DREI

Freitag, 29. März

Melanie hatte die Nase voll davon, stundenlang allein zu Hause herumzusitzen und Trübsal zu blasen. Vielleicht war heute eine gute Gelegenheit, den verpassten Videoabend bei Felix nachzuholen und so auf andere Gedanken zu kommen. Sie suchte ihr Handy, konnte es aber nicht finden. Dann fiel es ihr wieder ein. Oh, nein! Sie hatte das Handy im Büro liegen lassen. Ausgerechnet an dem Ort, den sie nie wieder betreten wollte. Melanie rief sich den Dienstplan ins Gedächtnis. Eigentlich durfte nur Rüdiger Schmidt in der Redaktion sein. Er hatte sich in den letzten Tagen mehrfach darüber ausgelassen, diese Schicht bekommen zu haben. ›Kollege Schmidt‹, wie er in der Redaktion genannt wurde, hatte ein ausgesprochen aufbrausendes Temperament. Doch trotz des nicht immer angenehmen Umgangs mit ihm war er im Grunde genommen ein harmloser Zeitgenosse.

Mit dem Bus nahm der Weg zum Redaktionsbüro mindestens eine Stunde in Anspruch. Durch die schlechte Verbindung musste man zweimal umsteigen, und oftmals fuhr einem der Anschlussbus direkt vor der Nase weg. Zu Fuß war der ›Anzeiger‹ in etwa vierzig Minuten zu erreichen. Da ihr Auto noch immer vor Herrn Lohkamps Haus stand, entschied sich Melanie für den Spaziergang an der frischen Luft. Doch an diesem Tag konnte auch das freundliche Wetter ihre Laune nicht verbessern.

Vierzig Minuten später betrat Melanie die große Eingangshalle des Bürogebäudes und fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock. Wie erwartet war das Büro dunkel und nur an Kollege Schmidts Schreibtisch brannte Licht. Allerdings sah es nicht so aus, als arbeitete er. Er saß vom Schreibtisch abgewandt, sodass Melanie nur seine dunklen Hosenbeine sehen konnte, über den Boden verstreut lagen viele zerknüllte Blätter. Mit einem leichten Schmunzeln dachte sie daran, wie oft es bei ihr zu Hause schon ein solches Bild gegeben hatte, wenn die passenden Ideen für Texte ausblieben. Im Büro hätte sie sich so etwas nie getraut, zu dem launischen Kollegen passte es jedoch irgendwie.

»Hallo Herr Schmidt, ich habe mein Handy vergessen. Lassen Sie sich nicht stören.« Als keine Antwort kam, ging Melanie zu ihrem Schreibtisch und nahm das Mobiltelefon aus der Schublade. Beim Umdrehen konnte sie einen flüchtigen Blick auf die Silhouette ihres Kollegen werfen. Sie erstarrte. Dort im Halbdunkel saß keineswegs Rüdiger Schmidt, sondern ihr Chef. Melanie hielt den Atem an. Herr Lohkamp schien sie trotz der lautstarken Begrüßung nicht bemerkt zu haben, offenbar gönnte er sich ein Nickerchen. Vorsichtig und bemüht, kein unnötiges Geräusch zu verursachen, schlich Melanie aus dem Büro, immer in Sorge, dass Daniel Lohkamp plötzlich hinter ihr auftauchen könnte. Erst als sie im Aufzug stand und die Türen sich geschlossen hatten, atmete sie erleichtert auf.

* * *

Kurz zuvor

Das Großraumbüro war am heutigen Feiertag überwiegend verwaist. Die großflächige Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, nur an einem Schreibtisch brannte Licht. Zwei Männer standen dort und diskutierten energisch. Einer von ihnen war groß, von kräftiger Statur und seine blonden Haare waren streng zurückgegelt. Der Körper des anderen Mannes wirkte kompakter. Er war gut einen Kopf kleiner als sein Gegenüber und trug eine Brille mit breitem schwarzem Rand. Das Gestell passte farblich perfekt zu seinen Haaren, die wild in alle Richtungen vom Kopf abstanden. Trotz des Größenunterschieds hatte es keineswegs den Anschein, als würde er sich einschüchtern lassen. Das Wortgefecht wurde zusehends lauter, bis sich der kleinere der beiden Streithähne schließlich umdrehte und wütend schimpfend den Raum verließ.

Vor sich hin fluchend setzte sich der verbliebene in den Bürostuhl. Einige Dokumente fielen seinem Ärger zum Opfer und flogen zu Bällen geknüllt durch das Büro. Er nahm das Telefon in die Hand und wählte eine Nummer. Kurz darauf brüllte er in den Hörer und legte wieder auf.

Nachdem er sich schließlich etwas beruhigt hatte, drehte er sich mit dem Stuhl zum Fenster, verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich zurück und sah in die anbrechende Dunkelheit hinaus. Er bemerkte nicht, wie sich aus dem Dunkel hinter ihm ein Schatten löste und näher kam. Erst als es zu spät war und die Kälte von ihm Besitz ergriff, wurde ihm bewusst, dass etwas nicht stimmte. Zwei Atemzüge später kippte sein Kopf nach vorne, seine Arme rutschten hinab und baumelten schlaff an der Seite des Stuhls herunter.

Felix streckte sich. Er spürte das weiche Bett um sich herum, doch irgendetwas war seltsam. Es war nicht der Traum, der ihn irritierte – die düsteren Fantasien beeindruckten ihn kaum noch –, es war die Bettdecke neben seinem Kopf. Sie fühlte sich seltsam hart und kratzig an. Felix öffnete die Augen, setzte sich auf und sah sich um. »Ach du heilige Sch…« der Fluch blieb ihm im Hals stecken. Was ist denn hier passiert? Dort, wo er mit dem Kopf auf dem Bett gelegen hatte, befand sich ein großer dunkelroter Fleck. In einem größeren Radius entdeckte er Flecken in unterschiedlicher Größe, selbst die Wand war mit Sprenkeln übersät. Felix bemerkte die Pistole, die achtlos auf dem Bett lag, und erschrak. Er konnte sich nicht erinnern, dass er eine Waffe besaß. Warum lag sie hier und wer hatte sie dorthin gelegt? Mühsam versuchte Felix, seine Gedanken zu ordnen. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er auf dem Sofa gesessen und Pakete ausgepackt hatte. Alles danach war wie in einem dichten, undurchdringlichen Nebel verborgen. Hatte er seinen geplanten Selbstversuch etwa schon durchgeführt? Am Fußende des Bettes thronte eine Kamera auf provisorisch gestapelten Kartons, ein Kabel führte zur Steckdose dahinter. Felix stand auf und nahm den Camcorder in die Hand. Er klappte den seitlichen Monitor auf. ›Speicherkarte voll!‹, blinkte in roter Schrift auf dem sonst schwarzen Bildschirm.

Na, da bin ich aber gespannt … Felix schob einen kleinen Schalter von ›Rec‹ auf ›Play‹ und startete die Wiedergabe. Nach kurzer Wartezeit erschien ein Bild auf dem Monitor, der Zeitstempel in der rechten oberen Ecke zeigte ›09:48:24‹. Die Aufnahme war demnach schon vor über sieben Stunden gestartet worden.

»Hallo Felix. Ich hoffe einfach mal, dass du es bist … also ich es bin, der sich jetzt dieses Video anschaut. Falls Sie jemand anderes sind, bitte schalten Sie jetzt ab. Es ist besser für Sie.«

Felix runzelte die Stirn. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dieses Video aufgenommen zu haben. Sein Ebenbild setzte die Einleitung fort: »Ich hoffe, dass alles so verläuft, wie ich erwarte …« Der Video-Felix nahm nachdenklich die Pistole in die Hand, die bislang neben ihm auf dem Bett gelegen hatte. Man konnte deutlich die Nervosität in seinem Gesicht erkennen, und seine Hand zitterte, als er die Waffe Richtung Kopf führte und den Lauf in den Mund steckte.

Felix drückte die Pause-Taste und starrte auf das Standbild. Er hatte es also tatsächlich getan und fragte sich nun, ob er bereit war, sich den Rest des Videos anzusehen, denn eigentlich war er nicht der Typ, der gern blutrünstige Filme schaute. Für einige Augenblicke stand er einfach nur da, seinen Blick unschlüssig auf das unbewegte Bild des anderen Felix gerichtet. Letztlich siegte seine Neugier über die Skepsis und er setzte sich auf die Bettkante.

Die nächste Dreiviertelstunde starrte Felix gebannt auf das Display, sein Herz schlug mit erhöhter Frequenz. Jeden Moment rechnete er damit, dass etwas passierte, doch wieder und wieder senkte sein Video-Ich die Waffe. Er brachte es nicht über sich, den Abzug zu betätigen. »Jetzt bring es auch endlich zu Ende, du Feigling!«, forderte er sich energisch auf, schloss die Augen, atmete einmal tief durch und begann herunterzuzählen: »Drei … zwei … eins …« Dann hob er blitzartig die Waffe, schob sie in den Mund und drückte den Abzug.

Der unvermittelte Knall ließ Felix zusammenzucken. Der Anblick war so surreal, dass er die Augen nicht vom Monitor abwenden konnte, obwohl das Bild ihm den Magen umdrehte. Es war ein ausgesprochen befremdliches Gefühl, dabei zuzusehen, wie sich das eigene Blut in Sprenkeln über den Raum verteilte und langsam aus dem hintenüber gekippten Körper in die helle Bettwäsche sickerte. Und doch, so schaurig der Anblick auch war; gleichzeitig war er so faszinierend, dass sich Felix den Ausschnitt noch ein zweites und ein drittes Mal ansehen musste. Jetzt ärgerte er sich, dass er das Geld für eine größere Speicherkarte hatte sparen wollen. Gerade einmal zwanzig Minuten nach dem Höhepunkt endete die Aufnahme abrupt, ohne dass Felix nähere Einblicke in die Zeit danach gewonnen hatte.

Er saß noch immer auf der Bettkante, durchflutet von den verschiedensten Gefühlen, als das Handy klingelte und ihn aus seinen Gedanken riss. »Hallo?«

»Hi, Felix! Alles okay bei dir?«

»Ähm, ja, alles gut soweit«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Und bei dir? Hast du dich ein bisschen erholen können?«

»Geht so. Wäre eben fast diesem Arschloch über den Weg gelaufen. Ich musste mein Telefon aus dem Büro holen und er hat da im Stuhl gepennt. Egal. Sag mal, hast du Lust, heut unsern Videoabend nachzuholen? Ich bringe auch die DVDs mit.«

»Klar, wieso nicht. Wann kommst du vorbei?«

»Bin in fünf Minuten da.«

Felix erschrak. »In fünf Minuten? Aber … ich muss noch duschen … und …«

»Ach, da gibt’s nichts, das ich nicht schon mal gesehen hätte«, widersprach Melanie und lachte. »Dann bis gleich!« Sie legte auf, noch bevor Felix etwas einwenden konnte.

»Shit!« Er ließ die Videokamera aufs Bett fallen und rannte ins Bad. Die blutigen Klamotten vergrub er unter der restlichen Kleidung im Wäschekorb und stieg in die Badewanne, um sich abzuduschen. Es dauerte einige Zeit, bis die rötliche Färbung aus den kleinen Rinnsalen verschwand, die sich ihren Weg an Felix’ Körper hinunter zum Abfluss bahnten. Gerade als er aus der Wanne stieg, klingelte es an der Tür. Felix trocknete sich flüchtig ab, lief splitterfasernackt zur Sprechanlage, drückte den Türöffner und lehnte die Wohnungstür an. Dann eilte er zurück ins Schlafzimmer und zog seinen Jogginganzug über. Die Unterwäsche vergaß er in der Hektik. Kaum hatte er die Hose übergestreift, hörte er Melanie schon in der Eingangstür.

»Felix? Bist du noch im Bad?«

Er antwortete nicht, beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen, und schloss die Tür. Als er sich umdrehte, stand ihm Melanie direkt gegenüber. Möglichst unauffällig drehte er hinter seinem Rücken den Schlüssel um.

»Da bist du ja. Du hast doch wohl nicht mehr geschlafen um diese Zeit?«

»Na ja … Ich hab mich noch mal hingelegt und etwas gedöst.« Die Flunkerei war immer noch besser, als Melanie die Wahrheit zu sagen. Felix lenkte ab: »Was hast du uns denn Schönes mitgebracht? Ich hätte jetzt Lust auf nen coolen Actionfilm.«

Melanie verdrehte die Augen. »Das ist mal wieder typisch. Ne, ne. Ich will mir was Vernünftiges angucken. Hier, ein bisschen Romantik.« Sie hielt ihm drei DVDs vor die Nase.

Felix las die Titel und rümpfte die Nase. Die Auswahl war nicht gerade nach seinem Geschmack. »Da hast du ja ein paar gute Einschlafhilfen für mich gefunden«, stichelte er und grinste.

»Blödmann.« Melanie boxte ihm freundschaftlich gegen die Schulter und zog ihn dann zum Sofa. »Jetzt stell dich nicht so an. Die Filme sind toll. Wirst schon sehen.« Mahnend hob sie den Zeigefinger. »Und wag es ja nicht einzuschlafen.«

»Zu Befehl, Chefin.« Felix musste sich das Lachen verkneifen. Melanie sah irgendwie ulkig aus, wenn sie sich bemühte, besonders streng zu wirken. »Was meinst du, soll ich uns noch ’ne Pizza kommen lassen? Ich hab ’nen Bärenhunger. Ich weiß gar nicht, ob ich heute überhaupt schon was Richtiges gegessen habe.«

»Au ja, super Idee! Für mich Salami bitte. Mit extra Käse.«

»Ich seh mal nach, ob ich noch ne Tüte Chips finde.« Felix holte das Telefon von der Station und ging in die Küche, wo er die Flyer des Pizzadienstes in einer Schublade aufbewahrte. Während er die Nummer wählte, warf er einen Blick in den Schrank mit dem Knabberkram. »Ist ›Saure Sahne mit Knoblauch‹ okay?«, rief er ins Wohnzimmer.

»Passt!«, kam es postwendend zurück. Melanie rief noch irgendetwas von einer Decke, doch Felix hörte nicht mehr richtig hin. Er hatte den Mann vom Lieferdienst am Telefon. »Pizza Pronto, was möchten Sie bestellen?«

»Ja, hallo. Riebig. Ich möchte eine Familienpizza bestellen. Eine Hälfte mit Schinken und eine mit Salami und extra Käse. Dazu noch einen kleinen gemischten Salat und eine Portion Pizzabrötchen mit Kräuterbutter. Ach ja, und eine Flasche Cola.«

Dank der ausgeprägten Kochfaulheit und entsprechend regelmäßigen Bestellungen in der Vergangenheit hatte der Pizzadienst Felix’ Daten bereits gespeichert. »Kasteller Weg 27 ist noch richtig?«

»Ja, ist korrekt. Wie lange wird es ungefähr dauern?«

»Circa eine halbe Stunde.«

Felix bedankte sich und legte auf. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer rief er Melanie zu: »Gute Nachrichten. In einer halben St…« Er stockte. Melanie saß nicht auf dem Sofa und der spitze Schrei aus dem Schlafzimmer ließ Böses ahnen. Hatte sie nicht eben etwas von einer Decke gerufen? Verdammt! Sie musste selbst gegangen sein, um eine zu holen. Felix hatte in der Eile zwar die Tür abgeschlossen, jedoch vergessen, den Schlüssel abzuziehen.

Mit großen Augen und bleichem Gesicht stand Melanie im Türrahmen und stammelte: »W-w-was ist … denn da drin passiert?«

Felix hatte sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, wie er den Zustand seines Schlafzimmers erklären sollte. Er hatte nicht einmal damit gerechnet, dass es außer ihm jemand zu Gesicht bekam.

»Das Bett sieht aus, als wäre da ein Tier geschlachtet worden. Und was soll die Kamera? Machst du etwa perverse Videos?« In Melanies Augen war ein Ausdruck von Ekel oder gar Verachtung zu erkennen.

»Nein, nein. So ist das nicht!« Felix hob abwehrend die Hände und versuchte, sich aus der Situation zu retten. »Hör zu, ich kann dir das erklären.«

»Ach ja? Da bin ich aber gespannt.« Melanie verschränkte die Arme und sah ihn erwartungsvoll an.

Obwohl er fieberhaft überlegte, fiel Felix nichts Besseres ein als die Wahrheit.

Melanie wippte ungeduldig mit dem Fuß. »Ich warte!«

»Wie soll ich das am besten erklären?« Felix ließ den Blick schweifen, als könnte ihn unerwartet noch etwas retten. »Also, du weißt doch, dass in letzter Zeit so viele seltsame Dinge passiert sind.«

»So viele? Was meinst du?«

»Na, der Unfall, mein toter Chef kurz nach der Kündigung, das mit der Badewanne …«

Melanies Gesichtsausdruck verriet, dass sie nun vollkommen verwirrt war. »Kündigung? Wem wurde gekündigt? Und was war mit welcher Badewanne? Du sprichst in Rätseln.«

Verflixt, Felix hatte Melanie noch nicht von der Kündigung erzählt und erst recht nicht von seiner zweiten Auferstehung. Bisher hatte sich nie die richtige Gelegenheit geboten, aber nun blieb ihm nichts anderes übrig, als dies nachzuholen.

* * *

Donnerstag, 24. Juni, drei Jahre zuvor

Seit dem gestrigen Tag gab es endlich Gewissheit über den Grund für die rapide Verschlechterung von Leonies Zustand. Sie hatte sich mit einem Krankenhauskeim infiziert, der ihren geschwächten Körper überfordert hatte. Glücklicherweise zeigte sich eine langsame Besserung der Blutwerte, die Antibiotikabehandlung schlug an. Dr. Heidenheim hatte sich vorsichtig optimistisch geäußert, dass bei einer weiterhin positiven Entwicklung die Chance bestand, dass Leonie wieder ohne die lebenserhaltenden Maschinen auskommen konnte.

In den folgenden Tagen entwickelte sich Leonies Zustand sogar besser als erwartet. Bereits nach zwei Wochen waren keine gefährlichen Bakterien mehr nachzuweisen und sie war wieder imstande, selbstständig zu atmen, trotzdem hielten die Ärzte Leonie zur Sicherheit noch für einige Zeit im künstlichen Koma.

Dann war endlich der Tag gekommen, an dem damit begonnen wurde, sie aus dem Tiefschlaf erwachen zu lassen. Niemand konnte Felix sagen, wie lange dieser Vorgang dauern würde. Es konnten noch Tage vergehen, vielleicht sogar Wochen, und niemand konnte garantieren, dass Leonie überhaupt aufwachen würde. Felix versuchte, diese Möglichkeit auszublenden. Er hatte sich einige Tage freigenommen, um rund um die Uhr an der Seite seiner Frau sein zu können. Keinesfalls wollte er den Moment verpassen, in dem sie zum ersten Mal die Augen aufschlagen würde. Drei Tage und Nächte verbrachte Felix am Krankenbett, hatte sich inzwischen sogar daran gewöhnt, immer wieder für ein Stündchen im Sitzen zu schlafen.

Wenn der Hunger zu groß wurde, ging er widerwillig in die Cafeteria des Krankenhauses. Auch wenn er sich beeilte, dauerte die Prozedur über eine halbe Stunde. Die Essensausgabe befand sich drei Stockwerke tiefer am anderen Ende des Gebäudes. Wenn Felix Pech hatte – und ihm kam es vor, als hätte er fast jedes Mal Pech –, standen die Hungrigen genau dann an der Selbstbedienungs-Theke Schlange, wenn er auftauchte. Und das, obwohl er es vermied, zur Mittagszeit essen zu gehen. Felix hielt sich an Gerichte, die möglichst lange satt machten, er wollte die Prozedur bei der Rückkehr in den Intensivbereich nicht häufiger über sich ergehen lassen als nötig. Hände desinfizieren, Schutzkleidung überziehen, jedes Mal das Restrisiko in Kauf nehmen, einen Erreger einzuschleppen, der Leonie schlimmstenfalls töten konnte.

Wieder einmal weckte Felix’ schmerzender Rücken ihn schon nach einem kurzen Nickerchen. Er sah auf die Uhr und streckte sich ausgiebig. Für einen Moment erstarrte er. Waren Leonies Augen wirklich geöffnet? Felix stand auf und beugte sich über sie. Tatsächlich. Leonie blickte ihn an. Es schien, als wollte sie ihre Lippen bewegen, doch sie war noch viel zu schwach, um etwas zu sagen. Felix griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. »Schatz, ich bin hier. Ich bin bei dir.« Er sah, wie eine Träne über ihre Wange lief. Sie konnte ihn hören!

* * *

Freitag, 29. März, Gegenwart

Melanie hörte mit stetigem Kopfschütteln Felix’ Geschichte an. Die Bezeichnung ›Märchen‹ wäre passender gewesen, so absurd und unglaubwürdig klang das, was er von sich gab. Sie tippte mit dem Finger gegen ihre Stirn. »Langsam denke ich, du gehörst in die Klapse, Felix. Du erzählst einen Müll, das geht auf keine Kuhhaut. Ich weiß nicht, ob der ganze Alkohol schuld ist, den du in dich hineinschüttest, oder … Du brauchst dringend professionelle Hilfe!«

»Ich meine das ernst, Lolli! Ich könnte es dir auch beweisen … Aber bitte tu dir das nicht an. Das sind keine Bilder, die ich dir zumuten möchte.«

Melanie schnaubte verächtlich und entgegnete mit ironischem Unterton: »Aber natürlich. Wie praktisch für dich. Ich soll mir den Beweis nicht ansehen, um mich zu schützen. Jetzt gib schon die Kamera her!« Sie sah Felix mit wütend funkelnden Augen an. »Sofort! Oder ich bin weg.«

Seufzend reichte er ihr die Videokamera, die er während des Gesprächs vom Bett genommen hatte. Nur widerwillig ließ er das Gerät los, als sie danach griff.

Melanie startete das Video. Ungläubig verfolgte sie, wie Felix immer und immer wieder die Pistole ansetzte. Plötzlich wurde sie leichenblass und ließ die Kamera fallen. Diese schlug so ungünstig auf dem Boden auf, dass der ausgeklappte Bildschirm abbrach.

Felix sah Melanie besorgt an. »He, Lolli! Alles in Ordnung?«

Nach einigen Sekunden kehrte langsam Farbe in ihr Gesicht zurück.

»Alles okay, Lolli?«, wiederholte er. »Ich hab dir ja gesagt, du sollst dir das nicht ansehen. Du und dein verdammter Dickkopf.« Ihrem Gesicht konnte Felix ansehen, dass gar nichts okay war. Sie sah ihn an, als säße ihr ein Gespenst gegenüber. Er wollte sie in den Arm nehmen, doch Melanie wich erschrocken zurück. Dann stieß sie Felix zur Seite, griff nach ihrer Tasche und rannte wortlos aus der Wohnung. Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Na toll. Felix stieß einen tiefen Seufzer aus. Das lief ja super. Er hob die Kamera vom Boden auf und prüfte, ob sie noch funktionierte. Der Monitor war zweifelsfrei hinüber und auch sonst gab es kein Anzeichen dafür, dass das Gerät noch zu etwas zu gebrauchen war. Offenbar hielt Felix nur noch ein wertloses Stück Elektroschrott in der Hand. In diesem Moment bereute er, dass er sich hatte verleiten lassen, eines der hochpreisigeren Modelle zu kaufen.

Er legte die Kamera zurück auf den Stuhl und begann damit, die Spuren seines Experiments zu beseitigen.