ZWÖLF

Eine Woche später

Felix saß auf dem Sofa und schwenkte prüfend das Glas mit der farblosen Flüssigkeit in seiner Hand. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnen können, auf den abendlichen Alkohol zu verzichten und stattdessen mit Wasser vorliebzunehmen. Gerade im Moment hätte er die Erinnerungen an die vergangenen Wochen am liebsten in einer Flasche Hochprozentigem ertränkt, doch es war Teil seiner Abmachung mit Leonie, das Trinken aufzugeben. Nur unter dieser Bedingung hatte sie Felix den Umgang mit ihrer gemeinsamen Tochter erlaubt.

Es war das erste Mal seit der Flucht vor dem ›Umbra Dei‹, an dem er Babysitter für Sofia sein durfte. Leonie war mit ihren Eltern zum Essen gegangen, nachdem sie den ganzen Nachmittag – wie schon so oft in den vergangenen Tagen – über alles, was in den letzten Jahren vorgefallen war, geredet hatten. So sehr sie sich gefreut hatte, die beiden wiederzusehen, so schwer war es ihr gefallen zu beichten, dass die Organisation ihren und Sofias Tod nur vorgetäuscht hatte. Felix’ Angebot, Leonie bei den Gesprächen zur Seite zu stehen, hatte sie mit einem Seufzen abgelehnt. »Da muss ich allein durch.« Und er wusste, dass es so besser war. Zunächst hatte er gehofft, dass sie nicht die ganze Wahrheit erzählen würde, doch Leonie wollte ihre Eltern nicht anlügen. Zu groß war der Schock gewesen, als die tot geglaubte Tochter plötzlich vor der Tür gestanden hatte.

Sybille war Leonie und Sofia in den letzten Tagen nicht mehr von der Seite gewichen und jede Nacht mehrmals in das Zimmer der beiden geschlichen, um nach ihnen zu sehen.

Felix nahm den inzwischen drei Tage alten Ausschnitt einer italienischen Tageszeitung vom Tisch und betrachtete ihn. Leonie hatte ihm und Melanie den Text sinngemäß übersetzt und Felix lächelte beim Gedanken an den Moment, als sie zusammengesessen und zum ersten Mal von den Ereignissen nach ihrer Flucht erfahren hatten. Er erinnerte sich deutlich an die Erleichterung in Melanies Augen und das erste verhaltene Lächeln seit Langem.

Am gestrigen Dienstag stürmte ein Sondereinsatzkommando das Anwesen der bekannten Familie Baresi. Er erinnerte sich noch gut an den Wortlaut. Nach einem Hinweis auf illegale Aktivitäten durchsuchten die Beamten mehrere Büroräume und fanden Belege für ein gutes Dutzend Auftragsmorde, die durch Franco Baresi und seinen Sohn angeordnet oder ausgeführt worden sein sollen. Unter den Zielpersonen sollen sich auch hochrangige Politiker verschiedener Länder, insbesondere solcher mit instabiler politischer Lage, befunden haben.

Die Verdächtigen konnten nicht vernommen werden. Franco Baresi verstarb aus bislang ungeklärter Ursache in seinem Büro, Armando Baresi wurde, vermutlich erstochen, zusammen mit einer weiblichen, noch nicht identifizierten Leiche im Keller des Hauses aufgefunden. Über die näheren Umstände wollte sich die Polizei nicht äußern. Aus einer informierten Quelle war zu erfahren, dass aufgrund von Aussagen des anwesenden Sicherheitspersonals eine Fahndung nach Tomáš H. eingeleitet wurde, dessen Fingerabdrücke und DNA an der möglichen Tatwaffe gefunden worden sein sollen.

Ein Knacken im Babyfon ließ Felix aufhorchen. Eilig ging er nach oben in das Zimmer, das Leonie für sich und ihre Tochter im Haus der Eltern provisorisch hergerichtet hatte. Sofia schlief friedlich in ihrem Kinderbett. Sie trug den rosafarbenen Schlafanzug, den er ihr gekauft hatte, und nuckelte im Schlaf am Daumen. Felix strich ihr über den rotblonden Lockenkopf. Seine Tochter sollte niemals erfahren, welche Bürde sie in sich trug. Vorsichtig schlich er zurück ins Wohnzimmer.

»Schläft sie?« Leonie kam gerade mit ihren Eltern zur Tür herein. Sie sah zufrieden aus, der Abend schien ihr gutgetan zu haben.

Felix nickte.

»Möchtest du noch etwas bleiben?«, fragte Leonie und stellte ihre Tasche auf die Sofalehne. »Ich würde mich freuen.«

»Ein andermal, okay?« Felix wusste, dass sie sich wünschte, sie könnten wieder zusammenfinden, doch er war nicht bereit dazu. Nicht im Moment. Immer wenn er Leonie sah, dachte er an ihren Betrug und die schlimmste Zeit seines Lebens, an die lodernden Flammen, die ihren Sarg verschlungen und ihm seine Frau und seine Tochter genommen hatten. Er konnte ihr nicht vertrauen, auch wenn er es wollte.

Leonie nickte traurig. »Danke, dass du hier warst.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Schlaf gut.«

»Du auch.« Felix schenkte ihr eine kurze Umarmung und machte sich auf den Heimweg.

* * *

Als Felix seine Wohnung betrat, saß Melanie auf dem Sofa. Er hatte ihr angeboten, für eine Weile zu ihm zu ziehen, da sie sich in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr wohl fühlte. Die Albträume, von denen sie fast jede Nacht heimgesucht wurde, zehrten zusehends an ihren Nerven. Ihren Eltern wollte Melanie nichts von alldem erzählen, was geschehen war, denn sie wusste, dass besonders Greta damit nicht fertig würde.

Felix musste sich eingestehen, dass ihm Mellis Nähe guttat. Auf eine gewisse Weise hatten die Erlebnisse sie einander näher gebracht denn je, auch wenn es noch nicht möglich war, darüber zu sprechen. Oft saßen sie bis in die Nacht gemeinsam vor dem Fernseher und schauten Komödien, um die düsteren Erinnerungen für ein paar Stunden in den Hintergrund zu drängen.

An diesem Abend war jedoch etwas anders. Felix sah, dass Melanie geweint hatte. Sie hielt einen Brief in den Händen und starrte auf die verwischte Schrift.

»Was ist los?«

Wortlos hielt sie ihm den Zettel entgegen und er las die zum Teil von Tränen verschmierten Zeilen.

Liebe Mel, ich schreibe dir, damit du weißt, dass es mir gut geht. Leider werden wir uns wahrscheinlich nicht wiedersehen. Ich werde für eine Weile untertauchen müssen und nicht lange am gleichen Ort bleiben können. Ich hoffe, dass dich dieser Brief erreicht. Ich werde dich nicht vergessen. T.

»Oh …« Felix suchte nach den passenden Worten. »Das tut mir leid, Melli. Aber Tomáš lebt und das sind doch gute Nachrichten, oder nicht?«

Melanie schluchzte leise.

Felix nahm seine Freundin in den Arm. »Du vermisst ihn.«

»Das ist es nicht«, flüsterte sie.

»Sondern?«

Es dauerte eine Weile, bis Melanie den Kopf hob und Felix ansah. Sie schien ihren ganzen Mut zusammennehmen zu müssen, bevor sie es unter Tränen herausbrachte.

»Ich bin schwanger.«