ACHT
Mit aller Kraft wehrte sich Felix dagegen, auf dem Metalltisch fixiert zu werden. Ohne Erfolg. Die kräftigen Männer drückten ihn mühelos auf den kalten Untergrund, sodass die Ärztin die Lederriemen um seine Hand- und Fußgelenke schnallen konnte.
»Halten Sie still«, mahnte die Frau, während sie den Infusionsbeutel an einer Halterung befestigte. »Sie verletzen sich nur.«
Felix merkte schnell, dass seine kopflosen Befreiungsversuche nicht die geringste Chance auf Erfolg hatten. Kraftlos ließ er sich auf den Metalltisch sinken. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was hatte dieser Kerl mit seinem Besuch bezweckt? Weshalb hatte er Felix diese Lügen über Melanie erzählt? Sie würde ihn nicht vergessen. Sie würde nach ihm suchen. Immer.
Felix erinnerte sich daran, was Armando gesagt hatte: »Sie empfinden etwas für diese Frau … Nur so ergibt es Sinn.« Diese miese Ratte! Er musste glauben, dass Felix’ Gefühle für Melanie verhindert hatten, dass sie umkam, und wollte sein Vertrauen in sie untergraben. Ergab das wirklich einen Sinn? Waren seine Gefühle für sie stark genug, um sie vor dem Schatten zu schützen?
Er spürte das kalte Desinfektionsspray, spürte den Stich der Nadel und die kühle Flüssigkeit, die sich unaufhaltsam den Weg in seinen Körper bahnte. Als das Licht erlosch und Melanies Fotos in schneller Abfolge auf den Monitoren erschienen, hatte er nur einen Gedanken. Ich lasse nicht zu, dass sie dich töten, Melli!
Felix war so gebannt, dass er erst nach einigen Minuten bemerkte, dass etwas anders war als sonst. Er spürte Angst, doch die unnatürliche Panik, die ihn auf seinem Weg in den Tod immer begleitete, blieb aus. Er konnte klar denken, nahm seine Umgebung klar und deutlich wahr. In dieser Sekunde wurde es stockdunkel. Alle Monitore schalteten sich gleichzeitig ab, selbst das monotone Piepen und leise Surren der medizinischen Geräte verstummte. Es ist so weit!, durchfuhr es Felix. Sie hatte ihr Versprechen nicht gebrochen.
Im Dunkeln stöhnte die Ärztin, die ihn betreute, kurz auf und fiel mit leisem Poltern zu Boden. Felix spürte eine Hand an seinem Unterarm, die sich an der Fessel zu schaffen machte, wenige Augenblicke später war der linke Arm frei. Eine Welle der Hoffnung durchflutete Felix. Ungeduldig wartete er, bis seine Retterin ihn auch der übrigen Fesseln entledigt hatte.
»Sie haben höchstens drei Minuten, bis der Strom wieder da ist«, raunte sie ihm zu und drückte ihm eine Taschenlampe in die Hand. »Laufen Sie! Und denken Sie an unseren Treffpunkt.«
Felix zögerte nicht. »Danke!«, flüsterte er, zog in aller Eile seine Kleidung an, die auf einem Stuhl an der Wand lag, und rannte los. Auf den ersten Metern rief er sich die Beschreibung des Fluchtweges ins Gedächtnis: durch den Korridor, vorbei an seinem ›Gästezimmer‹, um die Ecke und über die Treppe ein Stockwerk nach oben ins Erdgeschoss. Keuchend blieb Felix am oberen Treppenabsatz stehen. Verdammt! Rechts oder links? Er hörte auf sein Bauchgefühl und betrat den Raum zu seiner Linken, bog erneut links ab und durchquerte einen weiteren Raum. Nun kam der gefährlichste Teil. Wenn er sich recht erinnerte, sollte ihn der zentrale Flur hinter dieser Tür direkt zur Bibliothek führen, von dort gelangte man durch ein ungenutztes Zimmer zum Nebenausgang des riesigen Gebäudes. Da der Flur direkt an das Foyer grenzte, war Felix die nächsten zwanzig Meter auf dem Präsentierteller, nur geschützt durch die Dunkelheit. Er musste die Taschenlampe ausschalten. Die Gefahr, gesehen zu werden, war einfach zu hoch.
Felix atmete ein paar Mal tief durch und öffnete die Tür. So schnell es im Dunkel möglich war, tastete er sich an der Wand entlang. Zu seiner Linken vernahm er Stimmen, die näher kamen, und beschleunigte seinen Gang. Noch war niemand auf der Suche nach ihm, wahrscheinlich vermutete jeder hier einen normalen Stromausfall. Doch das würde nicht lange so bleiben.
Plötzlich ging das Licht an. Die Helligkeit traf Felix völlig unerwartet. Scheiße, das ist zu früh! Er spurtete hinter einen Marmorpfeiler, der ihn vor möglichen Blicken aus dem Foyer zumindest etwas abschirmte. Hektisch sah er sich um. Bis zur rettenden Tür war es nicht mehr weit, doch falls er den falschen Moment erwischte, konnte er noch so schnell sein – die Flucht wäre zu Ende, bevor er es aus dem Gebäude geschafft hätte.
Felix schloss die Augen und konzentrierte sich auf die wenigen Schritte, die er zurücklegen musste. Als er keine Stimmen mehr hörte, spähte er vorsichtig hinter der Säule hervor. Das Foyer war leer. Jetzt oder nie! Felix lief los. Im selben Moment öffnete sich direkt vor ihm eine Tür und er blickte in die vor Überraschung geweiteten Augen einer jungen Frau mit glatten rotblonden Haaren.
Unmöglich! Felix taumelte rückwärts. Gewaltsam riss er sich von ihrem Anblick los, stolperte durch die Tür zur Bibliothek und knallte sie hinter sich zu. Die Frau rief ihm etwas nach, doch er hörte nicht hin. Die Drogen, mit denen sie ihn in den vergangenen Tagen vollgepumpt hatten, zeigten offenbar immer noch ihre Wirkung. Nun musste er nicht nur in seinen Träumen Menschen beim Sterben zusehen, sondern begann auch noch zu halluzinieren.
Lauf weiter, Felix!, forderte er sich auf. Er durfte sich keine Pause gönnen, spätestens jetzt war jemand auf ihn aufmerksam geworden und damit war es nur eine Frage von Minuten oder gar Sekunden, bis sie ihn verfolgten. Erst musste er die Wiese hinter dem Anwesen überquert haben, dann hätte er eine Chance. Die dünne Sichel des Mondes spendete kaum Licht, es könnte gelingen, im Dunkel des Wäldchens unterzutauchen. Wenn er es erreichte …
Obwohl er mit einer Geschwindigkeit rannte, die er sich selbst nicht zugetraut hatte, schien die dunkle Silhouette des Waldes unerreichbar. In der Beschreibung der Frau hatte alles viel näher geklungen, nicht mehr als einen fünfminütigen Fußmarsch entfernt, doch jetzt lief er schon seit einer gefühlten Ewigkeit mit brennender Lunge über den kurz geschorenen Rasen.
Ein Knall hallte durch die Nachtluft. Sie schießen auf mich! Instinktiv ging Felix in einen unregelmäßigen Zickzacklauf über. So kam er deutlich langsamer vorwärts, war jedoch ein schwierigeres Ziel.
Als er endlich den rettenden Waldrand erreicht hatte, stützte er sich schnaufend an einen Baumstamm. Diese Rennerei war er nicht gewohnt und er fühlte sich hundeelend. Aber er hatte es geschafft, war seiner persönlichen Hölle entkommen.
Langsam setzte sich Felix wieder in Bewegung. Bis zum vereinbarten Treffpunkt hatte er noch einen langen Fußmarsch zu bewältigen. Am Vormittag würde er die mysteriöse Frau treffen, die ihm zur Flucht verholfen hatte. Von ihr erhoffte er sich endlich Antworten auf die vielen Fragen, die in seinem Kopf kreisten.
* * *
»Wo sind wir?« Melanie gähnte herzhaft und sah aus dem Fenster. Als sie das letzte Mal die Augen geöffnet hatte, war die Dämmerung gerade hereingebrochen, inzwischen war es bereits so dunkel, dass von den wenigen entgegenkommenden Autos nur noch die Scheinwerfer zu erkennen waren.
»Hallo, Schlafmütze.« Tomáš sah lächelnd zu ihr herüber. »Wir haben vor ein paar Minuten die italienische Grenze passiert.« Er rieb sich mit einem Finger über die Augen. »Du hast die komplette Schweiz verschlafen.«
»Sieh es als Kompliment.« Melanie zwinkerte ihm zu. »Soll ich dich ablösen? Du siehst müde aus.«
Tomáš nickte. »War ein langer Tag.« Er zeigte auf ein Autobahnschild, das im Scheinwerferlicht auftauchte. »In drei Kilometern kommt ein Rastplatz, da können wir meinetwegen …«
Ein Ruck ging durchs Auto, gleichzeitig brach das Heck aus und Tomáš gelang es nur mit Mühe, den Wagen abzufangen.
»Was war das?«, kreischte Melanie und klammerte sich am Türgriff fest.
Tomáš sah in den Rückspiegel. »Irgendein Vollidiot ist uns hinten draufgefahren.« Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Sorgenfalte und er beschleunigte merklich.
»Tomáš!« Melanie zog ihren Gurt straffer und stemmte ihre Beine gegen den Fußraum. Im Seitenspiegel konnte sie deutlich die Frontlichter eines Fahrzeugs sehen, die sich zuerst ein Stück entfernten, dann wieder näher kamen. »Tomáš!«, schrie Melanie noch einmal.
»Ja, verdammt, ich sehe es!« Tomáš krampfte seine Hände ums Lenkrad und trat das Gaspedal durch. »Das kann kein Zufall sein«, murmelte er. »Wie zum Teufel …« Er stockte. »Hast du vorhin das Handy ausgeschaltet?«, fragte er, ohne Melanie anzusehen.
»Warum ich?« Ihre Stimme hatte einen panisch quietschenden Tonfall angenommen. »Du hast es doch nach dem Telefonat genommen.«
Tomáš knurrte etwas, wechselte bei vollem Tempo auf die linke Spur und gab einem vorausfahrenden Kleinwagen Lichthupe, um ihn dazu zu bringen, den Weg freizumachen. Mit der linken Hand griff er in die Türablage und zog das Mobiltelefon hervor. »Scheiße, es ist noch eingeschaltet«, stellte er nüchtern fest. »Sie müssen uns geortet haben. Entweder reicht ihr Einfluss weiter, als ich gedacht hätte, oder in diesem Mistding ist ein Peilsender versteckt.« Tomáš ließ die Scheibe herunter und schleuderte das Handy gegen die Mittelleitplanke.
»Was machen wir jetzt?« Melanie atmete hektisch. Ihr war nicht wohl dabei, in der Dunkelheit mit mehr als hundertachtzig Stundenkilometern über die Autobahn zu rasen. »Wir müssen die Polizei rufen!«
Tomáš lachte trocken. »Sehr witzig, Mel. Unser einziges Telefon liegt hinter uns auf der Straße.«
»Mensch, hättest du damit nicht warten können?«, fragte sie vorwurfsvoll.
»Das ist nicht hilfreich, Mel!«, blaffte er zurück. »Konntest du erkennen, was es für ein Auto war, das uns gerammt hat?«
»Natürlich, ich kann ja perfekt im Dunkeln sehen!«, schrie sie ihm entgegen.
Tomáš presste die Kiefer zusammen und krampfte seine Hände noch fester um das Lenkrad. Aber er schwieg.
Erneut ging ein Ruck durch das Fahrzeug. Melanie kreischte auf.
»Verdammt, Mel!«, herrschte Tomáš sie an. »Du machst mich ganz kirre!« Er sah in den Rückspiegel und beschleunigte wieder. Die Tachonadel verharrte zitternd unter dem ›190 km/h‹-Strich.
»Mel«, begann er nach einigen Sekunden, und seine Stimme klang entschlossen.
»Ja?«
»Halt dich irgendwo fest.«
»Was? Wieso?«
Tomáš hob die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln. »Das willst du nicht wissen.«
Melanie schluckte. Was hatte dieser Irre jetzt schon wieder vor? Sie klammerte sich mit der rechten Hand an den Haltegriff über der Tür und stemmte die Beine gegen den Fußraum, so fest sie konnte. Ihr Puls raste.
Tomáš Blick schweifte ständig zwischen der Fahrbahn und dem Rückspiegel hin und her, während sie mit unveränderter Geschwindigkeit über den Asphalt jagten. »Na kommt schon!«, murmelte er vor sich hin.
Melanie sah die Scheinwerfer des anderen Wagens näher kommen. Er wird schon wissen, was er tut … Ich muss anfangen, ihm zu vertrauen. Kann ich ihm vertrauen?
Sie passierten gerade die Ausfahrtspur ›Como Centro‹, als er im letzten Moment nach rechts ausscherte und hart abbremste. Der Wagen schlingerte gefährlich, Tomáš konnte ihn jedoch in der Spur halten und die Geschwindigkeit ausreichend verringern, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Mit quietschenden Reifen fuhren sie durch die scharfe Kurve, immer kurz davor, von der Fliehkraft in die Wiese getragen zu werden. Melanie drehte sich nach den Verfolgern um. Der Fahrer des dunklen SUV hatte nicht rechtzeitig reagieren können und war erst ein Stück nach der Ausfahrt zum Stehen gekommen. Nun legte er den Rückwärtsgang ein und setzte zurück.
Tomáš lenkte seinen Wagen auf die Landstraße nach Como. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr er in die Ortschaft, ignorierte dabei eine rote Ampel und überfuhr beinahe eine Katze, die sich im letzten Moment von der Straße rettete. »Sind sie noch hinter uns?«
Tomáš hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen, das ihm Melanie am liebsten mit einer Ohrfeige aus dem Gesicht geschlagen hätte. Die halsbrecherische Fahrt machte ihm offenbar mehr Spaß, als sie es ihrer Meinung nach sollte. Sie drehte sich um und warf einen Blick durch die Heckscheibe. »Nichts zu sehen.«
»Dann sollten wir von der Hauptstraße runter.« Tomáš riss das Lenkrad herum und bog in eine Parallelstraße ein, die sichtgeschützt auf eine Anhöhe führte.
»Au! Warn mich doch vor!« Melanie rieb sich den Kopf. Bei diesem Fahrstil würde sie sich noch das Genick brechen.
Tomáš grinste breit. »Hab ich doch!« Er schaltete das Navigationsgerät auf Kartenansicht und bog nach einem prüfenden Blick auf ihre aktuelle Position nach links in ein Wohngebiet ab.
»Wo willst du hin?«, erkundigte sich Melanie irritiert. Die Straße wurde enger, rechts von ihnen ragte eine Mauer gut zwei Meter in die Höhe. Wenn die Verfolger sie hierher hatten fahren sehen und ihnen den Weg abschnitten, gab es kein Entkommen mehr.
Tomáš zeigte wortlos mit dem Finger auf das Navigationsdisplay.
»In den Wald?«
Er nickte. »Glaubst du, dass sie uns da suchen?«
Melanie zuckte mit den Schultern, schüttelte dann zögernd den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«
»Eben. Wir brauchen Zeit, um uns etwas zu überlegen, also müssen wir uns für ein paar Stunden irgendwo verstecken. Etwas Schlaf dürfte uns auch ganz gut tun.« Tomáš bog nach rechts in einen äußerst schmalen gepflasterten Weg ein. Im Schritttempo fuhren sie weiter in Richtung Wald. Der gepflasterte Weg war inzwischen einem erdigen Untergrund gewichen, der bei starkem Regen für Autos kaum passierbar sein dürfte.
Nach ein paar Hundert Metern hatte Tomáš eine passende Stelle gefunden, bremste ab und fuhr den Wagen rückwärts zwischen die Bäume. »Da wären wir.« Er zog die Handbremse an und schaltete den Motor ab.
Melanie nickte seufzend. »So habe ich mir das ›da‹ eigentlich nicht vorgestellt.«
* * *
Am nächsten Morgen
Felix hatte sich auf einem großen Stein neben dem Eingang niedergelassen, genoss die ersten wärmenden Strahlen der Sonne und wartete auf die geheimnisvolle Frau. Auch wenn der Friedhof jetzt, kurz nach Sonnenaufgang, deutlich freundlicher wirkte als bei seiner Ankunft in der Nacht, fühlte sich Felix hier unwohl. Warum hatte sie ausgerechnet diesen Ort als Treffpunkt ausgesucht? Es war wie eine makabere Anspielung auf seine besondere ›Fähigkeit‹.
Die vergangene Nacht war kurz gewesen, viel zu kurz, um erholsam zu sein. Erst nach Mitternacht hatte Felix den vereinbarten Treffpunkt am Friedhof erreicht. In der Dunkelheit war es ihm schwergefallen, das Areal zu betreten; dort einen Schlafplatz zu suchen, hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen. Notgedrungen war er zurück zum Wald gegangen und hatte sich im Schutz der Bäume ein wenig Schlaf gegönnt. Es war ein unruhiger Schlaf gewesen, ständig unterbrochen von Geräuschen im Unterholz, die Felix aufgeschreckt und in Alarmbereitschaft versetzt hatten.
In einiger Entfernung entdeckte Felix ein Motorrad, das sich schnell näherte, und ging vorsichtshalber hinter einem der Eingangspfeiler in Deckung.
In einer Staubwolke kam die pechschwarze Maschine zum Stehen und die Fahrerin schwang sich vom Sitz. Sie trug eine hautenge Lederkluft, die farblich auf das Motorrad abgestimmt war, genau wie ihre Handschuhe, Lederstiefel und der matt lackierte, mit verdunkeltem Visier versehene Helm. Alles eignete sich perfekt, um in der Dunkelheit nahezu unsichtbar zu sein. Mit einer fließenden Bewegung nahm die Frau in Schwarz ihren Helm ab und hängte ihn an die Lenkstange. Zum Vorschein kam ein sonnengebräuntes Gesicht mit wachen dunklen Augen und kantigen Zügen. Die kurz geschnittenen blonden Haare, die zum Ansatz hin dunkler wurden, unterstrichen ihr sportliches Auftreten.
Felix wagte sich aus der Deckung und ging auf sie zu. »Hallo«, sagte er zögerlich und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Felix Riebig.«
Die Frau zog den rechten Handschuh aus und begrüßte ihn. »Buongiorno Felix. Padovesi mein Name, aber du darfst mich gern Alessia nennen.«
Ihr Händedruck war so kräftig, dass Felix hinterher heimlich den Arm ausschüttelte, um das Schraubstockgefühl loszuwerden.
»Gehen wir ein Stück.« Alessia legte ihre Hand auf seinen Rücken und führte ihn mit sanftem Druck in Richtung Friedhof. »Du hast sicher einige Fragen.«
Felix zögerte, denn er hatte Angst, dass er die Antwort nicht hören wollte. »Was stimmt nicht mit mir?«, fragte er schließlich leise und sah sich um, als könnte sie jemand belauschen.
»Du bist etwas, das wir ›Schattenträger‹ nennen. Es ist eine Art genetischer Defekt, soweit ich weiß. Äußerst selten. Nur eines von zehn Millionen Kindern, die geboren werden, trägt genau diese Mutation in sich.«
»Nicht besonders viele«, stellte Felix überflüssigerweise fest.
»Genauer gesagt sind es etwa fünfzehn Kinder weltweit pro Jahr. Wenn man bedenkt, dass nur ein Bruchteil davon in Europa geboren wird … Es kommt unter normalen Umständen vielleicht alle zwei oder drei Jahre vor. In der Regel ist in diesen Fällen auch mindestens eines der Elternteile ein Träger der Mutation.«
Felix sah sie überrascht an. »Heißt das, meine Mutter oder mein Vater war wie ich? Das ist nicht möglich. Sie sind beide bei einem Autounfall gestorben, als ich klein war.«
Alessia zuckte nur mit den Schultern und ging nicht weiter auf seine Feststellung ein. »Du kannst dir sicher vorstellen, dass die Organisation – oder der ›Umbra Dei‹, wie einige sagen, auch wenn es kein Geheimorden ist – vieles daran setzt, Träger zu finden. Die Organisation lebt von Geldern, die aus aller Welt gezahlt werden, um politische oder persönliche Gegner zuverlässig und diskret aus dem Weg zu schaffen.«
»Auftragskiller«, stieß Felix aus.
Alessia nickte. »Die effektivsten. Kaum aufzuhalten.«
Das brachte Felix zu seiner nächsten Frage: »Kann ich wirklich nicht sterben?«
Sie sah ihn mit einem Blick an, den er nicht deuten konnte. »Technisch gesehen stirbst du jedes Mal«, antwortete sie. »Wie genau es funktioniert, weiß ich nicht. Ich bin keine Medizinerin, aber es hat etwas mit dem Schatten zu tun.« Alessia blieb stehen und drehte sich so, dass sie mit dem Rücken zur Sonne stand. »Siehst du?«, fragte sie.
»Nein, ich sehe nichts«, antwortete er. Felix hatte keine Ahnung, was sie ihm zeigen wollte.
»Schau dir die Schatten genauer an.«
Er sah zu Boden, betrachtete ihren Schatten, dann seinen, dann wieder ihren. »Ich weiß nicht …« In diesem Moment sah er es: Sein eigener Schatten war etwas intensiver als ihrer. Er schien an den Rändern kaum merklich zu flirren. Wenn man nicht darauf achtete, sah man den Unterschied nicht, doch jetzt, da er es wusste, war es offensichtlich. »Heilige Scheiße!«
»Ein wenig gruselig, das gebe ich zu«, pflichtete ihm Alessia bei und setzte sich wieder in Bewegung.
Felix beeilte sich, Schritt zu halten. »Das heißt, du bist keine von uns?«
»Wenn du es so ausdrücken möchtest, nein.« Alessia schien froh darüber zu sein, nicht zu den Trägern zu gehören. »Und um auf deine Frage von eben zurückzukommen: Du bist keineswegs unsterblich.«
Felix fühlte sich seltsam dabei, über dieses Thema zu sprechen, während sie zwischen den Reihen von Grabsteinen entlangschlenderten, und doch war er neugierig. »Wie tötet man jemanden wie mich, ohne dass er wieder zum Leben erwacht?«
Ein leises Lächeln huschte über Alessias Gesicht. »Da gibt es viele Möglichkeiten. Die zuverlässigste von ihnen ist verbrennen, möglichst heiß, aber es wurden auch schon Träger auf dem Grund von Seen oder Meeren versenkt.«
Felix erschauderte. »Grausame Vorstellung«, murmelte er.
»Die übrigen Alternativen sind nicht viel besser. Es gibt Jahrhunderte alte Aufzeichnungen über Versuche, Träger zu töten. Ich habe nur einige von ihnen gelesen und werde dich mit den Details verschonen, kann dir aber garantieren, dass der Einfallsreichtum dieser ›Wissenschaftler‹ keine Grenzen kannte.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Die meisten der Probanden wollten früher oder später sterben. Wenn sich ein Träger unter Kontrolle hat, wenn er sich mit aller Kraft wünscht zu sterben, dann kann er den Schatten gewissermaßen zurückhalten und der Träger stirbt endgültig. Generationen haben versucht, das Geheimnis der Schatten zu entschlüsseln, doch trotz aller medizinischen Fortschritte konnte bis heute glücklicherweise niemand die genetische Mutation künstlich herbeiführen.«
»Dann hoffen wir mal, dass es dabei bleibt«, sagte Felix nachdenklich. Er wollte sich nicht vorstellen, was geschah, wenn das jemandem wie dieser Organisation gelang. »Wie geht es jetzt eigentlich weiter? Wie kannst du mir helfen, hier zu verschwinden?«
Alessias Blick wurde ernst. »Gar nicht«, sagte sie und schüttelte zaghaft den Kopf. »Sie suchen nach dir und würden dich überall finden. Du bist zu wertvoll, zu selten.«
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Felix mit bebender Stimme. Die Aussicht auf ein Leben auf der Flucht war beängstigend.
Alessia drehte sich zu ihm und sah ihm in die Augen. In ihrem Blick glaubte er, ehrliches Bedauern zu erkennen. »Es tut mir leid, Felix.« Sie legte ihren rechten Arm um seinen Körper.
Im nächsten Moment spürte Felix einen brennenden Schmerz unterhalb der Rippen. Er wich einen Schritt zurück und sah an sich herunter. An der rechten Seite ragte der Griff eines Messers aus seinem Bauch. »Alessia …?«, stammelte er ungläubig.
Sie war mit einem schnellen Schritt bei ihm und drehte ihm die Arme auf den Rücken, machte ihn so handlungsunfähig. »Es tut mir leid, aber es gibt noch eine Möglichkeit, die ich dir verschwiegen habe«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Der Schatten kann sich nicht durch feste Materie bewegen und er kann sich nicht lösen, solange du lebst und bei Bewusstsein bist.«
Felix spürte, wie das Blut aus der Wunde sickerte und seine Beine zu zittern begannen. »Warum …?«, keuchte er. »Warum rettest du mich, um dann …«
Alessia bewegte ihren Mund ganz nah an sein Ohr. »Mein Vater wurde von einem Schattenträger ermordet. Ihr seid zu gefährlich – du bist zu gefährlich. Sie dürfen dich nicht wiederbekommen. Niemand darf das.« Mit diesen Worten drehte sie ihn zu sich, sodass er ihre feuchten Augen sehen konnte. »Verzeih mir.« Sie gab Felix einen Stoß.
Er taumelte rückwärts, versuchte, sich mit einem Schritt abzufangen, doch sein Fuß trat ins Leere und Felix fiel. Hart schlug er mit dem Rücken auf. Der Schmerz verdrängte für einen Atemzug das Brennen der Stichwunde.
Erst als die erste Schaufel Erde auf ihn niederprasselte, erkannte Felix, wo er lag. »Alessia!«, schrie er, doch die nächsten Brocken trafen sein Gesicht, er musste den Kopf zur Seite drehen, um Luft zu bekommen. Felix hielt die Hand schützend vor seinen Mund, sein Herzschlag beschleunigte sich zu einem panischen Stakkato. »Alessia, bitte!«, flehte er noch einmal. Seine Rufe verhallten unbeachtet. Felix versuchte, sich aufzurichten, doch die Schmerzen wurden bei jeder Bewegung unerträglicher. Obwohl er wusste, dass es ein Fehler war, griff er nach dem Messer und zog es mit einem Ruck aus der Wunde. Es dauerte nicht lange, bis ihm schwindelig wurde und die Schmerzen nachließen. Schließlich verlor er das Bewusstsein. Dunkelheit.