Eine Tat mit Folgen

 

Zwei Wochen hatte er warten müssen, um sich wieder hierher zu schleichen. Tage voller Ungeduld, weil er das Zimmer schon längst ins Herz geschlossen hatte oder besser - weil er dort sein durfte, was er war: Ein tüftelnder Zauberer.

Poe döste in Roberts Hemdsärmel und zuckte beim Träumen mit den Pfoten, Taris hockte wie üblich in Falkengestalt auf der Lampe, das eine Auge schlafend, vor dem mechanische Ersatzauge hatte er die hauchdünnen Facetten geschlossen. Lediglich seinen gefiederten Rücken hatte er in Richtung Kamin gedreht, als würde der Clangeist die Wärme des Feuers genießen.

Skee war vor einer Stunde lautlos verschwunden, nachdem sie ein verächtliches Stubenhocker gezischelt hatte. Für Skee ein Monolog von beinahe epischen Ausmaßen.

Robert dachte oft über dieses ungewöhnliche Trio nach, das auf so unerwarteten Wegen in sein Leben getreten war. Bis heute hatte er das darin verborgene Geheimnis nicht einmal ansatzweise entschlüsseln können.

Er lächelte, trank einen Schluck Tee und streifte sich seine Vergrößerungslinsen wieder vor die Augen. Zunächst einmal wollte er seinen Revolver ersetzen, der im Zug zerstört worden war. Hammaburg war kein Ort, an dem ein Mann, nur mit einer Klinge bewaffnet, des Nachts durch die Gassen spazieren sollte.

Doch seine Gedanken schweiften ab. ›Was hatte der Druide an jenem Tag dort im Zug gewollt?‹ Nur zwei Dinge waren dem Angriff zum Opfer gefallen, klammerte man das protzige Mobiliar der Königin einmal aus: das Buch seines Großvaters und eben sein Revolver. Nur ergab dies überhaupt keinen Sinn. Robert war nicht so dumm und schleppte das Original mit sich herum, Panzerzug hin oder her. Und seine Waffe bestand aus mechanischen Komponenten, sowie Zaubern - für jemanden wie ihn kein Verlust, schon gar nicht, wenn man einen zweiten Satz Bauteile in einem banngeschützten Koffer schon Wochen vorher in eben dieses Zimmer vorausgeschickt hatte.

Robert seufzte, stand auf, betätigte die Kurbel des kleinen Reisegrammophons, legte eine Platte auf den Drehteller, schob den Schalltrichter Richtung Tisch und machte weiter, während sanfte Geigenklänge den Raum erfüllten, als würden Myriaden von Blumenblüten durch einen düsteren Wald schweben.

Er säuberte die unteren Ansaugventile mit einer Nadel, kaum dicker als das Haar eines Hundes und versah sie dann mit einer speziellen Ölmischung, damit sie auch bei extremem Frost noch funktionierten. Denn alles hing davon ab, dass diese Ventile ungehindert Zugang zu den sie umgebenen Elementen hatten. Robert hatte hunderte Stunden damit verbracht eine Waffe zu ersinnen, die unabhängig war. Wie töricht war es, etwas zu erfinden, das nicht mehr funktionierte, nur weil eine Patrone fehlte? Sehr töricht, fand er. Also brauchte es eine Art von Munition, die einem niemals, oder selten, abhanden kam.

Das Ergebnis war ein Revolver, der die Luft ansaugte, diese zu einer komprimierten Kugel formte und abschoss, als bestünde sie aus Metall. Es war nur eine andere Definition von Materie. Regnete es zufällig wie aus Eimern und die Luft enthielt zu viel Wasser, so nahm die Waffe eben dieses Element und formte ihre Kugeln daraus. Das Gemisch verfestigte sich noch in der Kammer zu Eis und hatte beinahe ebensolche grausigen Eigenschaften wie eine normale Patrone. Nur, dass anschließend keine Kugel mehr zu finden war. Nach dem Auftreffen löste sich der Zauber auf. Luft und Wasser vermischten sich wieder mit dem allgegenwärtigen, vollkommenen Äther. Robert wusste, sollte seine Königin davon erfahren, würde sie ihm zuerst den Kopf abreißen, damit Ball spielen und ihn dann danach fragen, wie viele er davon herzustellen vermochte.

Das Verrückte dabei war, dass er die Linke für die Feinarbeiten benutzte - seine mechanische Hand. Auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte, so hatte das Metall, das um seinen verkrüppelten Arm vernietet war, so etwas wie ein Eigenleben entwickelt. Ja, zuerst waren da nur der Schmerz und der Hass gewesen, doch dann, als er das erste Mal Pulver in diese Maschine geleitet hatte, war etwas geschehen, das er sowohl fürchtete als auch unbändig genoss. In einer stillen Nacht hatte Robert diesem Gefühl einen Namen gegeben: Steinbaum. Es symbolisierte die unverrückbare Wahrheit seiner Verletzung, ihre Unbeweglichkeit und dennoch das Leben darin, das unaufhörlich Wurzeln schlug, nach noch mehr Leben suchte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Noch nicht.

Robert setzte das letzte Zahnrad ein, auf dessen innerem Kreis ein Zauber eingraviert war. Die Magie leitete die Trommel dazu an, weiter zu rotieren, wenn ein Schuss abgefeuert worden war, so wurde vermieden, dass die Kammern oder der Lauf sich von der Hitze der Kugeln womöglich verzogen.

Fertig.

Er umwickelte den Griff abwechselnd mit DaVinci-Leder und einem genieteten Bronzeband, denn es bot den bestmöglichen Halt und feuerte nur durch seine Aura. Solange keine andere Magie wie ein paar johlende, bunt bemalte Gallier die Naturgesetzte durchbrach und alles in heilloses Chaos stürzte, solange war er wahrlich ein Genie!

Der Saphir des Grammophons knisterte beharrlich in der letzten Rille. Robert schob den Revolver von sich, auf den Tisch, stellte das Mikroskop beiseite, legte die Linsen fort und fühlte sich dennoch wie ein Achilles, der alles für einen König erreichen wollte, nur damit er seinen Namen auf die oberste Tafel der Ewigkeit ritzen konnte.

Er rieb sich müde über die Nasenwurzel. 

Plötzlich erwachte der Falke, öffnete seine Augen.

»Skee berichtet, da schleichen Rabenmänner in der Gasse!« Robert sah auf. Wie die Clangeister untereinander Kontakt hielten, auch das war ihm ein Rätsel. Er löschte schnell die Pulverlampe. Sofort fiel der Raum in bewegte Dunkelheit, nur noch die Flammen des Kamins waberten unruhig über Boden und Möbel. Er überprüfte die Vorhänge, doch sie waren blickdicht zugezogen. Die Tür war mit einem Zauber versehen, der sie, sollte jemand versuchen ungebeten den Raum zu betreten, in Stein verwandeln würde. Es brauchte dann schon einen nicht eben kleinen Rammbock, um sie öffnen zu können.

Robert schob mit den Fingern einen kleinen Spalt in den Vorhang und linste aus dem Fenster. Nebel war aufgekommen, er konnte kaum etwas erkennen. Zwei Laternen warfen trübe Helligkeit auf das Kopfsteinpflaster, doch weder schwarz gekleidete Männer mit Rabenmasken konnte er ausmachen, noch sonst etwas, das irgendwie verdächtig erschien. Alles wirkte ruhig, so wie es sich um - er schaute auf seine Uhr - ein Uhr in der Nacht auch gehörte.

»Siehst du bitte einmal nach, was da eigentlich los ist, Taris?«

Der Falke schüttelte manierlich sein Gefieder aus, stieß sich von der Lampe ab und segelte mit wenigen Flügelschlägen mitten in den Kamin. Kurz bevor er die Flammen erreichte, verwandelte er sich in wirbelnden Rauch, schoss mit dem Aufwind des Feuers nach oben. Dort benutze er den Qualm des Schornsteins als Tarnung, bevor aus dem Rauch wieder ein Jagdvogel wurde, der über die Dächer davonflog wie ein normaler Vogel.

Robert weckte Poe auf, der mit kleinen Augen aus dem Ärmel tapste und ihn müde anblickte. Mit seinen Pfoten fuhr er sich über die schwarzen Knopfaugen und die Ohren, als müsse er sich erst einmal selbst wachrütteln. Er wirkte ungehalten.

»Es gibt vielleicht Ärger. Ich möchte, dass du hierbleibst und alles bewachst, hörst du?«

Der kleine Hamster setzte sich auf die Hinterbeine, sein weißer Bauch war kaum auszumachen in dem unsteten Licht. Die Natur wusste anscheinend, was sie tat.

»Skee?«, gähnte Poe.

»Ist draußen«, erklärte Robert.

»Taris?«

»Sieht nach, wo Skee ist!« Robert griff nach den Hosenträgern und ließ sie über seine Schultern flappen. Er hatte für diesen Unsinn keine Zeit. Vielleicht mussten sie ihr Quartier wechseln. Die beiden Koffer standen in einem Bannkreis, es wäre zwar kompliziert, aber möglich, sie zu versetzten.

»Ich muss doch nicht etwa kämpfen, oder?« In Poes Stimme schwang ein Hauch von heroischer Kapitulation. Robert lächelte ihn an. Er liebte dieses kleine Fellknäuel. Er war der ehrlichste der drei Clangeister, trug das Herz immer mitten auf der Zunge.

Robert zog sich die Stiefel über.

»Sollte es soweit kommen, kennst du ja den Weg.«

Poe entspannte sich ein wenig. Er ließ sich auf die Vorderpfoten nieder und kratzte sich mit den Hinterbeinen nicht vorhandenen Staub aus dem Fell, sodass es wie ein schnelles Klopfen auf dem Schreibtisch klang.

Robert knöpfte die Weste zu, legte das Holster an und nahm den Revolver vom Tisch.

Rauch trat durch die Flammen, setzte sich auf die Lampe und wurde zu einem Falken.

»Es sind drei. Sie entfernen sich von der Windgasse und verfolgen eine junge Frau.«

Robert setzte sich auf die Bettkante. Drei Rabenmänner. Eine junge Frau. Eine unheilvolle Kombination. Sein Großvater hatte einmal gesagt: Was immer du tust, tue es mit dem wahren Herzen. Doch das war Unsinn, wie sollte ein Organ wahr oder unwahr sein? Schlicht unmöglich. Taris sah ihn an, Poe sah ihn an.

»Was?», zischte Robert. Er merkte gar nicht, dass er schon den Mantel überstreifte, den er erst vor Tagen gekauft hatte. Die Zeitungen hatten vage von einigen Verschwundenen berichtet, kurz darauf war alles dementiert worden, eine bedauerliche Fehlmeldung. Er hatte den Zeilen nicht geglaubt. Warum solch eine verwirrende Handlungsweise? Robert hatte keinen plausiblen Grund dafür gefunden. Und wenn, so war ein kleiner Teil von ihm doch recht ungehalten darüber, dass niemand ihn in diese eventuell wichtigen Gerüchte eingeweiht hatte. Denn Coldlake war ebenfalls seit Wochen unauffindbar.

Taris´ Auge zoomte ihn heran, Poe stellte die Ohren auf, als müsse er ganz wichtigen Worten lauschen.

»Ja, verdammt! Ich kümmere mich darum! Zufrieden?«

Die beiden Clangeister nickten in gemeinsamer Zustim-mung.

Robert stand ohnehin bereits angezogen da, mit dem dunkelblauen, langen Mantel, wie ihn sonst nur Schiffskapitäne trugen, geschmückt mit einer Doppelreihe von Knöpfen, die einen roten, stilisierten Anker auf einem Rund aus schwarzem Perlmutt zeigten. Dieser Aufzug nötigte auf den ersten Blick Respekt ab, denn Kapitäne genossen im nordischen Feuerbund großes Ansehen. Robert hatte noch niemals davon gehört, dass ein Kapitän des Nachts ausgeraubt oder gar getötet worden war. Es kam einem Fluch gleich, so etwas Dummes zu tun. Also war dies die passende Tarnung, gerade hier im Hafenviertel. 

Er setzte sich eine Mütze auf und darüber den Dreispitz, sie hatten keinen in seiner Größe gehabt. Der Hut stank nach Fett, aber das musste er wohl, wenn er wetterfest sein sollte. Beim Kauf all dieser Dinge hatte Robert so kräftig gelogen, dass Thor der Hammer aus der Faust gefallen wäre. Schiffskapitän Eldon Teerbrook, dessen kostbarer Mantel und Hut bei einer beispiellosen Rettungsaktion zu Schaden gekommen waren, benötige Ersatz, hopphopp. Er habe dem Tod ins Auge gesehen, Freunde. Feuer im Maschinenraum, Evakuierung der Passagiere und Mannschaft in die Rettungsbote, nur der Kapitän löschte im letzten Moment das Feuer. Jetzt brauche er übergangsweise neue Kleidung, der Preis spiele keine Rolle, bei Hel! Man erwarte seinen Bericht in London, er müsse sich sputen.

Wer als Kind stundenlang mit seiner Schwester in den Wäldern des Schlosses herumgewuselt war, um dabei spannende Geschichten zu erfinden und später der fantastischen Literatur eines Jules Verne verfallen war, dem fielen solche Dinge von den Lippen wie Regen vom Himmel. Seinen Metallarm hatte er sorgsam verborgen, eine Verletzung vortäuschend.

Robert band die langen Haare mit einer schwarzen Klammer aus Eschenholz nach hinten, schlug den Kragen hoch und zog dünne Handschuhe über.

»Bei den Göttern, ich hoffe, ich spucke damit dem Kronprinzen nicht in irgendein düsteres Süppchen.«

 

Als er aus der Tür trat, konnte er nicht einmal das Ende der Treppe erkennen, geschweige denn den Garten dahinter. Der Nebel war dick wie Eintopf, alles schien ineinander zu wabern, in einem undurchsichtigen Grau gefangen, das die ganze Stadt ausfüllte. Zudem war es, als müsse man durch einen kalten, feuchten Lappen atmen. Robert knotete sich ein dunkles Tuch vor Mund und Nase.

Vorsichtig stieg er die Außentreppe hinab, durch den Garten, wobei er nicht wirklich sah, wohin er seine Schritte setzte, und dann auf die Gasse. Es war unwirklich, sogar die Geschäfte auf der gegenüberliegenden Seite waren kaum zu erkennen. Was war das für ein verrücktes Wetter? Er sollte seinen Kompass zu Rate ziehen.

»Hier entlang, Lord.« Robert zuckte zusammen, als Taris plötzlich neben seiner Schulter wisperte. Der Falke benutzte so gut wie immer eine förmliche Anrede. Das höchste der Gefühle war ein einfaches Robert, wobei er dann doch noch flugs ein Lord hinzufügte, damit eine gewisse Distanz gewahrt blieb zwischen dem Clanhüter und seinem Geist.

Am Ende der Windgasse - die Teil eines Halbrings war - lenkte  Taris ihn geradeaus weiter. Roberts Stiefel hallten zwischen den dunklen Backsteinen. Das Straßenschild, das an der Hauswand hing, konnte er im Dunst nicht lesen. Doch war es sicher einer jener engen Verbindungswege, die man in Hammaburg Stege nannte, denn er war kaum breiter als Roberts Schultern. Diese Stege verbanden oft die größeren Straßen miteinander, führten durch enge Häuserschluchten, Hinterhöfe und wilde Gärten, in denen die Bewohner Gemüse oder sogar Tabak anbauten. Es war das bevorzugte Verbindungsnetz des kleinen Mannes. Ein Gewirr, das einst aus Trampelpfaden entstanden war. Kein normaler Bürger - und schon gar kein Adliger - hätte je freiwillig solch einen Steg betreten. Doch heute Nacht war Robert kein Adliger.

Plötzlich war ein Scheppern zu hören, dann ein gedämpfter Schrei - und was war das? Lachen? Doch von wo diese Geräusche kamen, war kaum auszumachen. Der Nebel verschluckte sie, saugte sie in seinen grauen Bauch, und so schienen sie von überall und nirgends zu kommen. Robert hielt inne, schaute zurück. Er konnte eben noch den schmalen Spalt der Hauswände erkennen, durch den er auf den Steg gelangt war. Jetzt waren es nur noch unterschiedliche Grautöne. Er hielt den Atem an, lauschte. Ein Hund bellte. Ein Rufen, ein zugedonnerter Fensterladen. Vom Hafen, so vermutete er, erklang das tiefe Brummen eines Nebelhorns. Andere, hellere Töne antworteten. Vermutlich hatte vom Ruderboot bis hin zum Kriegsschiff alles gestoppt und Anker geworfen.

»Schneller, Lord, bevor es zu spät ist.«

»Einen Moment, Taris.« Robert kniete sich nieder, drückte auf eine Unebenheit im Absatz seines Stiefels. Ein leises Klicken und ein Teil des Absatzes drehte sich nach außen. In einer flachen Mulde verborgen lag darin ein Miniaturlabyrinth, mit einem Splitter Bernstein in seiner Mitte. Robert berührte den Stein mit der Fingerkuppe und flüsterte in seiner eigenen Sprache zwei Sätze, dann schloss er das Labyrinth wieder im Geheimfach ein. Das Ganze wiederholte er mit dem anderen Absatz. Er stand auf und setzte den einen Fuß härter auf, als man es tun würde, wollte man Krach vermeiden. Nichts. Kein Laut. Denn der Schall, den seine Stiefel beim Aufsetzen hätte machen müssen, wurde jetzt von einem zweiten, gegenläufigen Schall vollständig ausgelöscht.

Robert hastete dem Falken hinterher. Seine Schritte jetzt lautlos wie die einer Katze.

Wie nützlich diese Entscheidung gewesen war, erkannte Robert, als er eine schmale Brücke mit schweren Bohlen darauf überquerte. Man hätte das Poltern im halben Viertel gehört, ebenso hätten es die drei Rabenmänner vernommen.

Dann war er jetzt also auch noch zwischen die Fleete geraten. Hier wimmelte es von Lagerhäusern, Werkstätten, Schuppen und illegalen Verstecken. An den Enden dieser Fleete waren große Rondelle ausgehoben worden, damit kleine Boote und Schuten wenden konnten, nachdem sie ihre Fracht geladen oder gelöscht hatten. Es stank nach brackigem Wasser und das Fleet gluckste wie ein Schluckauf.

Mittlerweile hatte Robert völlig die Orientierung verloren, so musste er sich vollends auf Taris verlassen, der ihn weiter führte. Robert huschte zwischen alten Stützpfählen hindurch, aus den sicher Brennholz gemacht werden sollte, schlüpfte durch zwei weitere Stege, die kurz und noch schmaler waren. Dann öffnete sich ein Rund. Schemenhafte Segel hingen schlaff im Nebel, die Rahen, an denen sie hingen, wirkten wie schwarze Knochen, an denen noch Haut hing. Der Nebel wallte hier, weil unsteter Wind ihn trieb. Es war ein halbmondförmiger Platz, von Schuppen und seeluftzerfressenen Bretterbuden gesäumt und dahinter von hohen Häusern umstanden. Keine Laterne, kein Licht in den Fenstern. Es war totenstill, wären da nicht stöhnende Laute aus einem der schiefen Gebäude gedrungen. Jetzt nahm er auch das schwache, blaue Glimmen einer Pulverlaterne wahr, die hin- und herschwankte.

»Halt endlich das Licht ruhig, du Arsch.« Es war kaum zu hören, doch der Nebel trug die Worte dennoch zu ihm heran. Robert zog seinen Revolver unter dem Mantel hervor, der Griff erkannte den Besitzer und das fast zarte Zischen der Ventile vermischte sich mit dem Glucksen des Wassers neben ihm. Der Ton eines rohen Schlags drang durch den Dunst. Und ein flehendes Wimmern.

»Lass mir auch noch was übrig, verdammich.« Die Stimme grinste förmlich beim Sprechen.

Roberts Herz schlug schneller. Das Gewicht der Waffe strömte in seinen Körper. Er würde nicht dort hineingehen! Es hatte keinen Sinn.

»Skee!« Er dachte den Namen mehr, als dass er ihn aussprach, oder war es beides? Sofort ballte sich Rauch vor seinem Gesicht zusammen, heller als der Nebel, verwirbelt, aufgeregt.

»Keine Toten, bitte«, warnte Robert. Auch wenn er spürte, dass sie weit mehr wollte, so musste er sie zügeln. Zwei tote Rabenmänner waren keine Option.

Dennoch wusste Skee sofort, was zu tun war, denn die beiden hatten schon oft auf diese Weise geschossen. Der Rauch des Clangeistes verschwand im Lauf des Revolvers. Einen Lidschlag später kam der Rauch wieder daraus hervor, blieb mit seinem Ende darin verwurzelt, während Skees rauchiger Leib weiter in den Nebel tauchte, wobei der Faden ihres Seins immer dünner wurde. Sie suchte jetzt die beiden Stimmen, würde sie finden und dann markieren.

Ein Impuls lief durch die Waffe. Das Zeichen: Fertig und anvisiert!

Robert hoffte, dass Skee ihren Faden nicht an den Schläfen der Opfer befestigen würde. Dann krümmte er den Finger.

Ein Mal.

Die Patrone aus Luft und Wasser raste davon, durchstieß dabei den Faden des Clangeistes wie eine Welle aus Rauchringen.

Die Trommel summte eine Kammer weiter.

Wieder schoss die Kugel genau mitten durch den vorgegebenen Faden, fegte ihn in konzentrischen Kreisen beiseite.

Eine Stimme stöhnte auf, dann die andere. Zwei Körper fielen. Stille trat ein, ganz fürchterliche Stille.

Robert senkte die Waffe. Säure stieg aus seinem Magen die Kehle hinauf, er unterdrückte ein heftiges Husten.

»Bei den …«

Ein erbostes Knurren, dann sprang ihn ein Schatten an, warf ihn zu Boden, der Revolver schlitterte in einen Bretterhaufen, er sah ihm doch tatsächlich nach. Ein Fauchen stach ihm in die Nase, bestialischer Gestank, eine schnelle Bewegung und Schmerz durchzuckte seine Schulter wie eine Nadel aus Feuer. Robert schrie auf, als sein linker Arm vorschoss, den nächsten Schlag abfing - Metall traf auf Metall - und irgendwie zurückschlug. Der Schatten jaulte auf, Robert rammte seine Stirn nach vorn, so fest er nur konnte. Sein Dreispitz wirbelte fort, Blut spritzte ihm ins Gesicht. Er trat um sich, hieb die mechanische Hand in die Rippen des Angreifers. Dieser verlor augenblicklich alle Luft, ein Keuchen drang aus den verrotteten Zähnen. Das Gewicht verschwand.

»Wir sehen uns wieder«, die Drohung rollte sich in den Nebel. Schwere, verwundete Schritte verschwanden.

Robert ächzte, als er sich mühsam erhob. ›Verdammt und zugenäht, warum hatte den Kerl keiner bemerkt?‹ Er erhob sich. Ein Nackenwirbel knackte protestierend. Er rieb sich über die Stirn, zog den Revolver unter dem Bretterhaufen hervor. Seine Spange war auch weg, das Haar fiel ihm vor die Augen. Er klopfte den Dreispitz aus, rückte ihn wieder zurecht. Es kam ihm vor, als wäre er bei dem Aufprall auseinander gefallen. Wenigstens war das Tuch noch vor Mund und Nase. Seine rechte Schulter schmerzte.

Er betrat das dunkle Maul des Schuppens, die Pulverlampe lag in einem Haufen dreckigen Strohs, schimmerte noch immer bläulich. Drei ausgestreckte Gestalten lagen da. Zwei von ihnen waren ganz in Schwarz gehüllt, Schnabelmasken auf ihren Gesichtern. Dem einen hing die Hose bis zu den knöchrigen Knien. Die dritte Gestalt weinte leise, war voller Blut. Die zerrissene Kleidung hob und senkte sich, als wäre es anstrengend darin zu leben.

Robert nahm den Körper hoch, drückte ihn an sich. Er war weich, zerschunden, ohne Namen.

Die junge Frau wollte ihn erst mit zitternden Händen fortstoßen, doch dann schlang sie die Arme um ihn.

»Es ist vorbei! Es ist vorbei.« Er sprach flüsternd, kaum eines Gedankens fähig. Taris landete auf der Pulverlampe und schickte einen einzelnen Siegeslaut in die Nacht. Skee aber kreiste über den beiden Bewusstlosen, ihr Rauch ein Wirbel aus Ungeduld und Lust.

Robert schüttelte sanft den Kopf.

»Lass es, Skee. Ich sagte: keine Toten.« Zu gern hätte sich der Clangeist durch die Münder in die Lungen der Rabenmänner geschlichen, er wusste es. Die beiden wären verreckt, ohne es zu merken.

»Ich wollte nur nach Hause«, ihre Stimme von dem Erlebnis grau und müde. Plötzlich wurde sie ganz ruhig. Ohnmächtig.

Der starke, mechanische Arm hielt sie wie ein Kind, das hingefallen war. Was hätte er sagen sollen, sagen können? Er wusste es nicht, war verwirrt, angewidert, euphorisch, ganz klein und ganz weit. Er hatte ein Leben gerettet!? Ja, das hatte er! Also schwieg er, bevor noch ein verrückt gewordenes Lachen aus seiner Kehle sprang, und machte sich mit ihr auf den Weg.

 

Nur eine Gasse weiter verbreiterte sich das Fleet. Das trübe Licht einer Laterne versprach endlich wieder die Ordnung der Dinge. Eiserne, verschnörkelte Geländer, gestutzte, mit Gittern umrandete Zierbäume, und die Umrisse eines Schifferhäuschens schälten sich aus dem Nebel. So unverfroren traten die Geräusche der Stadt wieder an sein Ohr, dass Robert glaubte, aus einem Keller zu kommen, der nicht zu diesem Haus gehörte. Hammaburg tauchte wieder auf, das richtige Hammaburg.

Das Schifferhäuschen, ein schmucker quadratischer Steinbau, lag neben einem tiefergelegenen Anleger, an dessen Seite ein schlankes Schiff auf dem Wasser dümpelte. Die Zeichen der Stadt, eine zweitürmige Festung sowie beide Drachen des nordischen Feuerbundes, hingen schlapp von dem Flaggenmast am Heck. Der vorgereckte Adlerkopf aus Bronze am Bug, eine mit metallischen Federn verzierte Reling, das dünne Auspuffrohr ragte geschwungen in den Nebel. Es war ein schönes, wunderbares Maschinenboot.

»Taris, Skee, ihr beide kehrt zurück in die Windgasse. Ab jetzt komme ich allein klar. Poe wird sicher schon warten.« Wahrscheinlich lugte der kleine Clangeist unter dem Bett hervor und zitterte am ganzen Leib, armer Kerl. Die beiden waren binnen Augenblicken verschwunden. Ob Skee zum Zimmer zurückkehrte, wusste Robert nicht, aber auf den Falken war Verlass.

Da brannte noch Licht hinter einem der Butzenfenster. Robert schlug mit der Stiefelspitze gegen die Eingagstür. Es dauerte nur kurz, bis jemand die Riegel innen beiseite schob und sich die Tür einen Spalt öffnete. Ein alter Mann hielt einen Kerzenständer mühsam in die Höhe, um in Roberts Gesicht zu leuchten. Er erschrak, wich einen Schritt zurück, wollte die Tür schnell wieder schließen, doch Robert setzte ebenso flink seinen Fuß dazwischen.

»Wartet!« Er sprach ganz ruhig. »Bitte, Skipper, es geht um Leben und Tod.« Robert wusste, dass die Binnenschiffer unter dem grinsenden Hochmut der Marine litten, weil niemand sie ernsthaft als Seefahrer betiteln wollte. Sie befuhren Wasserstraßen, das konnte so ziemlich jeder, der wusste, wo Steuerbord und Backbord zu finden war. Doch die ewig eingeimpften Standpauken seines Großvaters hatten Robert erklärt, dass sehr wohl echte Seebären unter den Binnenschiffern waren. Sie hatten sich nur einen anderen, seichteren Ort dafür gesucht, aus welchen Gründen auch immer.

Der Mann hielt inne. Er hatte einen monströsen Zwirbelbart und schütteres Haar. Die Augen wirkten wie die einer Eule hinter den dicken Brillengläsern. Er musterte Robert von oben bis unten.

»Was wollt Ihr, Captain, Sir?« Der Mann hatte gleich zwei Dinge auf einmal bemerkt, das war ungewöhnlich. Zum einen, dass Robert Engländer war und zum zweiten, dass er sogar dem Adel angehören mochte, nur deshalb hatte der Alte auch noch ein eher vages »Sir» hinzugefügt. Robert war erstaunt über soviel gutes Gehör und Scharfsinn. Doch konnte es ihm eher schaden als helfen. Wenigstens hielt die Tarnung dem Blick des Alten stand. 

»Kommt man von hier aus zu einem guten Krankenhaus?« Er war nicht hier, um auch noch ins Schwatzen zu geraten.

»Aye.«

»Dann bringen Sie mich dort hin, Skipper, schnell.« Allzu oft sollte man auch nicht bitte sagen.

Der Mann schaute an Robert vorbei in die Nacht, zwirbelte seinen Zwirbelbart.

»Der Hafenmeister hat allen befohlen: Stoppen - Stoppen - Anker werfen! Ist ne ziemlich dicke Suppe da draußen.«

Robert kramte in der Manteltasche und eine Silbermark wechselte den Besitzer.

»Und wie ist die Sicht jetzt?« Der Alte knabberte auf der Münze und offenbarte dabei nur noch wenige Zähne.

»Klart eben auf.« Er stellte den Kerzenständer beiseite, griff neben sich, brüllte dann ins Haus: »Martha, bin nochmal weg, irgend son Schnösel hat sich verirrt, hörst du?« Dann hatte er plötzlich Mantel und Hut in der Hand und schloss schon ab, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Sie ist taub, aber mir gefällt der Gedanke, dass ich Bescheid sach, wenn ich weg geh.« Er hustete kurz. »Was haben Sie da auf dem Arm, Captain? Doch wohl keine Schandtat, oder? Vor kurzem lief hier ein Rabenmann vorbei, so schnell, als wäre der gerechte Baldur persönlich hinter ihm her.«

Robert folgte dem Alten die Treppen hinunter, die zum Anleger führten. Er stieg auf das kleine Boot und schwieg. Vorsichtig legte er die junge Frau auf die gepolsterte Bank. Sie war blass, viel zu blass. Vorn legte der Skipper einen Schalter um, der Auspuff spuckte rötliche Flammen in den Nebel, die Schrauben begannen zu drehen.

»Wir Offiziellen bekommen noch Pulver, wenn auch nur noch das rote, aber immerhin.« Das Boot setzte sich in Bewegung.  

Robert hatte kein Ohr dafür, er schaltete eine Lampe neben dem Sitz an, erschrak. Ihr Gesicht war bös´ geschwollen, die Lippen aufgeplatzt, die Bluse war nass von Blut. Er schob sie vorsichtig zur Seite, die Knöpfe waren ausgerissen. Das Blut rann von ihrer Brust bis zu ihrem Bauchnabel. Es war ein tiefer, fransiger Schnitt. Er musste etwas tun. Wut überkam ihn.

»Ich bring Euch zum Ludwigshospital, wenn´s recht ist, es ist das beste der Stadt.« Robert hörte nicht zu.

Sie hatte eine tolle Brust. Er wusste nicht, ob er dies denken durfte, ob diese beiden Gedanken überhaupt nebeneinander existieren sollten. Er zog den Handschuh aus, tauchte seinen Zeigefinger in das Blut und begann ein Labyrinth um die Brust herum zu malen. Er tat es wie in Trance, ganz natürlich. So war die Magie schon immer in sein Leben getreten, wie Wind oder die Laute eines beginnenden Tages. Sonnenlicht, seltsame Gefühle. Sie waren plötzlich da und waren nicht mehr fortgegangen.

Robert vollendete den Kreis, drückte seinen Bernstein, der auf dem Blut gut kleben blieb, auf die Brustwarze und sprach den Zauber. Die Wunde schloss sich, wie zwei Wolken aus Haut, die ineinander drifteten. Er spuckte in seine Fingerspitzen und verwischte den Kreis. Niemand durfte das sehen, je davon erfahren.

»Ihr seid ein außergewöhnlicher Mann.« Robert drehte sich um. Der Skipper stand am Ruder, sah ihn aber über die Schulter verstört an. Eine lautlose Panik kam über ihn.

»Fahren Sie uns zum Krankenhaus und halten sie dabei die verdammte Klappe!«

Der alte Mann schaute wieder nach vorn und bog in einen weiteren Fleet ein. 

Robert zog die Bluse wieder zu.

Es war verwirrend, je näher sie der Innenstadt kamen, desto mehr Fenster waren erhellt. Die Reichen und Adligen hatten einen anderen Arbeitsrhythmus. Dort wurden hinter den gesicherten Scheiben champagnergefüllte Gläser gegeneinander geschwungen, waren verlogene Gesten alles, konnten Gerüchte ganze Flotten verschieben. Lachende Dummköpfe latschten über Weltkarten, wie es nur Dummköpfe tun konnten.

»Ludwigshospital«, sagte der alte Mann. Die Steuerbordseite schrammte an den vermoosten Anleger. Die Maschine stoppte, das Boot schaukelte aus. Robert nahm die junge Frau erneut in seine Arme, er sah nicht zurück.       

»Danke, Skipper.«

 

Das Krankenhaus war ein von eckigen Säulen flankierter, quadratischer Bau aus hellem Sandstein, gute fünf Stockwerke hoch. Auf seinem runden Vorplatz war die steinerne Figur der Eir aufgestellt worden. Die Figur stand inmitten eines kleinen Hains, die nackten Füße in einem Teich, der von steinernen Büschen umsäumt war. Eine stolze Schönheit, mit langem, wallendem Haar, die eine Kräutersichel in der einen Hand trug und einen Wanderstab in der anderen.

Robert stapfte den hellen Kiesweg entlang, der aus geriebenen Muscheln gemacht war und noch immer den Geruch des Meeres trug. Er strebte dem Seiteneingang zu, dort, wo die Kantine und der Lieferbereich sein mussten. Hohe, schlanke Tannen säumten den Weg. Er hatte das Gefühl, der Nebel sei hier ein wenig lichter, aber das mochte an den vielen erhellten Fenstern liegen.

Er hatte Glück. Neben dem Liefereingang stand ein junger Mann und drehte sich gerade eine Zigarette. Er riss die Augen auf, als Roberts Schemen lautlos aus dem Dunst trat, doch er lief nicht fort. Er starrte verwirrt auf den Kies.

»Wie ist dein Name, Junge?« Robert fragte fast beiläufig, als hätten sie das Thema Wetter schon hinter sich.

»Corvin, Sir. Corvin Hammerstein, Kapitän.« Die halb fertig gedrehte Zigarette zittere zwischen seinen Fingern. Er mochte gerade mal dreizehn oder vierzehn sein. Machte sicher eine Ausbildung hier, solche Menschen waren Idealisten, denn wer kein Geld im Hintergrund hatte, verschrieb sich für viele Jahre dem Hospital.

»Sehr schön, Corvin. Du kannst mir einen großen Gefallen tun.«

Der Junge beruhigte sich etwas, drehte flink die Zigarette zu Ende und steckte sie in den Tabaksbeutel. Offensichtlich machte er dies für jemand anderen.

»Ja, Kapitän. Wenn ich kann, Sir.«

»Wer ist der fähigste Arzt, der heute Nacht Dienst macht?« Der Junge überlegte nicht lang.

»Doktorin Lova Sigurdsson, Sir.« Eine Frau also. Das Glück war ihm weiter hold. Sie würde die Situation besser verstehen als ein Mann. Robert setzte die ohnmächtige Verletzte in einen Rollstuhl, der verlassen neben dem Eingang stand. Von drinnen hörte man Geschirr klappern und geschwätziges Lachen. Es roch nach Kartoffelsuppe und Lauch. Robert bekam Hunger. Er wandte sich dem Jungen zu.

»Dieses Mädchen ist überfallen worden, Corvin. Böse Sache. Du läufst jetzt schnurstracks zu Doktorin Sigurdsson und holst sie her. Sie soll dem Mädchen ein Bett und soviel medizinische Hilfe geben, wie nur irgend möglich, hörst du?« Der Junge nickte, wollte schon auf dem Absatz kehrt machen, doch Robert hielt ihn am Arm zurück. Er hatte ein ehrliches Gesicht, wildes braunes Haar und Grübchen.

»Das hier ist für die Kosten.« Robert drückte ihm eine Silbermark in die Hand. Der Junge starrte ehrfürchtig auf die kunstvolle Münze, bevor er fest die Finger darum schloss. »Und noch etwas, Corvin. Sollte jemand dadrin Ärger machen, werde ich davon erfahren und dann werde ich wiederkommen und denjenigen finden, ist das klar?« Corvin schluckte erst heftig, dann nickte er. Ja, er hatte verstanden.

Robert drehte sich um und war binnen Herzschlägen im Nebel verschwunden. Der Junge blickte ihm fasziniert und ängstlich nach, dann rannte er so schnell er nur konnte, um Doktorin Lova zu finden.

 

Noch in der Nacht gab es bereits haarsträubende Gerüchte. Man hatte zwei bewusstlose Rabenmänner in einem Schuppen im Hafenviertel gefunden. Irgendjemand hatte dieses finstere Pack ordentlich aufgemischt. Ein Fleetschiffer erzählte in einer Gaststube nach seinem fünften Grog, dass ein dunkler Captain aus dem Nebel gekommen war, lautlos, ohne ein Geräusch zu machen, eine verletzte Jungfrau im Arm. Mantel und Dreispitz schwarz wie die Nacht, und mit einem Tuch vermummt. Einen schwarzen Vogel auf der Schulter.

Im Krankenhaus tuschelten die Schwestern Unglaubliches. Ein Held, gekleidet wie ein Kapitän, hatte eine junge Frau gebracht. Keinen seiner Schritte habe man hören können. Schwarze Flügel seien aus seinen Schultern gewachsen. Ganz plötzlich habe die Geschundene in einem der Betten dagelegen, wie eben aus dem Himmel gefallen. Eines seiner Augen sei aus Silber gewesen. Ein Götterbote, der die Bösen bestrafe. Vier Rabenmänner mussten für diese Tat büßen. Endlich gab es Gerechtigkeit!

Ein anderer Gast berichtete, sie hätten den Mann ebenfalls gesehen, weit oben auf einer der Ballustraden gleich neben der Kuppel des Thor-Tempels. Er habe gelacht und eine wahrhaftige Fylgja schwebte neben ihn.

Der Hafenmeister, der seinen Feierabend bei einem Teller Suppe in derselben Gaststube einleitete, hörte die Geschichte des Fleetschiffers. Er rief einen alten Kumpel von der Zeitung an, dieser wiederum, ein Gespür für den kleinen Mann auf der Straße und für fantastische Geschichten, schickte noch in der Nacht ein Telegramm nach London. Der befreundete Redakteur scheuchte seine Männer auf, ließ einen Zeichner rufen, klingelte den Chef aus dem Bett. Man habe da etwas, das die Leser verschlingen würden. Ein Bericht wurde geschrieben, ein Sonderblatt entworfen. Der Zeichner wurde zusammengestaucht: Der Held müsse natürlich wie ein englischer Captain aussehen, verdammt noch eins. Nein, doch nicht so! Mehr Pathos! Wisse er nicht, was das für eine Story werden könnte? Ja, so war es genau richtig. Gut gemacht.

Die Drucker gaben alles, die Jungen, die damit auf die Straßen sollten, bekamen heißen Tee, bevor man sie losschickte. Und so hallten die Kehlen der Zeitungsjungen durch die Straßen von London. Extrablatt, Extrablatt! Ein Schwarzweißbild von einem großen Mann, das Gesicht mit einem Tuch vermummt, prangte darauf. Der lange Captainsmantel schwang in einem unsichtbaren Windstoß. Auf den Stiefeln waren vage Bannkreise eingefügt worden, um den Zauber der Lautlosigkeit zu unterstreichen. Den Dreispitz hatte er tief ins Gesicht gezogen, dennoch erkannte man, dass er unglaublich gut aussehen musste, eine Meisterleistung des Zeichners. Er stand neben einer Tempelkuppel und starrte wartend in die Nacht hinaus. Englischer Held!, stand dort in der Kopfzeile. Und über der Zeichnung in dramatischen Lettern: THE NIGHT CAPTAIN.

Man riss den Zeitungsjungen die Ausgaben förmlich aus den Händen.

Die Tat nahm ihren ganz eigenen Weg, während Robert wie ein Bewusstloser in der Suite des Atlantiks auf dem Sofa schlief und von Nebel und Raben träumte.

Noch wusste der junge Lord nicht, dass dieser Winter sein Leben auf eine Weise verändern würde, deren Beschreibung er niemandem je geglaubt hätte. Dennoch sollte es so kommen. Und hätten die Skalden des Nordens oder ein Poet aus seinem Land ein Lied darüber schreiben müssen, so wären seine ankündigenden Worte folgende gewesen: »Um Gehör bitte ich alle heiligen Menschenkinder. Ihr wollt, dass ich eine Geschichte erzähle. Eine Geschichte der Menschen, derer ich hiermit gedenke. So lasst mich erzählen:
Das Lied von Schnee und Liebe

 

Das Lied von Anevay & Robert
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