SECHS
Freitag, 5. April, Gegenwart
Melanie lag eng an Tomáš geschmiegt und strich mit der Hand zärtlich über seinen nackten Oberkörper. »Ich weiß eigentlich gar nichts von dir«, sagte sie nachdenklich.
Tomáš drehte sich auf die Seite und sah ihr direkt in die Augen. »Dann frag mich doch einfach, was du wissen möchtest.«
»Und du antwortest mir ehrlich?«, fragte sie zweifelnd und hob eine Augenbraue.
»Wir werden sehen.« Er lächelte. »Versuch es.«
Melanie stützte sich auf den Ellenbogen und atmete tief ein. »In Ordnung. Dann fangen wir mit etwas Einfachem an: Wie heißt du?«
»Tomáš Hálek.«
»Polnisch?«
»Tschechisch.«
»Du hast gar keinen richtigen Akzent.«
Tomáš lachte. »Ich bin zwar dort geboren, habe aber den größten Teil meines Lebens in Deutschland verbracht.«
»Mhm.« Melanie nickte und überlegte kurz. »Geschwister?«
»Nein.«
Obwohl Tomáš entschieden den Kopf schüttelte, war ihr die kurze Veränderung seiner Mimik nicht entgangen. Also hakte sie nach: »Hast du sonst Familie?«
»Ja«, seufzte er. »Meine Eltern leben immer noch in Tschechien.« Es klang nicht wehmütig, eher als wollte er das Thema nicht weiter vertiefen. Nach einigen Sekunden fuhr er aber dennoch von sich aus fort: »Ich habe sie schon seit Jahren nicht gesehen. Sagen wir einfach, das Verhältnis war … ist verflucht schwierig. Sie sind nie damit klargekommen, wie ich bin. Was ich bin.« Er lachte freudlos. »Sie denken heute noch, ich sei vom Teufel besessen.«
»Das heißt, sie wissen, dass du …« Melanie fand nicht die richtigen Worte, doch er wusste auch so, was sie fragen wollte.
»Das ist eine lange, eine wirklich lange Geschichte, aber kurz gesagt: Ja, sie wissen es, zumindest kennen sie einen Teil der Wahrheit. Wobei ich mich nicht wundern würde, wenn sie inzwischen denken, dass ich wirklich tot sei.«
Melanie sah ihn verständnislos an. »Das ist ja furchtbar.«
»Eigentlich nicht.« Tomáš drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. »Wahrscheinlich ist es sogar besser so«, sagte er abwesend. »Die Alternative wäre verdammt gefährlich für sie … und für mich.«
Melanie rang kurz mit sich, doch dann siegte ihre Neugier. »Warum wäre es denn so gefährlich, wenn du dich bei deinen Eltern meldest? Vermisst du sie gar nicht?«
Es wirkte, als hätte Tomáš in dieser Sekunde einen Schalter umgelegt. Er setzte ein fröhliches Lächeln auf, rollte sich zur Seite und begrub Melanie unter sich. »Lass uns nicht über so etwas reden. Ich habe eigentlich schon zu viel gesagt.« Er drückte ihr einen langen Kuss auf die Lippen. »Lust auf Abendessen? Ich hab Bock auf Burger mit Pommes, die ganze Tot-nicht-tot-Geschichte macht tierisch hungrig.« Bevor sie etwas einwenden konnte, hatte er sich aus dem Bett geschwungen, eine Hose übergezogen und war im Bad verschwunden.
Melanie war nicht sicher, was sie von dem plötzlichen Stimmungswechsel halten sollte. Spielte er ihr die Gelassenheit nur vor, oder war alles andere gespielt? Leise Zweifel regten sich, ob Tomáš wirklich ehrlich zu ihr war. Außerdem hatte sie sich noch nicht einmal zur wichtigsten Frage vorgetastet: Wer hatte auf sie geschossen? Und warum?
»Kommst du mit oder soll ich dir was vom Imbiss mitbringen?«, rief Tomáš ihr aus dem Bad zu.
Sofort machte sich die Unruhe in Melanie wieder bemerkbar. Sie wollte das Hotel keinesfalls verlassen, sie wollte nicht einmal aus dem Bett kriechen, solange draußen irgendein Irrer auf sie wartete. Tomáš hatte leicht reden. Er musste keine Angst haben zu sterben, daher nahm er die Situation nicht ernst genug. Ein klein wenig nahm sie ihm das übel – genau wie sie Felix noch immer seine idiotische Aktion mit dem Video übel nahm. Oh, Felix … Melanie schüttelte leicht den Kopf. Wo steckst du eigentlich?
»Melanie?« Tomáš zog sich gerade ein Sweatshirt über den Kopf, als er ins Schlafzimmer kam. »Bist du wieder eingeschlafen?« Er grinste.
»Was?« Sie schob ihre Gedanken beiseite und überlegte, was er gefragt hatte. Richtig, er wollte sie mit nach draußen nehmen, dorthin, wo sie wahrscheinlich keinen Tag überleben würde. »Auf keinen Fall!« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Du kannst nicht erwarten, dass ich einfach so wieder da raus gehe.« Melanie machte eine ängstliche Bewegung in Richtung Fenster, ihre Stimme wurde unsicherer. »Du bist ja vielleicht unsterblich, aber ich bin es nicht.«
Tomáš’ Lächeln erstarb, seine Augen verengten sich und an seinen Wangen konnte Melanie sehen, wie er die Kiefer aufeinanderpresste. »Du hast überhaupt keine Ahnung, wovon du da redest«, zischte er und warf ihr einen Blick zu, der sie erschauern ließ. Für einen Moment verschwand jegliche Freundlichkeit aus seinen Zügen, es wirkte fast bedrohlich, als er einen Schritt auf das Bett zu machte. Tomáš öffnete den Mund, als wollte er Melanie noch etwas an den Kopf werfen, schloss ihn dann jedoch wieder, atmete geräuschvoll durch die Nase aus und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Kurz darauf hörte Melanie die Tür des Hotelzimmers zuschlagen. Wütend schlug sie die Decke zurück und stieg aus dem Bett. »Dann verschwinde doch einfach!«, schrie sie ihm hinterher, wohl wissend, dass er sie längst nicht mehr hören konnte. So ein verdammter Idiot! Der hat doch ne Macke! Melanie wusste genau, dass sie ihm unrecht tat, doch in diesem Moment fühlte es sich gut an, den angestauten Ärger einfach rauszulassen.
Nachdem sie sich Unterwäsche und ein T-Shirt übergezogen hatte, setzte sie sich in den Wohnraum, um eine Tasse Morgenkaffee zu genießen. Zufällig fiel ihr Blick dabei auf eine Aktentasche, die neben dem Tisch an der Wand lehnte. Den kurzen Anflug von schlechtem Gewissen, der Melanie überkam, als sie nach der Tasche griff, wischte sie mit einem Gedanken zur Seite. Ich habe das Recht, die Wahrheit zu erfahren, und wenn er sie mir nicht sagen will, zwingt er mich dazu … Kurz entschlossen zog sie den Laptop aus der Hülle, stellte ihn auf den Tisch und klappte den Deckel auf. Mit leisem Summen startete der Lüfter und nach wenigen Sekunden erschien auch der Desktop auf dem Bildschirm.
Dann wollen wir mal sehen … Melanie begann, die Festplatte zu durchsuchen. Sie fand es seltsam, dass er den Computer nicht mit einem Passwort geschützt hatte, gerade so, als wollte er zeigen, dass er nichts zu verbergen hatte. Doch das machte sie erst recht neugierig. Dieser Mann hatte Geheimnisse und von ihrem Mentor auf der Journalistenschule hatte Melanie gelernt, dass der erste Anschein nur selten alles offenbarte.
Sie öffnete den Webbrowser, loggte sich in ihren Online-Speicher ein und lud ein Programm herunter, das ihr ein Mitstudent kopiert hatte und das angeblich von IT-Forensikern genutzt wurde. Der Einsatz war nicht ganz legal, schon gar nicht auf einem fremden Computer und mit gecrackter Lizenz, doch das war jetzt nebensächlich. Immerhin steht mein Leben auf dem Spiel – und Felix’ vielleicht auch. War er womöglich nicht freiwillig verschwunden und der Mordversuch hatte etwas damit zu tun?
Melanie sah einen Moment dem Fortschrittsbalken zu, der sich nur quälend langsam füllte, ging dann zur Tür und spähte durch einen Spalt in den leeren Flur. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihr blieb, bis Tomáš zurückkehren würde. Ständig lief sie zwischen Zimmertür und Computer hin und her, bis das Programm nach einigen Minuten endlich erste Ergebnisse lieferte. Auf einem versteckten Teil der Festplatte hatte Tomáš mehrere Verzeichnisse mit kryptischen Namen hinterlegt.
Mit gemischten Gefühlen öffnete Melanie einen Ordner mit der Bezeichnung ›KI1bz_X‹, der nur zwei Dateien enthielt: eine Textdatei und ein Video. Das erste Dokument enthielt lediglich die Zeichenfolge ›M2VWLL‹, mit der Melanie nichts anfangen konnte, also öffnete sie das Video. Kaum hatte sie die Wiedergabe gestartet, erschien eine schnelle Abfolge von Fotos auf dem Bildschirm. Die Frequenz war so hoch, dass Melanies Gehirn die einzelnen Bilder nicht erfassen konnte, und doch merkte sie nach wenigen Sekunden, dass sich die Sequenz ständig wiederholte.
Was soll das? Melanie hielt das Video an und betrachtete einige Einzelbilder genauer. Sie zeigten einen Mann mittleren Alters in verschiedenen Lebenssituationen. Teils wirkten die Aufnahmen wie aus Zeitungsberichten, teils wie aus privaten Fotoalben. Alle Gesichter der übrigen Personen auf den Fotos wirkten unscharf, die markanten Stellen, wie Augen und Mund, waren entfernt worden. Melanie wechselte zurück in die Übersicht, scrollte durch die Liste der Einträge und öffnete einen weiteren Ordner. Er enthielt ebenfalls nur zwei Dateien, dieses Mal hatte Tomáš im Textdokument die Zeichen ›VMSKV6J‹ hinterlegt und die Einzelbilder des Videos bestanden aus Fotos einer dunkelhaarigen Frau. Melanie startete die Wiedergabe und starrte konzentriert auf den Bildschirm, bis sie nach wenigen Sekunden Kopfschmerzen bekam und die Augen schließen musste. In Gedanken liefen die Bilder weiter.
»Was denkst du dir eigentlich?« Tomáš war, ohne dass es Melanie bemerkt hatte, zurückgekommen. Er stürmte zum Tisch und knallte den Deckel des Laptops zu. Drohend baute er sich vor Melanie auf und sah sie mit wütendem Blick an. »Wie kannst du es wagen?«
»Das sollte ich dich fragen!«, fauchte Melanie zurück. »Ich habe ein gutes Recht auf die Wahrheit, immerhin wurde ich fast wegen etwas umgebracht, bei dem du offensichtlich bis zum Hals mit drinsteckst!« Für einen kurzen Augenblick dachte sie, die richtigen Worte getroffen zu haben, denn Tomáš zuckte kaum merklich zurück. Doch sie hatte sich geirrt.
»Raus hier!«, forderte er mit eisiger Stimme und wies zur Tür.
»Wie bitte?« Melanie schluckte. »Das meinst du nicht ernst.«
Tomáš machte einen Schritt auf sie zu und beugte sich herunter, sodass sie ihm direkt in seine Augen sah. In diese tiefgrünen Augen, in denen keine Spur der Wärme und Leidenschaft vom Nachmittag mehr zu entdecken war. »Ich habe dir dein verfluchtes Leben gerettet und dich bei mir aufgenommen«, sagte er mit so leiser Stimme, dass sich Melanies Nackenhärchen zur Zimmerdecke reckten. »Und du schnüffelst zum Dank in meinen privatesten Sachen.« Er presste die Lippen aufeinander, als müsse er sich beherrschen, um ihr keine Schimpfwörter entgegenzuspeien. Gefasst, aber voller Kälte sprach er weiter: »Ich meine es todernst. Raus hier.«
Melanie schüttelte hektisch den Kopf. »Das kannst du nicht machen«, flüsterte sie. Ihre Atemzüge wurden flacher und hektischer. »Ich hab kaum was an und …« Ihr fielen keine passenden Worte ein, die Tomáš hätten besänftigen können. Krampfhaft versuchte sie, einen Ausweg – eine Ausrede zu finden, doch mit unaufhaltsamer Macht drängte sich ein Gefühl in ihr Bewusstsein, das jeden klaren Gedanken beiseite fegte: Todesangst. Wenn sie diesen Raum verließ, würde sie sterben. Eher früher als später.
Mit eisernem Griff packte Tomáš ihren Arm und zerrte sie durchs Zimmer. Melanie merkte nicht, dass sie längst begonnen hatte zu hyperventilieren. Ihre Gedanken waren nur noch ein wirres Konstrukt aus Bildfetzen und Geräuschen, ein Gemisch aus Erinnerungen und Eindrücken, deren einziger Zusammenhang eine tiefe Panik zu sein schien. Noch bevor Tomáš mit ihr die Zimmertür erreichte, wurde Melanie schwindelig. Sie entglitt seinem Griff und sackte ohnmächtig zu Boden.
* * *
Als Melanie wieder erwachte, saß sie im Flur vor dem Hotelzimmer und jemand beugte sich über sie.
»Hallo, junge Frau. Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Hubert, sie kommt wieder zu sich.« Die ältere Frau mit der altmodischen Hornbrille drehte sich zu ihrem Mann um, der auf einen Gehstock gestützt hinter ihr stand. »Hol doch schnell ein Glas Wasser aus unserem Zimmer, ja? Das arme Ding sieht ganz schön mitgenommen aus.«
»Danke.« Melanie räusperte sich. »Nicht nötig. Mir geht es gut.« Sie rappelte sich auf und stützte sich an der Wand ab, dabei versuchte sie, sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm es ihr war, nur in T-Shirt und Unterwäsche vor den beiden zu stehen. »Ich habe nur ein bisschen zu viel getrunken und mich ausgesperrt«, log sie.
»Sollen wir vielleicht jemanden für Sie rufen? Hubert, geh und sag doch bitte an der Rezeption Bescheid, dass ein Page hochkommen und dem Mädel die Tür aufschließen soll.«
Der Mann drehte sich bereits zum Gehen um, doch Melanie wiegelte schnell ab. »Das ist wirklich nicht nötig, ich komme zurecht. Vielen Dank.« Sie lächelte und nickte bekräftigend, als sie den skeptischen Blick bemerkte.
Die alte Dame zögerte etwas. »Na, wenn Sie meinen, Kindchen«, sagte sie schließlich und wiegte den Kopf hin und her. »Aber dass Sie sich keine Erkältung holen, so wie Sie angezogen sind. Komm, Hubert, wir gehen essen.« Sie hakte sich bei ihrem Mann unter und verschwand kurz darauf mit ihm im Fahrstuhl.
Melanie blieb einsam auf dem Flur zurück. Der Mistkerl hat mich tatsächlich einfach so rausgeworfen. In Unterwäsche! Das kann der doch nicht machen! Sie hatte immer noch panische Angst und dachte nicht eine Sekunde daran, das Hotel ganz allein zu verlassen. Stattdessen ging sie zielstrebig zur Tür von Tomáš’ Hotelzimmer. Melanie benötigte mehrere Anläufe, bis sie sich endlich traute zu klopfen, zuerst zögerlich, dann kräftiger und schließlich trommelte sie mit der Faust gegen das Holz. »Mach auf, Tomáš!«, schrie sie. »Ich gehe hier nicht weg, bis du mich wieder reinlässt!« Es tat gut, die Wut herauszulassen, den Schmerz in der Hand zu spüren. Natürlich hatte sie nicht das Recht gehabt, in seinen Dateien zu stöbern, aber jetzt wusste sie, dass ihr Gefühl sie nicht getrügt hatte. Er verheimlichte ihr etwas und dazu hatte er genauso wenig das Recht.
»Mach endlich die Tür auf!« Nach einer kurzen Verschnaufpause trommelte Melanie weiter gegen die Tür. »Auf-ma-chen!«
Ein paar Meter weiter streckte ein Mann seinen Kopf aus seinem Zimmer. »Würden Sie bitte etwas leiser sein?«, fragte er freundlich und rückte seine Brille zurecht.
»Ach halten Sie doch die Klappe!«, fuhr ihn Melanie harsch an. »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Scheiß!«
»Also, das ist ja …«, empörte er sich, doch Melanie hatte sich bereits wieder abgewendet und malträtierte Tomáš’ Zimmertür mit ein paar kräftigen Tritten, die ihren Füßen mehr wehtaten, als dass sie etwas ausrichteten.
Auf einmal hörte sie hinter sich ein leises Lachen.
»Du bist echt nicht ganz dicht im Oberstübchen, oder?« Tomáš lehnte lässig an der Wand und biss genussvoll in einen Döner, den er in der Hand hielt. »Da muss irgendwas gehörig falsch gepolt sein«, sagte er schmatzend und grinste spitzbübisch. »Aber Ausdauer hast du, das muss man dir lassen. Ich hätte zumindest kein Geld darauf gesetzt, dass die Tür überlebt.«
Melanie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, und wäre am liebsten auf der Stelle im Boden versunken, um sich dem peinlichen Moment zu entziehen.
In aller Seelenruhe steckte sich Tomáš das letzte Stück Döner in den Mund und leckte einen seiner öligen Finger nach dem anderen ab. Schließlich kramte er mit der linken Hand umständlich die Schlüsselkarte aus der rechten Hosentasche, schlenderte zur Tür und öffnete. »Na, komm schon rein«, forderte er Melanie auf. »Du wolltest doch rein oder nicht?«
Sein selbstgefälliges, geradezu spöttisches Grinsen machte sie rasend. Wie konnte er so ein Arschloch sein? Gerade als sie ihm nach kurzem Zögern folgen wollte, stellte er sich in den Türrahmen und versperrte ihr so den Weg. Mit ernster Miene fixierte er ihre Augen. »Aber damit das klar ist: Wag es noch einmal, mein Vertrauen zu missbrauchen, und ich bringe dich höchstpersönlich um.«
Sein Mundwinkel zuckte, doch Melanie spürte deutlich, dass diese Drohung keineswegs ein Scherz war. Mit gesenktem Kopf schlich sie ins Zimmer. Auf wen habe ich mich da nur eingelassen? Vertrauen? Dass ich nicht lache! Sie hatte keine Ahnung, wozu dieser Mann fähig war, sie wusste nicht einmal, wer er wirklich war.
Tomáš schloss leise die Tür, ging zum Tisch, auf dem der zugeklappte Laptop lag, und zog einen Stuhl heran. »Na los, setz dich!« Der Ton seiner Stimme machte deutlich, dass er keinen Widerspruch duldete, und Melanie gehorchte.
»Du willst also unbedingt die Wahrheit wissen …« Er atmete tief ein. »Dann sieh zu, wie du damit zurechtkommst.« Als sie ihn verständnislos ansah, schüttelte er seufzend den Kopf. »Du hast nicht die geringste Ahnung, in was ihr hineingeraten seid.«
Melanie stutzte, was Tomáš mit einem zynischen Lächeln zur Kenntnis nahm. Mit offensichtlicher Genugtuung sprach er die nächsten Worte aus: »Du und dein Freund.«
Felix! Der Gedanke ließ Melanie zusammenzucken. Er hatte Informationen über Felix. Vielleicht sogar etwas, das sie nicht wusste. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her.
»Dein Freund ist unvorsichtig gewesen, er hat den falschen Leuten offenbart, wer … was er ist.« Tomáš rollte mit den Augen. »Eigentlich hat er es der ganzen Welt offenbart, dieser Idiot.«
Melanie setzte an, Felix zu verteidigen, doch Tomáš hob entschuldigend die Hand. »Schon gut, er konnte nicht wissen, was er damit auslöst. Als ich in der Klatschpresse von dem Unfall gelesen hatte, wollte ich ihn noch warnen, kam aber zu spät. Sie hatten ihn bereits abgeholt.«
»Sie?«
Tomáš starrte gedankenverloren durch Melanie hindurch. »In den wenigen Aufzeichnungen, die ich gefunden habe, werden sie ›Umbra Dei‹ genannt, ›Schatten Gottes‹, und sie müssen schon seit Jahrhunderten bestehen. Es ist schwierig, etwas über sie aufzudecken; offiziell existieren sie nicht, in Wirklichkeit haben sie jedoch ihre Augen und Ohren überall und verwischen ihre Spuren äußerst sorgfältig.«
Auf Melanies Stirn bildeten sich tiefe Falten. Sie wusste nicht, was sie von dieser Geschichte halten sollte. Eine Geheimgesellschaft, die im Verborgenen die Strippen zog? Das klang für ihren Geschmack ein wenig zu sehr nach Hollywood.
»Ich bin vor fast zwanzig Jahren an sie geraten«, fuhr Tomáš fort und seine Stimme klang bitter. »Oder ich sollte wohl besser sagen: Sie haben mich gefunden und ich wünschte, es wäre nie geschehen. Sie suchen nach Menschen wie mir … und deinem Freund Felix.«
»Weil ihr anders seid …«, warf Melanie ein und nickte nachdenklich.
»Oh, es ist viel mehr als das. Wir sind nicht einfach nur anders, wir sind die perfekten Attentäter. Die perfekte Waffe.«
»Eine Waffe? Was soll das heißen?«
»Felix hat dir nicht alles erzählt, oder? Du weißt nicht, welchen Preis es hat, dass wir wieder zum Leben erwachen, richtig?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Jemand anderes stirbt.«
Melanies Augen weiteten sich. »Was?«
»Nenn es das Gleichgewicht des Universums oder was auch immer. Jedes Mal, wenn jemand wie Felix oder ich stirbt, muss ein anderer Mensch sein Leben geben, damit wir unseres zurückbekommen.«
»Das ist … das ist …« Melanie rang um Worte.
»Furchtbar. Ganz genau.«
»Heißt das etwa, dass jemand gestorben ist, weil du …« Sie schluckte schwer. »… weil du mir das Leben gerettet hast?«
Tomáš nickte.
»Scheiße.« Sie ließ sich im Stuhl zurücksinken. »Und wer?«
Schweigend klappte er den Laptopdeckel hoch, wartete, bis der Desktop erschien, öffnete einen der versteckten Ordner und startete das darin enthaltene Video. »Er.«
Ungläubig starrte Melanie auf die schnelle Abfolge von Bildern. Sie erinnerte sich an die lange Liste der Ordner. »Sind sie alle tot?«
»Nein, nur zwei von ihnen.« Tomáš zog die Stirn kraus. »Die Dateien sind nur eine Absicherung. Ich habe versucht, die Auswahl sinnvoll zu treffen.«
»Du hast was?«
Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich sagte doch: Wir sind eine Waffe. Es ist kein Zufall, wer an unserer Stelle stirbt. Nach allem, was ich inzwischen weiß, entscheidet unser Unterbewusstsein darüber. Und das lässt sich beeinflussen.«
Langsam ergab das, was Melanie auf dem Bildschirm sah, für sie einen Sinn. »Aber wieso gerade diese Menschen?«
Tomáš klickte auf die Textdatei, die zum Video gehörte. ›M3LL‹ war das Einzige, das darin stand. »Diese Kürzel hinterlege ich jedes Mal, wenn ich eine Person in die Liste aufnehme. Sie helfen mir, mich für einen der Kandidaten zu entscheiden. Das passende Video sehe ich mir jeden Tag mehrfach an, um ganz sicher zu gehen.«
Melanie wollte fragen, was die Kürzel bedeuteten, doch sie entschied abzuwarten, ob er es von sich aus preisgab.
»Dieser Mistkerl zum Beispiel …« Er deutete auf das Standbild, das ein Foto mit mehreren Personen zeigte, bei denen alle Gesichter unkenntlich gemacht worden waren – bis auf das eines älteren Mannes mit stechendem Blick und Dreitagebart. »Er hat seine Frau und die beiden gemeinsamen Töchter im Schlaf umgebracht. Hat einfach so mit einem Küchenmesser auf sie eingestochen.«
»Ach du Schande …«
»Die hier auf der Liste haben es alle verdient zu sterben. Auch wenn sie dadurch leider vor ihrer Haftstrafe bewahrt werden.« Tomáš lachte trocken.
Langsam verstand Melanie – ein dreifacher Mord, das passte zum ersten Teil des Kürzels, dann konnte ›LL‹ vielleicht ›lebenslänglich‹ bedeuteten – und sie begann zu ahnen, was er damit gemeint hatte, dass Menschen wie er und Felix als Waffe missbraucht werden konnten. Wenn jemand ihr Unterbewusstsein mit den richtigen Informationen fütterte und sie dann sterben ließ … Ihr stiegen Tränen in die Augen, als sie daran dachte, was ihr bester Freund in diesem Moment vielleicht durchmachen musste. »Was wird mit Felix geschehen?«, fragte sie mit einem letzten Rest Hoffnung, dass ihre Schlussfolgerungen falsch sein könnten.
Tomáš stand auf und ging zum Fenster. Er stützte sich mit beiden Armen auf der Fensterbank ab, sah hinaus in die anbrechende Dunkelheit und schwieg.
Mit jeder Sekunde, in der er so dastand, wuchs das flaue Gefühl in Melanies Magengegend, bis sie es nicht mehr aushielt. »Jetzt sag doch was«, bat sie, und als er sich endlich umdrehte, wirkte er völlig verändert. Sie konnte sehen, wie seine Kiefer mahlten, er hatte die Hände zu Fäusten geballt, sodass die Knöchel weiß hervortraten, und in seinen Augen schimmerte es verdächtig.
»Das möchtest du nicht hören«, flüsterte er und senkte den Blick. »Glaub mir.«
Auch wenn sie wusste, dass er vermutlich recht hatte, kam ihr in diesem Moment die Unwissenheit schlimmer vor als jede Wahrheit. »Ich muss es wissen«, sagte sie mit so viel Überzeugung, wie sie aufbringen konnte.
Tomáš schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber sprechen. Ich habe so lange versucht zu vergessen, was damals passiert ist, und …«
»… du konntest es nicht.«
Er schnaubte verächtlich. »Niemand könnte das.«
»Vielleicht ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, dich jemandem anzuvertrauen.«
»Ach, ausgerechnet einer Journalistin, die meinen Computer durchstöbert?«
Melanie ignorierte die Stichelei. »Einer Freundin«, sagte sie und fügte mit einem Schmunzeln hinzu: »Einer Freundin, die zufällig auch Journalistin ist – und deinen Computer heimlich durchstöbert hat. Mit gutem Grund, möchte ich ergänzen.«
Tomáš’ Gesichtszüge entspannten sich etwas und er musste lächeln. »Ach, was soll’s. Wir stecken sowieso schon gemeinsam in der Scheiße, da macht das nun auch keinen Unterschied mehr.« Er ging zurück zum Tisch, nahm sein Portemonnaie aus der Hosentasche und holte ein bereits stark in Mitleidenschaft gezogenes Foto hinter dem Führerschein hervor. Darauf waren zwei Jungen zu sehen, die etwa in ähnlichem Alter sein mussten.
»Das Ganze hat vor ziemlich genau dreißig Jahren begonnen.« Er strich mit dem Daumen über das Gesicht des kleineren der beiden Jungen. »Ich war elf, Milan gerade zehn geworden. Wir hatten damals einen Lieblingsplatz, an dem wir im Sommer immer zusammen gespielt haben, – einen alten Kirschbaum auf einer großen Wiese, die einem freundlichen Bauern aus dem Nachbardorf gehörte. Milan war ziemlich ängstlich und ich habe ihn ständig damit aufgezogen, dass er nie ein richtiger Mann würde, wenn er sich nicht einmal traute, im Baum bis in die Krone zu klettern.« Tomáš schluckte schwer. »Und schließlich hat ihn ein Sturz von genau diesem Kirschbaum getötet.«
Melanie spürte einen Kloß im Hals. »Das ist ja schrecklich«, murmelte sie und strich ihm sanft über den Arm.
Tomáš nickte abwesend. »Aber das wirklich Schreckliche ist, dass nicht er gestürzt ist – sondern ich.«
Oh mein Gott!
»Damals wusste ich noch nichts von meiner ›Fähigkeit‹ und heute ist mir klar, dass mein größter Fehler damals war, dass ich die Wahrheit über diesen Tag gesagt habe. Jedem, der danach gefragt hat. Zwei Wochen später haben sie mich nach der Schule abgefangen und mitgenommen. Ich dachte, sie machen mich für den Tod meines Bruders verantwortlich und sperren mich ein, aber das entsprach nur zum Teil der Wirklichkeit.«
Tomáš lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schloss die Augen, als müsse er sich sammeln, bevor er weitersprechen konnte, und Melanie ließ ihm die Zeit.
»Das Verrückte war: Ich fühlte mich bei ihnen zu Hause«, sagte er mit immer noch geschlossenen Augen. »Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass sie die Einzigen sind, die mich verstehen, die glauben, dass ich keine Schuld an dem trug, was passiert war. Sie haben es so gedreht, dass ich glauben musste, meine Eltern hätten mir schon nach dem Unfall die Schuld gegeben, auch wenn sie es mir nie direkt ins Gesicht gesagt haben. Ich war der große Bruder, ich war für Milan verantwortlich. Bis heute weiß ich nicht, was genau der ›Umbra Dei‹ ihnen erzählt hat, nur, dass es ein Teil der Wahrheit mit viel gezielt ausgesuchtem Beiwerk gewesen sein muss.«
»Wie kommst du darauf?« Melanie hatte seinen Worten interessiert zugehört und tat sich schwer, ihn zu unterbrechen.
»Ich habe ein einziges Mal mit meinen Eltern telefonieren dürfen, als ich in den ersten Tagen Heimweh hatte. Du musst wissen, dass sie furchtbar religiös sind und dass es für sie kaum etwas Schlimmeres gibt als den Teufel. Sie meinten nur, ich wäre in guten Händen, dass diese Menschen mir helfen würden, den Beelzebub in mir loszuwerden.«
»Und das haben sie wirklich geglaubt? Haben sie nie nach dir gesucht, als du nicht mehr heimgekommen bist?«
Tomáš zuckte mit den Schultern. »Sie haben mir nicht einmal zugehört damals. Was konnte ein Elfjähriger schon wissen … Selbst wenn sie sich nach mir erkundigt haben sollten, werden die schon gewusst haben, was sie sagen müssen.«
»Und warum bist du nicht weggelaufen?«
»Wegen Armando.«
»Armando?«
Tomáš’ Augen bekamen einen leichten Glanz und ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Er war vier, als ich dort ankam, und er war verängstigt. Vom ersten Tag an ist er mir nicht mehr von der Seite gewichen, hat mich quasi als seinen großen Bruder adoptiert.« Für einen kurzen Moment wirkten Tomáš’ Gesichtszüge fast glücklich, verhärteten sich jedoch direkt wieder. »Sie hatten leichtes Spiel mit ihm.«
»War er auch ein … ein …«
»Ein ›Baiulus Umbrae‹ – oder Schattenträger. Diese Bezeichnung für Menschen wie mich habe ich in alten Legenden römischer Kolonien gefunden, zumindest soweit ich sie richtig deuten konnte. Und wegen deiner Frage: Nein, nicht, dass ich wüsste. Er war, vielmehr ist der Sohn eines der hohen Tiere in dem Laden, aber das wurde mir erst später klar. Sie haben ihn benutzt, um mich gefügig zu machen. Ich konnte mich nur schwer für ihre Werte und Ideen begeistern. Sie halten sich für unfehlbar, sorgen in ihren Augen für das Gleichgewicht der Welt, kurz gesagt: Sie sind völlig durchgeknallt. Wie auch immer. Es fing harmlos an, ungefähr ein Jahr, nachdem ich zu ihnen gekommen war. Sie zeigten mir Fotos von Menschen, die ich mir merken sollte. Mit jedem Mal wurde die Anzahl der Fotos größer, die Zeit, die ich bekam, weniger. Im Grunde war es nur ein vorbereitendes Training.«
Tomáš stand auf und ging zur kleinen Küchenzeile, um sich einen Kaffee zu machen. Als er Melanie fragend ansah, nickte sie. Ein Kaffee würde jetzt definitiv nicht schaden. Während der Wasserkocher lief, stand Tomáš schweigend da und betrachtete die blau leuchtende Anzeige am Gerät. Melanie entging nicht, dass er zu verbergen versuchte, wie sehr es ihn mitnahm, über die Erlebnisse von damals zu sprechen.
Als sie schließlich beide vor einer dampfenden Tasse saßen und Tomáš einen vorsichtigen ersten Schluck genommen hatte, fuhr er mit der Erzählung fort. »Als sie mich das erste Mal getötet haben, war ich fünfzehn. Ich habe später versucht zu rekonstruieren, wer alles durch mich gestorben ist, doch ich konnte nur wenige Todesfälle eindeutig zuordnen, zumal ich mich nicht mehr an jedes Mal erinnere, das ich gestorben bin.«
»Wie …« Melanie räusperte sich, um das Kratzen im Hals zu vertreiben. »Wie oft, denkst du, haben sie dich sterben lassen?«
Er seufzte tief und schien für eine Weile zu überlegen. »Zu oft«, sagte er schließlich. »Ich habe aufgehört zu zählen.«
Melanie sah ihm an, dass es ihm nicht leicht fiel, darüber nachzudenken, wie oft er umgekommen und wieder zum Leben erwacht war, daher bohrte sie nicht weiter nach. Sie wollte wissen, was mit ihm geschehen war, was mit Felix geschehen würde, und konnte nicht riskieren, dass er die Erzählung abbrach.
»Es gibt allerdings etwas, an das ich mich mein Leben lang erinnern werde: den einunddreißigsten August 1997.«
In Melanies Kopf ratterte es. Sie hatte das Gefühl, als käme ihr dieses Datum bekannt vor, doch sie konnte den Gedanken nicht fassen.
»In dieser Nacht habe ich Lady Di getötet.«
Melanie blieb der Mund offen stehen. »Die Prinzessin? Nicht dein Ernst!«
»Mein voller Ernst. Ich sehe die Bilder noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Wie sie mich hektisch aus meinem Zimmer geholt, mir irgendeine Spritze verabreicht und mich dann vor einen Fernseher gesetzt haben. Ich hatte eine panische Angst, die ich mir nicht erklären konnte. Dann flackerten Bilder über den Monitor, ungefähr so, wie du es auf meinem Laptop gesehen hast, nur etwas primitiver.«
»Ach du meine Güte.« Melanie stand auf und ging im Zimmer umher. »Ich dachte immer, es war ein Autounfall?«
Tomáš nickte. »Ja, das stimmt auch. Aber die Ärzte hätten sie wohl noch retten können. Ich denke, der ›Umbra Dei‹ hat seine Chance gesehen und gehandelt. Niemand stellt den Tod im Krankenhaus nach einem solchen Unfall infrage. Ich habe allerdings nie etwas über die Motive erfahren, das lag weit außerhalb meiner Befugnisse. Eigentlich hatte ich immer nur eine Aufgabe: zu sterben.«
»Es tut mir so leid.« Melanie starrte auf den Dampf, der aus ihrer Tasse stieg. »Das ist wirklich ein furchtbares Schicksal. Aber wie bist du ihnen entkommen? Hättest du nicht schon früher verschwinden können?«
Tomáš seufzte tief. »Ich war wohl einfach zu naiv. Als ich dann verstanden habe, wofür ich wirklich dort war, war es bereits zu spät. Mein Zimmer war über Nacht abgeschlossen und sie haben gedroht, Armando an meiner Stelle zu töten. Ich konnte nicht zulassen, dass noch ein ›kleiner Bruder‹ meinetwegen starb.«
»Ich verstehe.« Melanie runzelte die Stirn. »Aber wenn er der Sohn eines hohen Tiers war, hatte er nicht wirklich etwas zu befürchten.«
»Nein, hatte er nicht. Darum durfte er es mir gegenüber nie erwähnen. Irgendwann hat er sich aber doch verplappert, als wir uns über den ganzen Laden und die Ziele der Gemeinschaft unterhalten haben. Er dachte, ich hätte es nicht bemerkt, aber da hat er sich gewaltig geirrt.« Tomáš setzte sein spitzbübisches Lächeln auf. »Er hasst mich bestimmt noch heute dafür, dass ich ihn als Geisel genommen habe, um von dort zu verschwinden. Also, nicht, dass du jetzt denkst, ich wollte ihn wirklich umbringen.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich hätte ihm nie etwas tun können, aber offenbar wollte sein Vater das Risiko nicht eingehen. Sie durften mich nicht einmal erschießen.« Er lachte gehässig. »Sonst hätte Armando mir vielleicht sein Leben schenken müssen. Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, dass sie mich all die Jahre nicht verfolgt haben. Ich stelle keine echte Gefahr für sie dar, denn ich habe mit niemandem über die Zeit gesprochen.«
»Und dann kam Felix«, sprach Melanie ihren Gedanken laut aus, »und hat dich auf sich aufmerksam gemacht.«
Tomáš nickte zustimmend. »Obwohl ich regelmäßig die Nachrichten durchforstet habe, sind mir in den letzten zehn Jahren keine Berichte untergekommen, die auf jemanden schließen ließen, der so ist wie ich. Ich wollte deinen Freund vor dem bewahren, was nun auf ihn zukommen wird.«
Melanie nahm einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und schob ihre Tasse zur Seite. Er war viel zu stark und nur noch lauwarm. »Was ich nicht verstehe … Warum wollten sie mich töten lassen? Und warum haben sie dafür nicht einfach Felix benutzt, wenn sie ihn in ihrer Gewalt haben?«
»Ist das nicht offensichtlich?« Tomáš wartete einen Moment, ob sie von selbst auf die Antwort kommen würde. »Du weißt über Felix Bescheid, bist noch dazu Journalistin und würdest vermutlich nach ihm suchen, unbequeme Fragen stellen oder in Dingen herumstochern, die bestimmte Menschen lieber unter Verschluss halten möchten.« Er warf einen Seitenblick auf seinen Laptop. »Wenn du Glück hast, brauchten sie Felix bisher dafür, dringendere ›Probleme‹ aus der Welt zu schaffen.« Er senkte die Stimme. »Ich würde mich aber nicht darauf verlassen. Nach der Aktion von gestern weiß ich nicht einmal, ob ich noch sicher bin. Sie sehen es nicht gern, wenn man ihnen in die Quere kommt.«
»Heißt das, du verkriechst dich und wartest einfach nur ab?«
»Hast du etwa eine bessere Idee?«
Melanie zuckte mit den Schultern. »Klar. Wir holen Felix da raus. Und wenn wir schon mal da sind, reißen wir den ganzen Laden auseinander.«
Tomáš konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Natürlich. Morgen lösen wir dann das Energieproblem der Menschheit und übermorgen sorgen wir für Frieden auf Erden. Ich hatte recht. Bei dir stimmt da oben wirklich irgendetwas nicht.« Er tippte Melanie sanft gegen die Stirn, doch sie sah ihn böse an und verschränkte die Arme.
»Soll das heißen, dass du mir nicht hilfst?«
Tomáš zog eine Augenbraue hoch. »Du meinst das tatsächlich ernst, oder?«
»Natürlich«, erwiderte sie, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Und ich weiß auch ganz genau, bei wem wir anfangen zu suchen.«
* * *
Eine Stunde später
»Möchtest du mich nicht langsam mal einweihen?« Tomáš sah sich nervös in alle Richtungen um. »Ich glaube zwar nicht, dass uns gerade hier einer von ihren Lakaien auflauert, aber man weiß ja nie. Ich will mich nicht länger als nötig im Freien aufhalten.«
Melanie wandte ihren Blick kurz vom Nebeneingang des Krankenhauses ab und drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht konnte sie im Schatten der Hauswand kaum erkennen, schon auf dem Weg hierher hatten sie sich, wann immer möglich, außerhalb der Reichweite von Straßenlaternen und beleuchteten Fenstern bewegt. Tomáš war zuerst ganz und gar nicht einverstanden gewesen, das Hotelzimmer zu verlassen und durch die halbe Stadt zu laufen, ohne zu wissen, wofür. Doch Melanie konnte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, stur sein. Furchtbar stur. Irgendwann hatte er nachgegeben – wahrscheinlich weniger ihr zuliebe als aus Neugier, gemischt mit einer gewissen Portion Sorge um sie. Melanie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich auch ohne ihn auf den Weg machen würde. Sie hatte gelogen. Unter keinen Umständen hätte sie sich allein aus dem Hotel getraut.
»Hör zu«, begann sie. »Während du mir vorhin diesen ganzen Wahnsinn erzählt hast, ist mir ein Gedanke gekommen. Als ich in Untersuchungshaft saß, ist mein Anwalt zu diesem Professor gegangen.« Melanie stockte. Sie hatte Tomáš überhaupt nichts von den Mordvorwürfen gegen sie erzählt, doch seine Reaktion war eindeutig: Er wusste Bescheid. Erleichtert fuhr Melanie fort: »Auf jeden Fall wusste der Professor angeblich nichts mehr von Felix, seinem Unfall und den ganzen seltsamen Umständen. Das ist doch komisch, oder? Ich bin ganz sicher, dass er irgendwas verbirgt.«
Tomáš Körper versteifte sich. »Und dafür bringst du uns in Gefahr? Wegen einer vagen Ahnung?«
»Das ist keine Ahnung!«, erwiderte Melanie entrüstet. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass man so einen Patienten einfach wieder vergisst?«
»Vielleicht wollte er auch nur vermeiden, als Spinner abgestempelt zu werden«, konterte Tomáš und zuckte mit den Schultern. »So eine Story glaubt doch kein gesunder Mensch.«
»Und genau das werden wir herausfinden«, sagte Melanie scharf und kniff die Augen zusammen. »Basta!« Sie wandte sich wieder dem Eingang zu und ignorierte das betont laute Seufzen hinter ihr. Es war fast halb zehn und Professor Hiepenau hatte bereits seit einer Stunde Dienstende, wenn man dem Herrn am Informationsschalter Glauben schenken durfte, und irgendwann musste er das Krankenhaus schließlich verlassen.
* * *
»Da ist er!« Melanie deutete hektisch in Richtung Parkplatz, auf dem ein Mann gerade im Schein der Neonleuchten zu seinem Wagen ging. »Los, komm!« Sie setzte sich in Bewegung, ohne auf Tomáš zu warten.
Kurz bevor sie den beleuchteten Bereich erreichten, holte er sie ein und hielt sie zurück. »Hast du dir auch überlegt, was genau du sagen willst?«
»Keine Zeit!« Sie löste sich von ihm und lief zielstrebig auf den Doktor zu. »Professor Hiepenau!«, rief sie schon von Weitem, um ihn vom Einsteigen abzuhalten, verfiel in leichten Trab und erreichte den Wagen, als der Arzt gerade die Fahrertür öffnete. »Professor Hiepenau, ich muss dringend mit Ihnen sprechen.«
Er sah sie überrascht an, schien sie aber wiederzuerkennen. »Entschuldigung, ich habe jetzt keine Zeit«, sagte er knapp und wollte einsteigen, doch Melanie reagierte geistesgegenwärtig, quetschte sich an ihm vorbei und versperrte ihm den Weg in den Wagen.
»He!« Professor Hiepenau wich einen Schritt zurück. »Sind Sie verrückt geworden?«
»Hören Sie.« Melanie war bemüht, ruhig zu bleiben, obwohl sie sich vor Anspannung ganz kribbelig fühlte. »Ich muss Ihnen eine Frage stellen. Es ist wirklich wichtig.«
Der Doktor warf einen kurzen Blick zum Seiteneingang der Klinik und zog dann sein Handy aus der Tasche. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, Frau Farber, rufe ich die Polizei«, drohte er.
Ein Lächeln huschte über Melanies Gesicht. »Sie wissen also noch, wer ich bin. Das ist gut, sehr gut. Dann erinnern Sie sich doch bestimmt auch an meinen Freund Felix Riebig.«
»Wer soll das sein?«
»Ach, hören Sie auf!«, fuhr sie ihn an. »Tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie nichts mehr von dem Unfall und unserer Unterhaltung in dieser Nacht.«
Professor Hiepenau machte einen Schritt auf Melanie zu und sah ihr fest in die Augen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Er lügt.« Tomáš war unbemerkt herangetreten und stützte sich nun lässig mit den Unterarmen auf der geöffneten Fahrertür ab.
»Das weiß ich selbst!«, blaffte Melanie, die ihren Ärger nur schwer zurückhalten konnte.
»Ich denke, du solltest ihn einsteigen lassen.« Tomáš grinste süffisant und entfernte sich einige Schritte vom Wagen. »Nicht, dass er wirklich noch die Polizei ruft.«
Das kann doch jetzt nicht sein Ernst sein! Melanie stieß scharf die Luft durch die Nase aus. Dieser Mann raubte ihr noch den Verstand. »Bist du jetzt auf meiner Seite oder auf seiner?«, fragte sie gereizt.
»Auf meiner«, entgegnete er trocken und zwinkerte Melanie zu. »Ich habe nämlich kein Interesse daran, dich im Knast zu besuchen. Der Idiot ist es doch nicht wert.« Er hob entschuldigend die Hände. »Nichts für ungut, Herr Doktor.«
Widerwillig machte Melanie einen Schritt zur Seite, um den Mann einsteigen zu lassen. »Verfluchter Mistkerl«, murmelte sie, als sie sich abwendete und zu Tomáš schlurfte, der im Schatten eines SUV wartete.
»Kannst du mir mal sagen, was das sollte?«, zischte sie, doch Tomáš ging nicht darauf ein.
»Los, komm mit!«, forderte er und setzte sich trabend in Bewegung. Er lief zum unbeleuchteten Bereich am äußeren Rand des Parkplatzes und von dort in Richtung Ausfahrt, die von der Schranke zum vorderen Teil des Geländes führte und schließlich in die Hauptstraße mündete.
»Bleib doch mal stehen!«, keuchte Melanie hinter ihm. »Wo willst du hin?«
Tomáš drehte sich um, ohne anzuhalten, und lief ein paar Schritte rückwärts. »Wirst du schon sehen. Trödel nicht rum.«
Melanie hetzte ihm hinterher, obwohl sie bereits Seitenstechen bekam und sich am liebsten für einen Moment ausgeruht hätte. Warum höre ich nur auf ihn? Warum … Beinahe wäre sie in Tomáš hineingerannt, der abrupt stehen geblieben war und sich suchend umschaute.
»Okay.« Tomáš nahm Melanie an der Hand und zog sie auf die Straße. »Du bleibst genau hier stehen und rührst dich nicht vom Fleck.«
»Wie bitte? Spinnst du jetzt total?« Sie befanden sich auf einem weitestgehend unbeleuchteten Abschnitt der Ausfahrt und in einiger Entfernung waren die Scheinwerfer eines Autos zu sehen, das gerade die Schranke passiert hatte.
»Du willst doch Antworten, oder?«
Melanie nickte.
»Und ich bin nicht den ganzen Weg hierher gelaufen, um jetzt unverrichteter Dinge zurück ins Hotel zu gehen. Also tu verdammt noch mal wenigstens dieses eine Mal, was man dir sagt!«
Melanie wollte etwas erwidern, doch Tomáš hatte sich bereits aus dem Staub gemacht. Mit Unbehagen beobachtete sie, wie die Scheinwerfer näher kamen. Bitte übersieh mich nicht, bitte übersieh mich nicht. Ein Hupen ließ sie zusammenzucken, es hupte ein zweites Mal, dann ein drittes. Schließlich wurde der Wagen langsamer und kam direkt vor Melanie zum Stehen.
»Jetzt reicht es aber wirklich!« Wutentbrannt stieg Professor Hiepenau aus und knallte die Tür ins Schloss. »Sind Sie lebensmüde?«
Genau das fragte sich Melanie ebenfalls.
»Na, na, na! Wer wird denn so hässlich unfreundlich zu einer jungen Lady sein?« Tomáš hatte sich von hinten angeschlichen und legte kameradschaftlich den Arm um Professor Hiepenaus Schulter. Dieser zuckte kurz zusammen, als Tomáš ihm etwas ins Ohr flüsterte, das Melanie nicht hören konnte. »Ich denke, wir verstehen uns, nicht wahr?«
Hiepenau nickte hektisch, schwieg aber.
»Wunderbar.« Tomáš führte den Doktor zur hinteren Tür des Wagens. »Du fährst, Mel.«
»Ich mache was?«
»Du fährst!«, wiederholte Tomáš und stieß Hiepenau auf den Rücksitz des Wagens, um dann selbst einzusteigen.
Und in diesem Moment verstand sie. Scheiße!
* * *
»Das ist nicht gut, Tomáš. Gar nicht gut.« Melanie lenkte den Wagen des Professors auf die Hauptstraße. »Das ist eine Entführung, dafür kommen wir in den Knast.« Abgesehen davon fühlte sie sich nicht wohl dabei, dieses Auto zu fahren. In der Eile hatte sie den Sitz nicht weit genug nach vorn gezogen.
»Sie sollten auf Ihre Freundin hören«, meldete sich auch Hiepenau zu Wort. »Noch ist ja nicht viel passiert und ich würde mir überlegen, von einer Anzeige abzusehen, wenn Sie sofort anhalten und mir mein Auto wiedergeben.«
»Aber natürlich.« Tomáš schnaubte verächtlich. »Wer’s glaubt. Fahr die Nächste rechts, Mel. Dann die Zweite wieder rechts.«
Melanie nickte und warf einen Blick in den Rückspiegel. Professor Hiepenau saß auf der hinteren Bank in der Mitte. Tomáš hatte den Arm um seine Schultern gelegt, als säße er mit seinem Lebensgefährten auf der heimischen Couch, hielt ihm dabei jedoch die Klinge eines Taschenmessers an den Hals.
»Augen auf die Straße, Mel! Und vermeide Schlaglöcher oder größere Unebenheiten, wenn es geht. Wäre doch schade um seinen Hals.«
Du hast gut reden. Es ist dunkel, Mensch! Sie schluckte die Worte hinunter und konzentrierte sich darauf, keine möglichen Schäden oder Hindernisse auf der Fahrbahn zu übersehen. Entführung war eine Sache, ein verblutender Mann auf der Rückbank eines gestohlenen Autos eine ganz andere.
»Da vorne links!«, tönte es von hinten und Melanie folgte der Anweisung. Sie hatten das Industriegebiet erreicht, in dem um diese Uhrzeit kaum noch jemand unterwegs war. Tomáš ließ Melanie hinter die Halle eines Möbelhauses fahren, das vor Kurzem wegen Insolvenz hatte schließen müssen.
»Halt da vorne neben der Metalltür an.«
Seine Stimme klang beunruhigend gelassen und Melanie kam nicht umhin, sich zu fragen, ob er diese Aktion schon länger geplant hatte. Sie stoppte den Wagen, stieg aus und öffnete die hintere Tür.
Tomáš zerrte den Professor zur Metalltür, die in die Halle führte und offensichtlich unverschlossen war. Er drehte sich zu Melanie um. »Hol den Verbandskasten. Und mach schnell!«
Melanie lief zum Kofferraum und suchte zunächst erfolglos nach dem Kasten. Schließlich fand sie ihn unter dem Beifahrersitz. »Hab ihn!«, rief sie Tomáš zu, der vor der geöffneten Tür wartete. Eilig folgte sie ihm ins Innere.
Tomáš griff nach einer Taschenlampe, die neben dem Eingang bereitlag. Er durchquerte, den widerstrebenden Hiepenau vor sich herschiebend, den vorderen Teil der riesigen Halle. Hinter einer Palette mit großen Kartons bog er links ab und steuerte auf einen Seitenraum zu, der wahrscheinlich einmal als Büro gedient hatte, nun jedoch vollkommen leer geräumt war. »Mel, nimm die Verbände und dreh sie so fest zusammen, wie du kannst.« Er leuchtete in ihre Richtung.
Melanie gehorchte und verteilte den Inhalt des Kastens auf dem Boden. Sie nahm die Verbandsrollen, wickelte einige längere Streifen ab, zwirbelte sie zu einem festen Strick und reichte ihn Tomáš.
Mit einer schnellen und deutlich ruppigeren Bewegung als nötig drückte Tomáš Professor Hiepenau gegen die rückwärtige Wand, drehte seine Arme auf den Rücken und knotete sie fest zusammen. »Los, hinsetzen!«, forderte er schroff und fesselte ihrem ›Gast‹ auch die Knöchel. Anschließend nahm er Melanie am Arm und zog sie mit sich vor die Tür. »Hör zu. Du passt jetzt auf, dass er keine Dummheiten macht und ich schaffe den Wagen weg.« Er drückte ihr die Taschenlampe und sein Messer in die Hand.
Melanie riss die Augen auf. »Du willst mich hier allein lassen?«, fragte sie entsetzt.
»Möchtest du riskieren, dass jemand uns beobachtet hat und man das Auto vom Professor hier findet? Na also. Jetzt stell dich nicht so an. Es war schließlich deine Idee, den Mann zu befragen, oder etwa nicht?« Er grinste schelmisch.
»Aber doch nicht so! Wieso wusstest du überhaupt, wo wir mit ihm hinkönnen? Man könnte ja fast glauben, dass du das geplant hast.«
Tomáš zuckte nur mit den Schultern und wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne. »Ach … und Mel, lass dich nicht von ihm bequatschen! Warte einfach, bis ich zurück bin.«
»Ja, ja«, murrte Melanie. Sehe ich etwa aus wie ein Dummchen? Sie wartete, bis Tomáš die Halle verlassen hatte, und kehrte dann zu ihrem Gefangenen zurück.
Professor Hiepenau saß an der gegenüberliegenden Wand und hielt in der Bewegung inne, als Melanie den Raum betrat.
»Was tun Sie da?«, fragte sie misstrauisch.
Der Professor versuchte, sich an der Wand hochzudrücken, um auf die Beine zu kommen, scheiterte aber. »Frau Farber«, begann er mit sanfter Stimme. »Sie sind doch eine vernünftige Frau. Sie müssen doch wissen, dass das hier kein gutes Ende nehmen wird. Lassen Sie sich nicht von diesem Verbrecher das Leben ruinieren. Binden Sie mich los und ich lege ein gutes Wort für Sie ein, wenn ich eine Aussage mache.«
Melanie ging einen Schritt auf ihn zu und betrachtete ihn eingehend, versuchte dabei seine Mimik zu deuten. Er schien keine Angst zu haben und natürlich hatte er recht. Diese Aktion konnte einfach kein gutes Ende nehmen, allerdings war es längst zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Und Tomáš in den Rücken zu fallen, kam ohnehin nicht infrage. »Das können Sie vergessen!«, knurrte Melanie und kniff die Augen zusammen. »Sie schulden mir ein paar Antworten.«
Das Gesicht des Professors verdunkelte sich. »Sie werden bereuen, dass Sie diese Chance nicht genutzt haben!«, raunzte er Melanie entgegen. »Sie legen sich mit Leuten an, die Mittel haben, von denen Sie nur träumen. Das schwöre ich Ihnen!«
Melanie wich unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Mit solch einem Ausbruch hatte sie nicht gerechnet. Auch wenn er versuchte, es zu verbergen, schien der Professor Angst zu haben. Etwas oder jemand machte ihm mehr Angst als Tomáš – und das beunruhigte sie. Am liebsten wäre sie aus dem Raum gerannt, weit weg, irgendwohin, wo sie allein und in Sicherheit war. Aber sie zwang sich zu bleiben, setzte sich direkt neben die Tür und richtete den Schein der Taschenlampe auf Professor Hiepenau. So konnte sie wenigstens sehen, wenn er Dummheiten versuchte – dass ihr das im Ernstfall etwas nutzen würde, bezweifelte sie.
* * *
»Warum streiten Sie ab, dass Sie Felix kennen?«, fragte Melanie in die Stille hinein. Sie hielt das Schweigen nicht mehr aus, vor allem wurde sie immer unruhiger, je länger es dauerte, bis Tomáš zurückkehrte.
Professor Hiepenau hielt die Augen geschlossen und antwortete nicht. Ein müdes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er wirkte plötzlich viel zu entspannt für die Situation, in der er sich befand.
»Ich verstehe es einfach nicht«, fuhr Melanie fort. »Was haben Sie davon, wenn Sie mich anlügen? Ich weiß doch längst, was passiert ist. Ich kenne Felix’ Geheimnis.«
»Sie sollten sich viel mehr Sorgen um sich selbst machen, Frau Farber«, antwortete Hiepenau leise und ohne die Augen zu öffnen. »Zerbrechen Sie sich nicht Ihren Kopf über Dinge, die Sie ohnehin nicht verstehen.«
»Wie Sie meinen. Dann warten wir eben, bis To…, bis mein Freund wiederkommt. Ich bin sicher, dass er nicht ganz so nett fragt wie ich.«
»Sind Sie sicher, dass er wiederkommt?« Hiepenau schnaubte leise. »Es spielt sowieso keine Rolle mehr. Wenn Ihr ›Freund‹ mich nicht tötet, werden die es tun.« Er seufzte. »Haben Sie sich nicht gefragt, woher er diesen Ort kannte und warum er darauf vorbereitet war, mich hierher zu bringen?«
Damit hatte er einen wunden Punkt getroffen, denn diese Frage hatte sich Melanie auch schon gestellt. Sie wollte Tomáš vertrauen, doch ein Teil von ihr sträubte sich vehement dagegen. Er war unberechenbar und noch war sie nicht einmal sicher, ob die Geschichte über den ›Umbra Dei‹ und sein eigenes Leben der Wahrheit entsprach. »Das ist mir egal«, konterte sie barsch, um ihre Unsicherheit zu überspielen. »Und natürlich kommt er wieder und dann sind Sie ganz schön am Arsch!«
Professor Hiepenau lehnte seinen Kopf gegen die Wand und schloss die Augen wieder. »Wie Sie meinen, Frau Farber. Wie Sie meinen.«
Melanie fuhr sich nervös durch die Haare. Hatte der Professor wirklich bereits resigniert oder spielte er ihr nur etwas vor? Weshalb war er so sicher, sterben zu müssen?
Eine halbe Stunde später war Tomáš immer noch nicht zurück und Melanie hielt es nicht mehr aus, wartend auf dem Boden zu sitzen. Sie stand auf, schüttelte ihr eingeschlafenes rechtes Bein, bis das Kribbeln nachließ, und tigerte anschließend im Raum umher.
»Sie wirken nervös, Frau Farber.«
Melanie fuhr herum und richtete den Strahl der Taschenlampe auf Hiepenaus Gesicht. »Ich muss mir nur die Beine vertreten«, knurrte sie. »Ach, was rede ich überhaupt mit Ihnen …«
Das knarzende Geräusch der Metalltür entlockte Melanie einen tiefen Seufzer. Tomáš war zurück. Er hatte sie nicht sitzen gelassen. »Du warst lange weg«, begrüßte sie ihn, als er den Raum betrat, und konnte einen vorwurfsvollen Unterton nicht verbergen. »Der Kerl macht mich ganz nervös«, flüsterte sie.
»Was du nicht sagst«, antwortete Tomáš. Er stellte eine batteriebetriebene Lampe auf den Fußboden und schaltete sie ein. Sofort wurde der Raum in ein ungemütlich kaltes Licht gehüllt. »Mel, würdest du uns bitte kurz allein lassen?«
Melanie sah ihn skeptisch an. »Warum? Ich will doch auch hören, was er weiß!«
»Tu es einfach!«, sagte Tomáš hart. »Und bleib draußen, egal, was du hörst, verstanden?«
Melanie entdeckte die kleine Tasche, die Tomáš neben der Tür abgelegt hatte. »Was ist da drin?«
»Hör zu, Mel.« Er sah sie mit festem Blick an. »Du willst Antworten, ich will Antworten. Also verschaffe ich uns Antworten.«
Die Nervosität, die mit seiner Rückkehr abgeebbt war, erfasste sie erneut. »Du wirst ihm doch nichts antun, oder?«, fragte sie unsicher.
Er lachte trocken. »Glaubst du, dass er uns irgendetwas sagt, wenn ich ihn nicht dazu zwinge?«
»Na ja, vielleicht …«
»Ach Blödsinn! Entweder du gehst raus oder du bleibst und hältst dich zurück, ist das klar?«
Melanie stockte kurz, dann stellte sie sich zwischen Tomáš und Professor Hiepenau. »Nein, ist es nicht! Ich kann das nicht zulassen. Wir kommen jetzt schon für die Aktion hier in Teufels Küche. Mensch, Tomáš, lass uns den Kerl irgendwo absetzen, vielleicht schaffen wir es noch halbwegs heil aus der Sache raus.«
Hinter sich hörte Melanie Hiepenau hektisch atmen.
Tomáš fasste sie an den Schultern und zog sie sanft zu sich heran. »Sei nicht naiv, Mel«, sagte er eindringlich.
»Vielleicht bin ich ja naiv, weil ich bei diesem Mist mitmache und dir vertraue? Wieso konntest du hier so einfach rein? Woher wusstest du überhaupt von der Halle? Du musst schon vorher hier gewesen sein, warum lag sonst eine Taschenlampe direkt am Eingang? Oder willst du mir weismachen, dass das alles Zufall war?« Sie sah Tomáš herausfordernd an, doch in seinem Gesicht entdeckte sie nichts, das den Eindruck erweckte, als fühle er sich ertappt. Vielmehr wirkte er getroffen.
»Ich sehe schon, du vertraust mir also nicht«, sagte er leise. »Wahrscheinlich hätte ich damit rechnen sollen … Wahrscheinlich bin ich auch selbst schuld, aber du solltest dich besser mal fragen, wem außer mir du überhaupt vertrauen kannst.« Er seufzte. »Na gut. Ich habe mich in den letzten Tagen nach einem Ort umgesehen, der sich für eine ungestörte ›Unterhaltung‹ eignet. Die Tür war nicht besonders gut gesichert. Aber was gibt’s hier auch schon zu holen? Wie auch immer … Nachdem Felix verschwunden war, lag es ziemlich nahe, dass ihn jemand an den ›Umbra Dei‹ verraten und die Beweise für seine besondere Fähigkeit beseitigt haben musste.« Ein breites Grinsen legte sich auf Tomáš’ Gesicht, als er seinen Blick über Melanies Schulter richtete. »Und wie ich die Reaktion unseres Freundes hier deute, weiß er ganz genau, wovon ich spreche. Habe ich recht, Professor?«
Hiepenau schwieg, doch er war noch nervöser geworden als vor wenigen Minuten. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie von der Organisation wussten.
Tomáš kniete sich vor ihrem Gast auf den Boden. »Ach, Professor, machen Sie es uns doch nicht unnötig schwer.« Er wartete ein paar Sekunden auf eine Reaktion, und als diese ausblieb, griff er mit einer ruckartigen Bewegung um Hiepenaus Hals und drückte andeutungsweise zu. »Letzte Chance im Guten, Professor«, zischte er drohend.
»Ich kann nicht!«, keuchte Hiepenau, presste dann demonstrativ die Lippen aufeinander und stierte Tomáš grimmig in die Augen.
»Wie Sie wollen.« Tomáš stand auf und ging zu seiner Tasche. Mit einer theatralischen Bewegung leerte er den Inhalt auf dem Fußboden aus. Zum Vorschein kamen ein paar handelsübliche Schraubenzieher mit angespitzten Enden und zwei Skalpelle.
»Nein, Tomáš! Du bist doch wahnsinnig! Da mache ich nicht mit!« Melanie rannte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Das macht er nicht wirklich, sagte sie sich. Nein, das kann er nicht tun. So ist er nicht. Oder?
Ein markerschütternder Schrei ließ sie zusammenzucken. Oh, mein Gott! Sie musste etwas unternehmen. Irgendetwas. Nur was? Hilfe holen kam nicht infrage – damit hätte sie sich selbst in Schwierigkeiten gebracht. Abgesehen davon hatte sie weder ein Handy noch eine Möglichkeit, schnell von hier wegzukommen. Ein weiterer Schrei. Melanie presste sich ihre Hände auf die Ohren. So habe ich das nicht gewollt.
* * *
Unterdessen irgendwo in Italien
»Vater?«
»Ja, Armando?«
»Ich habe etwas beunruhigende Nachrichten aus Deutschland. Es scheint, dass sich Tomáš nun doch gegen uns gestellt hat. Unseren Informationen zufolge hat er sich noch dazu mit Frau Farber zusammengetan.«
»Nach all den Jahren …« Der weißhaarige Mann legte seufzend seine Brille auf den schweren Holzschreibtisch und rieb sich den Nasenrücken. »Ich fürchte, wir müssen anfangen, darüber nachzudenken, ihn aus dem Verkehr zu ziehen.«
»Aber Vater …« Armando wollte etwas einwenden, doch der alte Mann schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Ich weiß, dass es ein Risiko ist, Sohn. Wir müssen darauf vertrauen, dass er blufft. Er hätte dich schon so oft töten können, warum sollte er es ausgerechnet jetzt tun? Es wäre mir ohnehin lieber, wir würden ihn lebend erwischen. Er könnte uns trotz allem noch von Nutzen sein.«
»Ich habe keine Angst um mein Leben, Vater«, wehrte Armando ab. »Es ist nur … Wir wissen nicht, wo er sich zur Zeit aufhält. Er und Frau Farber sind vor ein paar Stunden von unserem Radar verschwunden.«
Der Alte kniff die Augen zusammen. »Wie konnte das passieren?«, fragte er mit finsterer Miene.
Armando atmete geräuschvoll aus. »Tomáš ist sehr geübt darin, unterzutauchen, Vater. Er hatte lange Zeit, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Haben wir nicht damit gerechnet, dass es irgendwann geschehen würde?«
»So ist es wohl«, murmelte der alte Mann nachdenklich und sein Blick glitt ins Leere. Für einige Sekunden schien er seinen Gedanken nachzuhängen, dann kehrte die Aufmerksamkeit abrupt zurück. »Lass unseren Gast vorbereiten!«
»Aber Vater …«
»Bitte, Armando! Stell meine Anweisungen nicht infrage. Du weißt so gut wie ich, dass wir uns keine Fehler leisten können, und das Problem ›Melanie Farber‹ hat sich bis jetzt offensichtlich eher verschärft, als dass es gelöst wurde. Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist.«
»Ja, Vater.« Armando senkte den Kopf. »Ihr habt natürlich recht. Ich kümmere mich sofort darum.«
* * *
Als ihn die Männer in dieser Nacht abholten, wartete Felix bereits ungeduldig. Es fiel ihm schwer, sich nicht verdächtig zu verhalten. Die Angst, die sich bei den vorherigen Malen erdrückend um seinen Brustkorb geschnürt hatte, war zu einem nervösen Kribbeln im ganzen Körper abgeflaut. Felix wusste, dass sich ihm jetzt die einmalige Chance eröffnen würde, von hier zu verschwinden, also ließ er sich mit der gewohnten Gegenwehr in den großen Raum bringen und dort auf dem Metalltisch festschnallen. Selbst als die Ärztin eine Infusionsnadel in seine Vene stach und nicht beim ersten Mal traf, behielt er ein leichtes Lächeln auf den Lippen. In wenigen Minuten würde das Licht ausgehen und sein rettender Engel konnte die Fesseln lösen – und er musste rennen, als sei der Teufel hinter ihm her. Schlimmer als diese Verrückten kann der Teufel auch nicht sein. Felix schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atmung. Er musste bereit sein.
Kurz darauf spürte er die Kälte der in seine Vene strömenden Flüssigkeit. Unruhig sah sich Felix um, konnte außer der Ärztin, die seine Vitalzeichen an den Monitoren kontrollierte, niemanden im Raum entdecken. So langsam wird es aber Zeit. Felix spürte die gleiche unnatürliche Panik in sich aufsteigen, die ihn bei den letzten Malen überrollt hatte. Die Infusion begann zu wirken und es gab noch kein Anzeichen, dass etwas anders lief.
Endlich wurde es dunkel. Doch der kleine Funke Hoffnung erlosch sofort, als Felix vergeblich an den Fesseln zerrte und schließlich erkennen musste, dass sie nicht wie versprochen gekommen war, um ihm zu helfen. Er war allein, gefangen auf diesem Tisch, gefangen mit seinen Ängsten und dem Wissen, dass in Kürze jemand durch ihn sterben würde. Während auf den Monitoren Bilder in schneller Abfolge flimmerten, drängte die Panik jeden klaren Gedanken in den Hintergrund. Nicht sie!
* * *
Erneut gellte ein Schrei durch die dunkle Halle. Melanie zuckte zusammen. Sie konnte nicht weiter tatenlos dasitzen, während Tomáš diesen Mann folterte, selbst wenn Professor Hiepenau Informationen über Felix haben sollte. Das war es nicht wert. Entschlossen stand Melanie auf, atmete einmal tief durch und stürmte in den Raum.
»Hör sofort auf damit!«, schrie sie Tomáš an, der sich gerade über den regungslos dasitzenden Doktor beugte.
Er sah sie unbeeindruckt an. »Jetzt spiel nicht plötzlich den Moralapostel, Mel. Manchmal sind gewisse Dinge einfach nötig, um voranzukommen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des zusammengesunkenen Körpers. »Hilf mir mal lieber, seine Hand zu verbinden.«
Erst jetzt entdeckte Melanie das Blut. Professor Hiepenaus rechte Hand war rot verschmiert, auf dem Boden hatte sich eine kleine Lache gebildet. Entsetzt schlug Melanie die Hand vor den Mund. »Was hast du getan?«
Tomáš lachte trocken. »Keine Sorge. Der wird wieder. Er kann vielleicht ein paar Wochen nicht operieren, aber das hat er sich selbst ausgesucht. Immerhin wissen wir jetzt, dass jemand zu ihm gekommen ist – ich denke, wir wissen beide, wer – und ihm eine Menge Geld dafür geboten hat, alle Beweise verschwinden zu lassen und die Auftraggeber zu informieren, wenn es Schwierigkeiten gibt. Mehr scheint er tatsächlich nicht zu wissen.« Tomáš zuckte mit den Schultern. »Er hätte einfach früher damit rausrücken müssen und alles wäre gut gewesen.«
»Gut gewesen?«, stammelte Melanie. »Hast du jetzt komplett den Verstand verloren? Nichts ist gut! Wir sind so was von am Arsch, verdammt!« Ihr standen Tränen in den Augen.
»Jetzt reiß dich mal zusammen!« Tomáš sprang auf und packte Melanie an den Schultern. »Den Teufel sind wir. Ich werd das schon regeln, okay?«
Melanie schüttelte kraftlos den Kopf. »Wie willst du das hier regeln?«, schluchzte sie und zeigte auf den blutenden Professor.
»Eins nach dem anderen, Mel. Lass das ruhig meine Sorge sein.« Tomáš strich ihr sanft eine Träne von der Wange. »Ich kümmere mich darum. Versprochen. Aber jetzt wäre es wirklich schön, wenn du mir ein bisschen hilfst, in Ordnung?«
Melanie schluckte ihre Tränen hinunter und nickte schweigend. Sie nahm die Mullbinde aus dem Verbandskasten und näherte sich zögernd der verletzten Hand des Professors. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, flüsterte sie.
»Einfach fest drumwickeln«, erwiderte Tomáš schmunzelnd und winkte ab. »Der Kerl ist doch Arzt, er wird schon wissen, was er später tun muss.«
»Was stimmt eigentlich nicht mit dir, verdammt?«, fauchte Melanie ihn an. »Dir kann doch nicht egal sein …« Sie stockte und sah nach rechts. Für einen Moment verharrte sie, schüttelte dann aber den Kopf.
»Was ist los?« Tomáš sah sie prüfend an.
»Nichts weiter. Ich dachte, ich hätte im Augenwinkel einen Schatten gesehen.« Melanie zuckte mit den Schultern. »War wahrscheinlich mein eigener.«
»Einen Schatten?« Tomáš’ Augen weiteten sich. Er sah sich unruhig nach allen Seiten um, fixierte schließlich einen Punkt in der Ecke des Raums. Plötzlich sprang er auf, packte Melanie am Arm und riss sie mit sich. »Lauf!«, schrie er. »Sofort raus hier!«
Melanie wusste nicht, was los war, doch Tomáš’ Gesicht nach zu urteilen, rannten sie um ihr Leben. Sie hatte diesen Ausdruck bei ihm zuvor noch nicht gesehen. Diese panische Angst in seinem Blick. Der Schatten … Felix ist ein Schattenträger! Jetzt ergab der Name einen Sinn. Der ›Umbra Dei‹ musste Felix getötet haben, um mithilfe seiner Fähigkeit das fehlgeschlagene Attentat doch noch auszuführen.
»Warte, Tomáš. Ich kann nicht mehr!« Melanie blieb stehen und stützte sich keuchend auf den Knien ab. Sie waren kreuz und quer durch das nachtschlafende Industriegebiet gerannt, sodass Melanie nicht einmal mehr wusste, wo genau sie sich nun befanden. »War das Felix?«, fragte sie Tomáš, der schwer atmend neben ihr stand.
Er nickte. »In gewisser Weise, ja.«
»Und glaubst du ernsthaft, dass wir seinem Schatten entkommen können, wenn er hinter uns her ist?«
Im gelblichen Schein einer Straßenlaterne konnte sie erkennen, wie er die Lippen zusammenkniff und den Kopf schüttelte. »Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, ob es je jemand versucht hat.« Er beobachtete aufmerksam die Umgebung.
»Und falls es wirklich klappen sollte …«, fuhr Melanie fort. »Was würde dann mit Felix passieren?«
Nach einer kurzen Pause seufzte Tomáš. »Ich weiß es nicht«, gab er mit leiser Stimme zu. »Vielleicht sucht sich der Schatten mit etwas Glück ein anderes Ziel, aber vielleicht …« Er musste nicht weitersprechen, damit Melanie wusste, was er meinte.
»Das kann ich nicht zulassen. Felix darf nicht meinetwegen sterben!« Sie drehte sich um und ging mit energischen Schritten in die Richtung, in der sie die Halle vermutete.
»Vielleicht bist du ja wirklich so irre, dich einfach so zu opfern«, rief ihr Tomáš hinterher. »Aber hast du mal daran gedacht, dass der Schatten möglicherweise mir gilt?«
Melanie blieb abrupt stehen. »Das heißt, du willst ihn sterben lassen?«, fragte sie gerade so laut, dass er sie hören konnte. Sie ahnte, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.
Langsam kam Tomáš näher und legte ihr die Hand auf den Oberarm, doch Melanie drehte sich von ihm weg.
»Ich kenne Felix nicht einmal«, rechtfertigte er sich.
»Verstehe.« Sie sog scharf die Luft durch die Nase ein. »Und wenn ich an seiner Stelle wäre? Würdest du mich auch einfach sterben lassen?«
Sein kurzes Zögern war für Melanie schlimmer als jede Antwort. Unmittelbar schossen ihr Tränen in die Augen und sie verspürte den tiefen Drang, wegzulaufen. Weg von diesem Ort, weg von diesem Mann.
»Hör zu, Mel …«, begann er, doch sie wollte nicht hören, was er sagte.
»Ich hab schon verstanden«, flüsterte sie heiser, drehte sich um und lief die verlassene Straße hinunter.