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»Calzone?« Antonio wirft mir einen fragenden Blick über seine Glastheke hinweg zu, und ich nicke, während ich mich Cat gegenüber an einen der kleinen Plastiktische setze. Antonios Pizzeria ist der einzige Ort in Newcastle, an dem man um diese Uhrzeit noch was Essbares bekommen kann.
»Klar. Wie immer.«
»Los, sprich! Wie war der Kuss?«
Cat öffnet eine Bierdose und prostet mir zu, als ob es sich um kostbaren Champagner handelte. Ich erzähle, während wir auf das Essen warten und billiges Bier aus billigen Dosen schlürfen. Warum ich gerade jetzt an den köstlichen Whisky von Adrian denken muss, weiß ich nicht. Mein Gehirn schiebt seit Wochen ständig irgendwelche Erinnerungen aus London in Situationen, die eigentlich gar nichts damit gemein haben. Blödes Gehirn!
»Und dann hab ich gesagt – Nein. Nicht so«, beende ich meinen Bericht von der Episode in der Umkleide des Theaters, und Cat lacht, laut und klirrend wie immer.
Antonio stellt meine Pizza und Cats Spaghetti Vongole zwischen uns. Er sieht müde aus, aber seine Brauen sind wie immer sorgfältig gezupft, was irgendwie nicht zu seinem markanten Gesicht passt. »Habt ihr Spaß?«
»Oh ja«, meint Cat glucksend und reicht ihm die inzwischen leere Bierdose. »Und wie!«
»Sehr witzig«, maule ich und zerschneide meine Pizza so heftig, als ob sie lebendig wäre und ich befürchten müsste, dass sie von meinem Teller flüchten könnte.
»Gwen, du fragst dich nicht ernsthaft, warum er so komisch reagiert hat? Du hast ihn abgewiesen! Du hast seine Männlichkeit vernichtet, indem du Nein gesagt hast! Ist doch klar, dass er durcheinander und verletzt war.«
»Ich habe doch erklärt, warum ich nicht ...«
»Das spielt keine Rolle! Ein Kerl, der deinetwegen eine Erektion hat und dann ein Nein hört, ist am Boden zerstört. Genauso gut hättest du ihn wegen seiner Schwanzgröße auslachen können. Das ist quasi ein traumatisches Erlebnis!«
Na toll. Ich habe Greg traumatisiert, was wahrscheinlich dazu führt, dass er nie wieder eine Erektion in meiner Nähe kriegt. Aus der Traum.
»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich wollte eben nicht. Nicht da.« Und vielleicht überhaupt nicht.
Cat schüttelt grinsend den Kopf. »Du bist einfach köstlich, Gwen. Es ist aber nicht alles verloren, wenn du es jetzt geschickt anstellst. Eventuell hast du Glück und Greg wird sogar schärfer auf dich, weil du Mrs Rühr-mich-nicht-an spielst.«
Ich schnaufe verächtlich. »Er ist es wohl nicht gewohnt, abgewiesen zu werden, schätze ich.«
»Stimmt. War sicher eine heilsame Erfahrung für ihn.«
Cat kichert immer noch vor sich hin. Offenbar hat sie aufgrund meiner Geschichte ihren Jonathan-Frust kurzzeitig verdrängt. Was mich sofort auf einen Themenwechsel bringt.
»Was macht der große Kommandant?«
»Flirtet mit MadeMoiSelle. Sehr erfolgreich. Sie treffen sich nächste Woche.«
Mir bleibt fast die Pizza im Hals stecken. »Hä? Wie willst du das machen? Dich verkleiden? Umoperieren lassen?«
»Nö. Ich dachte, du gehst für mich dahin und spionierst ihn ein bisschen aus.«
Was zum ...? Sie sieht wirklich aus, als ob sie das ernst meint. Du liebe Zeit!
»Du spinnst, Cat. Er kennt mich doch und wird mich sofort erkennen!«
»Nicht, wenn ich dich vorher ein wenig zurechtmache. Es handelt sich um einen sehr diskreten Ort mit sehr schummriger Beleuchtung. Und ich habe eine dunkelhaarige Perücke und eine Federmaske für dich.«
»Sag mal ...« Ich bin zu geschockt, um irgendwas sagen zu können. Also wenn sie glaubt, dass ich so einen Mist mitmache, dann hat sie sich geschnitten! Sie ist meine beste Freundin, aber das würde ich nicht mal für mich selbst machen! »Was soll das denn bringen?«, frage ich, als ob ich eine halbwegs vernünftige Antwort zu erwarten hätte.
»Du sollst mit ihm reden, ihn ein bisschen ausfragen, über mich und ob er gerade andere Frauen sieht ... und mir anschließend natürlich berichten. Und am Ende lässt du ihn abblitzen, weil du ihn in der Realität doch nicht so cool findest wie im Chat. Kein Risiko, Gwen, ich schwör’s!«
»Danke, aber ich habe vorerst genug von dominanten Männern«, knurre ich und schiebe den Rest meiner Calzone von mir. Mir ist der Appetit echt vergangen. »Und vergiss es. Wirklich!«
»Bitte, Gwen!« Cat sieht mich mit einem dieser Blicke an, mit denen sie nicht nur Männerherzen erweicht. Sie hat mich damit mal dazu gebracht, sie einem ihrer Verehrer gegenüber für tot zu erklären, weil der sich als Stalker entpuppte. Leider hat sie vergessen, ihn auch bei Facebook zu blockieren. Der Typ war echt sauer auf mich und hat behauptet, zwei Tage um Cat getrauert zu haben. Diesmal bleibe ich stur.
»Nein.«
»Du könntest von ihm etwas über Adrian erfahren. Jonathan war nämlich letzte Woche in London in so einem Club, und da hat er lauter wichtige Leute getroffen. Lord Nelson, Adrian Moore ... hat er mir stolz im Chat erzählt.«
Mein Herz setzt für zwei Schläge aus, bevor ich mich wieder im Griff habe. »Interessiert mich nicht«, sage ich ungerührt, aber der Knoten, der sich gerade in meinem Magen bildet, straft meine eigenen Worte Lügen. »Außerdem hat er das vielleicht nur erfunden, damit du auf ihn abfährst.«
»Quatsch. Wobei - das wäre natürlich eine gute Masche. Wer würde nicht gern mit jemandem ausgehen, der Adrian Moore kennt?«
Sie fixiert mich stirnrunzelnd mit ihrem Blick. So intensiv, dass ich ihm ausweiche. Zu durchdringend. Ich kann immer noch nicht gut lügen und fürchte, dass sie mir sofort ansehen wird, wie ich wirklich über Adrian denke. Den angeblichen Schmierfink.
»Haha«, sage ich also nur und hoffe, dass sie bald das Thema wechselt.
»Du hast gut lachen, Gwen. Du kennst den Meister persönlich! Und bist seltsam verschwiegen über alles, was in London vorgefallen ist.«
»Weil nichts passiert ist«, antworte ich und rutsche auf dem Stuhl hin und her. »Bist du fertig? Ich bin müde und will nach Hause.«
Wir gehen schweigend nebeneinander her, es ist eine laue Nacht. Die erste Hitze des Jahres, die in den nächsten Tagen erwartet wird, liegt schon in der Luft. Man kann den Sommer noch nicht wirklich fühlen Anfang Mai, aber heute kommt es mir vor, als ob ich ihn immerhin riechen könnte.
Cat brummt ab und zu etwas vor sich hin, was ich nicht verstehe, doch ich frage gar nicht nach. Wahrscheinlich ist sie sauer auf mich, weil ich ihren bescheuerten Plan mit Jonathan nicht unterstützen will. Warum sie nicht einfach mit ihm redet und ihm sagt, was sie für ihn empfindet, kann sie mir nicht erklären. Aber was rede ich eigentlich – ich will mir ja selbst nicht eingestehen, was mit mir los ist. Statt mich zu freuen, dass ich Greg wenigstens geküsst habe und damit einen riesigen Schritt weitergekommen bin, kann ich meine Gedanken nicht von Adrian lösen. Obwohl ich es wirklich versuche! Na gut, ein bisschen inkonsequent bin ich schon. Ich lese alles über ihn, jedes Wort, verfolge die Facebook-Gruppe der Fesselnden Liebe, in der immer noch heftig darüber diskutiert wird, wer denn nun in der Verfilmung die Hauptrollen übernehmen soll, lese täglich den Google Alert, der in meiner Mailbox landet ... Und warum? Das weiß ich selbst nicht.
Am liebsten würde ich das ganze Erlebnis löschen wie einen Film von einer Festplatte. Ist gar nicht passiert. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.
Falsch! Jede Minute hat sich in mein Hirn gebrannt, und manchmal habe ich das Gefühl, ihn riechen, sogar spüren zu können.
Cat fischt die Post aus dem Briefkasten, bevor wir nach oben gehen. In der Küche wirft sie drei Umschläge auf den Tisch und macht sich über unseren Barschrank her (der eigentlich nur ein Hängeschrank ist und in der Regel höchstens zwei oder drei angebrochene Flaschen irgendwas enthält, aber Barschrank klingt einfach besser). Während ich die Briefe durchsehe, von denen einer sofort meine Aufmerksamkeit erregt, gießt sie zwei Gläser Pimm‘s ein und setzt sich zu mir.
»Werbung? Oder Rechnungen?«
»Weder noch«, sage ich atemlos, den aufgerissenen Umschlag mit dem aufregenden Absender in der Hand. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. »Ich fahre nach London!«
»Adrian? Was hat er geschrieben, dass du nun doch wieder ...?«
»Nicht Adrian. John Karry!«
Cat zieht die Stirn kraus und mustert mich fragend. »Was ist mit dem?«
»Der Brief ist von meinem Professor. Er hat ein Angebot vom Yosemite-Verlag erhalten, der John Karry verlegt. Sie suchen jemanden, der sie bei der Biografie von John Karry unterstützt, und da ich meine Abschlussarbeit über ihn schreibe, meinte mein Prof, ich sei perfekt dafür.«
»Hey, das ist super! Wahnsinn!« Cat hebt ihr Glas und nimmt einen großen Schluck. »Hast du davon nicht immer geträumt?«
»Ich hätte nicht mal gewagt, davon zu träumen! Deshalb mache ich mir auch gerade ein wenig Sorgen.«
Cat verdreht stöhnend die Augen. »Gwen, ich bitte dich ... musst du hinter jeder guten Sache ein schwarzes Loch vermuten, das dich verschlingen will? Was soll daran jetzt bitte besorgniserregend sein? Du liebst John Karry, du schreibst eine Arbeit über ihn, und dein Prof hat dir einen Job vermittelt. Einen richtigen Job! Vor ein paar Wochen warst du ...«
»Ich weiß, was ich war«, unterbreche ich ihre Tirade und werfe den Brief auf den Tisch, bevor ich die Arme um die Knie schlinge. »Aber ... findest du nicht, dass das ein seltsamer Zufall ist? Wie kommen die ausgerechnet auf mich?«
»Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst. Für deine Verschwörungstheorien bin ich offenbar zu seriös.«
»Adrian Moore«, flüstere ich.
Cat zieht die schmalen Brauen hoch und rümpft die Nase. »Was hat der damit zu tun?«
»Ich weiß es nicht, aber ... es könnte ein Versuch sein, mich nach London zu locken, schließlich hat er das schon einmal getan. Er kennt John Karry und ich bin mir sicher, dass Adrian irgendwie dahintersteckt.«
»Findest du nicht du solltest mir langsam sagen, was passiert ist? Ich sehe dir an den Zehenspitzen an, dass du mir einiges verschweigst, und das mag ich nicht. Wir erzählen uns doch sonst alles!«
»Du erzählst mir alles. Auch Dinge, die ich gar nicht wissen will«, widerspreche ich. »Es gibt nichts zu sagen, außer, dass wir uns wegen seines Buches gestritten haben und der Auftrag damit erledigt ist.« Meine Wangen werden warm, aber Cat ist nicht so besonders gut darin, Körpersprache zu lesen. Irgendwie keine gute Voraussetzung für ihren zukünftigen Beruf als Psychologin.
Sie zuckt gähnend mit den Achseln. »Egal. Irgendwann kriege ich es sowieso raus. Ich habe dich im Verdacht, dass du Dinge getrieben hast, die dir im Nachhinein peinlich sind. Deshalb willst du es mir nicht beichten.«
»Quatsch«, antworte ich wenig überzeugend, was sogar Cat sofort auffällt.
»Ich wusste es! Spuck‘s aus, Gwen! Hast du etwas getan, was ich auch getan hätte? Bitte, lass mich stolz auf dich sein!«
Ich lache laut. »Quäl dich nicht! Es gibt nichts, was dich interessieren könnte. Nur langweilige Arbeit.«
»Dann weiß ich nicht, worüber du dir Sorgen machst. Du kannst an John Karrys Biografie arbeiten! Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer sein Werk so gut kennt wie du. Wahrscheinlich nicht mal er selbst. Das ist irre! Wir sollten das feiern, aber ich bin echt zu müde heute ...« Sie gähnt noch einmal, und ich winke ab.
»Schon gut. Ich kann‘s noch nicht wirklich glauben, bevor ich nicht mit meinem Prof gesprochen habe. Aber wenn das stimmt, dann feiern wir. Versprochen!«
Cat schlurft in ihr Zimmer und lässt mich in der Küche zurück. Nachdenklich starre ich auf den Brief, dessen Inhalt mir vorkommt wie eine Hiobsbotschaft, obwohl ich mich darüber freuen sollte.
Ich kann es Cat nicht sagen, doch ich bin mir sicher, dass Adrian seine Finger im Spiel hat. Er hat mich schon einmal mit John Karry nach London gelockt. Und als wäre das alles nicht genug, finde ich auf meinem Handy auch noch eine anonym verschickte SMS, als ich es im Bett noch einmal in die Hand nehme. Diesmal bin ich mir fast sicher, dass die Botschaft für mich bestimmt ist. Und etwas mit Adrian zu tun hat.
Großer Gott, worauf habe ich mich da nur eingelassen?