EINS
Samstag, 16. März
Eine junge Frau verabschiedete sich von ihren Freunden und verließ fröhlich lachend die Bar. Die Nacht war bereits über die Stadt hereingebrochen, nur der Mond, der ein diffuses Licht durch die Schleierwolken sandte, und vereinzelte Straßenlaternen beleuchteten den Weg. Die Frau trug einen langen hellgrauen Mantel, ihre dunkelblonden Haare waren zu einem Zopf geflochten. Das monotone Klackern ihrer roten hochhackigen Schuhe auf dem Bürgersteig hallte durch die Straße, gepaart mit dem vereinzelten Platschen, wenn sie in eine der zahlreichen Pfützen trat, die vom Regen der vergangenen Stunden übrig geblieben waren.
An einer Bushaltestelle, deren Name in der spärlichen Beleuchtung einer flackernden Laterne nicht zu erkennen war, blieb die junge Frau stehen, zündete sich eine Zigarette an und führte sie zwischen die Lippen. Ein Schatten huschte im Hintergrund über den Bürgersteig. Die Frau bemerkte ihn nicht. Fröstelnd rieb sie sich die Hände, nahm einen tiefen Zug und ließ den Zigarettenrauch langsam durch die Nase ausströmen. Wieder huschte ein Schemen vorbei und diesmal schien die Frau ihn wahrgenommen zu haben. Ängstlich schaute sie sich nach allen Seiten um, doch in der Nähe war keine Menschenseele zu sehen. Sie warf nervös einen Blick auf die Uhr. Der Bus musste jede Minute kommen.
Aus dem Dunkel eines Hauseingangs löste sich ein Schatten und kam langsam näher. Nur noch eine Armlänge trennte ihn von der wartenden Frau.
Felix setzte sich hektisch atmend im Bett auf. In der letzten Zeit quälten ihn nachts immer häufiger düstere Träume. Nach dem Aufwachen konnte er sich wie üblich nur noch bruchstückhaft an die Handlung erinnern, doch das beklemmende Gefühl, das der Traum verursacht hatte, wich nur langsam. Mit einem tiefen Seufzen setzte sich Felix auf die Bettkante, schaltete die Lampe auf dem Nachttisch ein, zog seine Pantoffeln über und ging ins Wohnzimmer. Ein wenig Fernsehen würde ihn sicher von den Gedanken an seinen Traum ablenken.
Zu dieser nächtlichen Stunde bot das TV-Programm wenig Interessantes. Felix zappte durch die Bilder von Shopping-Kanälen, Talkshow-Wiederholungen und stöhnenden, leicht bis gar nicht bekleideten Frauen, die ihn lasziv oder sogar energisch zum Anrufen aufforderten. Genervt drückte er den roten Knopf seiner Fernbedienung und das Bild auf dem Fernseher verschwand. Jede Nacht der gleiche Schund!, dachte er missmutig.
Felix sah sich in seinem unaufgeräumten Wohnzimmer um. Die Spuren der Vernachlässigung waren nicht zu übersehen. Sein Blick fiel auf das gerahmte Bild eines glücklichen Paares. Er seufzte. Der junge Mann mit den blonden verstrubbelten Haaren grinste ihm geradezu höhnisch ins Gesicht. Damals waren Fiona und er noch glücklich gewesen. Sie hatte ihm durch eine schwere Zeit geholfen, und endlich, nachdem er sich wieder etwas gefangen hatte, war auch das Gefühl von Lebensfreude zurückgekehrt.
Kaum ein halbes Jahr später war es unvermittelt bergab gegangen. Fiona hatte sich immer mehr von ihm distanziert und ihn schließlich, pünktlich zu seinem vierunddreißigsten Geburtstag am 23. Januar, aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Bis heute hatte er keine Gewissheit darüber, warum sie die Beziehung beendet hatte. Bis zuletzt hatte sie Dinge gefaselt wie ›es liegt nicht an dir‹ oder ›wir können ja Freunde bleiben‹. Pah! Schwachsinn! So viel zum Thema ›Felix – der Glückliche‹, wie ihm seine Eltern die Auswahl seines Vornamens erklärt hatten.
Felix warf den Bilderrahmen um. Er konnte sein eigenes fröhlich grinsendes Gesicht nicht mehr sehen. Zu sehr führte es ihm vor Augen, wie beschissen sich sein Leben entwickelt hatte. Ächzend stand er aus dem Sessel auf, ging zum Schrank und griff nach der Whiskyflasche, ein Glas brauchte er nicht. Die ersten Züge vertrieben seine melancholischen Gedanken innerhalb kürzester Zeit. Mit der Pulle in der Hand ging Felix zurück ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Endlich, nach zwei weiteren großen Schlucken des Supermarkt-Gesöffs, konnte er wieder einschlafen. Die Flasche rutschte aus den erschlaffenden Fingern, kippte um und verteilte ihren Inhalt über den bereits von Flecken übersäten Teppichboden.
* * *
Erst weit nach Sonnenaufgang wachte Felix an diesem Morgen auf. Zu seinem Glück war Samstag und er hatte frei. Ein erneutes Zuspätkommen am Arbeitsplatz hätte er sich auf keinen Fall leisten können, denn sein Chef hatte ihn bereits mehrfach ermahnt und ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ein weiteres verspätetes Erscheinen die fristlose Kündigung nach sich ziehen würde.
Felix hatte sich aus dem Bett gequält und zog die Vorhänge beiseite. Verdammt! Das einfallende Sonnenlicht brachte einen heftigen Kopfschmerz mit sich und zwang ihn, die Fenster sofort wieder zu verdunkeln. Felix kniff die Augen zusammen und massierte sich mit den Fingern die Nasenwurzel. Der nächtliche Alkoholkonsum war ihm eindeutig nicht gut bekommen. Kaum hatte er sich auf der Bettkante niedergelassen, übergab er sich in den Papierkorb, den er im letzten Moment noch hatte greifen können. Nie wieder Alkohol!, schwor er sich, halb mit dem Kopf im grauen Behälter hängend, auch wenn er genau wusste, dass dieser Vorsatz nicht lange halten würde.
Eine Viertelstunde später war der Magen leer und der Papierkorb reif für eine Grundreinigung. Felix schleppte sich ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Auwei! Ich sollte das Bad nur noch im Dunkeln betreten. Blass war er, unrasiert und seine Haare hatten einen Friseurbesuch seit Langem dringend nötig. Mit dem grinsenden Porträt auf dem Sideboard im Wohnzimmer hatte dieses Bildnis kaum noch etwas gemeinsam. Selbst mit einer halben Tube Gel war keine akzeptable Frisur mehr zustande zu bringen. Lustlos brachte Felix die Morgenhygiene hinter sich, zog den ausgeleierten Jogginganzug über, den er meist am Wochenende trug, und setzte sich vor den Fernseher. Auf dem kleinen Holztisch neben dem Sessel stand eine angebrochene Flasche Rotwein vom Vorabend. Felix schwenkte sie prüfend. Mit einem tiefen Schluck trank er den kläglichen Rest.
* * *
Am frühen Abend wartete Melanie bei ihrem Lieblingsitaliener ›Leonardo‹ auf Felix. Eigentlich waren sie für halb sieben zum Essen verabredet, doch ihr bester Freund verspätete sich. Wie so oft. Pünktlichkeit war absolut keine seiner Stärken. In den vielen Jahren, die Melanie ihn bereits kannte, hatte sie sich an die ausgedehnten Wartezeiten bei Verabredungen mit Felix gezwungenermaßen gewöhnt. Auch jetzt blieb wieder genügend Zeit, bei einem guten Rotwein die anderen Gäste im Lokal zu betrachten und in Gedanken jedem Einzelnen die passenden Charaktereigenschaften und Berufe zuzuordnen. Melanie liebte es, fremde Menschen zu beobachten und auf Details zu achten, die sonst kaum jemand wahrnahm.
Zwei Tische weiter saß ein junges Pärchen. Beide waren chic gekleidet, die Frau schon fast zu chic für dieses Restaurant. Sie trug ein marineblaues Kleid, farblich dazu passende Pumps mit Absätzen, die waffenscheinpflichtig sein sollten, und lange filigran gearbeitete Silberohrringe, die wie ein Miniaturmobile unter den leicht gewellten braunen Haaren hervorlugten. Ihr Begleiter fingerte mit der linken Hand nervös in der Tasche seines dunklen Jacketts herum, das er zu verwaschenen Jeans und weißen Turnschuhen trug. Zärtlich strich er mit seiner rechten Hand über den Handrücken der hübschen Brünetten.
Wenn sich Melanie nicht furchtbar täuschte, würde sie gleich Zeuge eines etwas unbeholfenen Heiratsantrags werden. Gedankenverloren spielte sie an ihrem geflochtenen Zopf herum. Ihre letzte feste Beziehung war mittlerweile drei Jahre her, und auch wenn ihr das Singleleben zu Beginn ein Gefühl von Freiheit gegeben hatte, fühlte sie sich doch immer häufiger allein.
Gerade als der junge Mann das kleine Kästchen aus der Tasche gefingert hatte und zu einem Kniefall ansetzte, betrat Felix endlich das Restaurant. Melanie warf einen kurzen Blick auf die Uhr ihres Handys. Vierzig Minuten Verspätung waren selbst für seine Verhältnisse viel. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, die bei diesem trüben Wetter nicht im Geringsten hilfreich war. Also hatte er wieder einmal getrunken. Seit sich Fiona von ihm getrennt hatte, lief Felix’ Leben eindeutig aus dem Ruder. Der Alkoholkonsum hatte, auch wenn er das nie zugeben wollte, merklich zugenommen und Melanie machte sich große Sorgen, wohin das letztendlich führen würde. Sie selbst hatte die übertrieben eifersüchtige Fiona nie besonders gut leiden können. Ihre Unternehmungen mit Felix waren immer seltener geworden und sie hatte mehr als nur ein Mal befürchtet, dass die Freundschaft zu ihm in die Brüche gehen könnte. Insgeheim war sie froh, dass er diese Schnepfe los war, auch wenn er im Moment noch unter der Trennung litt.
* * *
Als Felix zum Tisch kam, stand Melanie mit ihrem strahlendsten Lächeln auf und umarmte ihn. »Da bist du ja. Ich dachte schon, ich liege als Schnapsleiche unter dem Tisch, bis du hier auftauchst.« Sie lachte so herzlich, dass der vorwurfsvolle Unterton in ihrer Begrüßung noch wirkungsvoller war.
»Hallo, Lolli. Wartest du schon lange?« Felix fühlte sich schlecht. Zeitmanagement und er, das passte einfach nicht zusammen. Jedes Mal nahm er sich vor, etwas früher aus dem Haus zu gehen, und jedes Mal aufs Neue wurde es stattdessen später. Mit einer zögerlichen Handbewegung nahm er die Sonnenbrille ab. Er war sicher, dass Melanie seinen bösen Kater sofort erkannte, doch sie ließ sich nichts anmerken.
»Tut mir leid, Lolli. Ich bin ein bisschen spät dran.«
Melanie hasste diesen Spitznamen und Felix wusste das. Seit sie in der vierten Klasse ein großer Bernhardiner umgeworfen und ihr das Gesicht abgeschleckt hatte, bis es aussah wie ein roter Ballon, musste sie sich die ständigen Hänseleien gefallen lassen. An diesem Abend tat die Neckerei ihrer guten Laune aber wohl keinen Abbruch. Sie konnte es offensichtlich gar nicht erwarten, Felix etwas zu erzählen.
»Weißt du schon das Neueste? Ich hab den Job!« Melanies tiefbraune Augen strahlten vor Freude.
Felix überlegte fieberhaft. Den Job? Was konnte sie damit nur meinen? Ihr Blick sagte ihm, dass er das eigentlich wissen musste. Wahrscheinlich hatte er wieder einmal nur mit halbem Ohr zugehört, als sie ihm davon erzählt hatte.
Melanie schien ihm anzusehen, dass er nicht wusste, wovon sie sprach. »Herrje, Felix.« Sie rollte mit den Augen. »Du bist echt unmöglich! Ich hab dir doch erst letzte Woche erzählt, dass ich mich als Redakteurin beim ›Anzeiger‹ beworben habe. Hast du das etwa schon wieder vergessen?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Glückwunsch!« Felix kramte in seiner Erinnerung. Hatte sie ihm wirklich davon erzählt? Er wusste, dass sie schon seit Langem davon träumte, im Journalismus zu arbeiten, aber eine Bewerbung beim ›Anzeiger‹? Irgendetwas stimmte mit seinem Gedächtnis nicht. Vielleicht war der Alkohol schuld, der in regelmäßigen Abständen den Weg in seine Blutbahn fand. Vielleicht verdrängten aber auch die ständigen Albträume und düsteren Gedanken derlei Informationen aus den Gehirnzellen. So oder so war es erschreckend, was er in letzter Zeit alles vergaß. Es war schon fast ein Wunder, dass er noch wusste, wer ihm gegenübersaß.
Felix schüttelte die trüben Gedanken ab. Jetzt wollte er erst einmal mit Melanie auf ihren neuen Job anstoßen. »Na komm, das müssen wir feiern!« Er rief den Kellner herbei und bestellte eine Flasche Sekt.
* * *
Arm in Arm verließen Felix und Melanie knapp zwei Stunden später das Restaurant. Felix hatte etwas Mühe, nicht zu schwanken. Gut zwei Drittel des Sektflascheninhaltes waren auf sein Konto gegangen und hatten den Promillepegel der vergangenen Nacht gerade so weit stabilisiert, dass er sich wieder gut fühlte. Fröhlich verabschiedete er sich von Melanie und ging zur nächsten Kreuzung, wo er sich an die Fußgängerampel lehnte und mit seinem Schlüsselbund spielend auf Grün wartete. Nach wenigen Sekunden erlosch das rote Licht auf der gegenüberliegenden Seite und das grüne Ampelmännchen gab ihm das Zeichen zum Überqueren der Straße.
Felix hatte gerade zwei Schritte auf die Fahrbahn gemacht, da rutschte ihm der Schlüsselbund aus den Fingern und landete klirrend auf dem Asphalt. Murrend bückte er sich, stieß ihn dabei mit dem Fuß gefährlich nahe an einen Gully, bekam ihn beim zweiten Versuch gerade noch zu fassen. Der leichte Schwindel meldete sich zurück. Als sich Felix wieder aufrichtete, taumelte er kurz. Er musste unbedingt weniger trinken.
Hupend raste ein dunkler Sportwagen nur wenige Zentimeter an ihm vorbei, der Luftzug holte Felix beinahe von den Beinen. Sein Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Um ein Haar hätte er Bekanntschaft mit der Motorhaube gemacht, und das wäre mit Sicherheit die letzte Bekanntschaft seines Lebens gewesen. Die Fußgängerampel zeigte noch immer grünes Licht; dieser Spinner musste bei Rot über die Kreuzung gerast sein. Felix atmete durch und ging kopfschüttelnd weiter.
Das Letzte, was er sah, war das grelle Blaulicht und der mit großer Geschwindigkeit auf ihn zukommende Kühlergrill des Streifenwagens. Scheiße! Der Aufprall zerschmetterte Felix’ Beine und sein Kopf schlug mit voller Wucht auf der Windschutzscheibe auf. Den anschließenden Flug durch die Luft und die unweigerlich folgende harte Landung auf dem Asphalt bekam er nicht mehr mit.
* * *
Freitag, 11. Juni, drei Jahre zuvor
Die Trauung war ein fantastisches Ereignis. Leonies Freunde und Familie hatten die gesamte Kirche festlich mit Blumen und Schleifen in Rot und Weiß geschmückt, eigentlich schon etwas zu kitschig für Felix’ Geschmack. Doch ihr gefiel es und das war für ihn das Wichtigste. Begleitet von feierlicher Orgelmusik führte ihr Vater Leonie mit langsamen Schritten durch den Gang zwischen den Kirchenbänken zum Altar. Die Stylistin hatte ganze Arbeit geleistet. In dem langen weißen Kleid sah Leonie umwerfend aus. Ein zartes Make-up und kunstvoll zur Hochsteckfrisur gebändigte Locken betonten ihre ohnehin strahlend grünen Augen, die im Schein der Lampen verdächtig glitzerten.
Vor dem Altar angekommen legte Leonies Vater die Hand seiner Tochter in die von Felix, nickte ihm kurz zu und setzte sich dann auf den freien Platz in der ersten Reihe.
Von der Predigt des Pastors bekam Felix kaum etwas mit. Zu überwältigend war der Moment für ihn. Erst als Melanie die Ringe brachte, kehrten Felix’ Gedanken in die Realität zurück. Er hatte seine beste Freundin gebeten, Trauzeugin zu sein. Bereits seit Kindertagen waren sie nahezu unzertrennlich. Für ihn war Melanie fast wie die kleine Schwester, die er nicht hatte. Ihre Familie hatte ihn nach dem frühen Unfalltod seiner Eltern bei sich aufgenommen und war zu seiner Ersatzfamilie geworden. Zusammen mit Melanie hatte er den größten Unfug angestellt und ihre Eltern zur Verzweiflung getrieben. Auch nach der Schule war der Kontakt nie abgebrochen, die gemeinsamen Unternehmungen gehörten zum Alltag wie ein ungeschriebenes Gesetz. Zu Beginn der Beziehung mit Leonie hatte dieser Umstand für einige Probleme gesorgt, doch inzwischen hatte seine Braut ihre Eifersucht auf Melanie größtenteils abgelegt. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass Felix und seine beste Freundin auch hin und wieder allein um die Häuser zogen oder ins Kino gingen.
Während er stockend sein Gelübde vortrug, liefen Leonie unaufhörlich Tränen der Rührung über die Wangen. Dann sprach sie ihr Jawort, sah Felix tief in die Augen und fügte mit fester Stimme hinzu: »Mein Schatz. Du bist alles für mich. Mit dir fühle ich mich vollkommen. Ich will dich lieben und ehren, dich unterstützen und zu dir stehen, in guten wie in schweren Tagen, bis dass der Tod uns scheidet.«
Mit leicht zitternden Händen nahm Felix den kleineren der beiden glänzenden Weißgold-Ringe vom Kissen und streifte ihn Leonie über den Ringfinger der rechten Hand. Mit einem zarten Lächeln auf den Lippen nahm sie den verbliebenen Ehering und steckte ihn Felix an.
Nun vollendete der Pastor die Trauung: »Im Namen Gottes und der Kirche bestätige ich den Ehebund, den ihr geschlossen habt. Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen.« Mit einem Lächeln fügte er hinzu: »Du darfst die Braut nun küssen.«
Felix strich Leonie eine rotblonde Strähne aus dem Gesicht und umfasste sanft ihre Wangen. Unter dem Beifall ihrer Freunde und Verwandten trafen sich ihre Lippen zu einem langen Kuss.
Freudestrahlend fassten sich die frisch Vermählten an den Händen und schritten, begleitet von Orgelmusik, aus der Kirche. Felix sah sich nach dem Fotografen um und nahm erleichtert das dunkle Objektiv zur Kenntnis, das auf sie gerichtet war. Die Bilder sollten sie noch in fünfzig Jahren verträumt an diesen Tag zurückdenken lassen.
Der Einstieg in die wartende Stretchlimousine war mit einigem Aufwand und mehreren erfolglosen Versuchen verbunden. Das ausladende Hochzeitskleid zeichnete sich zwar durch seine pompöse Optik aus, hatte in puncto Flexibilität jedoch unübersehbare Defizite und machte ein Anschnallen oder eine bequeme Sitzposition auf der Rückbank unmöglich.
Der Weg zur malerisch gelegenen mittelalterlichen Burg, die als Location für die Hochzeitsfeier vorgesehen war, führte nach mehreren Kilometern Landstraße über einen schmalen Zufahrtsweg den Berg hinauf. Der Fahrer der weißen Hochzeitslimousine hatte große Mühe, das lange Gefährt durch die engen Kurven zu manövrieren. Nur im Schritttempo bewegte er das Fahrzeug die Straße entlang.
Auf der Hälfte der Strecke verschätzte er sich in einer scharfen Linkskurve und geriet beim Rangieren mit dem rechten Hinterrad auf den unbefestigten Teil des Weges. Die schwere Limousine kippte nach rechts und kam abrupt zum Stehen.
Erschrocken sahen sich die Frischvermählten an. »Was war das?« Durch die Trennwand hörten sie den Fahrer fluchen. Felix warf einen Blick aus den Seitenfenstern. Auf der linken Seite war nicht viel zu sehen. Wenn er sich nah zum Fenster beugte, konnte er gerade noch einen Teil des Burgfrieds erkennen, der majestätisch über die Baumwipfel hinausragte. Er rückte ein Stück nach rechts und beugte sich über den ausladenden Stoff des Brautkleides in Richtung Fenster, um hinauszusehen.
Plötzlich ging ein Ruck durch den Wagen und sie sackten weiter ab. Leonie stieß einen spitzen Schrei aus, Felix erstarrte und wagte nicht mehr, sich zu bewegen. Die Limousine hatte bereits deutlich Schlagseite und Leonie musste sich mit dem rechten Arm an der Tür abstützen, um nicht gegen die Scheibe gedrückt zu werden.
Inzwischen war der Fahrer hastig aus dem Wagen gestiegen und riss die hintere Tür auf Felix’ Seite auf. »Los, kommen Sie raus da!«, schrie er und winkte hektisch.
Ein weiterer Ruck erschütterte das Auto und es rutschte mitsamt Insassen ein weiteres Stück in Richtung der steilen, dicht mit Bäumen bewachsenen Böschung. Felix griff nach Leonies Hand. »Stütz dich mit den Füßen an der Tür ab, ich ziehe dich hoch!«
Sie gehorchte, ohne nachzudenken, und klammerte sich an Felix’ Hand, versuchte, mit seiner Hilfe die Schräge der Rückbank zu überwinden. Mit dem Hochzeitskleid wäre der Ausstieg schon unter normalen Bedingungen eine Herausforderung gewesen und die bedrohliche Situation machte es nicht einfacher. Erst jetzt bemerkte Leonie, dass beim Schließen der Tür ein Teil des Kleides eingeklemmt worden war. Sie ließ für einen Moment Felix’ Hand los und versuchte mit beiden Händen, den Stoff zu befreien. Zu spät wurde ihr bewusst, dass die Tür durch den Fremdkörper nicht fest verschlossen war. Mit einem Krachen schlug sie auf und Leonie rutschte in die Öffnung.
Reflexartig griff Felix nach ihrer ausgestreckten Hand, sah in schreckgeweitete Augen, die ihn flehentlich anblickten, doch seine Kraft reichte nicht aus, um Leonie vor dem Absturz zu bewahren. Hilflos musste er mit ansehen, wie seine Braut schreiend aus dem Wagen rutschte, dabei mit dem Kopf gegen den Türrahmen prallte und verstummte. Wie eine lebensgroße schlaffe Puppe bahnte sich ihr Körper, teils rutschend, teils sich überschlagend, den Weg zwischen den Bäumen hindurch die Böschung hinunter.
Fassungslos starrte Felix auf die offene Tür, vor der noch kurz zuvor sein Ein und Alles gesessen hatte.
* * *
Samstag, 16. März, Gegenwart
Daniel Lohkamp saß noch immer an seinem Schreibtisch und bereitete die Unterlagen für den kommenden Tag vor. Die Sonne war bereits vor einiger Zeit untergegangen und sein Arbeitsplatz war der einzige im Büro, an dem noch das Licht brannte. Ein langer, ermüdender Tag lag hinter ihm. Nach einigen mehr oder weniger katastrophalen Vorstellungsgesprächen hatte er endlich eine neue Redakteurin gefunden, die seinen Ansprüchen, zumindest dem ersten Eindruck nach, zu genügen schien. Gleich morgen sollte sie einige Aufgaben ihrer Vorgängerin übernehmen, der Lohkamp nach nur zwei Monaten Probezeit hatte kündigen müssen. Sie hatte einfach keine Anstalten gemacht, seine persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Nun hoffte er, dass die Neue seine Erwartungen in der täglichen Arbeit, und insbesondere darüber hinaus, erfüllen würde.
* * *
Sonntag, 17. März
Eine dunkelblonde Frau stieg aus dem Bus der Linie 15, auf dessen Anzeige über der Windschutzscheibe in hellgelben Buchstaben ›Hauptbahnhof / Süd‹ zu lesen war. Es regnete in Strömen und die Frau zog ihren hellen Mantel enger um den Körper. In leicht gebeugter Haltung ging sie an den dunklen Häuserfassaden entlang; unterwegs begegneten ihr vereinzelt Passanten, die mal mehr, mal weniger gehetzt an ihr vorbeiliefen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Bei jeder Straßenlaterne, an der sie ihr Weg vorbeiführte, tauchte ihr Schatten aus dem Dunkel hinter ihr auf, überholte sie und wurde Schritt für Schritt länger und blasser, bis er nicht mehr zu erkennen war. Die blonde Frau kramte in ihrer Handtasche, zog einen Schlüsselbund hervor und ging wenige Meter weiter eine kleine Treppe zum Hauseingang hinauf. Der Bewegungsmelder schaltete die Lampe neben der mattweißen Tür ein, im diffusen Licht erschien schemenhaft der Schatten der jungen Frau auf den Stufen hinter ihr.
Langsam dunkler werdend schob er sich vorwärts, kroch als menschliche Silhouette an der Haustür empor. Erschrocken drehte sich die junge Frau um, doch es war niemand zu sehen. Mit rasendem Puls und zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Sie versuchte, einen Schritt in den Hausflur zu machen, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht, gerade so, als würden sie am Boden haften. Innerhalb weniger Sekunden stieg eine eisige Kälte ihre Beine hinauf, breitete sich unaufhaltsam im ganzen Körper aus. Die junge Frau öffnete den Mund, wollte schreien, doch aus ihrer Kehle drang kein Ton. Im nächsten Moment wich jegliche Farbe aus ihrem Gesicht und sie sank leblos zu Boden.
Felix öffnete die Augen. Schon wieder einer dieser Träume und dieses Mal hatte er noch schlimmer geendet als die Male zuvor. Kaum war Felix richtig wach, verschwammen die Ereignisse des Traums in seinen Gedanken. Nur das beklemmende Gefühl und die diffuse Erinnerung an das Geschehene blieben.
Um ihn herum war es stockdunkel und im ersten Moment befürchtete er, erblindet zu sein, doch dann nahm er einen kleinen schwachen Lichtpunkt über seinem Gesicht wahr. Felix fror. Er versuchte, sich aufzusetzen, doch etwas hinderte ihn daran, größere Bewegungen auszuführen, geschweige denn sich in eine aufrechte Position zu bringen. Es fühlte sich an wie eine feste Plastikplane. Wie kam er hierher? Und warum zum Teufel war er nackt? Das Letzte, woran er sich erinnerte, war das gemeinsame Abendessen mit Melanie.
Felix schlug und trat um sich, langsam stieg Panik in ihm auf. Wenn er etwas nicht ertragen konnte, waren es enge Räume. Selbst den Fahrstuhl bei sich zu Hause nutzte er nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Felix versuchte, sich umzudrehen, doch sein dunkles Gefängnis legte sich so eng um seinen Körper, dass selbst ein Drehen auf der Stelle unmöglich war. Stattdessen rollte er mitsamt dem Plastiksack zur Seite, fiel ein Stück und prallte hart mit dem Gesicht auf. Sofort spürte Felix, wie ihm Blut in die Nase schoss. »Autsch! Scheiße!« Er fluchte lautstark. Mit Schwung drehte er sich auf den Rücken und suchte hektisch atmend nach einer Möglichkeit, sich zu befreien.
Ein paar Minuten und etliche von wilden Flüchen begleitete Fehlversuche später gelang es ihm endlich, den Reißverschluss mit den Fingerspitzen so weit zu verschieben, dass ein Finger durch die entstandene Lücke passte. Erleichtert öffnete Felix den Plastiksack, schälte sich aus der unliebsamen Hülle und sog mit geschlossenen Augen tief Luft in seine Lungen. Es roch seltsam.
Felix sah sich im steril gefliesten, nur schwach beleuchteten Raum um und betrachtete den metallenen Tisch, von dem er scheinbar kurz zuvor gefallen war. Wo war er hier? Schnell griff er nach einem weißen Kittel, der an einem Haken an der Wand hing, um sich wenigstens notdürftig zu bekleiden. Vor der Schwingtür, durch die er den kühl temperierten Raum verließ, befand sich ein langer Gang. Die kahlen, vom Neonlicht bestrahlten Wände und der helle PVC-Boden erinnerten Felix an einen Krankenhausflur.
Am Ende des Gangs angekommen, stand er vor einer großen zweiflügligen Tür und sah hindurch. Einige Meter entfernt stand ein Mann mit weißem Kittel, allem Anschein nach ein Arzt, und sprach mit Melanie. Warum war sie hier? Felix ging schwungvoll durch die Tür und winkte seiner Freundin zu. Als sie ihn entdeckte, wurde ihr Gesicht kreidebleich. Sie starrte ihn entgeistert an und fiel wortlos in Ohnmacht. Irritiert drehte sich der Arzt in Felix’ Richtung.
»D-d-das ist völlig unmöglich!« Über den Schreck vergaß er vollkommen, sich um die am Boden liegende Frau zu kümmern, und lief Felix entgegen. »Sie waren tot. Ich habe eigenhändig den Totenschein ausgestellt.« Bevor Felix auch nur ein Wort erwidern konnte, zog ihn der Arzt am Arm in das nächste Besprechungszimmer und begann mit einigen Untersuchungen.
Felix verstand noch immer nicht, was hier vor sich ging. Völlig vom plötzlichen Aktionismus des Mediziners überrollt, ließ er ihn und die inzwischen herbeigerufenen Schwestern gewähren. Einem EKG und EEG folgte eine Blutentnahme, bei der er sich nach dem sechsten Röhrchen fragte, ob das Krankenhaus die Blutreserven auffüllen wollte. Niemand hielt es während dieser Zeit für nötig, ihm auch nur die geringste Auskunft zu geben.
Als der Arzt ihn anschließend noch zum MRT und verschiedenen Ultraschalluntersuchungen schicken wollte, wurde es Felix zu bunt. Er musste endlich wissen, was los war, und bremste den Mediziner in seinem Forschungswahn. »Stopp! Jetzt ist aber mal gut! Was ist denn mit mir, dass Sie mich hier durch jede Abteilung schleusen? Oder brauchen Sie ein Versuchskaninchen für Ihre teuren Geräte? Und was meinten Sie eigentlich mit ›Sie waren tot‹? Ich bin quicklebendig, wie Sie ja wohl sehen, und ich kann mich auch nicht erinnern, von den Toten auferstanden zu sein.« Langsam redete sich Felix in Rage.
Seine Worte verfehlten ihren Zweck nicht. Endlich bemerkte der Arzt, dass er bislang jede Erklärung schuldig geblieben war. Er zog einen Hocker heran und setzte sich. »Herr Riebig.« Er machte eine kurze Pause und schien zu überlegen, wie er das Gespräch am besten beginnen sollte. »Wissen Sie nicht mehr, was passiert ist?«
Natürlich wusste es Felix nicht. »Ich war mit einer Freundin essen, die Sie übrigens einfach auf dem Boden liegen lassen haben.« Vorwurfsvoll sah er den Arzt an, obwohl er sich eingestehen musste, dass er selbst nicht mehr an Melanie gedacht hatte. »Ich habe wohl ein wenig über den Durst getrunken und muss dann eingeschlafen sein. Irgendein Witzbold hat mich während des Rauschkomas in einen Sack gestopft und hier im Krankenhaus abgeladen. Ich hoffe mal, das ist alles nur ein verfrühter Aprilscherz, ein verdammt idiotischer Aprilscherz …«
Prof. Dr. Hiepenau, so stand es auf seinem Namensschild, sah Felix mit ernster Miene an. »Herr Riebig, bitte beruhigen Sie sich. Hier möchte Sie niemand auf den Arm nehmen. Sie hatten einen schweren Unfall.«
Felix prustete vor Lachen. »Sie sind ja ein echter Scherzkeks. Sehen Sie vielleicht irgendwelche Verletzungen?« Er präsentierte demonstrativ seinen Körper, den der Arzt kurz zuvor bereits intensiv untersucht hatte. »Und ich meine, mich zu erinnern, Untote hätten auch keinen Puls, nicht wahr?« Felix fühlte den Herzschlag an seinem Handgelenk, streckte den Arm anschließend dem Mediziner entgegen und sagte zynisch: »Hm, also ich spür da was. Sie nicht?«
Der Professor blieb ruhig. »Sie erinnern sich also überhaupt nicht mehr?« Nachdenklich kratzte er sich an der Stirn. »Das ist nicht ungewöhnlich in Ihrer Situation.« Er stand auf, nahm Felix’ Akte vom Schreibtisch und reichte sie ihm. »Schauen Sie selbst. Ich muss Ihnen leider gestehen, dass wir selbst bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht verstehen, wie das möglich ist.«
Felix öffnete die Akte und warf einen Blick hinein, klappte den Deckel jedoch sofort wieder zu. Professor Hiepenau hätte ihn ruhig vorwarnen können. Langsam öffnete Felix die Unterlagen erneut. War das auf den Fotos wirklich er? Ein Gruselkabinett hätte wohl kaum eine bessere Darstellung eines Unfallopfers präsentieren können. Er las die Kurzversion des Unfallberichts, kam dabei aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Niemand konnte einen Unfall wie diesen überleben, schon gar nicht mit den Verletzungen, die im Bericht geschildert wurden. Laut dem Stück Papier, das er in der Hand hielt, gab es kaum noch heile Knochen in seinem Körper – und er war seit einigen Stunden tot. Mausetot.
Es musste eine Verwechslung vorliegen. Das auf den Bildern konnte nicht er sein. Aber wie kam er dann in den Leichensack? Außerdem erkannte er sich selbst auf den Fotos wieder, trotz der Verunstaltung durch die unsanfte Begegnung mit Polizeiwagen und Asphalt.
Erst nach mehreren Minuten fand Felix seine Sprache allmählich wieder. »Wie ist das möglich?«, fragte er stockend und sah den Mediziner irritiert an, doch dieser zuckte lediglich mit den Schultern. Jetzt verstand Felix, weshalb man ihn zu den vielen Untersuchungen geschleift hatte, und er war mit jeder Maßnahme einverstanden, die ihm eine Erklärung für das Unmögliche liefern konnte. Bereitwillig gab er sein Okay, die restlichen Diagnosestationen zu durchlaufen.
* * *
Seit über einer Stunde lief Melanie durch die Gänge der Uniklinik. Nachdem sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war, konnte oder wollte ihr niemand sagen, wo sich Felix befand und wie es ihm ging. Die letzte Information, die sie erhalten hatte, war, dass sein Leichnam für die anstehende Autopsie vorbereitet werden sollte. Doch dann hatte er plötzlich quicklebendig vor ihr gestanden. Mehr wusste sie nicht. Auch der Arzt, mit dem sie sich ausführlich über den Unfall und die dramatischen Folgen unterhalten hatte, war einfach verschwunden und nicht mehr auffindbar. Es war zum Verzweifeln.
Nach langem Umherirren lief Melanie schließlich eine Krankenschwester über den Weg, die wusste, dass Felix derzeit eingehend untersucht wurde. Er war also wirklich noch am Leben. Vielleicht hatte es eine Verwechslung gegeben und jemand anders lag in der Pathologie. Melanie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Sie musste Felix sehen und endlich mit ihm sprechen, um Gewissheit zu haben. Melanie war viel zu unruhig, um in der Klinik auf das Ende der Untersuchungen zu warten, also fuhr sie in der Zwischenzeit zu Felix nach Hause, um frische Kleidung für ihn zu holen.
* * *
Durch die sich überschlagenden Ereignisse und den straffen Diagnoseplan hatte Felix Melanie völlig vergessen. Er lag mittlerweile regungslos in der monoton klopfenden Röhre des MRT. Alle Untersuchungsergebnisse entsprachen bis jetzt denen eines körperlich gesunden Mannes. Es war keine Spur einer Unfallverletzung zu finden, wenn man von der gebrochenen Nase absah, die er sich beim Sturz mit dem Leichensack zugezogen hatte. Seltsamerweise konnte zudem kein Alkohol in Felix’ Blut nachgewiesen werden, ganz so, als hätte es weder den nächtlichen Whisky noch den Sekt zum Abendessen gegeben.
Felix schloss die Augen, konzentrierte sich auf das pochende Geräusch um ihn herum und schlief nach wenigen Minuten tief und fest ein.
* * *
Freitag, 11. Juni, drei Jahre zuvor
Allen Warnungen zum Trotz kletterte Felix den steilen Abhang hinunter. Immer wieder verlor er kurz den Halt und hatte Mühe, nicht unkontrolliert hinunterzustürzen. Leonies Körper lag etwa zwanzig Meter unterhalb der Straße. Zwei nah zusammenstehende Bäume hatten ihn abrupt aufgefangen. Von der ehemaligen Schönheit des Hochzeitskleids war nichts mehr zu erkennen.
Felix stolperte zu seiner Frau und nahm ihren blutüberströmten Kopf in die Hände. »Leonie! Hörst du mich?« Sie reagierte nicht auf seine Rufe, atmete flach und unregelmäßig. Felix konnte kaum einen Puls spüren. Krampfhaft überlegte er, sah aber keine Möglichkeit, seine Frau allein aus dieser Lage zu befreien. Von der Straße drang das verzweifelte Geschrei der Gäste zu ihm herunter, doch er beachtete es nicht. Zärtlich strich er über die Wange seiner Frau. »Hilfe ist unterwegs, mein Schatz«, flüsterte er. »Halt noch ein bisschen durch.«
Es dauerte eine quälend lange Zeit, bis die alarmierten Rettungskräfte der örtlichen Feuerwehr am schwer zugänglichen Unfallort eintrafen. Die erfahrenen Helfer fixierten den zerschundenen Körper auf einer Trage – dabei mussten sie Teile des Hochzeitskleides zerschneiden, dessen ausladender Stoff sich in den Ästen verfangen hatte – und zogen die bewusstlose Braut die Böschung hinauf zur Straße, wo der wartende Notarzt unverzüglich mit der Erstversorgung begann. Schnellstmöglich wurde Leonie anschließend zur nächsten Landemöglichkeit des Rettungshubschraubers transportiert.
Felix erlebte die Geschehnisse wie in Trance. Er wich seiner Frau keinen Moment von der Seite, sodass die Helfer ihn mehrfach ermahnen mussten, nicht ihre Arbeit zu behindern. Erst als der Hubschrauber abhob und langsam aus Felix’ Blickfeld verschwand, brach er schluchzend zusammen.
* * *
Sonntag, 17. März, Gegenwart
»Herr Riebig?« Die Stimme der Schwester weckte Felix aus einem traumlosen Schlaf. »Haben Sie gut geschlafen?«, erkundigte sie sich mit einem Lächeln. »Wir sind fertig. Sie dürfen wieder aufstehen und sich anziehen. Ihre Partnerin hat Ihnen einige Sachen gebracht.«
Felix streckte sich und gähnte. Hatte die Schwester eben ›Partnerin‹ gesagt? Er erhob sich schwungvoll von der Liege und ging zur Tür. Seltsamerweise fühlte er sich schon nach dem kurzen Nickerchen ausgeruht und energiegeladen, obwohl es halb drei in der Nacht war, wie die große Wanduhr im Untersuchungszimmer anzeigte. Im Vorraum lag wie angekündigt eine komplette Montur aus seinem Kleiderschrank. Felix gab es auf, sich über die Dinge zu wundern, die in dieser Nacht geschahen, und zog sich rasch an.
Kaum hatte er den Flur betreten, kam Melanie auf ihn zugelaufen und fiel ihm überschwänglich um den Hals. »Mensch, was machst du für Sachen?« Sie boxte ihm mit der Faust leicht gegen die Brust. »Du hast mich zu Tode erschreckt, verdammt!« Tränen der Erleichterung liefen ihr über das Gesicht. »Erst ruft mich jemand an, dass du einen schweren Unfall hattest, dann sagen sie mir hier im Krankenhaus, dass die Ärzte nichts mehr für dich tun konnten.« Melanie schluckte schwer. »Da war es ein ganz schöner Schock, als du plötzlich vor mir standest.« Fast schon vorwurfsvoll sah sie ihn an, um ihm im nächsten Moment erneut um den Hals zu fallen. »Aber ich bin so froh, dass es dir gut geht.«
Felix wusste nicht recht, was er seiner Freundin sagen sollte, da er selbst nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was passiert war. Also entschied er, lieber zu schweigen. Er hatte Melanie als Kontaktperson auf der Notfallkarte in seinem Portemonnaie eingetragen – die einzige Person, die ihm noch nahestand. Sie musste es auch gewesen sein, die seine Sachen von zu Hause geholt hatte.
Nach der Odyssee durch die Untersuchungsräume verspürte Felix keine Lust, die restliche Nacht in der Klinik zu verbringen. Auch wenn die behandelnden Ärzte nur zu gern weitere Untersuchungen vorgenommen und ihn für einige Tage zur Beobachtung dortbehalten hätten, bestand er darauf, sofort entlassen zu werden, und ließ sich von Melanie nach Hause fahren.
* * *
Zur gleichen Zeit etwa 600 km südlich
Ein junger Mann in sportlich sitzendem Anzug klopfte an die schwere Holztür, wartete einen Augenblick und trat schließlich ein. An der gegenüberliegenden Wand des hohen Raumes, umgeben von Bücherregalen, die bis auf den letzten Platz gefüllt waren, saß ein weißhaariger Mann und sah dem Eintretenden über den Rand der runden Gläser seiner Brille entgegen.
»Ist es bestätigt, Armando?«
»Unser Kontakt in Deutschland hat keine Zweifel, Vater. Sicherheitshalber haben wir Signora Padovesi dorthin geschickt, um die Informationen zu verifizieren.«
»Du weißt, wie problematisch das für uns sein könnte, Armando. Ich verlasse mich darauf, dass du dich darum kümmerst.«
»Jawohl, Vater. Du kannst dich auf mich verlassen.«