SIEBEN

Samstag, 24. Dezember, zwei Jahre zuvor

Mit einer Flasche Bier in der Hand saß Felix auf dem Sessel im Wohnzimmer und starrte auf die leere Zimmerecke, in der normalerweise zu dieser Zeit der geschmückte Weihnachtsbaum stand.

Frohe Weihnachten, Felix! Er hob die Flasche und prostete einem imaginären Trinkpartner zu, nahm anschließend einen tiefen Schluck des Gerstensaftes. Vier Monate waren inzwischen vergangen, seit er seine Frau und seine Tochter – oder wenigstens ihre Asche – beerdigt hatte. Unzählige Male hatte er seine Hand auf die Türklinke des verschlossenen Kinderzimmers gelegt und war doch nie hineingegangen. Noch immer hatte er das Gefühl, Leonies Duft auf der Bettseite neben sich zu riechen, wenn er schlafen ging, doch obwohl es ihm jeden Abend das Herz zerriss, brachte er es nicht über sich, das Bettzeug zu waschen.

In vielen Nächten träumte er von seiner Frau und tastete morgens im Halbschlaf auf der anderen Bettseite nach ihrem Körper, bis er wach genug war, um sich daran zu erinnern, dass sie nicht neben ihm lag – und nie wieder dort liegen würde. In diesen Momenten wünschte er sich, er wäre nicht aufgewacht.

Felix nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und quälte sich ächzend aus dem Sessel. Er hatte Melanie versprochen, beim gemeinsamen Essen mit ihren Eltern dabei zu sein. Sie versuchte mit allen Mitteln, ihn aus dem Haus zu bekommen und aus seinen trüben Gedanken zu reißen. Eigentlich war ein geselliger Abend im Kreis der Familie das Letzte, was sich Felix im Augenblick zumuten wollte, doch seiner besten Freundin konnte er kaum einen Wunsch abschlagen. Im Grunde war sie das einzig Gute, das ihm geblieben war – und er kam jetzt schon zu spät, selbst wenn er sich beeilte.

Zwanzig Minuten und fünf Pfefferminzbonbons gegen die Alkoholfahne später stand Felix vor der Tür, lockerte noch einmal die Gesichtsmuskulatur und setzte ein einigermaßen natürlich aussehendes Lächeln auf. Er atmete tief durch und klingelte schließlich, bevor die leise innere Stimme ihn davon überzeugen könnte, einfach wieder zu verschwinden und sich zu Hause zu verkriechen.

»Da bist du ja!« Melanie umarmte ihn freudig und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Komm rein. Wir wollten gerade mit dem Essen anfangen.« Sie führte Felix ins Esszimmer, wo ihre Eltern bereits am Tisch saßen. »Papa, Mama, Felix ist da.«

»Felix, Junge!« Greta Farber stand auf und drückte ihn an sich. »Frohe Weihnachten. Gut siehst du aus.«

Es war eine höfliche Floskel, das wusste Felix, doch er ließ sich nichts anmerken, überhörte auch das brummig gemurmelte ›Na endlich‹ von Melanies Vater Karl, der dafür einen strafenden Blick seiner Tochter kassierte.

»Frohe Weihnachten. Schön euch zu sehen und danke für die Einladung«, sagte Felix mit so viel Ehrlichkeit wie möglich. »Es riecht verdammt gut, Melli. Selbst gekocht?« Er grinste schelmisch.

Mutter Greta machte eine wegwerfende Handbewegung. »Red keinen Unsinn, Junge. Das Weihnachtsessen ist meine Sache, wie immer. Da lasse ich mir nicht reinreden.« Sie sah Melanie vielsagend an. »Auch nicht von meinem lieben Töchterchen.«

»Können wir jetzt vielleicht anfangen?«, warf Karl ein. »Oder wollt ihr quatschen, bis das Essen kalt ist?«

»Schatz, du wirst schon nicht verhungern«, konterte Greta. Ihr provokanter Blick auf den rundlichen Bauch ihres Gatten wurde nur mit einem missmutigen Grummeln kommentiert.

Felix musste schmunzeln. Bei den Farbers gehörte es zum guten Ton, Neckereien auszutauschen. Er war es nicht anders gewohnt – und er musste zugeben, dass Melanies Mutter nicht unrecht hatte. Karls Bauch hatte in den letzten Jahren, besonders seit er im Ruhestand war, deutlich an Umfang zugelegt, was nicht zuletzt an den Kochkünsten seiner Frau lag.

In ihrem Äußeren hätten Melanies Eltern kaum unterschiedlicher sein können. Karl Farber war in etwa so groß wie Felix, wirkte durch die gebeugte Haltung, die er seiner langjährigen Arbeit auf dem Bau verdankte, aber älter als er war. Seine Frau war einen Kopf kleiner, zierlich und legte im Gegensatz zu ihm Wert darauf, dass keines ihrer grauen Haare zum Vorschein kam. So saß sie regelmäßig beim Friseur und ließ ihr ehemals dunkelblondes Haar nachfärben. Außerdem achtete sie sehr auf ihre Figur und ließ selbst bei schlechtem Wetter keine Verabredung zum Nordic Walking mit ihren Freundinnen ausfallen.

»Was macht denn die Arbeit?«, fragte Greta, während sie ein Stück Rinderbraten mit dunkler Soße und etwas Rotkohl auf Felix’ Teller drapierte.

»Hab gekündigt«, erwiderte er knapp. »Hatte keine Lust mehr auf immer das gleiche eintönige Zeugs.«

»Wie bitte?« Melanie blieb der Mund offen stehen. »Das ist nicht dein Ernst. Du hast doch immer gern dort gearbeitet.«

Felix zuckte mit den Schultern und legte zwei dampfende Knödel auf seinen Teller. »Dinge ändern sich.« Er hatte seine Arbeit ehrlich gemocht, doch im Moment kam ihm alles, was er tat, sinnlos vor. In Wirklichkeit hatte er nicht gekündigt, sondern sich nur für einige Wochen beurlauben lassen, doch er kannte Melanie. Er wusste, wie sie auf eine Kündigung reagieren würde, und etwas in ihm, ein kleiner finsterer Kobold in seinen Gedanken, wollte sie provozieren. Warum sollten andere fröhlich sein, wenn er durch die Hölle ging?

»Natürlich ändern sich Dinge. Aber warum hast du nicht vorher mal mit mir gesprochen?«, hakte Melanie nach und ihre Stimme klang mehr verletzt als vorwurfsvoll.

»Ich bin erwachsen, oder?«, murrte Felix genervt. »Und du bist nicht meine Mutter.«

Melanies Nasenflügel bebten. Ein untrügliches Anzeichen dafür, dass sie sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, ihm eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. Gratulation, Felix! Ganz toll gemacht.

Die Stimmung am Tisch hatte sich merklich abgekühlt. Greta sah Felix mit strenger Miene an, und als ihre Tochter keine Anstalten machte, etwas zu sagen, legte sie betont ruhig das Besteck zur Seite. »Hör mal zu, Felix. Wir alle haben Verständnis für deine Situation. Aber jetzt gehst du wirklich zu weit. Melli kann nichts dafür, dass deine Frau tot ist.«

»Mama, lass gut sein«, bat Melanie mit leiser Stimme und sah verlegen vor sich auf den Tisch. »Er hat es gerade nicht leicht.«

»Nein, Schatz. Er kann das nicht als Entschuldigung für alles nehmen. Irgendwo ist auch Schluss. Und jetzt möchte ich bitte in Frieden Abendessen, bevor es kalt ist.« Sie setzte sich auf ihren Platz und spießte mit der Gabel ein Stück Braten auf. »Guten Appetit!«

Felix hatte die Zurechtweisung nicht erwartet. Er wusste, dass er sich danebenbenahm, aber der Drang, seiner schlechten Laune freien Lauf zu lassen, war stärker. »Mir ist der Appetit vergangen«, knurrte er, stand auf und ging. Mit einem lauten Knall warf er die Tür hinter sich ins Schloss. Auf der Straße spürte er sofort, wie die Kälte unerbittlich durch seine Kleidung kroch. Verdammt! Meine Jacke! Das gute Stück hing wohlverwahrt an der Garderobe im Flur – gemeinsam mit dem Autoschlüssel. Fröstelnd rieb sich Felix mit den Händen über die Arme. Die Blöße, jetzt zurückzugehen, konnte er sich nicht geben. Langsam schlenderte er in Richtung Hauptbahnhof. Wenn ich mir hier draußen den Tod hole, ist der ganze Mist wenigstens vorbei.

 

Samstag, 6. April, Gegenwart

Der Raum war fensterlos und karg, die Batterielampe auf dem Fußboden sorgte für eine kalte Beleuchtung. In diesem Moment wurde mit Schwung die Eingangstür geöffnet und eine dunkelhaarige Frau stürzte herein. Sie schrie den Mann an, der sich gerade über eine reglose Gestalt beugte und sich nun verärgert erhob. Nach einer kurzen Diskussion schien die junge Frau nachzugeben und näherte sich dem Verletzten, hielt aber plötzlich inne und sah sich um.

Ein Schatten hatte sich aus einer Ecke des Raums gelöst und langsam auf die drei zubewegt. Kaum sah die Frau in seine Richtung, verbarg sich der Schemen im Schutz der Dunkelheit. Die junge Frau verharrte kurz, schüttelte dann den Kopf und wendete sich wieder der blutüberströmten Hand des reglosen Körpers zu. Sofort tastete sich der Schatten wieder vorwärts, näherte sich Zentimeter um Zentimeter.

Plötzlich sprang der Mann auf die junge Frau zu, packte sie am Arm und flüchtete mit ihr aus dem Raum. Für einen Augenblick schien es, als wollte ihnen der Schatten folgen, wandte sich dann jedoch der zurückgebliebenen Gestalt zu, kroch die Beine entlang und legte sich wie eine hauchdünne Decke über den gesamten Körper. Noch zehn Herzschläge lang hob und senkte sich der Brustkorb des Mannes, bevor seine Haut eine unnatürlich blasse Farbe annahm und das Leben mit einem letzten Atemzug aus ihm wich.

Wie eine seelenlose Hülle lag Felix auf seinem Bett und starrte an die Decke. Obwohl er am Leben war – schon wieder – fühlte er sich keineswegs lebendig. Es kam ihm vor, als wäre der letzte Rest Hoffnung auf ein Entkommen mit ihm gestorben, aber nicht mit ihm auferstanden. Möglicherweise hatte sie ja genau dieses Ziel gehabt: ihm Hoffnung zu machen, um ihn anschließend umso tiefer fallen zu sehen.

Wieder war ein Mensch durch ihn gestorben, ein Mensch, dessen bleiches Gesicht nun wie ein quälender Geist vor seinem inneren Auge auftauchte, sobald er die Lider schloss. Er kannte den Mann, der hatte sterben müssen, und er verstand es nicht. Wie war es möglich, dass Melanie dem Schatten entgangen war? Felix hatte keine Zweifel, dass die Fotos auf den Monitoren von ihr gewesen waren und nicht von Professor Hiepenau. Was für einen Unterschied macht es schon? Ich werde hier versauern, und wenn es diesmal nicht geklappt hat, werden sie Melli beim nächsten Mal erwischen.

Eine Träne stahl sich aus dem Augenwinkel und rann über seine Wange. Mit der Gewissheit, dass er seiner besten Freundin nicht helfen konnte – dass er sie wohl nie wiedersehen würde – schloss Felix die Augen.

* * *

Ziellos streifte Melanie durch das Industriegebiet. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Normalerweise hätte sie in einer Situation wie dieser Felix angerufen. Er war ohne Frage Unpünktlichkeit und Chaos in Personalunion, aber wenn sie ihn gebraucht hatte, war er immer für sie da gewesen. Obwohl sie es nur ungern zugab, hatte Tomáš recht: Professor Hiepenau war der Einzige, der ihnen im Moment Informationen verschaffen konnte. Vielleicht war es wirklich notwendig, die moralischen Grenzen ein wenig zu verschieben, um Felix zu helfen – und ihr eigenes Leben wieder in Ordnung zu bringen.

Auf dem Boden vor ihr bewegte sich ein Schatten. Melanie stieß einen spitzen Schrei aus und wirbelte herum.

»Ganz ruhig, ich bin’s nur.« Tomáš hob abwehrend die Hände.

»Du verfluchter Idiot«, keuchte Melanie. »Wie kannst du mich so erschrecken? Ich hätte fast einen Herzkasper bekommen.« Sie boxte ihn kräftig gegen die Schulter.

»Au!« Tomáš rümpfte die Nase. »Geht’s dir jetzt besser?«

Melanie sah ihn finster an, konnte sich ein leichtes Lächeln jedoch nicht verkneifen. »Ein bisschen«, gab sie zu. »Aber ich bin immer noch sauer auf dich.«

»Zu Recht«, seufzte Tomáš. »Ich … ich weiß nicht, wie ich es am besten erklären soll. Seit Jahren habe ich nicht mehr solche Angst gespürt wie vorhin. Man könnte mir ein Messer an die Kehle halten oder meinetwegen eine Waffe an den Kopf – ich würde nicht einmal blinzeln, aber beim Schatten eines anderen ›Baiulus Umbrae‹ …« Er senkte seine Stimme. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was es für mich bedeuten würde, so umzukommen. Und das jagt mir eine Scheißangst ein.«

Melanie machte einen Schritt auf ihn zu und sah ihn herausfordernd an. »Darf ich das jetzt als Entschuldigung verstehen?«

»Ich soll mich entschuldigen?« Tomáš verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und rieb sich das Kinn. »Ich würde sagen ›Ladies first‹.«

»Wie bitte? Ich soll …« Melanie holte tief Luft, verkniff sich aber, auf seine Provokation einzugehen. »Lassen wir das. Wir müssen zurück zum Professor. Er ist der Einzige, der uns sagen kann, was mit Felix passiert ist. Vielleicht weiß er sogar, wo sie ihn hingebracht haben.«

Tomáš zog eine Augenbraue hoch. »Und wieso glaubst du, dass er plötzlich mit uns reden wird?«

Melanie seufzte tief, zuckte dann mit den Schultern. Es widerstrebte ihr, die Gedanken auszusprechen. »Was haben wir schon für eine Wahl? Tu, was nötig ist.«

»Und ich kann mich darauf verlassen, dass du nicht wieder dazwischenfunkst?«

»Versprochen.« Melanie nickte.

»Na gut.« Tomáš legte den Arm um ihre Schulter. »Aber beim ersten Anzeichen des Schattens müssen wir verschwinden. Also halt bitte die Augen auf.«

Den ganzen Weg zurück zur Halle des ehemaligen Möbelhauses sah sich Melanie aufmerksam nach allen Seiten um. Mit dem Wissen, dass der Schatten überall in der Nähe auf sie lauern konnte, war die Dunkelheit noch unheimlicher.

»Meinst du, es tut weh, wenn er dich erwischt?«, fragte Melanie plötzlich in die Stille.

»Keine Ahnung«, antwortete Tomáš nach einer kurzen Pause. »Ich habe versucht, nicht darüber nachzudenken, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es besonders angenehm ist.« Er lachte trocken.

Für den Moment hielt sich Melanie mit weiteren Fragen zurück, auf die sie sowieso keine zufriedenstellende Antwort erwarten konnte.

Nach wenigen Minuten hatten sie die Halle erreicht. Mit gemischten Gefühlen betrat Melanie den Büroraum. Sie wollte Informationen, fürchtete sich allerdings vor dem, was Tomáš dem Professor antun würde, um diese zu bekommen.

»Scheiße!« Tomáš kniete sich neben Hiepenau und fühlte seinen Puls. »So viel zum Thema ›Antworten‹. Er ist tot.«

»Was hast du getan?« Melanie stand mit weit aufgerissenen Augen hinter ihm. Sie wollte es nicht glauben.

»Ich habe gar nichts getan«, warf Tomáš barsch zurück. »Fass ihn mal an. Er ist eiskalt. Das ist das Werk des Schattens.«

Zögerlich trat Melanie näher und legte die Fingerspitzen an Professor Hiepenaus Hals. Die Haut fühlte sich kühl an, seltsam kühl.

»Ein typisches Anzeichen. Die Körpertemperatur der Opfer ist bereits kurz nach dem Tod auf das Niveau der Umgebung abgesunken. Normalerweise lautet die Diagnose der Ärzte ›Multiples Organversagen‹. Es ist mir unbegreiflich, dass sich nie jemand näher mit diesen Fällen beschäftigt hat. Wobei … Der Einfluss des ›Umbra Dei‹ reicht auch bis in diese Bereiche, wie wir an unserem Freund hier sehen, und wer weiß, wie viele Ärzte, die Nachforschungen angestellt haben, bereits aus dem Weg geräumt wurden.«

Melanie hörte ihm schon nicht mehr richtig zu. Sie hatte sich an eine Wand gekauert und kämpfte mit den Tränen. »Es ist alles aus«, sagte sie heiser.

»Nein, Mel.« Tomáš ging neben ihr in die Hocke und hob sanft ihr Kinn, sodass sie ihn ansehen musste. »Noch haben wir einen Vorteil. Ich glaube nicht, dass sie von der Entführung wissen, und es wird noch ein paar Stunden dauern, bis jemand Professor Hiepenau vermisst, geschweige denn, dass er hier gefunden wird. Das verschafft uns etwas Zeit.«

»Und was soll das noch bringen?«, fragte Melanie matt.

»Ach, Mel.« Tomáš schüttelte den Kopf und lächelte sie aufmunternd an. »Bist du nun Journalistin oder nicht?« Er klimperte mit dem Schlüsselbund vor ihrer Nase. »Im Auto war nichts Interessantes, aber ich würde mit dir wetten, zu Hause sieht das anders aus.«

Sofort kehrte der Glanz in Melanies Augen zurück. Sie schnappte Tomáš den Schlüssel aus der Hand und sprang auf. »Mensch, warum sagst du das nicht gleich? Worauf warten wir noch?« Doch im nächsten Moment zögerte sie. »Was ist, wenn er Familie hat? Wenn jemand im Haus ist?«

»Dann sind wir eben leise.«

Melanie musste lachen. »Du bist unmöglich.«

* * *

Den ersten Teil des Weges legten Melanie und Tomáš zu Fuß zurück. Es erschien ihnen sicherer, das Taxi zu einem Ort außerhalb des Industriegebietes zu rufen. Aus dem Büroraum hatten sie alles mitgenommen, das unmittelbar mit ihnen in Verbindung zu bringen war, und einige Straßen entfernt in einen Wassergraben geworfen. Fingerabdrücke gab es in der Halle sicher auch von ehemaligen Mitarbeitern des Möbelhauses genug, sodass ihre eigenen in der Masse untergingen. Markante Stellen wie Türgriffe hatte Tomáš sicherheitshalber sorgfältig abgewischt.

Nach einer Viertelstunde Fußmarsch durch die Nacht erreichten sie eine Diskothek am Stadtrand.

»Na, dann wollen wir mal die Daumen drücken, dass alles glattgeht.« Tomáš sah noch einmal auf den Personalausweis des Professors, um sich zu vergewissern, dass er sich die Adresse richtig gemerkt hatte. Als das Taxi kurz darauf vor ihnen hielt, stützte er sich auf Melanies Schulter. Sie half dem vermeintlich Angetrunkenen beim Einsteigen und setzte sich neben ihn auf die Rückbank.

»Hallo, einmal zum Ginsterweg 2, bitte.« Sie hatten sich darauf verständigt, den Fahrer nicht direkt zur Adresse des Professors zu lotsen, sondern die letzten Meter zu Fuß zurückzulegen.

In den frühen Morgenstunden waren kaum andere Autos auf den Straßen unterwegs und die Fahrt vom Stadtrand in den westlichen Vorort nahm weniger als fünfzehn Minuten in Anspruch.

Der Fahrer hielt den Wagen am Straßenrand und sah auf das Taxameter. »Achtzehn fünfzig«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen.

Melanie reichte dem Fahrer einen Zwanzigeuroschein, den sie schlechten Gewissens aus Hiepenaus Portemonnaie genommen hatte. »Stimmt so. Danke.«

Nach dem Aussteigen warteten Melanie und Tomáš, bis die Rücklichter des Taxis um die Straßenecke verschwunden waren, erst dann gingen sie die Häuserreihe entlang bis zum Haus mit der Nummer 31.

»Ui, der Mann scheint gut zu verdienen … ähm … gut verdient zu haben.« Melanie betrachtete das großzügige Grundstück, auf dem das moderne Einfamilienhaus thronte. »Meinst du, er hat wirklich allein da gewohnt? Ganz schön … überdimensioniert für eine Person.«

»Gute Frage. Warte kurz.« Tomáš öffnete lautlos das kleine Tor im Zaun, der das Grundstück zum Gehsteig abtrennte, und schlich um das Gebäude.

Zwei Minuten später war er zurück an der Vorderseite und winkte Melanie zu sich in einen Bereich, der von der Straßenlaterne nicht beleuchtet wurde. »Die Fenster sind alle dunkel, doch es sieht so aus, als hätte der Professor Familie. Auf dem Klingelschild steht ›Fam. Hiepenau‹.«

»Oh nein …« Melanie hielt die Luft an. Sie waren gerade im Begriff, in das Haus einer Frau einzubrechen, die nicht einmal wusste, dass sie inzwischen Witwe geworden war. Im schlimmsten Fall hatten sie sogar Kinder. Ein Gedanke, bei dem sich Melanies Eingeweide zusammenzogen.

»Viel mehr Sorgen machen mir aber die Nachbarn«, sagte Tomáš nachdenklich und sah auf die Uhr. »Hoffen wir mal, dass keiner von ihnen Nachtschwärmer ist und uns zufällig beobachtet. Polizei können wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen.«

»Na toll, musst du mir noch mehr Angst machen?« Melanie sah sich gehetzt um, als könnten schon im nächsten Moment Blaulichter durch die Nacht zucken.

Tomáš legte ihr den Arm um die Hüfte und zog sie an sich. »Wird schon alles gut gehen.« Seine Stimme strahlte weit weniger Zuversicht aus, als er beabsichtigt hatte. Leise steckte er nach kurzem Herumprobieren den passenden Schlüssel von Hiepenaus Bund ins Schloss der Haustür und öffnete sie.

Der breite Flur des Hauses, von dem aus vier weiße Türen in die angrenzenden Zimmer des Erdgeschosses führten, war völlig unmöbliert. Der Boden war mit hellen Steinplatten gefliest und an der linken Wand führte eine L-förmige Holztreppe in die obere Etage. Das Lichtband neben der Eingangstür ließ gerade so viel Helligkeit von der Straßenlaterne hereinfallen, dass es möglich war, sich ohne Taschenlampe zu orientieren. Tomáš legte seinen Finger auf den Mund und gab Melanie ein Zeichen, die Haustür zu schließen. Auf Zehenspitzen schlich er zum nächstgelegenen Zimmer und spähte hinein.

Melanie begann an der anderen Seite. Der erste Raum beherbergte ein Gäste-WC mit bodengleicher Dusche und war äußerst großzügig angelegt. Wie sieht dann wohl erst das richtige Bad aus?, dachte Melanie beeindruckt. Auch wenn sie neugierig war, hoffte sie, dass es nicht notwendig sein würde, ins Obergeschoss zu gehen. Für einen Augenblick war sie so in Gedanken, dass sie die Türklinke beim Zuziehen nicht herunterdrückte. Mit einem deutlich hörbaren Klacken glitt die Tür ins Schloss. Verdammt!

»Schhh!« Tomáš hielt inne und sah sie tadelnd an. Erst als es still blieb, wagten beide, sich wieder zu bewegen.

Hinter der nächsten Tür wurde Tomáš fündig. »Hier«, flüsterte er und winkte Melanie zu sich.

Kaum hatte sie zwei Schritte gemacht, blieb sie wie angewurzelt stehen. »Hast du das auch gehört?«, raunte sie Tomáš zu, doch er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Melanie lauschte aufmerksam in die Stille, sie war sicher, dass dort ein Geräusch gewesen war. Und dann hörte sie es ganz deutlich: Schritte, die sich im oberen Stockwerk der Treppe näherten. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Wir sind geliefert!

Tomáš winkte Melanie hektisch zu sich, und als sie nicht reagierte und ihm nur panisch entgegenstarrte, packte er sie und zog sie in den Arbeitsraum. Mit angehaltenem Atem hörten sie das leise Knarzen der Treppenstufen.

»Schatz? Bist du das?«, drang die weibliche Stimme durch die angelehnte Zimmertür. Sie klang ein wenig verschlafen.

Tomáš zeigte auf den Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers.

So schnell und leise wie möglich versteckte sich Melanie hinter einem der breiten Seitenteile des Sekretärs, sodass sie auf den ersten Blick vom Eingang aus nicht zu entdecken war.

Tomáš blieb neben der Tür stehen. Er griff in das Bücherregal neben sich, das die gesamte seitliche Wand des Zimmers bedeckte, und nahm eine der massiven Buchstützen heraus.

Bitte tu das nicht, flehte Melanie in Gedanken. Sie hatte gesehen, wozu Tomáš imstande war, und zweifelte nicht daran, dass er die Frau im Notfall einfach niederschlagen, vielleicht sogar umbringen würde.

Die Schritte kamen näher, und als es mehrmals leise an die Tür klopfte, zuckte Melanie zusammen. Vorsichtig lugte sie aus ihrem Versteck hervor, sah, wie sich die Tür langsam öffnete und Tomáš dahinter das unförmige Ding hob, bereit, es auf den Kopf der Frau niedersausen zu lassen. Melanie zog ihren Kopf zurück und schloss die Augen. Sie hörte ihr Herz so laut schlagen, dass sie glaubte, man könnte das dumpfe Wummern im ganzen Raum wahrnehmen.

Für einige Sekunden, die Melanie vorkamen, als dauerten sie eine Ewigkeit, blieb die Frau auf der Schwelle stehen, dann drehte sie sich um und zog die Tür ins Schloss. Das Geräusch der Schritte auf den Fliesen wurde leiser, ebbte schließlich vollends ab. Erst als aus der Entfernung das sanfte Klirren von Gläsern zu hören war, ließ Melanie erleichtert die Luft aus ihrer Lunge entweichen.

Tomáš und sie verharrten noch an Ort und Stelle, bis Hiepenaus Frau, begleitet vom Knarzen der Treppenstufen, wieder nach oben ging, dann kroch Melanie unter dem Schreibtisch hervor und rappelte sich auf. »Das hättest du nicht gemacht, oder?«, fragte sie Tomáš und blickte auf die Buchstütze, die aus der Nähe noch bedrohlicher aussah.

»Natürlich nicht«, antwortete er, doch obwohl er überzeugend klang, hatte Melanie das Gefühl, dass er sie ganz bewusst anlog. »Lass uns anfangen zu suchen«, schlug Tomáš vor. »Sieh nach, ob der Rollladen ganz unten ist, bevor du die Schreibtischlampe anmachst.«

»Hältst du mich für blöd?«, murrte sie, musste sich allerdings eingestehen, dass sie nicht darüber nachgedacht hatte, dass der Lichtschein eventuell von außen zu sehen sein könnte. »Ist unten«, bestätigte sie und schaltete die Schreibtischlampe ein.

Im gelblichen Licht wirkte das Zimmer altmodisch. Die dunklen, massiven Möbel passten nicht recht zum modernen Eindruck, den die Stadtvilla bisher vermittelt hatte. Das große Regal war vollgestopft mit Fachlexika, medizinischen Büchern und sonstigen Wälzern, die Melanie nur für notwendige Recherchen freiwillig in die Hand nehmen würde.

Während Tomáš jedes Buch hervorzog und schüttelte, um versteckte Zettel oder Briefe zu finden, widmete sich Melanie dem Schreibtisch.

»Tomáš!«

»Was denn?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.

»Abgeschlossen.« Sie zog an einer Schublade, die dabei bedrohlich laut knarzte.

»Geht das auch etwas leiser?« Tomáš steckte das Lexikon, das er gerade vorsichtig ausgeschüttelt hatte, zurück an seinen Platz und ging zu Melanie an den Schreibtisch. »Zeig mal her.« Er untersuchte die Schublade. »Aufbrechen macht zu viel Krach«, überlegte er laut und raunte Melanie zu: »Wir sollten erst mal sehen, ob wir nicht den Schlüssel finden. Wo würdest du ihn verstecken?«

»Was weiß ich … Wahrscheinlich in einer der anderen Schubladen. Oder irgendwo unter die Tischplatte geklebt. So sieht man es doch immer in Filmen.« Melanie bückte sich und tastete mit dem Licht der Taschenlampe die Tischunterseite ab. »Nein, hier ist nichts.«

»Hier auch nicht.« Tomáš schloss die letzte Schublade wieder. »Ich suche im Regal weiter.«

»Warte«, sagte Melanie plötzlich. »Wäre es nicht viel klüger gewesen, wenn er den Schlüssel immer bei sich gehabt hätte?«

»Ich habe seine Taschen durchsucht, bevor wir gegangen sind«, erwiderte er. Gleichzeitig schien ihm etwas einzufallen, denn er raufte sich die Haare.

»Was ist?«

»Seinen Wagen habe ich nur flüchtig durchsucht. Wenn er da was Kleines wie einen Schlüssel deponiert hatte, ist es futsch. An den kommen wir nicht mehr ran.«

»Ne, das Auto wäre unpraktisch«, wandte Melanie ein. »Das hat er nicht immer dabei.« Ein hoffnungsvolles Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Seine Geldbörse. Sieh im Kleingeldfach nach.«

Tomáš zog Hiepenaus Portemonnaie aus der Innentasche seiner Jacke und schüttete den Inhalt auf einen Stapel Papier, um das Geräusch zu dämpfen.

Sofort griff Melanie zu und hielt Tomáš triumphierend einen kleinen Schlüssel unter die Nase. »Siehst du? Immer dabei und es geht keiner außer ihm dran.«

Tomáš verdrehte die Augen. »Gib schon her!«

Er wollte ihr den Schlüssel abnehmen, doch sie zog die Hand rechtzeitig weg. »Nix da.« Sie war auf die richtige Fährte gekommen, also würde sie auch die Schublade öffnen. Gespannt steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Er hakte ein wenig, doch nach einer halben Umdrehung und einem leichten Widerstand, ertönte ein leises Klicken. Freudestrahlend sah Melanie Tomáš an. Für einen Augenblick vergaß sie, dass dies das Haus eines Toten war und sie jederzeit bei ihrem Einbruch erwischt werden konnten. Sie schloss ihre Finger um den Holzknauf und zog die Schublade bis zum Anschlag auf.

»Das darf nicht wahr sein!« Enttäuschung verdrängte die Freude innerhalb eines Wimpernschlags. »Sie ist leer.« Melanie starrte auf das dunkle Holz der Lade, in der sie geheime Papiere, eine Akte oder zumindest ein paar Notizen erwartet hatte. Hektisch tastete sie mit der Hand den Boden und die Wände des Schubfaches ab. Niemand schließt eine leere Schublade ab. Da muss doch irgendwas drin sein!

»War wohl nichts«, kommentierte Tomáš den Fund trocken und wendete sich wieder den Büchern im Regal zu.

So schnell wollte Melanie nicht aufgeben. Sie suchte entlang der seitlichen Laufschienen nach einem Mechanismus zum Aushängen, drückte auf beiden Seiten gleichzeitig auf das Metall und zog die Schublade aus ihrer Verankerung.

Im hinteren Teil des Fachs befand sich eine Abtrennung aus dem gleichen Holz wie die Seitenteile, sodass sich ein zusätzlicher schmaler Stauraum ergab, der nicht zu sehen war, solange die Schublade an ihrem Platz war. Darin lag ein Handy, das wie ein Überbleibsel aus den ersten Jahren dieses Jahrhunderts wirkte. Melanie nahm es an sich und drückte den Einschaltknopf. Beim Anblick der für heutige Verhältnisse total veralteten Grau-Grün-Grafik musste sie lächeln.

»Jetzt ist keine Zeit dafür!« Tomáš nahm ihr blitzschnell das Telefon aus der Hand und steckte es in die Tasche. »Das können wir nachher in Ruhe untersuchen. Erst mal müssen wir hier fertig werden und verschwinden. Besser früher als später.«

»Ja, ja«, murrte Melanie. Natürlich hatte er recht, dennoch wäre ein kleines Lob nett gewesen … Er zeigte nicht den Hauch von Freude über ihren Fund. Dabei hatte er selbst nichts vorzuweisen. Es ärgerte sie, dass er so ein egoistischer, überheblicher Mistkerl war, und es ärgerte sie noch mehr, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte.

Nach weiteren zehn Minuten gaben sie die Suche ohne neue Funde auf. »Lass uns gehen, Mel. Es hat keinen Sinn weiterzusuchen. Nicht, dass uns noch …«

Im selben Augenblick klopfte es an die Tür. »Schatz? Bist du doch da?«

Die Klinke bewegte sich und Tomáš reagierte geistesgegenwärtig. Er war mit zwei Schritten an der Tür, stellte seinen Fuß davor und drehte dann den Schlüssel um.

Melanie stand wie versteinert neben dem Schreibtisch und sah Tomáš mit weit aufgerissenen Augen an. Mit den Lippen formte sie ein stummes ›Was machen wir jetzt?‹.

»Wolfgang, warum schließt du ab? Ist alles in Ordnung?« In der Stimme klang nun ein Hauch von Besorgnis mit.

Tomáš eilte zum Fenster und begann, den Rollladen hochzuziehen. »Wir müssen hier raus, und zwar schnell.«

»Durchs Fenster?«

»Natürlich durchs Fenster. Oder siehst du noch einen anderen Ausgang?«

Das Klopfen an der Tür wurde lauter. »Wolfgang! Du machst mir Angst! Mach endlich auf!«

Tomáš öffnete das Fenster, hob Melanie an und setzte sie auf das Fensterbrett. »Lauf! Ich komme nach.« Er drückte ihr einen Zwanzigeuroschein in die Hand. Wir treffen uns am Bahnhof.«

»Warum kommst du nicht mit? Du wirst doch nicht …«

»Mel!«, fuhr er sie wütend an. »Ich – komme – gleich – nach!«

Melanie schluckte, wagte jedoch nicht, noch einmal zu widersprechen. Sie schwang sich aus dem Fenster und lief die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen. Er wird ihr nichts tun. Nein, das wird er bestimmt nicht. Oder doch?

* * *

Eine Stunde später

Unruhig sah Melanie auf die Uhr. Es war kurz nach vier in der Früh und sie wartete nun schon über eine halbe Stunde auf Tomáš. Was hatte er noch im Haus der Hiepenaus gemacht, dass er so lange brauchte? Melanie hoffte inständig, dass die Frau des Professors noch am Leben war, auch wenn das bedeutete, dass sie sicherlich inzwischen die Polizei gerufen hatte. War Tomáš vielleicht noch geblieben, um Fingerabdrücke zu beseitigen? Sei nicht naiv, Melli. Dafür hatte er niemals genug Zeit. Sie konnten froh sein, wenn sie nur für den Einbruch belangt wurden und nicht auch für den Tod von Hiepenau. Zuerst wurde ein angesehener Professor getötet und kurz darauf sein Büro durchsucht. Die Verbindung war mehr als offensichtlich. Es würde ihnen niemand glauben, dass sie nichts damit zu tun hatten. Nicht bei ihrer Vorgeschichte.

Eine Autohupe ertönte und auf dem Kurzzeitparkplatz hielt ein dunkelroter Wagen. Melanie sah sich um, doch außer ihr war niemand in der Nähe, dem das Hupen gegolten haben konnte. Zögerlich ging sie ein paar Schritte. Das Fenster auf der Beifahrerseite wurde heruntergelassen und der Mann hinter dem Steuer winkte ihr zu. Tomáš? Tatsächlich. Er war es. Was hat das jetzt schon wieder zu bedeuten?

Melanie stieg zu Tomáš in den Wagen, und noch bevor sie sich angeschnallt hatte, gab er Gas.

»Woher hast du denn plötzlich das Auto?«, fragte sie verwundert und sah sich um. Es war offensichtlich noch recht neu und besaß eine gehobene Ausstattung mit verdunkelten Scheiben an den hinteren Fenstern, dunkelgrauen Sportsitzen und einem integrierten Navigationssystem, das in diesem Moment eine Restfahrtzeit von neunzehn Minuten anzeigte.

»Was denkst du wohl?«, antwortete Tomáš, ohne die Augen von der Straße abzuwenden.

»Du hast es … geklaut?«

»Was du von mir denkst …« Tomáš lachte herzhaft. »Das ist mein Auto. Ganz ehrlich gekauft mit meinem eigenen Geld. Na gut, eigentlich mit dem Geld meiner Bank.«

Melanie seufzte erleichtert, woraufhin Tomáš noch lauter lachen musste.

»Das ist nicht lustig.« Sie verschränkte die Arme und drehte den Kopf weg. »Idiot!«

»Glaubst du ernsthaft, dass ich in unserer Situation ein Auto klaue? Du musst mich ja für ziemlich dämlich halten.« Er schüttelte breit grinsend den Kopf.

»Du hast gar keine Vorstellung, für wie dämlich!« Melanie sah zum Fenster hinaus, damit er nicht sehen konnte, dass sie längst selbst grinsen musste.

»Dann wäre das ja geklärt«, stellte Tomáš zufrieden fest, »und wir können uns wieder auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Nach dem Desaster vorhin musste ich etwas umdisponieren.«

Sofort schwirrte die Frage nach Frau Hiepenau durch Melanies Gedanken, doch sie hatte Angst vor der Antwort. »Was heißt ›umdisponieren‹?«, fragte sie zögernd.

»Wir nehmen uns ein Zimmer etwas außerhalb. Ich habe die wichtigsten Sachen vorhin aus dem Hotel geholt, denn ich fürchte, dass wir dort längst nicht mehr sicher sind. Schon gar nicht, wenn die Polizei auf die Idee kommt, uns zu suchen.«

Melanie gab sich einen Ruck. »Und was ist mit der Frau vom Professor?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Hast du sie …«

Tomáš sah kurz zu ihr herüber und in seinem Blick lag Überraschung. »Ernsthaft? Das traust du mir zu?«

»Na ja …« Melanie druckste herum und sah betroffen auf ihre Füße. »Immerhin hast du die Buchstütze … Na, und du wolltest nicht sofort mitkommen und …«

»Das glaub ich jetzt nicht!« Tomáš war sichtlich verärgert. »Warum tue ich mir das mit dir überhaupt an?«, murmelte er vor sich hin. »Ich hätte dich besser dem Scharfschützen überlassen sollen.«

Entgeistert drehte sich Melanie zu ihm um. »Das meinst du nicht ernst, oder?« Tränen stiegen ihr in die Augen.

Tomáš schwieg. Verbissen, mit zusammengepressten Lippen, starrte er auf die Straße.

»Bitte, Tomáš.« Ihre Stimme brach und sie musste sich räuspern. »Das kannst du nicht so meinen.«

Er atmete tief ein und stieß die Luft durch die Nase aus. »Nein, natürlich nicht. Aber du vertraust mir immer noch nicht und das ist etwas, das ich …« Er korrigierte sich. »Etwas, das wir uns gerade überhaupt nicht leisten können.« Tomáš machte eine kurze Pause, dann sprach er weiter: »Und was ich absolut ernst meine, ist, dass die Probleme durch dich erst so richtig angefangen haben. Wahrscheinlich hatten sie mich bereits vergessen, bis … du weißt schon. Ich würde es dir niemals verzeihen, wenn du dich nach alldem gegen mich stellst.«

»Das werde ich nicht«, flüsterte Melanie und senkte den Kopf. Sie fühlte sich schlecht, dass sie ihm diese Dinge unterstellt hatte, und doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass er sie getan hätte, wenn es notwendig gewesen wäre.

»Wir sind da«, sagte Tomáš unvermittelt und lenkte den Wagen auf einen Tankstellenparkplatz. Er hielt vor einem lang gezogenen Gebäude, das auf den ersten Blick modern, aber nicht besonders einladend wirkte. »Nicht ganz so komfortabel wie das alte, aber für ein paar Nächte wird’s schon gehen.« Tomáš stellte den Motor ab. »Ach, übrigens: Du bist Melanie Hálek, meine Frau, und wir sind auf der Durchreise nach Tschechien.«

Melanie sah ihn skeptisch an. »Glaubst du, es interessiert sich überhaupt jemand für uns? Wenn, werden sie wohl eher nach dir suchen als nach mir, oder nicht?«

Tomáš wiegte den Kopf hin und her. »Kommt drauf an, wen du meinst. Die Polizei wird sich eher für Frau Farber interessieren und um die anderen mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist.«

»Du hast leicht reden«, warf Melanie ein. »Wenn ich sterbe, dann war’s das. Da ist nichts mit Schatten und neuem Leben und so.«

»Ach Mel.« Tomáš’ Blick glitt ins Leere und hatte plötzlich etwas Wehmütiges an sich. »Es gibt Schlimmeres als den Tod.«

Melanie fröstelte. Sie dachte an Felix und bezweifelte keine Sekunde, dass Tomáš recht hatte.

* * *

Am nächsten Morgen

Der Geruch von Kaffee stieg Melanie in die Nase. Sie streckte sich ausgiebig und öffnete die Augen. »Guten Morgen«, krächzte sie. »Wie spät ist es?«

»Gleich elf.« Tomáš saß an dem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster und tippte auf der Tastatur des Laptops herum. Er klappte den Deckel zu und kam mit seinem Kaffeebecher zum Bett. »Gut geschlafen?«

»Mmh, geht so.« Melanie ließ die Schultern kreisen. »Ich fühl mich wie erschlagen.«

»Trink erst mal.« Tomáš reichte ihr den Becher. »Der wird dich schon wachmachen.«

»Danke dir.« Melanie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. »Verdammt, ist der stark.«

»Schwarz wie meine Seele«, stimmte Tomáš mit einem Augenzwinkern zu. »Na komm, mach dich fertig. Wir haben noch viel vor.«

»Ja, ja.« Melanie stellte den Becher auf den Nachttisch, ohne noch einmal an dem Gebräu zu nippen, und trottete ins Bad, um den letzten Rest Müdigkeit mit einer kalten Dusche zu vertreiben.

Nach der morgendlichen Erfrischung fühlte sie sich wieder besser, nur die fehlende Wechselkleidung bereitete ihr leichtes Unbehagen. Für einen Tag konnte sich Melanie damit abfinden, doch sie wusste nicht, wie die kommenden Tage verlaufen würden. »Tomáš, wir müssen heute noch einkaufen. Ich brauche was Neues zum Anziehen, und zwar dringend. Sonst stinke ich in ein paar Tagen wie ein Iltis.«

Tomáš lachte. »Aber wie ein sexy Iltis.«

»Blödmann.« Sie boxte ihn leicht gegen die Schulter. »Was machst du da?«, fragte sie beim Blick auf den Monitor des Laptops.

»Da bisher noch gar nichts. Aber ich habe die Zeit genutzt, während du den ganzen Vormittag verschlafen hast …« Er grinste schelmisch und erntete dafür einen erneuten Knuff gegen die Schulter. »Ich wollte mir das Handy, das wir in Hiepenaus Büro gefunden haben, genauer ansehen, darum bin ich etwas früher aufgestanden.«

Melanie zog die Augenbrauen zusammen. »Ohne mich?«

Tomáš winkte ab. »Auf dem Handy war eh nicht viel. Falls Hiepenau SMS bekommen oder geschickt hat, wurden sie alle gelöscht. Das Gleiche bei den gewählten Nummern.« Er lächelte vielsagend. »Allerdings muss jemand heute Nacht versucht haben, den Professor zu erreichen. Es werden zwei entgangene Anrufe angezeigt. Einer mit unterdrückter Nummer, der zweite aus Italien.«

»Italien«, wiederholte Melanie mit einem Stirnrunzeln. »Weißt du von wem?« Recherche war eigentlich ihr Bereich, aber im Moment war sie froh, dass Tomáš sie schlafen lassen und schon allein gearbeitet hatte, damit sie keine Zeit verloren.

»Den Anruf wollte ich dir überlassen.« Er hielt ihr das Handy hin.

Melanies Puls beschleunigte sich. »Solltest das nicht besser du erledigen?«, erwiderte sie unsicher. »Ich kann überhaupt kein Italienisch.«

»Was soll’s. Die können bestimmt Englisch.«

»Und was soll ich fragen?«

»Keine Ahnung.« Tomáš fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Bist du die Journalistin oder ich?«

»Schon gut. Hören wir einfach mal, wer rangeht.« Melanie atmete ein paar Mal tief durch und drückte dann die Wahltaste des Mobiltelefons.

Für einige Sekunden herrschte Stille in der Leitung.

»Granbabbo Cibo, buongiorno, sono Alessia.«

Melanie sah Tomáš irritiert an. Sie hatte nichts außer ›buongiorno‹ verstanden. »Ähm … Hello, do you speak English? Or German? Deutsch?«, fragte sie.

Stille.

»Hello?«, wiederholte Melanie noch einmal. Sie machte Tomáš ein Zeichen, dass sie etwas zu schreiben brauchte.

»Deutsch, ein klein bisschen«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung schließlich mit starkem Akzent.

»Sehr gut.« Melanie atmete erleichtert aus. Sie erfand spontan einen Namen. »Ist Luca Antonio da?«

Die Frau schwieg einen Moment, unterhielt sich dann leise auf Italienisch mit jemandem. »Hier ist kein Luca Antonio«, antwortete sie schließlich.

»Wer ist denn da?«, setzte Melanie nach.

»Hier ist Granbabbo Cibo, Alessia mein Name. Was kann ich tun für Sie?«

Melanie tippte den Namen in den Laptop, den Tomáš herübergeschoben hatte. »Oh, Entschuldigung, dann habe ich mich wohl verwählt. Auf Wiederhören.« Schnell legte sie auf und gab Tomáš das Handy zurück.

»Granbabbo«, las er vor. »Klingt irgendwie lustig. Wollen wir doch mal sehen, was wir dazu finden.« Er drehte den Laptop wieder in seine Richtung und gab den Namen in die Suchmaschine ein.

»Hier!« Melanie tippte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Da, es gibt eine Webseite mit diesem Namen, auch wenn ich kein Wort von dem verstehe, was da steht.«

Tomáš scrollte bis zum Ende der Seite und fand schnell den Link zum Impressum. Beim Anblick der Firmendaten wurde er blass.

Melanie sah ihn besorgt an. »Was ist los? Du siehst nicht gut aus.«

Langsam schüttelte er den Kopf und markierte wortlos eine Textstelle mit dem Cursor.

»Ombraluce s.r.l.«, las Melanie. »Sagt mir nichts.«

»Aber mir«, erwiderte Tomáš leise. »Ich kenne diesen Namen besser, als mir lieb ist. Die Firma gehörte Armandos Vater.«

Melanie bekam große Augen. »Meinst du etwa den Armando.«

Tomáš nickte. Er wirkte nachdenklich, als hätte er nicht mit diesem Ergebnis gerechnet, obwohl sie beide wussten, dass der ›Umbra Dei‹ – und damit auch Armando und sein Vater – etwas mit Felix’ Verschwinden zu tun hatten.

Unvermittelt klappte Tomáš den Deckel des Laptops zu. »Planänderung«, sagte er mit energischer Stimme. »Wir brechen sofort auf.«

»Jetzt? Wir haben noch nicht mal gefrühstückt und überhaupt … Wo willst du hin?«

»Wir fahren nach Italien. Ich denke, es wird Zeit, dass ich meinem alten Freund einen Besuch abstatte.«

Sein entschlossener Gesichtsausdruck zeigte, dass er es ernst meinte. »O-okay«, stammelte Melanie, die sich von der plötzlichen Aktion überrumpelt fühlte und noch nicht genau wusste, ob sie sich freuen oder eine höllische Angst haben sollte. Eine Fahrt in die Höhle des Löwen war nicht ganz das, was sie sich vorgestellt hatte.

* * *

Am selben Morgen in Italien

»Wie zum Teufel konnte das passieren?« Der alte Mann stand hinter dem riesigen Schreibtisch, die Hände auf die wuchtige Olivenholzplatte gestützt. Die weißen Haare hoben sich deutlich von seinem vor Wut geröteten Gesicht ab. »Nicht nur, dass Frau Farber noch lebt … Ich habe noch nie gehört, dass ein falsches Ziel eliminiert wurde.«

Armando stand mit gesenktem Kopf auf der anderen Seite des Tisches. »Es gab mal einen Fall in Australien, bei dem …«, begann er leise, doch sein Vater fiel ihm ins Wort.

»Es interessiert mich nicht, was irgendwo gewesen ist!«, schrie er und die Ader auf seiner Stirn trat deutlich hervor. »Ich habe mich darauf verlassen, dass du diese Aufgabe im Griff hast.«

»Das habe ich, Vater, aber …«

»Lass mich ausreden!« Der alte Mann schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man mich unterbricht, verstanden?«

Armando nickte. »Natürlich, Vater.«

»Dann frage ich dich jetzt nur ein einziges Mal: Warum ist der Professor tot und Frau Farber augenscheinlich quicklebendig?«

Für einen Moment zögerte Armando, denn er wusste, dass seinem Vater die Antwort nicht gefallen würde. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich wahrheitsgemäß.

»Du weißt es nicht«, wiederholte der Alte spöttisch.

Armando atmete tief ein. »Nein, Vater, aber ich denke, dass wir Herrn Riebig und seine Verbindung zu Frau Farber unterschätzt haben. Wie ich eben schon sagen wollte: Ich habe von einem Fall in Australien gelesen, in dem ein Schattenträger gezwungen werden sollte, seine Frau zu töten. Es gab drei missglückte Versuche.«

Der alte Mann schnaubte verächtlich. »Schwachsinn! So etwas hat es unter meiner Führung noch nicht gegeben – und wird es auch nicht mehr geben, habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Ja, Vater.«

»Dann sorg dafür, dass beim nächsten Mal alles so verläuft wie geplant. Du bist nicht die einzige Person, die für meine Nachfolge infrage kommt, Sohn.«

»Aber …« Armando wollte etwas einwenden, entschied sich dann jedoch dazu, seinem Vater nicht zu widersprechen. »Ich verstehe«, sagte er und bemühte sich, die Wut, die in ihm brodelte, nicht zu zeigen. Er fühlte sich ungerecht behandelt, denn der nächtliche Fehlschlag war nicht vorherzusehen gewesen. Genau dort lag auch das Problem, das ihm große Sorgen bereitete. Niemand konnte garantieren, dass es beim nächsten Mal nicht den gleichen Ausgang nahm. Außerdem benötigte er dringend eine Lösung für das Problem ›Tomáš‹, bevor ihn sein Vater durch diese Signora Padovesi ersetzte.

Wahrscheinlich wäre das schon längst geschehen, wenn der alte Herr nicht ein Verfechter der klassischen Rollenverteilung gewesen wäre und sich mit dem Gedanken an eine weibliche Führungspersönlichkeit bis jetzt nicht hatte anfreunden können. Armando musste sich etwas einfallen lassen.

Als er gerade das Arbeitszimmer seines Vaters verlassen hatte, klingelte Armandos Handy.

»Ja bitte? Wann? Interessant, vielen Dank für die Information. Ja, gut, dass Sie sich gemeldet haben, Alessia. Danke, ebenso. Auf Wiederhören.«

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Armando daran, seinen Vater über die Neuigkeiten zu informieren. Nach der Predigt, die er eben hatte erdulden müssen, entschied er sich aber dagegen. Du wirst sehen, Vater: Ich bin der Richtige für diese Aufgabe.

* * *

Einige Stunden später

Felix hatte Hunger. Großen Hunger. Dennoch saß er vor seinem Teller Spaghetti Bolognese und stocherte seit über einer Stunde mit der Gabel lustlos in den Nudeln herum. Schon beim ersten Bissen war der Appetit wie weggeblasen, obwohl sein Magen vehement knurrend nach Essen verlangte.

Hinter sich hörte Felix das inzwischen bekannte Geräusch der Tür, doch er drehte sich nicht um. Es war ihm egal, ob jemand kam, um das Abendessen abzuräumen, oder ob er wieder einmal zur Schlachtbank geführt wurde. Sollten sie mit ihm machen, was sie wollten. Er konnte ohnehin nichts dagegen tun.

»Guten Tag, Herr Riebig.«

Felix erkannte die warme Stimme mit dem kaum hörbaren italienischen Akzent und ihn fröstelte beim Gedanken an die kalten stahlblauen Augen, die ihn in diesem Moment mit stechendem Blick durchbohrten.

»Herr Riebig, wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Armando. Ich möchte mich gern mit Ihnen über jemanden unterhalten. Eine gemeinsame Bekannte, könnte man sagen.«

Felix drehte seinen Körper in Richtung Tür und musste sich beherrschen, den Blick nicht sofort wieder abzuwenden. Es schien ihm, als sähe er direkt in die Seele des Mannes, der entspannt mit den Händen in den Taschen zwei Armlängen vor ihm stand. Es war ihm unbegreiflich, wie ein Mensch so gutmütig und gleichzeitig eiskalt erscheinen konnte. Im Hintergrund wartete ein Hüne, eindeutig als Beschützer für den eher schmächtig, wenn auch nicht dürr wirkenden Armando.

»Also habe ich Ihre Aufmerksamkeit?«, fuhr der Mann fort. »Sehr gut. Wir haben ein kleines Problem mit Ihrer Freundin Melanie Farber.«

Die Gleichgültigkeit, die in seiner Stimme lag, als er Melanies Namen aussprach, ließ den Zorn in Felix aufsteigen. Er wusste genau, um welches ›Problem‹ es sich handelte.

Armando war die Veränderung in Felix’ Körperhaltung erwartungsgemäß nicht entgangen. Er lächelte selbstsicher. »Sie haben mich in eine unangenehme Situation gebracht, Herr Riebig und ich frage mich, in welcher Beziehung Sie zu Frau Farber stehen.«

Felix schwieg. Er widerstand dem Drang, den Blick zu senken, und sah seinem Gegenüber starr in die Augen. »Was geht Sie das an?«, schnaubte er.

Ein leichtes Zucken in Armandos Mundwinkel verriet, dass ihn Felix’ Reaktion amüsierte. »Sie müssen doch wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist«, sagte er achselzuckend. »Frau Farber wird sterben.«

»Lassen Sie sie in Ruhe!« Felix sprang auf und griff nach der Gabel, die auf dem Teller lag. Mit einem Schrei stürzte er sich auf Armando, doch ehe er nah genug kam, um ihm die Zinken der Gabel in den Hals zu rammen, hatte der Bodyguard die Situation erkannt und reagiert. Bevor Felix wusste, wie ihm geschah, wurde ihm der Arm auf den Rücken gedreht und er lag mit dem Bauch auf dem Boden.

»Wirklich, Herr Riebig?«, fragte Armando und beugte sich zu ihm herunter. Seine Stimme hatte den warmen Klang verloren. »Sie wollen also die harte Tour versuchen?«, zischte er. »Das können Sie haben.« Er gab dem Hünen ein Zeichen, Felix auf die Beine zu zerren. Als er wieder Auge in Auge vor ihm stand, neigte Armando den Kopf zur Seite und sah Felix prüfend an. »Sie empfinden etwas für diese Frau, nicht wahr?«

Felix starrte ihm ausdruckslos entgegen.

»Natürlich tun Sie das. Nur so ergibt es Sinn. Die Frage ist allerdings, ob sie diese Gefühle verdient hat. Immerhin vergnügt sie sich mit einem anderen.« Armando lachte gehässig. »Wahrscheinlich hat Frau Farber Sie längst vergessen.«

»Sie lügen«, keuchte Felix. Er hätte diesem Kerl am liebsten mit der Faust die Nase zertrümmert, doch der Bodyguard hielt ihn immer noch wie in einem Schraubstock gefangen. Bei jeder Bewegung hatte Felix das Gefühl, als würden ihm die Schultergelenke ausgekugelt. Trotz allem wusste er, dass Armandos Worte nicht aus der Luft gegriffen waren. Er hatte selbst gesehen, dass Melanie in Begleitung eines Mannes gewesen war, als der Schatten sie verschont hatte.

»Ich kann Ihnen gern Fotos von den beiden zeigen, wenn Sie sich das antun möchten.« Armando lächelte mit einer subtilen Boshaftigkeit, die Felix endgültig den Rest gab.

»Sie verdammter Mistkerl!«, schrie er ihm entgegen. »Ich werde Sie umbringen, wenn Sie ihr ein Haar krümmen!«

Armando machte einen Schritt auf Felix zu. »Kein Grund, feindselig zu werden. Jeder von uns hat seine Aufgabe und Ihre ist es nun einmal, Probleme zu lösen, und genau das werden Sie jetzt tun.« Er wandte sich an den Bodyguard. »Bereitet ihn vor.«

»Nein! Tun Sie das nicht! Ich flehe Sie an: Lassen Sie Melanie leben!« Seine Rufe verhallten ohne Wirkung. Armando beobachtete kalt lächelnd, wie Felix davongeschleift wurde.