KAPITEL 3
Als die letzten Gäste das Anwesen gegen acht Uhr verlassen hatten, kehrte endlich Ruhe ein. Nur Sandra blieb. Es war Leb’sche Tradition, sich nach der Beerdigung von Familienmitgliedern in deren Haus zu treffen, und den Hinterbliebenen »beizustehen«. Ein Catering kümmerte sich um die Verpflegung, sodass Lina nichts weiter tun musste, als die grässlichen Wünsche und Hilfsangebote der Trauergäste zu ertragen, und ihre unendliche Wut auf Markus zu verstecken. Sie spürte die Missgunst ihrer Schwiegereltern. Als Alleinerbin hatte sie Anspruch auf das Anwesen, in dem Markus und Lina ihre fünf Ehejahre verbrachten. Da ihr Mann außerordentlich gut verdiente, war sie für den Rest ihres Lebens versorgt, vom Erbe ihrer Schwiegereltern ganz abgesehen. Sie hasste es, auf diese Tatsache aufmerksam gemacht zu werden, denn es würde sie wohl kaum glücklich machen, bis an ihr Lebensende in diesem Trauerkasten zu sitzen, und die Witwe von Leb zu spielen.
Ihre Freundin Sandra war am Vorabend der Beerdigung aus Hamburg angereist. Ihr Retourflug ging am nächsten Tag, und sie nahm Linas Angebot, bei ihr zu übernachten, gerne an. Die Kunstmalerin zog vor drei Jahren in die Hafenstadt, »weil ich dort besser hinpasse«, meinte sie damals. Offensichtlich bekam ihr die Luftveränderung wirklich gut, denn sie sah so knackig aus wie eh und je, nur einen Tick brauner, trainierter und glücklicher. Nun waren sie alleine in einem Gebäude mit fünf Schlafzimmern, Sauna, Whirlpool, zehntausend Quadratmetern Rasen, einer überdimensionierten Garage mit fünf Nobelkarossen und einem vergoldeten Briefschlitz.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Sandra, während sie ihre flache Hand auf Linas Rücken legte.
»Na ja, ziemlich viel auf einmal!«, antwortete Lina.
»Tut mir echt leid für dich. Du siehst müde aus. Kein Wunder. Bei der grässlichen Verwandtschaft...«
»Frech, aber voll ins Schwarze getroffen, Sandy. Darf ich dir noch einen Schluck einschenken?«
»Ja gerne. Der Wein ist echt supergut.«
Lina verteilte den Rest der angebrochenen Flasche auf zwei neue Gläser.
»Wollen wir uns nicht setzen?«
Sie ließen sich auf der Wohnzimmercouch nieder. Lina sehnte sich nach Ablenkung.
»Erzähl mal, Sandy. Wie läuft es bei dir?«
»Bin zufrieden. Hamburg ist toll, ich hab einen Agenten, der meine Bilder vertickt, und dank ihm kann ich mir eine endgeile Wohnung leisten. Sonst viel Party, Sex und so, kennst mich ja. Komm mich doch endlich mal besuchen!«
Für Ende April war es in Frankfurt ungewöhnlich kühl. Sandras knappes Outfit konnte sie nicht vor der Kälte schützen. Lina merkte, dass ihre Freundin schlotterte.
»Oh, du Arme, du frierst ja.«
»Ich bin ein Sonnenkind. Je weniger ich anziehe, desto besser ist das Wetter, und desto schneller kommt der Sommer. Heute funktioniert das nicht ganz so gut wie sonst, leider. Ob es an den scheiß negativen Schwingungen dieser Beerdigung liegt?«
Lina kannte Sandras unbeschwerte Art zur Genüge. Die Sehnsucht nach der warmen Jahreszeit war sicher nicht der einzige Grund, warum sie so knapp bekleidet kam. Vermutlich rechnete sie sich Chancen auf eine Nummer mit dem Flugkapitän aus. Ob sie wusste, dass die Cockpittüren seit 9/11 gepanzert und verriegelt sein müssen? So manches Schäferstündchen über unseren Köpfen dürfte dem internationalen Terrorismus zum Opfer gefallen sein. Lina kicherte.
»Was ist?«, fragte Sandra.
»Ach, nichts. Du bist schon eine besondere Nummer, Sandy. Dass du mir bloß nicht krank wirst! Du hast ja Gänsehaut. Hüpf doch schnell mal in die Sauna, und wir reden später weiter.«
»Meinst du? Mmh, ein Aufguss wär jetzt echt mega. Komm doch mit, dann quatschen wir drin weiter.«
Lina dachte an die Sauna, in die sie sich im Winter zurückzog. Sie hasste diese Jahreszeit, besonders dann, wenn die nebelige Kälte tagelang um ihr Anwesen kroch, und Markus wieder auf Auslandsreise war. Der Schwitzkasten wurde zu ihrem Winterschlafquartier. Wie viele Stunden sie darin wohl schon verbracht hatte, ganz alleine?
»Ach, lass mal. Ich räume noch zusammen. Geh nur!«
Lina klopfte sich auf die Oberschenkel und nahm die Gläser, um ihre Aussage zu bekräftigen. Der Gedanke, sich nackt mit Sandy in eine enge Kiste zu sitzen, machte sie nervös.
»Komm schon, Lynn. Dir ist sicher auch ganz kalt. Und jetzt alleine Trübsal blasen ist nicht. Komm, los geht’s!«
Sandra schien es kaum erwarten zu können. Sie war vermutlich schon halb totgefroren.
›Was soll’s – ein Tag wie heute sollte nicht traurig enden. Und kalt ist mir auch. Alles ganz harmlos! Sei nicht prüde‹, dachte Lina, und antwortete: »O.K. – wenn dich der Anblick einer vertrockneten Witwe nicht anwidert?«
Sandra lachte kurz und rückte näher an Lina heran.
»Ich wollte dir das schon den ganzen Tag sagen, fand’s aber unpassend: Du siehst wirklich sooo umwerfend aus!«, flüsterte sie ihr ins Ohr, und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Einen Hauch länger und feuchter als das Küsschen-Küsschen, mit dem sie sich normalerweise begrüßten. Sandra stand auf, lächelte neckisch, drehte sich um und stöckelte in ihren High Heels voran, in Richtung Wellnessraum.
›Was war das denn?‹, fragte sich Lina.
Ihr wurde heiß, ganz ohne Sauna. Sie wusste, dass sie gerade tomatenrot anlief. Die wenigen Male, die ihre Freundin zu Besuch war, nutzte sie die Oase ausgiebig, doch nie mit Lina zusammen. Das wäre nicht schicklich gewesen.
Lina ertappte sich dabei, wie sie Sandys Pobacken fixierte, die zum Klick-Klack der Absätze einen Tango zu tanzen schienen. Ihre Beine waren makellos glatt, und trotz der frostigen Temperaturen verzichtete Sandra Gärtner auf Strümpfe. Selbst ihre Kniekehlen waren irgendwie sexy. Wie viele Männer sie wohl in den letzten Jahren hatte, während Linas Gesellschaft aus ihrem rechten Zeige- und Mittelfinger bestand?
Sie stand auf und folgte ihrer Freundin.