Die Geheimnisse des R.T.H.
Es war Freitag, als Robert sich vom Balkon im Schutze der Dunkelheit hinabhangelte auf den jeweils darunterliegenden Balkon, bis er endlich im Garten die Füße aufsetzte. Die Lichter zwischen den Bäumen waren längst gelöscht worden, jetzt, da man sparen musste. So konnte er ungesehen durch die Seitengasse auf die Straße gelangen. Er schlug den Kragen hoch, strich den Schal glatt, dann machte er sich auf.
In Hammaburg brannte nur noch jede zweite Straßenlaterne, auch ein Befehl des Kronprinzen und so waren die Straßen und Gassen in einem seltsamen Zickzack-Abstand von blassen Lichtteichen durchzogen. Dazwischen herrschte für einige Schritte lang tiefste Finsternis, so dass man jedes Mal das Gefühl hatte, in einen Abgrund zu laufen. Alle Geräusche waren laut. Dort kreischte eine Katze, ein Hund bellte in einem anderen Viertel, gestrittene Worte drückten sich durch Fensterritzen. In jedem dunklen Hauseingang konnte sonstwas lauern. Robert hatte sich für gute Kleidung entschieden, falls er von Polizisten angehalten werden sollte, für alles andere hatte er ein sehr scharfes Messer mitgenommen. Er kannte den Weg, hatte ihn sich gut eingeprägt, er ging weder zu schnell, noch wie jemand, der geradezu darum bettelte, überfallen zu werden. Taris zog als kaum sichtbare Rauchfahne vor ihm her und überwachte die magischen Ebenen, linste auch in Seitengassen oder andere all zu finstere Winkel. Man konnte ja nie wissen.
Das Haus lag nur eine Bürgersteigbreite außerhalb des Hafenviertels, um nicht als verrucht zu gelten, aber dennoch nah genug dran, um sich einen gewissen Ruf zu wahren. Robert bog bereits mit leichtem Herzen in die Windgasse ein. Hier waren all die vielen Schiffsausrüster ansässig. Schilder mit Tauen und genieteten Kisten oder prächtig gemalten Schiffen schaukelten quietschend im Wind. In den Schaufenstern waren Kompasse, Positionslichter und andere nautische Geräte platziert. Das Haus mit der Nummer 12 war ein einfaches Backsteingebäude mit Erkern und Giebeln, die auf die Straße zeigten. Ein Schild, das die weiße Schwanzflosse eines Wals auf verwittertem Holz zeigte, baumelte träge vor sich hin. Mit dünner, aber fein geschwungener Schönschrift, stand auf der Fensterscheibe geschrieben: Mit uns gehen Sie nicht unter! Das Ausrufezeichen war wie eine Welle geformt. In der Auslage dahinter lag eine Schwimmweste.
Robert fand den Schlüssel dort, wo er sein sollte, zwischen zwei Steinen in der niedrigen Mauer, die hinter dem Haus einen kleinen Garten abschirmte. Er stieg so leise wie möglich die Stufen hinauf und steckte den Schlüssel in das Schloss.
Endlich!
Robert sah sich um und es gefiel ihm sofort, sehr sogar. Als er die Augen zumachte und sich vorstellte, wie es sein könnte, da wurde ihm ganz schwindelig vor Freude. Ein gutes Zeichen.
Das große Zimmer roch nach unruhigen Schritten, nach verbranntem Holz und nach zu lang getragener Kleidung.
Robert drehte sich um sich selbst, breitete den Arm aus. Ja, dies war seine Zuflucht!
Es war nur eine Dachwohnung, deren schräge Dachbutzenscheiben einen verwinkelten, aber hellen Blick in den Himmel gewährten. Ansonsten war der Raum einfach nur ein recht geräumiges, möbliertes Zimmer. Das breite Bett konnte man mit einem Vorhang vom übrigen Raum trennen. Es gab einen gusseisernen Ofen, der sowohl mit Pulver als auch mit den locker daneben aufgeschichteten Holzscheiten zum Brennen gebracht werden konnte. Wärme war also vorhanden. Ein schmales, abgetrenntes Bad war ebenfalls verfügbar.
Robert lachte übermütig, dann verstummte er, er wollte ja niemanden aufwecken. Poe flitzte bereits über die dunklen Dielen, um nach geeigneten Verstecken zu suchen. Der Lord schob den Schreibtisch in die Mitte des Raumes, öffnete einen der Koffer, die noch alle versiegelt neben der Tür standen und stellte eine Pulverlampe, die sofort zu scheinen begann, auf den Tisch. Kurz darauf trat Rauch aus dem Kamin, und Taris materialisierte sich, flog einen eleganten Bogen durch den Raum und landete auf dem Lampenschirm, als hätte er auf diesen Landeplatz gewartet. Seine Krallen klackten unruhig, suchten Halt, dann schüttelte er kurz die Federn aus und setzte eine wachsame Miene auf. Nur wenige Augenblicke später kam Skee durch eine der Bodenritzen gewabert, schaute sich um und verzog sich in die äußerste Zimmerecke, ohne ein Wort.
Die Sturmläden ließ Robert geschlossen, auch wenn hier dringend einmal frische Luft hinein musste, auch zog er die schwarzen Vorhänge, um die er ausdrücklich gebeten hatte, zusätzlich vor die Fenster. Es musste niemand auf der Straße sehen, dass hier Pulverlicht brannte, nicht nach all den Sparmaßnahmen und den wilden Gerüchten aus dem Norden. Das würde nur Aufmerksamkeit und Neugier hervorrufen, beides war unerwünscht.
Robert öffnete ein Geheimfach in dem kleinsten Koffer, das von einem Siegel geschützt war und eine Reihe von flachen Glaspatronen freigab, die in selbst genähten Schlaufen hingen wie wartende Taten. Leicht bläulicher Pulverstaub war darin, feiner als jedes gemahlene Mehl.
Er legte den linken Arm auf die Tischplatte, entfernte die teilweise von DaVinci-Leder umhüllten Bereiche, indem er die Schnallen löste und neben sich auf den Schreibtisch legte. Alles war so konstruiert, dass es mit einer Hand schnell und ohne Fummelei zu erledigen war. Vorsichtig berührte er einen Druckpunkt gleich unterhalb der Achsel. Eine Vorrichtung glitt beiseite und entblößte eine flache Mulde.
Robert legte die Patrone ein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Verbindung endlich hergestellt wurde. Doch dann begann sein selbstgebauter Arm zu erwachen. Was sonst wie eine tote Wüste schien, blühte nun auf. Ein kaum hörbares Summen begann, als die komplizierten Mechanismen darin, nun vom Pulver angetrieben, ihre Arbeit aufnahmen. Zahnräder, so winzig, dass sie sonst nur in den Sternenuhren verwendet wurden, die so teuer waren, dass selbst Fürsten einen nervösen Schluckauf bekamen, sobald sie den Preis erfuhren. Robert aber hatte seine Zahnräder selbst hergestellt. Sollte aus irgendeinem Grund jemand diesen Arm einmal genauer untersuchen, läge er wahrscheinlich keine Stunde später im Tower auf einer Folterbank.
Die Anfänge hatte er bei seinem Großvater gelernt, doch dann hatte er sich eigene Gedanken gemacht, selbst herumgetüftelt und ausprobiert. Als er die ersten Erfolge erzielt hatte, wollte er es Opa Lawrence zeigen, doch dieser kniff die Augen zusammen, hielt sich die Ohren zu und brüllte, er wolle nichts davon wissen, raus hier, sofort!
Später erst hatte dieser es seinem Enkel erklärt. ›Behalte diese Dinge für dich, Robbie. Was ich nicht weiß, das kann ich auch nicht verraten, auch unter der Folter nicht.‹ Robert war entsetzt gewesen über diese Sichtweise. Wer sollte so etwas Grausames nur tun? Es könnte vielen Menschen helfen, denen zu schwer verletzte Gliedmaßen einfach abgenommen wurden, um sie dann mit Holz oder einem Haken zu ersetzen. Doch es war wie immer, ein Zauberer verriet seine Magie nicht, auch nicht dem eigenen Großvater. So schluckte Robert seinen Stolz hinunter. Doch nicht nur das, je mehr Fortschritte er machte, desto ängstlicher wurde er, dass man es entdecken könne. So blieb der Arm für den Rest der Welt ein scheußliches Ding, das man verabscheuen oder bemitleiden konnte, für Robert aber wurde dieser Arm ein Weg in die Magie, wie er tiefer nicht hätte führen können. Eine Forschungsreise am eigenen Körper. Doch auch wenn der Arm im Laufe der Zeit immer besser funktionierte, der Zorn auf seinen Bruder William, der für dieses Unglück überhaupt erst verantwortlich war, der erlosch nicht, im Gegenteil, er brannte heller denn je.
Robert musste sich jetzt beeilen, er holte ein kleines Fläschchen aus seiner Tasche, zog den Korken mit den Zähnen heraus und kippte die blutrote Flüssigkeit die Kehle hinunter.
Dann kam sie: Die Euphorie! Ein Funke breitete sich in seinen toten Fingern aus, verharrte einen Lidschlag dort, bis er schließlich wie eine Flutwelle durch den ganzen Körper brandete. Der junge Lord stöhnte auf, warf den Kopf in den Nacken. Er presste die gesunde Hand vor den Mund, damit das Lachen gedämpft wurde, gleichzeitig rannen ihm Tränen der Freude über die Wangen und schließlich über die Hand. Sein Herz schlug schneller, dann raste es wie ein freigelassener Vogel in den weiten Himmel des Lebens. Er stand stolpernd auf, riss die Arme empor - beide Arme! Machte Fäuste mit den Fingern – allen Fingern! Licht breitete sich in seinem Bauch aus, toste in seinen Lenden, Lust tropfte von seinen Lippen wie eine vergossene Melodie. Er tanzte die Magie. Tausende Berührungen, alle wunderschön, rauschten unter seiner Haut. Er sog die Luft in seine Lungen, so heftig, dass sie den Raum leerten, ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Sein Brustkorb blähte sich wie ein Segel auf dem Meer, Licht soviel wunderbares Licht!
»Robbie?« Die normale Welt kehrte zurück. Poe saß auf seiner Brust und blickte ihn tadelnd an, die vorderen Pfoten angewinkelt, als habe man ihm gerade beim Lesen die Zeitung weggenommen. Robert musste schmunzeln.
»Alles gut, Poe.« Der kleine Hamster tappte über sein Gesicht und saß im Nu zwischen den Haaren, wo er sich ein paar mal drehte und dann niederlegte. Der junge Lord setzte sich auf. Dies war manchmal die Art seines Clangeistes ihm zu sagen, dass er es gar nicht mochte, wenn sein Zauberer solch gefährlichen Unsinn anstellte.
Ob es wirklich eine Gefahr darstellte, wusste Robert noch nicht einzuschätzen. Leicht schwankend, doch voller Energie, ging er zum Tisch zurück und nahm sich etwas Konfekt aus einer Dose, die im Koffer gewesen war. Schokolade beruhigte ihn immer. Dann streckte er sich, krempelte mit der mechanischen Hand äußerst geschickt den Ärmel des Hemdes hoch.
»So, dann wollen wir mal an etwas Sinnvollem arbeiten«, murmelte er und packte seine Instrumente aus.