem Bild zu formen. Doch das wird nicht gelingen, niemals. Und ich werde niemals mit ihm leben können. Mit dem, was er wirklich ist.

»Im Moment will ich einfach nur meine Ruhe haben.«

»Ja, dann schreib weiter an deiner Arbeit, vergrab dich in deinen Büchern und leide vor dich hin. Aber ich sage dir: Du läuft vor etwas weg, das dich längst eingeholt hat. Warum sollte es besser sein, sich selbst zu verletzen, als von jemand anderem verletzt zu werden?«

»Ich gehe arbeiten«, sage ich und stehe auf, der Diskussion müde. »Du wirst es vermutlich sowieso nie verstehen.«

»Das befürchte ich auch. Allerdings befürchte ich ebenfalls, dass du es selbst nicht verstehst. Und das, meine Liebe, ist verdammt traurig. Für dich und für euch.«