KAPITEL 1

Stumme Tränen krochen über Linas Gesicht, als das Ave Maria erklang. Sie hatte nicht viel mit Kirche und Religion am Hut. Doch der Geistliche fand bewegende Worte für Markus, ihren verstorbenen Mann, vor allem aber für sie. So jung, und schon Witwe. Wie unverständlich die Wege des Herrn doch sein konnten! Wie hart das Schicksal derer, die zurückbleiben.

›Endlich einer, der ausspricht, was Sache ist!‹, dachte Lina. So anders als das Geschwafel von »Kopf hoch!« und »wird schon wieder«, das sie in den letzten Tagen ertragen musste.

Die kräftige Stimme der Sängerin drang tief in die Seelen der Trauergäste vor. Selbst die hartgesottenen Anwaltskollegen des Verstorbenen begannen, auf ihren Lippen herumzukauen, um im Schmerz Ablenkung von ihren überbordenden Gefühlen zu finden. Manch einer biss so fest zu, dass ihn der Blutgeschmack auf andere Gedanken brachte. Andere zwickten sich in den Handrücken oder ließen ihren Geist in weite Ferne schweifen. Aus den hinteren Bänken waren Schnief- und Schnäuzgeräusche zu vernehmen, und einzelne Menschen heulten ungezügelt drauflos.

›Sicher niemand vom Leb’schen Clan‹, dachte Lina.

Wie gerne hätte sie es ihnen nachgemacht! Doch die letzten Jahre lehrten sie, Fassung zu bewahren – komme, was wolle. Mit ihrer natürlich-offenen, undiplomatischen Art hatte sie ihre Schwiegereltern brüskiert. Sie verkehrte in den Höheren Kreisen ihres Mannes wie ein Elefant im Porzellanladen. Schließlich musste Markus im Auftrag seiner Familie ein Machtwort sprechen. Lina lächelte, als sie daran dachte. Er schien ihr hoffnungslos verfallen, und sein Tadel dementsprechend schwach und angreifbar. Doch sie verstand die Botschaft, auch deshalb, weil sie immer seltener zu gesellschaftlichen Anlässen eingeladen wurde. Lina wollte es nicht darauf ankommen lassen, ganz isoliert zu werden, und hielt ihr Temperament im Zaum. Trotzdem besserte sich das Verhältnis zu Markus' Eltern nicht, und die aufgestauten Emotionen schlugen in tiefe, nie artikulierte Abneigung um. Man ließ sie spüren, dass sie zu keinem Zeitpunkt der Leb'schen Dynastie angehörte. Sie war froh, die Gesellschaft nur noch wenige Stunden ertragen zu müssen.

Lina war 26 Jahre alt. Ihre Mutter starb bei der Geburt, was ihren Vater zum Alkoholiker machte. Das Jugendamt kannte ihre Adresse gut. Mehrere Male entzog man ihrem Vater das Sorgerecht. Schließlich brannte er durch und ließ sie alleine. So wuchs sie zwischen ihrem Zuhause, Heimen und Pflegefamilien auf. Das hübsche, zierliche, kluge Mädchen musste früh auf eigenen Beinen stehen. Sie machte das Abitur und die Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin. In ihrem ersten Praktikum lernte sie Markus von Leb kennen, und wie es das Klischee vorgab, verliebte sie sich in den jungen, adligen Patienten, dem ein Abszess am Hintern entfernt wurde. Nur vier Monate später stellte er die Frage aller Fragen. Da sich das Ansehen einer Krankenschwester nicht mit dem Anspruch von Leb’scher gesellschaftlicher Kreise vertrug, markierte ihre Hochzeit das Ende ihrer Berufslaufbahn.

Knappe fünf Jahre war es her, dass sie Markus, ihrem ersten richtigen Freund, in dieser Kirche das Jawort gab. Blutjung, frisch verliebt, naiv. Sie hatte auf den Märchenprinzen gewartet und konnte ihm ihre Jungfräulichkeit schenken. Denn als sie 14 war, schloss sie mit Sandra, ihrer besten Freundin, den Pakt »Kein Sex vor der Ehe«. Sie hatte durchgehalten, Sandra nicht. Schlimmer noch: Auf den Geschmack gekommen, ließ sich ihre Freundin von jedem flachlegen, der körperlich imstande war. Mann, Frau, Aussehen, Verhütung, HIV oder Geschlechtskrankheiten interessierten sie nicht. Lina erfuhr brühwarm von den erotischen Abenteuern, die immer extremer wurden. Zuerst nur mit ihrem jeweiligen Kurzzeitbegleiter, dann zu dritt und zu viert mit wechselnder Geschlechter- und Rollenverteilung, es folgten das Kamasutra und Fetisch-Experimente, und eines Tages schlich sie sich nach einem Spiel in die Kabine der örtlichen Fußballmannschaft, und brachte nicht weniger als fünfzehn knackige Jungs zum Abspritzen. Der weiße Cocktail lief noch Stunden nach diesem Gangbang aus ihr heraus...

›Was denkst du nur?‹, ermahnte sich Lina. Das Begräbnis ihres Mannes war wohl kaum der geeignete Ort, in Sandras sexuelle Eskapaden abzugleiten. Ihre Freundin saß in der rechten Bank, im Kleinen Schwarzen, und hatte garantiert kein Höschen an. Ihr tiefer Ausschnitt war der Blickfang des Tages. Ihre Silikonbrüste standen wie eine Eins. Auch die Augen des Pfarrers blieben regelmäßig am Dekollete kleben.

›Ob man dafür einen Waffenschein braucht?‹

Schon wieder war sie nicht bei der Sache. Vielleicht, weil sie sich fragte, wie viel sie selbst in ihrem Leben versäumt haben mag – besser gesagt: Ihr vorenthalten wurde.

Die Sex-Bilanz ihrer Ehe mit Markus fiel ernüchternd aus. Das Liebesspiel war langweilig und einfallslos, wenn es überhaupt dazu kam. Meist sahen sie sich nur am Wochenende. Dann war er zu erschöpft, um mit ihr zu schlafen. Seine Kanzlei beriet Konzerne bei deren Verschmelzung, doch für eine Verschmelzung mit seiner Frau reichte die Power nicht mehr aus. Mit Kindern wollten sie noch warten, doch manchmal fragte sich Lina, wozu sie überhaupt die Pille nahm.

Viele Male hätte sie die Gelegenheit zu einem Seitensprung gehabt. Zum Beispiel mit Alessandro, ihrem Personal Trainer. Er sollte sich um ihren schlimmen Rücken kümmern. Für Linas Geschmack interpretierte Alessandro diesen Auftrag sehr freizügig, denn er schien keine Gelegenheit auszulassen, ihre Lust zu wecken. Die Hände des diplomierten Ergotherapeuten und Sportwissenschafters konnten wahre Wunder wirken, doch sie kannten keine Grenzen. Immer näher rückte er ihren erogenen Zonen – kräftig, ölig und warm – bis Lina die Reißleine zog und einen Vorwand fand, um Alessandro nach Hause zu schicken. So ging es einige Male. Dennoch engagierte sie ihn weiter. Was sie ihm niemals sagte, war, wie heiß und feucht er sie mit seinen Annäherungsversuchen machte, wie gerne sie seinen einladenden Bewegungen nachgegeben hätte, und wie oft sie nachher ihren Vibrator aus dem Geheimversteck holte, um die aufgestaute Lust in einem heimlichen Orgasmus herauszustöhnen.

Sie hielt es mit dem Eheversprechen wie mit ihrem Gelübde »Kein Sex vor der Ehe«: Schwüre sind heilig. Eine Einstellung, die garantiert mit ihrer Kindheit zu tun hatte, doch geforscht hat sie nie danach. Von verbotener Selbstbefriedigung war weder im Aufsparen für die Ehe noch im Eheversprechen selbst die Rede gewesen. Über die Jahre wurde sie zu einer wahren Expertin. Wenn sie wollte, konnte sie binnen zwei Minuten kommen, ohne dass es jemand bemerkte. Ihre außergewöhnlichsten Höhepunkte erlebte sie in Kinos, an dunklen Straßenecken und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Der »Massagestab«, den sie sich heimlich im Internet bestellte, um zu Hause entspannter zum Höhepunkt zu kommen, verbrauchte zeitweise mehr Batterien als eine Kompanie Duracell-Bunnies, wie sie mit sich selbst zu scherzen pflegte.

Ja, sie war einsam und chronisch unbefriedigt. Und nein, Masturbation und technische Hilfsmittel konnten ihr Verlangen nicht mehr stillen. Sie wusste: Das Leben musste mehr bereithalten. Sie wollte danach suchen.

Lina war so sehr in ihre deplatzierten Gedanken versunken, dass sie das Ende der Trauerfeier gar nicht bemerkte. Ihre Schwiegermutter, Henriette von Leb, packte sie am Oberarm und zog sie auf die Beine. Es war Zeit, als Erste in der Gefolgschaft den Sarg ihres Mannes zum Grab zu begleiten. Noch wichtiger war es Henriette aber, dass die Witwe Haltung bewahrt, wie es die Etikette vorschreibt.

Lina fühlte sich schuldig und verdorben, weil sie nur an sich und ihre unbefriedigten Bedürfnisse dachte, während Markus zu Grabe getragen wurde. Andererseits hatte sie allen Grund dazu, ihren Mann zu verabscheuen. Wie sie zwei Tage zuvor erfahren hatte, war er ein Schwein.