NEUN

Der Ort schien trostlos und kalt, obwohl die Sonne ihre morgendlichen Strahlen bereits unerbittlich auf den ohnehin trockenen Boden sandte. Grabsteine säumten die mit Kies versehenen Gehwege, die in schnurgeraden Linien über das Areal führten.

Eine Frau mit glatten rotblonden Haaren stand in einem offenen Grab und schaufelte keuchend Erde aus der Vertiefung. Am Rand der Grube lag eine Frau in schwarzer Kleidung reglos auf dem Bauch, der kantige, faustgroße Stein neben ihren blonden Haaren wies einen unübersehbaren Blutfleck auf. Ihre Finger zuckten, langsam bewegte sie ihre Arme, richtete sich schließlich mit zittrigen Beinen auf und befühlte die rötlich feuchte Wunde am Hinterkopf. Ihr Gesicht wirkte verkrampft, ihr Blick zeigte eine Mischung aus Schmerz und unbändiger Wut. Lautstark schrie sie die Frau im Grab an, die konzentriert weiter Erde zur Seite schaufelte. An einigen Stellen konnte man bereits die Haut eines menschlichen Körpers unter den Erdbrocken erahnen.

Als die Frau bemerkte, dass sie nicht länger ungestört war, unterbrach sie ihre Arbeit und hielt schützend den Spaten vor sich. Sie wirkte nervös, etwas ängstlich – doch einen Augenblick später entspannten sich ihre Gesichtszüge. Vor ihren Füßen hatte sich ein Schatten aus der Erde gelöst, war auf sie zu gekrochen, hatte jedoch unvermittelt kehrtgemacht und bewegte sich nun an der Wand des Grabes empor.

Überrascht hatte die Frau in Schwarz den plötzlichen Stimmungswechsel beobachtet. Erst als sie den Schatten bemerkte, erkannte sie die Gefahr und erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde. Dann rannte sie los. Atemlos hechtete sie auf ihr Motorrad, startete den Motor und drehte den Gashebel bis zum Anschlag. Im selben Augenblick, in dem die Maschine mit durchdrehendem Hinterrad beschleunigte, spürte die Frau, wie die Kälte innerhalb weniger Atemzüge ihren gesamten Körper durchflutete und sie jeglicher Bewegungsfähigkeit beraubte. Das Motorrad schlingerte, bäumte sich auf wie ein scheuendes Pferd und schleuderte sie bei voller Fahrt auf den staubigen Boden. Noch bevor sie aufschlug, wich der letzte Rest Leben aus ihr.

Felix spuckte den Dreck aus, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. Er spürte, wie jemand die Erde auf ihm und um ihn herum zur Seite schob. Sofort öffnete er die Augen, konnte jedoch kaum etwas erkennen. Kleine verkrustete Klumpen hingen in seinen Wimpern und störten sein Blickfeld.

Felix setzte sich auf. »Danke«, krächzte er. Dabei fühlte sich sein Hals an, als hätte der trockene Boden alle Feuchtigkeit herausgesaugt. Mit fahrigen Bewegungen wischte er sich die Erdreste aus den Wimpern.

»Bist du okay, Felix?«

Diese Stimme! Felix sah die Frau an, die ihn aus dem Grab befreit hatte. Er sah sie an und konnte nicht glauben, dass sie real war. »Unmöglich!«, keuchte er mit wachsendem Unbehagen und kroch rückwärts, um Abstand zwischen sich und die Erscheinung zu bringen.

»Felix, keine Angst. Ich bin es.«

Felix sprang auf die Beine und starrte die Frau mit den rotblonden Haaren an. Er starrte in ihre grünen Augen, die ihn so viele Monate im Schlaf verfolgt hatten. »Du … du kannst nicht real sein«, stammelte er und taumelte rückwärts, bis er gegen die Wand des Grabes stieß.

Sie kam auf ihn zu und ergriff sanft seine Hände. »Ich bin es wirklich, Schatz.«

In ihrer Stimme vernahm Felix das leichte Beben, das er so gut kannte – und er spürte die Vertrautheit ihrer Berührung. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Leonie«, murmelte er.

Wortlos nickte sie, nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küsste ihn sanft auf den Mund.

»Nein!« Felix stieß sie von sich weg. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber meine Frau ist tot! Ich war dabei, als sie …« Er stockte und ließ seinen Blick prüfend über den Körper der Frau streifen, suchte nach eindeutigen Merkmalen.

»Ich kann dir das erklären«, begann Leonie, näherte sich ihm jedoch nicht. »Du musst mir glauben, dass ich dich nie verletzen wollte. Ich hatte keine Wahl.«

Felix sah sie verständnislos an.

»Erinnerst du dich an unser erstes Treffen?«, fragte sie und wartete auf seine Reaktion.

Er zog die Augenbrauen zusammen. Wie hätte er diesen Tag vergessen können? Als wäre es erst wenige Stunden her, sah er die Tanzfläche der Diskothek vor sich, spürte förmlich die wummernden Bässe in seiner Magengegend.

* * *

Freitag, 15. August, fünf Jahre zuvor

Felix stand mit einer Flasche Bier in der Hand an der Bar und sah Melanie zu, die ausgelassen auf der Tanzfläche umherwirbelte. Die monatlichen Discofreitage hatten sich bei ihnen inzwischen zu einer Tradition entwickelt, obwohl sich Felix hier mit seinen neunundzwanzig Jahren schon fast als Senior fühlte.

Melanie kam tänzelnd näher und nahm seine Hand. »Na los, Felix«, forderte sie, doch er schüttelte den Kopf. Mit einem Schulterzucken drehte sie sich um und tanzte in Richtung einer Gruppe Feiernder, von denen ihr sofort ein Kerl mit hautengem Shirt auf die Tanzfläche folgte, um sie dort hemmungslos anzugraben.

Felix seufzte. Mit stoischem Lächeln verfolgte er das Balzverhalten. Er wusste, dass Melanie sich nie auf diesen Typen einlassen würde, und doch war er eifersüchtig auf den gegelten Kerl – ein Gefühl, das er Melanie gegenüber nie zugeben würde.

»Hi!«

Felix drehte sich in Richtung der weiblichen Stimme. Eine junge Frau – er schätzte sie beim ersten Blick auf Anfang bis Mitte zwanzig – lächelte ihn an. »Hi«, antwortete er und war nicht sicher, ob seine einsilbige Begrüßung von der Musik verschluckt wurde. Es kam nicht oft vor, dass ihn eine Frau ansprach, wenn er in Begleitung von Melanie hier war. Die meisten dachten vermutlich, dass sie ein Paar waren, so vertraut, wie sie miteinander umgingen.

Die Frau beugte sich etwas zu ihm vor, damit er sie besser verstehen konnte. »Ich hab dich hier noch nie gesehen«, stellte sie fest. »Bist du öfter hier?« Ihr keckes Grinsen verriet, dass sie diesen abgegriffenen Anmachspruch bewusst gewählt hatte. »Ich bin Leonie.«

»Felix.« Er lächelte. Gegen einen Flirt hatte er nichts einzuwenden, zumal Leonie, sofern er es im Licht der schummrigen Barbeleuchtung erkennen konnte, durchaus attraktiv zu sein schien, auch wenn sie nicht ganz dem Bild seiner persönlichen Traumfrau entsprach.

Im Gespräch stellte sich heraus, dass sie viele Interessen zu teilen schienen. Leonie war zwei Jahre jünger als er, sie studierte Medienwissenschaften und arbeitete nebenbei als Kellnerin in einem Restaurant, um das Studium zu finanzieren.

»Gibst du mir deine Nummer?«, fragte Leonie aus heiterem Himmel und zückte ihr Handy.

»Äh … klar«, erwiderte Felix verwundert und diktierte ihr die Ziffern.

»Danke, Felix. War schön, dich kennenzulernen. Ich ruf dich mal an.« Noch bevor Felix wusste, wie ihm geschah, hatte sie sich umgedreht und war im Gedränge der Tanzenden verschwunden.

Was war das denn bitte? Felix starrte irritiert in die Richtung, in die sie gegangen war. Hatte sie ihn gerade einfach stehen lassen?

»Wer war das?« Melanie umarmte ihn von hinten und legte ihre Wange an seine.

Felix schüttelte kaum merklich den Kopf und zog die Stirn kraus. »Gute Frage …«

 * * *

Sonntag, 7. April, Gegenwart

»Du hast mich einfach stehen lassen«, murmelte Felix in Gedanken. »Und dich danach fast eine Woche nicht gemeldet. Ich hatte dich schon beinahe vergessen.«

»Lügner«, warf Leonie ein und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Allerdings …« Sie spielte mit ihren Fingern an einer Haarsträhne herum, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war.

»Was ist?« Felix’ Blick zuckte nach oben, er fixierte Leonies Augen.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe und fuhr sich unkoordiniert durch die Haare. »Ich hätte es dir sagen sollen, vielleicht wäre all das dann nie passiert …«

»Was hättest du mir sagen sollen?« Felix machte zwei Schritte auf sie zu und sah sie durchdringend an.

Leonie zögerte. Sie schien mit sich zu ringen, bevor sie fortfuhr: »Ich wusste, was du bist. Ich wusste Bescheid, von Anfang an.«

»Unmöglich«, wiegelte Felix ab. »Ich wusste es ja selbst nicht mal.«

»Aber sie wussten es.«

»Diese Kerle, die mich gefangengehalten haben?«

Leonie nickte.

Felix kniff die Augen zusammen. »Was hast du mit denen zu schaffen?«

»Ich …« Sie schluckte. »Die Organisation hat ihre Leute überall in Labors und Krankenhäusern, dort, wo sie am ehesten auf genetische Anomalien bei Menschen wie uns aufmerksam werden.«

»Du meinst, sie testen heimlich Blut …« Felix zögerte. Was hat sie gerade gesagt? ›Bei Menschen wie uns …‹ das gibt’s doch nicht! »Du … du bist wie ich«, stieß er hervor.

Leonie nickte.

»Ich glaub das nicht! Wie wahrscheinlich ist es, dass ausgerechnet wir uns über den Weg laufen und ein Paar werden?«

»Eins zu ein paar Milliarden, würde ich sagen«, versuchte Leonie, die angespannte Stimmung etwas aufzulockern.

Felix warf ihr einen finsteren Blick zu. Er hatte jetzt keinen Sinn für Humor. Er verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte. »Du warst gar nicht zufällig an diesem Abend in der Disco, oder?«

»Nein.« Sie schüttelte kraftlos den Kopf. »Sie haben alles ganz genau geplant. Interessen, Vorlieben, Gewohnheiten – ich habe wochenlang in deiner Akte lesen müssen, bevor das Treffen stattfinden konnte. Sie wollten, dass wir ein Paar werden, dass wir ein Kind bekommen. Sie wussten, wie ich dich für mich interessieren konnte. Du kannst mir glauben, dass es mir schwergefallen ist, dich auf diese Art zu manipulieren. Ich bin eigentlich nicht so.« Leonie sah Felix nun wieder direkt an. »Sie wussten Dinge über dich, die du selbst mir in all den Jahren nicht erzählt hast.« Ihre Augen bekamen einen traurigen Ausdruck und sie senkte die Stimme, als sie weitersprach: »Du hast nie mit mir über den Unfall reden wollen, bei dem deine Eltern gestorben sind.«

Felix’ Gesichtszüge verhärteten sich. »Und das will ich auch jetzt nicht!«

»Vielleicht solltest du das«, entgegnete Leonie nun wieder gefasster. »An diesem Tag hat alles begonnen.«

Felix stutzte. Er konnte sich nicht mehr an den eigentlichen Unfallhergang erinnern. Die Details kannte er nur aus Erzählungen und den Zeitungsberichten, die er noch Jahre später ab und zu hervorgeholt und darauf das Foto mit dem ausgebrannten Autowrack angestarrt hatte. ›Schwerer Unfall auf der A3 – Kind wie durch ein Wunder unverletzt‹ Diese Schlagzeile war ihm im Gedächtnis geblieben, doch erst jetzt begann er zu verstehen.

* * *

Freitag, 27. Dezember, siebenundzwanzig Jahre zuvor

Felix rutschte unruhig auf dem Kindersitz herum. Er freute sich auf den Winterurlaub mit seinen Eltern, denn es war das erste Mal, dass sie mit ihm in die Berge fuhren. Bisher war der kleine Hügel in der Nachbarschaft die einzige Möglichkeit für eine Schlittenfahrt gewesen. Morgen würde Felix zum ersten Mal auf Skiern stehen.

»Felix!« Seine Mutter drehte sich zu ihm um und sah ihn streng an, doch er war viel zu aufgedreht, um still zu sitzen. Er streckte ihr die Zunge heraus und kicherte vergnügt.

»Irgendetwas muss ich bei deiner Erziehung falsch gemacht haben«, sagte seine Mutter mit einem Seufzen, konnte sich allerdings ein Lächeln nicht verkneifen.

Felix wusste, dass die Autofahrt noch eine Ewigkeit dauern würde. Seine Eltern hatten wahrscheinlich gedacht, dass er friedlich auf der Rückbank schlummern würde, aber da hatten sie sich geirrt. Er hatte nicht vor, die ganze Zeit still und brav auf diesem Kindersitz zu verbringen, der sich seiner Meinung nach ohnehin nur für Babys eignete. Immerhin war in einem Monat schon sein siebter Geburtstag, er war längst kein ›kleiner Junge‹ mehr.

Draußen war es stockdunkel, er konnte noch nicht einmal die Landschaft oder die anderen Autos beobachten. Ihm war furchtbar langweilig. »Mama, ich muss mal«, sagte er und rutschte in seinem Sitz hin und her.

»Du warst doch zu Hause«, mischte sich sein Vater ein. »Wir wollten erst in einer halben Stunde wieder Pause machen.«

»Ich muss wirklich dringend Pipi!«

»Na gut«, grummelte sein Vater. »Ich fahre beim nächsten Parkplatz raus.«

»Kriege ich dann auch ein Eis?«, fragte Felix mit unschuldigem Blick.

»Aha, daher weht der Wind.« Seine Mutter lachte. »Auf dem Parkplatz gibt es kein Eis, Felix. So etwas gibt es nur an der Tankstelle.«

Felix überlegte kurz. »Wie weit ist es denn bis zu einer Tankstelle?«, fragte er mit ernster Miene. »Vielleicht kann ich es so lange noch aushalten.«

»Dachte ich’s mir doch«, schmunzelte seine Mutter. »Das hat er von dir, dieser kleine Schelm«, sagte sie an seinen Vater gewandt.

»Ich bin nicht klein«, protestierte Felix empört. »Ich bin fast sieben!«

»Ich weiß, Schatz.« Seine Mutter zwinkerte ihm zu. »Ich weiß.«

Plötzlich ging alles ganz schnell. Ein Knall ertönte und im selben Moment fühlte Felix, wie sich der Wagen nicht mehr geradeaus bewegte, sondern schlingerte. Es folgte ein dumpfer Schlag, ein lautes metallisches Krachen, dann wurde Felix’ Körper herumgeschleudert. Felix kreischte, er verlor die Orientierung, konnte nicht mehr zwischen oben und unten unterscheiden, ihm wurde schwarz vor Augen.

* * *

Sonntag, 7. April, Gegenwart

Felix musste sich setzen. Die Bilder des brennenden Autos drängten sich mit Wucht in seine Erinnerung. Er hatte das Gefühl, wieder den beißenden Geruch wahrzunehmen, die Hitze des Feuers auf seiner Haut zu spüren – hilflos zu sein.

»Felix?«

»Sie haben mir gesagt, dass meine Mutter an ihren Verbrennungen gestorben ist, mein Vater aber sofort tot war und nichts von den Flammen gespürt hat. Sie meinten, dass ich Glück im Unglück hatte, weil ich aus dem Auto geschleudert wurde.« Er sah Leonie nicht an, sondern starrte durch sie hindurch. »Ich denke, dass sie sich geirrt haben. Mein Vater hat noch gelebt. Ich habe ihn getötet.«

Leonie sagte nichts. Sie sah Felix nur mitleidig an.

»Wieso musste er für mich sterben?«

»Du konntest nichts dafür, Felix.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute ihm in die Augen. »Du hast große Angst gehabt und an deine Eltern gedacht, als es passiert ist. Außerdem warst du ahnungslos und viel zu jung, um deine Gabe zu kontrollieren.«

»Meine Gabe?« Felix’ Stimme zitterte. »Es ist keine Gabe. Es ist ein Fluch!«

»Sag das nicht! Ohne diese Gabe wäre ich damals an meiner Krankheit gestorben, hätte dich nie kennengelernt. Ohne sie hätte ich nun keine wundervolle To…« Sie unterbrach sich, doch Felix war bereits hellhörig geworden.

»Was hast du gesagt?« Er packte sie fest an den Schultern. »Wolltest du ›Tochter‹ sagen? Soll das heißen, Sofia lebt?«

»Au, du tust mir weh!« Leonie versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, doch Felix dachte nicht daran, sie loszulassen.

»Ist unsere Tochter am Leben?«, fragte er noch einmal drohend.

»Ja«, flüsterte Leonie und drehte den Kopf zur Seite. »Sofia lebt.«

Felix entglitten die Gesichtszüge. »Wie konntest du mir das antun?«, schrie er voller Wut und stieß sie ruppig von sich.

Leonie stolperte rückwärts und fiel unsanft auf die Erde. »Ich hatte doch keine Wahl, Felix!«, rief sie und ihre Stimme bebte. »Sie hätten sie sich so oder so genommen. Ich konnte mein Baby nicht allein lassen.«

»Es ist unser Baby, verdammt! Du hättest das nicht allein entscheiden dürfen!« Felix fuhr sich durch die staubigen Haare. »Bring mich zu ihr.«

Leonie schüttelte hektisch den Kopf. »Auf keinen Fall! Das kann ich nicht machen. Bitte! Du musst verschwinden, bevor sie dich hier aufspüren.«

Felix verschränkte die Arme. »Ich werde nicht ohne Sofia gehen!«

»Sei vernünftig.« Leonie rappelte sich auf und kam auf ihn zu. »Sie lassen dich nicht noch einmal davonkommen.«

»Was interessiert’s dich?«, blaffte Felix zurück. »Dir war es doch auch egal, als sie mich entführt, eingesperrt und misshandelt haben.«

»Das ist nicht wahr!« Leonie lief eine Träne über die Wange. »Ich wusste nichts davon. Sie hatten mir versprochen, dich in Ruhe zu lassen, solange Sofia und ich bei ihnen bleiben.«

»Hat ja wunderbar funktioniert!«

»Es tut mir leid, Felix.«

»Dafür ist es jetzt ein wenig zu spät«, erwiderte er schnippisch. »Du hast dich nie wirklich für mich interessiert.« Felix fühlte eine tiefe Leere. Er hatte immer angenommen, dass er die Liebe seines Lebens an den Tod verloren hatte, doch es war alles nur Schein gewesen – ein arrangiertes Schauspiel, von der ersten Begegnung an.

Leonie sah zu Boden. »Ich habe dich geliebt«, begann sie. »Ob du es glaubst oder nicht: Ich tue es auch jetzt noch.«

»Na klar.« Felix schnaubte verächtlich.

»Lass es mich dir erklären«, bat sie. »Du hast allen Grund, mich zu hassen, aber ich möchte, dass du es verstehst.«

Sie wartete offenbar auf eine Reaktion, doch Felix stand einfach nur da. Sollte sie sagen, was sie zu sagen hatte. Er würde ihr kein Wort glauben, aber vielleicht erfuhr er so irgendetwas über den ›Umbra Dei‹, das ihm helfen konnte, seine Tochter zu befreien.

»Ich war als junges Mädchen furchtbar krank«, begann Leonie zu erzählen und ihr Blick glitt ins Leere, als würde sie gedanklich in der Zeit zurückreisen. »Meine Eltern sind mit mir von Arzt zu Arzt gelaufen – keiner von ihnen konnte mir helfen. Wir haben unzählige Therapien ausprobiert, von denen einige mit furchtbaren Nebenwirkungen verbunden waren, ohne dass je eine Besserung eingetreten ist. Im Gegenteil. Die Ärzte haben meine Eltern darauf vorbereitet, dass ich meinen sechzehnten Geburtstag wahrscheinlich nicht erleben würde.« Leonie schluckte schwer. Mit belegter Stimme sprach sie weiter: »Meine Mutter wäre beinahe daran zerbrochen. Und dann, als wir die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, stand ein Mann bei uns vor der Tür. Er hat uns versprochen, dass seine Organisation mich heilen könnte. Ich habe damals nicht viel von dem verstanden, was er erzählt hat – und es war auch nicht die ganze Wahrheit, wie ich heute weiß –, aber er hat es geschafft, meine Eltern zu überzeugen. Und mich.«

Felix lachte freudlos auf. »Wie naiv.«

»Unsinn!«, fuhr sie ihn harsch an. »Du weißt nicht, wie es ist, jahrelang Schmerzen zu haben, jeden Tag. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn dir jemand die Hoffnung wiedergibt, dass das Leiden ein Ende hat. Sie wollten nicht einmal Geld dafür, nur Stillschweigen.«

»Und dein Leben«, murmelte Felix so leise, dass sie es nicht hören konnte.

»Sie haben mich in Narkose versetzt, und als ich wieder aufwachte, war ich kerngesund. Erst einige Jahre später habe ich gelernt, wie die Heilung funktioniert hat. Dieser außergewöhnliche Gendefekt ermöglichte es meinem Körper, mithilfe fremder Lebenskraft vollständig zu regenerieren.« Ihre Augen begannen zu leuchten, als spräche sie von etwas Wunderbarem.

»Also ist es in Ordnung, dass jemand anderes sterben muss, damit du leben kannst?«, fragte Felix ungläubig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Leonie so dachte.

»Es ist nicht irgendjemand, Felix. Die Organisation trifft eine sorgfältige Auswahl. Sie hat bereits Kriege verhindert und gefährliche Diktatoren gestürzt.«

»Schwachsinn!« Felix spie das Wort geradezu aus. »Deine ›Organisation‹ tötet Menschen, weil sie dafür bezahlt wird. Es geht nicht um edle Ziele oder was für absurde Vorstellungen du sonst noch hast. Es geht um Geld und Macht!«

»Das ist nicht wahr!«, hielt Leonie dagegen.

»Und du bist nicht nur naiver, als ich dachte, sondern musst auch blind und taub sein, wenn du nicht merkst, was da vorgeht. Sie haben durch mich drei Menschen getötet, Leonie. Drei Menschen! Wenn ich es nicht geschafft hätte zu entkommen, hätten sie auch Melanie umgebracht.«

Leonie stutzte. »Das würden sie nicht tun«, sagte sie, doch in ihrer Stimme klang ein Hauch von Zweifel mit.

Felix schüttelte matt den Kopf. »Glaub, was du willst. Aber wenn sie sich nur an Schuldigen vergreifen, dann ist wohl jeder schuldig, der ihnen im Weg steht oder wohlhabende Feinde hat. Ich kann nicht glauben, dass du unsere Tochter in die Fänge dieser Monster gegeben hast.«

»Sofia geht es gut, Felix. Uns fehlt es dort an nichts.«

Für eine Weile standen sich beide schweigend gegenüber, bis Felix erneut das Wort ergriff: »Was wollen sie überhaupt von unserer Tochter? Warum ist sie ihnen so wichtig?«

Leonie schien einen Moment zu überlegen, ob sie Felix antworten sollte. Mit ruhiger Stimme sagte sie schließlich: »Sie wollen es verstehen, den genetischen Code entschlüsseln.«

»Sie experimentieren mit ihr?«, fragte Felix fassungslos.

Schnell hob Leonie abwehrend die Hände. »Nein, sie nehmen Sofia nur ab und zu etwas Blut ab. In ihrem Alter ist die Fähigkeit noch inaktiv, erst mit fünf oder sechs Jahren wird sie sein wie wir.«

Ein Freak wie wir …, dachte Felix. In diesem Moment kam ihm ein Gedanke. »Kann man es heilen?«

»Was meinst du?«

»Ich meine, ob man diesen Defekt heilen kann. Ich möchte nicht, dass Sofia das Gleiche durchmachen muss wie ich.«

»Es ist keine Krankheit, Felix«, erwiderte Leonie entrüstet. »Es ist eine seltene Gabe, die man schätzen muss.«

Felix lachte trocken. »Ja, es ist wundervoll«, sagte er sarkastisch. »Bis heute habe ich immerhin schon sechs Menschen getötet, darunter meinen Vater, meine Ex-Freundin, meinen Chef und beinahe meine beste Freundin. Es ist wirklich eine fantastische Gabe!« Er trat mit dem Fuß gegen einen Klumpen Erde, der in winzige Stücke zerbarst. »Ich wünschte, du hättest mich hier liegen lassen, damit dieses beschissene Leben endlich ein Ende hat.«

Leonie sah ihn mit versteinerter Miene an. »Das meinst du nicht so«, flüsterte sie. »Ich weiß, dass du es nicht leicht hattest …«

»Nicht leicht?« Felix erhob die Stimme so plötzlich, dass Leonie erschrocken zusammenzuckte. Er war wütend. So wütend, wie er es von sich nicht kannte. »Ich habe eine Frau geheiratet, die mich von Anfang an belogen, die ihren Tod vorgetäuscht hat, um mit meiner Tochter zu verschwinden, von der ich dachte, dass sie die Geburt nicht überlebt hat. Ich habe bei der Einäscherung zugesehen und die Asche einer fremden Person begraben, von der ich glaubte, es wäre die Liebe meines Lebens. Ich habe um euch getrauert, während du es dir in Italien hast gut gehen lassen.« Felix baute sich drohend vor Leonie auf und konnte nur mit Mühe den Wunsch unterdrücken, sie zu würgen. »Du hast mein Leben ruiniert, also wag es ja nicht, mir zu erzählen, du wüsstest, was ich durchgemacht habe! Einen Scheiß weißt du!« Er drehte sich um und kletterte aus dem Grab.

»Felix, warte! Felix!«

Er ignorierte Leonies Rufe und verließ mit zügigen Schritten den Friedhof. Ich hole dich da raus, Sofia!

* * *

»Was machen wir denn jetzt?« Melanie sah Tomáš fragend an. »Wir können ja nicht mehr einfach da hinfahren. Sie werden uns erwarten.«

Tomáš hielt am Straßenrand. »Vertraust du mir?« Er hatte ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen.

»Ja …«, antwortete Melanie zögerlich. Dieser Gesichtsausdruck gefiel ihr gar nicht. Wenn Felix sie früher so angesehen hatte, heckte er irgendeine Dummheit aus, die sie in Schwierigkeiten brachte. »Was hast du vor?«

»Wart’s ab.« Er zwinkerte ihr zu und stieg aus.

Mit einem unguten Gefühl beobachtete Melanie, wie er einen Elektronikladen betrat. Wie konnte Tomáš so unbeschwert sein? Nach dem, was sie in den letzten Stunden erlebt hatten, musste er eigentlich genauso viel Angst haben wie sie. Es war, als hätte er Spaß daran, sich in Lebensgefahr zu begeben, als suchte er den ultimativen Nervenkitzel ohne Rücksicht auf sie. Trotzdem hatte Melanie kaum eine Wahl. Sie wollte Felix nicht im Stich lassen und Tomáš war der Einzige, der ihr im Moment helfen konnte – und außerdem mochte sie ihn. Sehr.

Als Tomáš zurückkam, drückte sie ihm spontan einen Kuss auf die Wange.

»Wofür war der denn?«, fragte er überrascht.

»Dafür, dass du mir hilfst«, sagte sie leise und lächelte ihn an.

»Bedank dich lieber nicht zu früh.« Tomáš zog ein Handy aus der Hosentasche und tippte eine Nummer ein, die er auf einem Zettel notiert hatte. »Der Verkäufer war so nett, sie mir noch einmal herauszusuchen.« Er gab Melanie ein Zeichen, still zu sein. »Hallo? … Hier ist Tomáš Hálek. … Blödsinn. Ich weiß, dass Sie mich verstehen. Ich möchte Alessia sprechen. … Dann richten Sie ihr aus, dass ich etwas habe, das Ihre Organisation unbedingt will.«

Melanie erschrak. Hatte er jetzt völlig den Verstand verloren? Sie wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht, um ihn zum Auflegen zu bewegen, doch er nahm das Handy lediglich ans andere Ohr und drehte den Kopf zur Seite.

»Ja, sagen Sie ihr, dass ich Melanie Farber ausliefern möchte. Natürlich. Nein, ich werde ihr meine Bedingungen nur persönlich nennen. Ja, einen Moment.« Er gab eine Adresse in das Navigationsgerät ein. »Ja, ich habe sie bei mir und kann in etwa einer Stunde dort sein. In Ordnung. Richten Sie Alessia aus, dass ich in einer halben Stunde wieder anrufe, und dann sollte sie besser da sein.« Tomáš schaltete das Handy aus und startete den Motor.

Melanie starrte ihn mit offenem Mund an. »Das ist nicht wirklich gerade passiert …«, stammelte sie. »Bist du verrückt geworden?«

Tomáš lenkte den Wagen auf die Hauptstraße. »Entspann dich, Mel. Ich hab das im Griff.«

»Selbst wenn ich das glauben könnte … Du hättest mich vorher fragen müssen«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Hättest du zugestimmt?«

»Natürlich nicht!« Melanie schüttelte den Kopf. »Das war eine absolut bescheuerte Idee.«

»Hast du eine bessere?«

Melanie überlegte kurz. »Nein, habe ich nicht, aber …«

»Na also. Mel, du willst zu Felix und ich bringe dich hin. Den Rest überlass einfach mir.«

Melanie schwieg. Ihr Magen rebellierte und sie verspürte ein beklemmendes Gefühl, das sich schwer auf ihren Brustkorb legte. Das ist keine gute Idee, nein, das ist eine beschissene Idee.

* * *

»Jetzt warte doch mal!«

Felix ging unbeirrt die staubige Straße entlang. Er konzentrierte sich auf die Bilder, die er kurz vor dem Aufwachen gesehen hatte. Alessia war in östliche Richtung gefahren, konnte aber nicht sehr weit gekommen sein, bevor der Schatten ihr Leben beendet hatte.

Nach ein paar Hundert Metern entdeckte Felix etwas Dunkles abseits der Straße. Je näher er kam, desto deutlicher erkannte er den leblosen Körper der Frau, die ihn lebendig begraben hatte. Alessia lag in unnatürlich verdrehter Haltung auf der Erde, ihre schwarze Motorradkluft sah mitgenommen aus, voller Staub und Abschürfungen. Felix wendete den Blick ab. Sie hat bekommen, was sie verdiente, dachte er bitter. Zum ersten Mal tat es ihm nicht leid, dass ein Mensch durch ihn gestorben war.

»Bitte, Felix.« Leonie hatte ihn eingeholt, fasste seinen Arm und hielt ihn zurück. »Du kannst gerade nicht klar denken. Sie werden keinesfalls zulassen, dass du in Sofias Nähe kommst. Du dürftest nicht einmal wissen, dass sie lebt.«

»Lass mich los!«, fuhr Felix sie an und löste sich aus ihrem Griff. Zielstrebig steuerte er auf Alessias Motorrad zu, das einige Meter vor ihm im Staub lag, und hievte es vom Boden.

Leonie kam ihm zuvor. Sie zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und schleuderte ihn weit von sich.

»Spinnst du?«, schrie Felix.

Sie gab ihm eine kräftige Ohrfeige. »Jetzt komm mal wieder runter, Felix!«

Verdattert starrte er sie an. Mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet. Ehe er etwas sagen konnte, setzte Leonie nach.

»Was hättest du an meiner Stelle gemacht? Hättest du ihnen unser Kind überlassen?«

»Natürlich nicht«, erwiderte er entrüstet. »Aber ich hätte dir gesagt, was los ist.«

»Hättest du nicht.« Leonie schüttelte entschieden den Kopf. »Du hättest mich nicht in Gefahr gebracht, es wäre gegen den Deal gewesen, Felix.« Sie schluckte. »Sie haben versprochen, dass sie dich in Frieden lassen …«

»Was beweist, wie ungemein vertrauenswürdig sie sind, nicht war?«, fragte Felix.

Leonie ignorierte die Provokation. »Hätte ich gewusst, dass … Ich hätte nie gedacht, dass du …« Sie senkte den Blick. »Dass es dich so mitnimmt.«

Was hatte sie denn erwartet? Felix verstand nicht, wie sie davon ausgehen konnte, dass ihn ihr Tod – ihr angeblicher Tod – nicht lange beschäftigen würde. Nach den gemeinsamen Jahren hätte ihr klar sein sollen, dass sie sein Leben war.

»Felix …« Leonie berührte ihn am Arm, doch er schlug ihre Hand weg.

»Was?«, fauchte er sie an. »Was erwartest du von mir?« Felix wartete nicht auf eine Antwort. »Soll ich dich in den Arm nehmen, als wäre nichts geschehen?«

Leonie schüttelte den Kopf. »Du sollst von hier verschwinden. Irgendwohin, wo sie dich nicht suchen, wo du in ihren Augen keine Gefahr darstellst.«

»Kannst du vergessen!« Felix verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wird nicht passieren!«

»Bitte, Felix, sei vernünftig«, wiederholte Leonie fast flehentlich.

Beinahe hatte er das Gefühl, dass sie sich ernsthaft Sorgen um ihn machte. In seinem Inneren brodelte die Wut noch immer unvermindert, doch Felix bemühte sich, ruhiger zu werden. »Ich bin vernünftig, Leonie«, sagte er. »Könntest du einfach gehen, in dem Wissen, dass ich lebe, dass deine Tochter lebt und du nicht für sie da sein kannst? Wäre das deine Vorstellung davon, vernünftig zu sein?«

Leonie schluckte und zögerte einige Zeit, bevor sie antwortete. »Nein, aber …«

»Kein Aber. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder du hilfst mir, oder …« Felix machte einen Schritt auf sie zu und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Oder du gehst mir aus dem Weg.« Er hoffte, dass die unterschwellige Drohung wirkte und Leonie nicht wusste, dass er ihr nie etwas antun konnte – trotz aller Wut, die er verspürte.

Felix sah, dass Leonie sich bemühte, dem Blick standzuhalten, schließlich senkte sie jedoch schweigend den Kopf. »Dachte ich mir«, sagte Felix grimmig, drehte sich um und schritt eilig in die Richtung, in die Leonie den Motorradschlüssel geworfen hatte. Suchend ließ er den Blick über den sandigen, von der Sonne ausgedörrten Boden streifen. Er bemerkte nicht sofort, dass Leonie zu ihm aufgeschlossen hatte und neben ihm herging.

»Bist du sicher, dass sie Melanie töten wollten?«, fragte sie zaghaft. »Wieso sollten sie das tun?«

»Weil sie Bescheid wusste vielleicht.« Felix zuckte mit den Schultern. »Ich hatte ihr von meinen …« Er räusperte sich. »… von meinen Experimenten erzählt, kurz bevor ich entführt wurde.«

»Aber wieso glaubst du, dass sie gerade Melli …«

»Weil ich es gesehen habe!«, unterbrach er sie schroff. Als er ihren irritierten Gesichtsausdruck sah, fuhr er etwas ruhiger fort: »Sag nicht, dass du keine Ahnung hast, wie das Ganze funktioniert …«

Leonie zog die Stirn kraus. »Doch, natürlich.« Sie fuhr sich mit der Hand nervös über den Nacken. »Zumindest im Groben, denke ich.«

Felix atmete geräuschvoll aus. Er wusste nicht, ob Leonie wirklich darüber im Bilde war, wie genau der ›Umbra Dei‹ seine Attentate verübte, in diesem Moment war ihm nicht nach unnötigen Erklärungen zumute. »Ich habe sie gesehen«, sagte er. »Ich konnte beobachten, wie der Schatten sich näherte, konnte fühlen, dass Melanie sein Ziel war.« Felix spürte erneut die Unruhe in sich aufsteigen und er musste sich räuspern. »In diesem Augenblick habe ich gedacht, ich verliere sie«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich dachte, ich verliere die einzige Person, die mir noch geblieben ist.«

»Das tut mir leid«, flüsterte Leonie und Felix glaubte, ein leichtes Glänzen in ihren Augen wahrzunehmen.

»Ich weiß nicht wie, aber auf irgendeine Weise konnte ich den Schatten von ihr abbringen. Ich konnte ihn beeinflussen, mich dem Willen und der Manipulation der Organisation widersetzen.«

Mit weit geöffneten Augen sah Leonie ihn an. »Das ist gar nicht gut, Felix!«

»Nicht gut? Spinnst du? Das hat Mellis Leben gerettet.«

»Sorry, so war das nicht gemeint, Felix. Aber denk doch mal nach. Wenn sie nicht mehr sicher sein können, dass die richtige Person ums Leben kommt, wirst du zum unkalkulierbaren Risiko.« Leonie wirkte plötzlich nervöser als zuvor, in ihrem Kopf schien es zu rattern.

Felix setzte ein neckisches Lächeln auf. »Glaubst du etwa nicht mehr, dass sie harmlos sind und nur Gutes tun wollen?«

»Doch, natürlich«, erwiderte Leonie, ohne zu zögern, stockte dann jedoch. »Also, ich …« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ich weiß es nicht, Felix«, gab sie schließlich zu. »Was du erzählst, passt nicht zu dem, was ich in den letzten Jahren miterlebt habe, aber ich glaube auch nicht, dass du dir so etwas ausdenkst.« Sie seufzte tief. »Es ist alles einfach so … verwirrend.«

»Wenn du das schon verwirrend findest, was soll ich dann erst sagen?« Felix zog die Augenbrauen hoch. »Mein ganzes verdammtes Scheißleben wurde in den letzten Tagen gleich mehrmals auf den Kopf gestellt. Verflucht noch mal, ich rede hier gerade mit meiner toten Frau!«

»Ich bin nicht …«, wollte Leonie einwenden, doch Felix winkte ab.

»Ja, ja, schon gut. Du weißt genau, was ich meine. Hast du ein Handy?«

Der abrupte Themenwechsel brachte Leonie vollends aus dem Konzept. »Ich … ja, sicher … wieso …?«

»Ich muss Melli anrufen und ihr sagen, wo ich bin. Sie sucht ganz sicher nach mir und ist mit so einem Typen unterwegs.«

»Einem Typen?«

»Ja, was weiß ich. Ist auch nicht wichtig.« Er hielt Leonie die Hand entgegen. »Und? Was ist nun?«

Zögerlich griff sie in ihre Hosentasche und reichte ihm das Smartphone. »Mach bitte keine Dummheit, okay?«

Felix wählte Melanies Nummer, erreichte aber nur die Mailbox. »Mist«, murmelte er und gab Leonie das Smartphone zurück. »Mailbox.«

»Vielleicht hat sie das Handy ausgeschaltet«, versuchte Leonie, ihm eine Erklärung zu liefern. »Oder der Akku ist leer.«

»Sähe ihr ähnlich«, gab Felix zu und schmunzelte. Inzwischen hatte sich seine Wut etwas gelegt. Für einige Sekunden gingen beide schweigend nebeneinander her. »Wie hast du mich eigentlich gefunden?«, fragte Felix in die Stille hinein.

»Zuerst war ich geschockt«, antwortete Leonie und sah nachdenklich zu Boden. »Es war … seltsam, dich so plötzlich wiederzusehen, noch dazu dort.« Sie schien kurz nachzudenken. »Du warst verschwunden, bevor ich es richtig realisiert hatte, und dann brach die Hölle los, sozusagen.«

»Hab ich gemerkt«, sagte Felix grimmig und rümpfte die Nase. »Deine tollen Freunde haben auf mich geschossen.«

»Ich weiß und das tut mir leid. Da ist die Security wohl etwas zu weit gegangen. Ich glaube nicht, dass der Boss das angeordnet hat.«

Felix schüttelte ungläubig den Kopf, sagte jedoch nichts. Leonie war offenbar immer noch davon überzeugt, dass die Menschen, die hinter all den Morden steckten, nicht wirklich bösartig waren, und er hatte keine Lust, schon wieder zu streiten.

»Ich musste wissen, warum du dort warst«, fuhr Leonie fort. »Natürlich hätte ich Armando fragen können.« Sie zögerte etwas. »Aber wenn ich ehrlich bin, wollte ich dich sehen und das hätte er nicht erlaubt. Er sollte nicht wissen, dass ich dir begegnet bin. Ich musste mit dir sprechen, dir endlich ein paar Dinge erklären. Also habe ich mich rausgeschlichen und bin die ganze Nacht durch die Gegend gefahren, um dich zu suchen.« Leonie gähnte, als wäre ihrem Körper gerade wieder eingefallen, dass er in der vergangenen Nacht keinen Schlaf bekommen hatte. »Als ich heute Morgen beim Anwesen der Organisation ankam, sah ich Alessia, wie sie auf ihr Motorrad stieg. Es war nur ein Bauchgefühl, dass ich ihr gefolgt bin. Ich dachte, sie hätte den gleichen Auftrag wie das ganze übrige Team: dich zu suchen. Sie ist … sie war Francos bester Spürhund.«

Felix sah sie fragend an.

»Entschuldige. Franco Baresi, Armandos Vater, Chef der Organisation hier in Italien. Auf jeden Fall bin ich ihr gefolgt, so unauffällig es ging, und habe euer Treffen beobachtet. Es war sehr … na ja, verwirrend für mich. Wieso hat sie dich befreit und dann …«

»Danke, du musst es nicht genauer ausführen«, unterbrach Felix sie. Er wollte die Erfahrung, lebend – oder eher sterbend – begraben zu werden, schnellstmöglich vergessen.

Inzwischen hatten sie Leonies kleinen roten Fiat erreicht, der etwas versteckt am Waldrand parkte. Wie zur Begrüßung leuchteten die Blinker zweimal auf.

»Sie hatte etwas gegen Freaks wie uns«, fuhr Felix fort. »Vermutlich, weil ihr Vater von einem Schattenträger, oder wie sie es nannte, getötet wurde. Sie hält uns für gemeingefährlich.« Er zuckte mit den Schultern. »Und im Grunde hat sie damit vollkommen recht.«

Leonie stieß einen Pfiff durch die Zähne aus. »Das erklärt einiges«, sagte sie nachdenklich. »In den letzten Jahren sind zwei unserer Mitarbeiter spurlos verschwunden – beide waren Träger wie wir. Es konnte nie geklärt werden, was geschehen ist. Ich habe mich oft gefragt, warum Alessia mir gegenüber so abweisend und kalt war. Sie muss gewusst haben, dass ich dieselbe Gabe besitze.«

»Gabe …«, schnaubte Felix.

»Nenn es, wie du willst. Auf jeden Fall würde es passen. Niemand käme auf die Idee, Alessia zu verdächtigen. Sie gehörte schon viele Jahre zu uns.«

»Dann war sie geduldiger als ich«, murrte Felix. »Ich hätte deinem Boss längst den Hals umgedreht, wenn ich nur eine Minute mit ihm allein gewesen wäre.«

»Hättest du nicht.« Leonie lächelte ihn an. »So bist du nicht.«

»Du hast keine Ahnung, wie ich bin, Leonie«, erwiderte er hart. »Längst nicht mehr.« Felix sah deutlich, dass seine Worte sie schmerzten, und obwohl er sie für all das hassen wollte, was sie ihm angetan hatte, konnte er es nicht. Ihr trauriger Blick, der ihm jedes Mal das Herz zerriss, der Tränenschimmer in ihren grünen Augen, der ihn einen Kloß im Hals spüren ließ …

»Hör zu, Felix.« Leonie schluckte. »Ich muss wieder zurück, bevor jemand misstrauisch wird und mir später unbequeme Fragen stellt.«

Felix nickte langsam, ohne ihr richtig zuzuhören. »Fahr mich hin.«

»Wohin?«

»Das weißt du genau, Leonie. Wer sollte mir sonst helfen, wenn nicht du?«

»Felix …« Leonie räusperte sich. In ihrer Stimme schwang aufrichtige Sorge mit. »Ich bitte dich inständig: Verschwinde von hier. Lauf so weit weg, wie es irgendwie geht. Bau dir ein neues Leben auf.«

»Das kann ich nicht und das weißt du auch.« Felix legte Leonie die Hände auf die Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Du musst mir helfen, das schuldest du mir.«

»Nein, Felix. Du rennst in dein Unglück.« Eine Träne schimmerte in ihrem Augenwinkel und lief dann die Wange hinunter. »Bitte! Ich flehe dich an: Zwing mich nicht dazu.«

»Es geht nicht anders.« Felix öffnete die Tür und schwang sich auf den Beifahrersitz. »Los, steig schon ein!«