ELF

Frauke war nicht leichtsinniger geworden, obwohl sie schon geraume Zeit keine direkt gegen sie gerichteten Aktionen mehr hatte erkennen können. Der Mord an Friedrich Rabenstein war nur zum Teil aufgeklärt. Gegen Trapattoni lagen handfeste Beweise vor.

»Wir haben das Ergebnis der DNA«, sagte Madsack, als er in ihr Büro trat. »Eines der Kaugummis aus der Lister Meile, das Jakob Putensenf an der Stelle gefunden hat, an der nach Zeugenaussagen das Motorrad gewartet hatte, stammt von Trapattoni.«

Für sich allein war das ein schwaches Indiz, aber im Kontext mit den anderen Beweisen ergab sich mittlerweile ein sich der Vollendung näherndes Puzzle gegen den Türsteher. Auch wenn sie noch kein Geständnis vorliegen hatten, würde es für eine Mordanklage reichen.

Das nächste Puzzleteilchen lieferte Mark Heidenreich aus Lüneburg.

»Zwei meiner Leute waren gestern bei Blechschmidt im hiesigen Städtischen Klinikum. Wir haben ihm die Porträts der möglichen Täter gezeigt, die ihn überfallen haben. Der Mann hat vor Angst gezittert, aber felsenfest behauptet, keinen zu kennen.«

»Das war zu erwarten gewesen.«

Heidenreich lachte. »Deshalb sind die Kollegen nach Salzhausen gefahren und haben Blechschmidts Lebensgefährtin …«

»Frau Kohlschreiber«, warf Frauke ein.

»Richtig. Die war so erbost über den Angriff auf ihren Günter und hat, ohne zu zögern, zwei Männer aus der vorgelegten Galerie erkannt. Wir hatten diese noch durch ein paar weitere Bilder von Unbeteiligten ergänzt«, fügte der Lüneburger Hauptkommissar an. »Der eine war Trapattoni, der andere Necmi Özden.«

Frauke war nicht überrascht. Auch eine straff geführte Organisation verfügte nicht über ein unerschöpfliches Reservoir an Leuten, die zu jeder Gewalttat bereit waren.

»Trapattoni haben wir verhaftet«, sagte Frauke. »Nach dem Türken suchen wir.« Frauke war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob auch Rossi seinen Mitarbeiter und die – angeblich – mitgenommene Tageskasse vom Wochenmarkt suchen würde.

»Mit dieser Erkenntnis sind meine Mitarbeiter noch einmal ins Klinikum gefahren. ›Blöde Kuh‹, hat Blechschmidt trotz Kieferbruchs über seine Lebensgefährtin geflucht, als wir ihn mit deren Aussage konfrontiert haben. Dann hat er es aber auch bestätigt.«

»Gute Arbeit, Heidenreich«, lobte Frauke den Lüneburger.

Dann lehnte sie sich zurück. Allmählich zeichneten sich alle Zusammenhänge ab.

Bernd Richter, der ehemalige Polizist, war kein gedungener Mörder, sondern spielte eine wesentlich bedeutendere Rolle in der Organisation, als sie bisher angenommen hatten. Ob er allerdings der entscheidende Drahtzieher hinter den Kulissen war, konnte Frauke noch nicht erkennen.

Die Organisation war auf vielen Gebieten tätig und hatte sich längst in vielen legalen Geschäftsfeldern etabliert. Mit immer schärferen Gesetzen engte der Gesetzgeber die Rechte der Bürger ein, kontrollierte unter dem Vorwand der Geldwäsche Konten- und Geldbewegungen, wusste, wer Unterschriftsvollmacht für welches Konto hatte, und erhielt automatisch Informationen über größere oder ungewohnte Geldtransaktionen. Mittlerweile waren die bürgerlichen Freiheitsrechte auf diesem Gebiet erheblich eingeschränkt. Big Brother konnte alle finanziellen Transaktionen seiner Bürger nachvollziehen. Allein dem eigentlichen Zweck, dem Entdecken kriminell motivierter Geldwäsche, diente es kaum. Die lief oftmals nach dem gleichen Muster ab.

Marcello Manfredi hatte ein nach außen legales Geschäft betrieben, bei dem schwarzes Geld in weißes getauscht wurde. Der Gemüsehandel und der angeblich so ertragreiche Verkauf auf den Wochenmärkten oder der lukrative Export nach Weißrussland ließen Geld aus kriminellen Geschäften wie dem Verkauf gefälschter Medikamente oder dem Drogenhandel, aber auch Erpressung und Schutzgelder in den legalen Kreislauf wechseln. Das Ganze war so ertragreich, dass die Hintermänner ohne Probleme brav ihre Steuern darauf entrichteten. Ein äußerst geschickt konstruiertes Netzwerk, schloss Frauke ihre Überlegungen ab.

Am Mord an Friedrich Rabenstein hatten mindestens drei Männer mitgewirkt, überlegte Frauke. Zwei hatten auf dem Motorrad gesessen, einer war Trapattoni. Als ehemaliger Carabiniere verstand der Mann auch mit einem Gewehr umzugehen, schon gar mit der verwendeten Mordwaffe G3, die nicht nur bei der Bundeswehr, sondern auch bei befreundeten Armeen und Polizeieinheiten im Einsatz war.

Trapattoni war nicht nur Türsteher, sondern auch der Mann für die schmutzige Arbeit. Offenbar scheute er keine Gewalt. Das hatte nicht nur der Mord, sondern auch der Übergriff auf Blechschmidt bewiesen. Frauke erinnerte sich zudem an das aggressive Auftreten Trapattonis gegenüber Schwarczer bei ihrem ersten Besuch im Sexclub.

Für Frauke waren das hinreichend Indizien für die Funktion Trapattonis in der Organisation.

Battaligia hielt sie für einen kleinen Handlanger, der unbedeutend schien und vordergründig als Geschäftsführer auftrat. Ohne jeden Zweifel war Igor Stupinowitsch einer der Drahtzieher im Hintergrund. Doch beweisen ließ sich das bisher nicht. Sie mussten den mühsamen Weg über die zweite und dritte Ebene gehen. Die Bosse hatten sich gut abgeschirmt.

Stupinowitsch war jedenfalls der Verantwortliche für die Beschaffung der illegalen Medikamente. Auch wenn Necmi Özden offiziell für Giancarlo Rossi als Arbeiter tätig war, hatte der Türke bei der Verteilung der Medikamente mitgewirkt. Und es gab eine weitere Verbindung zwischen Trapattoni und Özden. Der Alfa. Der Türke war mit Trapattonis Auto nach Lüneburg gefahren. War es ein besonders geschickter Schachzug gewesen, dem unwissenden Rossi das Auto zu leihen, während Özden aus dessen Obhut den Wagen zweckentfremdet nutzte? Das war eine Möglichkeit, Spuren zu verwischen.

Frauke war sich nicht sicher, ob die Organisation so dachte, nachdem sie an anderen Stellen hatte feststellen müssen, dass man gerade in kleinen Dingen Fehler gemacht hatte. Natürlich! Bernd Richter war Leiter der Ermittlungsgruppe organisierte Kriminalität gewesen. Er wusste, wie die Polizei arbeitete und dachte. Richter war nicht der Boss, sondern der »Chefstratege« der Organisation, der Taktiker bei der Abwehr von Maßnahmen der Ermittlungsbehörden. Deshalb war es ein schmerzlicher Verlust, als der Mann an der Spitze der Strafverfolgung plötzlich entlarvt wurde. Frauke verstand auch, weshalb man sie auf die »Todesliste« gesetzt hatte. Man machte sie für diese Aktion verantwortlich.

Zwischen Trapattoni und Necmi Özden bestand eine Verbindung, und beide waren für Stupinowitsch tätig. Gemeinsam hatten sie auch Günter Blechschmidt überfallen. Warum, fragte sich Frauke, sollte der Türke nicht der zweite Mann auf dem Motorrad gewesen sein?

Giancarlo Rossi war keineswegs ein Unschuldslamm. Er war in der Geldwäsche tätig, hatte aber womöglich nichts mit dem illegalen Medikamentenvertrieb zu tun.

Nun fehlte noch einer in diesem Puzzle. Wer war der Mann, der Frauke beobachtet hatte und Trapattoni und wahrscheinlich Necmi Özden auf dem wartenden Motorrad die präzisen Anweisungen erteilte, als das Attentat auf Friedrich Rabenstein verübt wurde?

Frauke erinnerte sich an den unbekannten Mann mit der Sonnenbrille im Haar, den sie zwei Mal im Hauptbahnhof gesehen und der sie einmal bis zum Straßencafé am Kröpcke verfolgt hatte, der unauffindbar verschwunden war, als sie ihm nacheilen wollte und durch die japanische Reisegruppe aufgehalten wurde.

Sie mussten die Fahndung nach Necmi Özden intensivieren. Doch zunächst wollte sie Giancarlo Rossi aufsuchen, um ihn mit dem Vorwurf der Geldwäsche zu konfrontieren. Sie spielte mit dem Gedanken, eine ähnlich spektakuläre Aktion wie im Rotlichtviertel zu starten und dabei viel öffentliches Aufsehen zu erregen. Doch Kriminaloberrat Ehlers würde ihr mit Sicherheit die Zustimmung verweigern.

»Putensenf, kommen Sie«, forderte sie den Kriminalhauptmeister auf, nachdem sie unverhofft in dessen Büro aufgetaucht war.

»Geht es nicht ein wenig freundlicher?«, knurrte er.

»Nein. Nun machen Sie.«

Fast widerwillig folgte er ihr. »Wohin?«

»Ich möchte Rossi befragen. Er soll uns eine plausible Erklärung für die wundersame Geldvermehrung liefern. Ich vermute dahinter eine Geldwaschanlage.«

»Wir zwei gegen die Mafia«, brummte Putensenf. »Die werden richtig tief beeindruckt sein, wenn eine Frau und ein Seniorpolizist dort auftauchen.«

Die sind beeindruckt, sagte Frauke zu sich selbst. Sonst hätte Friedrich Rabenstein nicht sterben müssen.

Sie überließ Putensenf das Steuer des Dienstwagens. Zumindest in diesem Punkt durfte er seine, wenngleich auch oft nur gespielte, Aversion gegen Frauen im Polizeidienst ausleben, die seiner Meinung nach nicht ans Ruder gehörten.

An der Zufahrt zum Großmarkt stießen sie auf denselben Pförtner, der ihnen schon früher Schwierigkeiten bereiten wollte.

»Gehen Sie zur Sitzung des Ortsverbandes Ihrer Partei, wenn Sie diskutieren möchten«, riet ihm Putensenf. »Und jetzt machen Sie die Luke auf. Aber fix.«

Das schien den Mann beeindruckt zu haben. Er ließ die Schranke in die Höhe schweben.

Auf dem Gelände herrschte die gewohnte Betriebsamkeit. Sie mussten Gabelstaplern, anderen Förderfahrzeugen und emsig hin und her eilenden Leuten ausweichen.

»Bei dieser Hektik sollte man meinen, die Bananen gammeln im Stundenrhythmus«, sagte Putensenf.

Der Stand des italienischen Gemüseimporteurs unterschied sich auf den ersten Blick nicht von anderen. Trotzdem wirkte er eine Spur ruhiger. Im Glaskasten, der als Büro diente, saß Johanna mit glühenden Wangen hinter ihrem Schreibtisch, ignorierte das Klingeln mehrerer Telefone und versuchte, einem in radebrechendem Deutsch antwortenden Arbeiter zu erklären, welche Tätigkeit er verrichten sollte. Der Mann hatte die Hände tief in die Taschen seiner Latzhose vergraben und grinste die Kontoristin an.

»Nix verstehen«, sagte er breit. »Warum du als Frau wollen befehlen? Wo sein Chef, eh?«

Frauke sah Johanna an, dass sie kurz vor Ausbruch der Tränen stand. Hilflos, fast resignierend versuchte sie, dem Arbeiter verständlich zu machen, welche Waren zu einer Lieferung zusammenzustellen seien.

Ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, hob der Mann die Schultern bis auf Ohrenhöhe an. »So geht nicht«, erklärte er.

»Ja, wie denn?« Johanna war am Ende ihrer Kräfte.

»Wenn du Frau Befehle willst geben, du musst wissen, wie.«

»Pass mal auf«, mischte sich Putensenf ein. »Bei uns macht es keinen Unterschied, ob der Boss eine Frau oder ein Mann ist. Ist das klar?«

»Was du willst?«, fragte der Arbeiter mit drohendem Unterton.

Putensenf hielt ihm den Polizeiausweis vor die Nase. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder machen Sie jetzt das, was die Dame sagt, oder Sie haben viel freie Zeit und können mir eine Unmenge Fragen beantworten. Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie? Haben Sie Ihre Steuer bezahlt? Wo ist die Arbeitserlaubnis? Die Meldebescheinigung?«

»Eh, schon gut, Mann«, sagte der Arbeiter und hob beide Hände in die Höhe. »Ich mach ja schon.« Dann drehte er sich um und verschwand in die Halle.

»Danke«, stöhnte Johanna und schenkte Putensenf einen langen Blick. Sie holte tief Luft und atmete durch. »Ich schaffe das nicht. Ich bemühe mich, aber heute läuft alles schief.«

»Wo ist Ihr Chef, Herr Rossi?«, fragte Frauke.

»Das ist es ja. Den kann keiner vertreten. Der hat alles im Griff.« Sie sah hilflos aus. Jetzt stahl sich eine Träne aus den Augenwinkeln und lief an der Nase abwärts. »Der ist nicht gekommen. Das hat es noch nie gegeben. Einfach so – ohne sich zu melden.«

Frauke stutzte. »Haben Sie ihn nicht telefonisch erreicht?«

»Nein. Nicht zu Hause. Und auch nicht auf seinen beiden Handys.«

Frauke ließ sich die Telefonnummern geben und versuchte es selbst. Vergeblich.

»Wo wohnt er?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht genau«, stammelte Johanna. »Ich müsste nachsehen.«

Umständlich kramte sie in ihrem Schreibtisch. Wie unter einem Peitschenhieb zuckte sie zusammen, als das Telefon erneut schnarrte. »Da ist es nicht.« Sie legte den Zeigefinger an die Unterlippe und dachte nach. »Vielleicht da«, murmelte sie und durchsuchte einen Aktenordner, den sie einem Regal entnommen hatte. Plötzlich fuhr ein erleichtertes Strahlen über ihr Gesicht. »Da.« Ihr Finger tastete das Papier ab und fuhr an einer unsichtbaren Linie entlang. »Schmöckwitzweg.«

»Wo ist das?«

Johanna zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht«, gestand sie.

Frauke sah Putensenf an.

»Ich bin Polizist, keine Verkehrsauskunft«, grummelte der zurück. »Es mag sein, dass Sie in dem Dorf, aus dem Sie kommen, jede Straße kennen. Aber Hannover ist eine Stadt. Eine Landeshauptstadt«, schob er betont hinterher.

»Kommen Sie«, forderte Frauke ihn auf und eilte aus dem Büro zum Auto zurück. »Übrigens hat das Dorf einen Namen: Flensburg.«

»Gibt’s es dort noch etwas anderes außer der Buchungsstelle für Punkte?«

»Das sollten Sie doch wissen. In Flensburg sind die Erotikversender beheimatet. Oder kaufen Sie woanders?«

Der Pförtner sah sie verbissen an, als sie erneut an seiner Schranke hielten.

»Wollen Sie mich verarschen?«, fragte er.

Putensenf nickte ernst vom Beifahrersitz. »Genau. Was sollten wir sonst mit Ihnen anfangen?«

Frauke ließ sich vom GPS-System leiten, in das Putensenf die Adresse eingegeben hatte.

Der dichte Verkehr forderte seinen Tribut. Es ging ausgesprochen zähflüssig voran.

»Sonderrechte?«, hatte Putensenf gefragt und das mobile Blaulicht in der Hand gehalten. Aber Frauke hatte abgewinkt.

Sie mussten einmal quer durch die Stadt fahren, vom südwestlichen Zipfel zum nördlichen Stadtrand.

Der Schmöckwitzweg lag im Stadtteil Sahlkamp, einem Gebiet, das aus Mehrfamilienhäusern und Einfamilienhausbebauung bestand. Nördlich der Durchgangsstraße Kugelfangtrift, neben der auch die Straßenbahntrasse entlangführte, bogen sie in ein Areal mit kleinen Straßen ein, in dem dicht an dicht der Traum vieler Menschen Stein geworden war. Hier wohnten keine Millionäre, und kein Haus ähnelte Georgs Anwesen.

Die Straße war so eng, dass nur auf der rechten Seite ein schmaler Gehweg entlangführte. Langsam ließ Frauke das Fahrzeug über den mit zahlreichen Flicken ausgebesserten Asphalt rollen. Sie suchten nach der Hausnummer. Bei den dicht zugewachsenen Gärten war es manchmal schwierig, das kleine Schild zu entdecken. Sie fanden das gesuchte Haus am Ende der Straße, dort, wo sich der Weg zu einem kleinen Platz öffnete und die Straße mit einem Knick nach rechts fortsetzte.

Giancarlo Rossi wohnte in einer Einliegerwohnung in einem der Häuser.

Nach dem zweiten Läuten öffnete ein Mann mit deutlich gelichtetem Haupthaar die Haustür.

»Zu wem wollen Sie?«, fragte er.

Frauke sah auf den Namen der zweiten Klingel. »Herr Schmidtbauer?«

Er nickte kurz. »Wollen Sie zu uns?«

»Wir möchten zu Herrn Rossi.«

»Der ist nicht da.« Schmidtbauer sah auf seine Armbanduhr. »Der arbeitet um diese Zeit.«

»Heute nicht«, erwiderte Frauke.

»Doch. Das macht er immer«, beharrte der Vermieter. »Er muss meistens vor Mitternacht zur Arbeit. Auf dem Großmarkt. Dort ist er Chef.«

»Würden Sie uns bitte öffnen?«, bat Frauke, und als der Mann sie irritiert ansah, ergänzte sie: »Polizei.« Sie zeigte ihm ihren Dienstausweis und sah das kurze Erschrecken in seinen Augen aufblitzen, als Schmidtbauers Blick beim Öffnen ihrer Handtasche auf die Dienstpistole fiel.

»Ja. Sicher. Ich muss nur schnell den Zweitschlüssel holen.«

Wenig später kehrte er zurück und ging die knarrende Holztreppe voran. »Komisch«, murmelte er, als er öffnete. »Das macht er sonst nicht. Ich meine, dass er nicht abschließt.«

Putensenf zupfte Schmidtbauer am Ärmel und zog ihn vorsichtig zurück. »Lassen Sie uns das machen«, sagte er und zog seine Dienstwaffe. Auch Frauke hatte ihre Pistole gezückt und durchgeladen.

»Es ist besser, Sie gehen in Ihre Wohnung«, sagte sie.

»Ja – aber … Das gibt’s doch nicht.« Schmidtbauer stand mit offenem Mund hinter den Beamten und sah sie mit weit geöffneten Augen an. »Das gibt’s doch nicht«, wiederholte er, drehte um und stapfte die Treppe abwärts.

Putensenf stieß die Tür mit dem Riffelglaseinsatz mit der Fußspitze auf und lauschte in den kleinen, dunklen Flur mit der eingebauten Garderobe. Nichts rührte sich. Dann bewegte er vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Dabei hielt er die Waffe mit beiden Händen in Kopfhöhe. Die erste Tür rechts führte in den Wohnraum. Er war nahezu spartanisch eingerichtet. Ein lichtes Regal an der Wand war mit einer Handvoll CDs und ein paar Wohnaccessoires bestückt. In der Ecke stand, auf dem Fußboden, ein Fernseher. In der Mitte des Raumes stand ein Glastisch, um den sich drei Freischwinger gruppierten.

In einem saß Giancarlo Rossi. Er hatte die Füße weit von sich gestreckt. Die Arme lagen auf den Lehnen, den Kopf hatte er zurückgelehnt. Der Mund war geöffnet, als schliefe er. Dagegen sprach der große dunkle Fleck auf der linken Seite seines dezent gestreiften Hemdes mit dem offenen Kragen, der ungefähr in der Mitte zwischen Herz und Schultergelenk seinen Ausgangspunkt genommen hatte. Deutlich war das Einschussloch zu erkennen. Von dort war das Blut ausgetreten und hatte sich großflächig rund um diese Stelle vom Stoff des Hemdes aufsaugen lassen.

»Warum hat der Mörder nicht ins Herz geschossen?«, fragte Putensenf.

»Vielleicht war er kein Profi«, antwortete Frauke. »Oder die Distanz war zu groß. Den Tötungswillen erkennt man aber daran.« Frauke zeigte auf den zweiten Einschuss, bevor sie sich darüber beugte. »Aufgesetzt«, erklärte sie. »Das ist ganz deutlich zu erkennen.«

Sie sah Putensenf an. »Ich stelle mir das so vor: Der Mörder zielt auf Rossi, der ahnungslos im Sessel hockt. Er trifft ihn nicht ins Herz, sondern ein wenig versetzt. Dieser Schuss hätte nicht unbedingt tödlich sein müssen. Das erkennt auch der Täter. Deshalb tritt er an Rossi heran, beugt sich über ihn, setzt die Waffe aufs Auge und drückt ab, um ganz sicherzugehen.«

»Das ist ja eine brutale Hinrichtung«, sagte Putensenf. Ihm war anzumerken, dass er trotz aller Erfahrung schauderte.

»Das ist die Sprache, Putensenf, die die Organisation benutzt. Wir haben es mit eiskalten Verbrechern zu tun.«

Putensenf schluckte.

»Wir sollten uns in den anderen Räumen umsehen«, sagte Frauke. Sie gaben sich gegenseitig Deckung. Es war nicht anders zu erwarten gewesen. Die Wohnung war leer.

»Benachrichtigen Sie die Kollegen«, sagte Frauke. »Spurensicherung et cetera.« Sie zeigte auf Rossi. »Die sollen sich jeden Quadratmillimeter seiner Kleidung vornehmen. Aus dem Schusskanal, soweit ich das erkennen kann, ist zu sehen, dass sich der Täter über sein Opfer gebeugt hat, als er ihm ins Auge schoss. Dabei muss er etwas verloren haben, was wir für die DNA verwenden können. Mit Sicherheit irgendeine winzige Hautschuppe.«

»Haben wir den Fall, ich meine, bis auf diesen Mord, jetzt aufgeklärt?«, fragte Putensenf und zeigte auf das Gewehr, das dekorativ auf dem Glastisch lag.

»Ja«, erwiderte Frauke. »Aber anders, als die Gegenseite es uns weismachen möchte. Ich gehe davon aus, dass dies die Mordwaffe ist, mit der Friedrich Rabenstein erschossen wurde. Trapattoni war der Schütze. Denken Sie daran, dass er früher Carabiniere war und mit Sicherheit eine exzellente Ausbildung an der Waffe genossen hat. Mit der Präsentation des Gewehrs will man uns weismachen, dass Rossi der Täter ist. Da war ein Stümper am Werk.«

Sie beugte sich über das Gewehr. »Sehen Sie? Es ist geölt, dass jeder Oberfeldwebel seine helle Freude dran hätte, wenn seine Soldaten ihre Waffen so pflegen würden. Ich möchte wetten, wir finden nicht eine Spur am Gewehr. Wenn Rossi wirklich der Mörder wäre, würde es keinen Sinn machen, dass er die Waffe gründlich reinigt und dann vor sich hinlegt.«

»Also halten Sie Rossi für unschuldig?«

Frauke schüttelte den Kopf. »Nein. Er war am Mord an Rabenstein beteiligt. Sie erinnern sich, dass zwei Leute auf dem Motorrad saßen und einer die Tat dirigiert hat. Das war Rossi.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Frauke erklärte ihm ihre Gedanken zu den Verbindungen zwischen Rossi, Trapattoni und Necmi Özden. »Es wird Fleißarbeit sein, bis wir herausgefunden haben, über welche Handyverbindung Rossi auf der Lister Meile die Anweisungen zum Attentat auf Rabenstein erteilt hat. Und wenn wir alle Gespräche aus dieser Funkzelle analysieren müssen …«

Putensenf stöhnte auf. Ihm war bewusst, dass Polizeiarbeit oft aus unendlich vielen kleinen mühevollen Schritten bestand.

»Und wer waren die Auftraggeber?«, fragte Putensenf.

»Igor Stupinowitsch ist einer der Bosse. Ich vermute, dass auch Don Mateo Zafferano keine weiße Weste hat. Es ist kaum vorstellbar, dass Rossi Geld gewaschen hat, ohne dass Don Mateo es mitbekam. Sehen Sie sich doch um.« Frauke ließ ihren ausgestreckten Arm in die Runde kreisen. »Wohnt so jemand, der den dicken Rahm abschöpft?«

Putensenf schüttelte bedächtig den Kopf.

»Wir werden noch viel zu tun haben, bis wir die Ermittlungsakten in diesem Fall schließen können, mein lieber Putensenf.«

Ein Strahlen huschte über das zerfurchte Gesicht des Kriminalhauptmeisters.

»Den Tag streiche ich mir im Kalender rot an«, sagte er leise. »Mein lieber Putensenf …«

Frauke ließ unerwähnt, dass sie Bernd Richter für einen wesentlich bedeutsameren Akteur hielt, als es bisher den Anschein hatte. Außerdem gab es noch zwei Unbekannte, über die sie bisher geschwiegen hatte. Wer war der Mann mit der Sonnenbrille im Haar, der ihr immer dann begegnet war, wenn es brisant wurde? Und auch hinter dem Namen Georg machte sie ein unsichtbares Fragezeichen.

Sie suchten noch einmal Herrn Schmidtbauer auf.

»Was ist da los?«, fragte er ein wenig atemlos.

»Es war ein Unfall«, erklärte Frauke ausweichend. »Hatte Herr Rossi Besuch?«

»Manchmal.«

»Kannten Sie die Leute?«

»Vom Ansehen. Gelegentlich waren Frauen da. Na ja.« Schmidtbauer neigte ein wenig den Kopf in Fraukes Richtung und zwinkerte mit dem Auge. »Er ist Italiener.«

»Wurden Namen genannt?«

Schmidtbauer schüttelte den Kopf. »Nur Vornamen. Und dann haben die meistens Italienisch miteinander gesprochen. Nur gestern. Da war einer da, mit dem hat er Deutsch gesprochen. Obwohl das auch ein Ausländer war.« Schmidtbauer schüttelte sich. »Man blickt ja nicht mehr durch. Hier laufen so viele Ausländer herum, da wundert es einen überhaupt nicht.«

»Was?«

»Na ja, ich meine nur so«, wich Schmidtbauer aus und beugte sich über Fraukes Handy, das sie aus der Tasche gezogen und in dem sie geblättert hatte.

»War das der Besucher?«, fragte sie.

Der Mann betrachtete aufmerksam das Bild. Dabei kniff er die Augen ein wenig zusammen. Dann tatschte er mit der Fingerspitze auf das Display, sodass ein fettiger Abdruck zurückblieb.

»Genau. Der war ein paar Mal hier. Auch gestern.«

»Hat es Streit gegeben?«

»Nö. Ich habe nichts gehört.«

»Oder andere Geräusche?«

»Ich sagte schon. Nein! Nichts.«

Es mochte gut sein, dass Schmidtbauer nichts gehört hatte. Dem Mord musste nicht zwangsläufig eine lautstarke Auseinandersetzung vorausgegangen sein. Das würde auch der Lage am Tatort entsprechen. Rossi war ohne Vorankündigung eiskalt erschossen worden. Und ihre Anstrengungen würden sich auf den mutmaßlichen Mörder konzentrieren. Schließlich hatte Schmidtbauer Rossis türkischen Mitarbeiter Necmi Özden einwandfrei identifiziert.

Warum war Rossi in der Organisation in Ungnade gefallen?, fragte sich Frauke. Özden war ein Handlanger und hatte mit Sicherheit nur einen Auftragsmord ausgeführt. Galt Rossi, der skrupellos die Regieanweisungen zum Attentat auf Friedrich Rabenstein erteilt hatte, plötzlich als unsicherer Kantonist? Zweifellos hatte Rossi an einer für die Organisation wichtigen Stelle gesessen. Die Hintermänner hatten aber schon oft bewiesen, dass sie auch vor der Liquidation ihrer eigenen Leute nicht zurückschreckten, wenn es um die Sicherheit des inneren Zirkels ging.

Frauke verstand auch, weshalb man allmählich nervös wurde. Es war der Polizei inzwischen gelungen, einen beträchtlichen Teil der Strukturen aufzubrechen.

»Was ist da oben denn nun tatsächlich geschehen?«, fragte Schmidtbauer, und Frauke hörte deutlich die Neugier aus seiner Stimme.

»Rossi ist ermordet worden«, sagte sie kalt.

Das Entsetzen sprang förmlich aus Schmidtbauers Augen.

»Ermordet? In … unserem … Haus?«, stammelte er.

Die Mitarbeiter der zuständigen Fachdienste hatten die Ermittlungsarbeit am Tatort aufgenommen. Der Notarzt wollte sich nicht festlegen und hatte sich vorsichtig und unverbindlich geäußert. Er konnte sich aber vorstellen, dass der Todeszeitpunkt ungefähr mit der Zeit übereinstimmte, zu der Schmidtbauer den Besuch Necmi Özdens bestätigt hatte.

Vom Büro aus intensivierte Frauke noch einmal die Fahndung nach dem Türken, der dringend wegen des Mordes an Giancarlo Rossi und der Beihilfe zum Mord an Friedrich Rabenstein gesucht wurde. Außerdem wurden ihm weitere Straftaten zur Last gelegt; er war an der Misshandlung von Günter Blechschmidt beteiligt, und sie konnten ihm die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation nachweisen.

Doch zunächst brannte Frauke eine andere offene Frage unter den Nägeln. Wer war Georg?

Sie stieg in ihren roten Audi A3 und fuhr zur Königstraße. Der folgte sie bis zum Emmichplatz mit den sehenswerten herrschaftlichen Villen. Ihr Weg führte sie an der Eilenriede vorbei. Dem Gefühl nach und wie sie es versucht hatte, auf der Karte zu rekonstruieren, bog sie irgendwann links ab, um kurz darauf wieder rechts um die Ecke zu fahren.

Sie atmete tief durch. Bis hierher war die Rekonstruktion erfolgreich. Sie erkannte die Brücke mit der eigenwilligen Konstruktion wieder, auf der die Straßenbahn hielt. Hier müsste sie die Straße nach links verlassen. Es folgten noch zwei Schwenker nach rechts und links. Zunächst war sie unsicher, ob sie noch auf dem richtigen Weg war, bis ihr auf einem gesonderten Gleisbett links neben der Fahrbahn eine grüne Straßenbahn entgegenkam. Das passte. Kurz darauf unterfuhr sie eine Brücke, über die der Autoverkehr rauschte. Die Autobahn. Bei der rasanten Fahrt auf dem Motorrad hatte sie es nicht feststellen können.

Isernhagen! Sie befand sich außerhalb der Landeshauptstadt in der Nachbargemeinde, die wegen des ruhigen dörflichen Flairs bei gut betuchten Hannoveranern als Wohnsitz sehr beliebt war.

Hier war Georg kurz nach der Brücke rechts abgebogen. Die erste Straße hieß Lindenallee. Langsam ließ sie ihren Audi die Straße entlangrollen. Enttäuscht wendete sie am Ende der ruhigen Wohnstraße. Sie hatte Georgs Anwesen nicht entdecken können. Auch auf der Rückfahrt konnte sie nichts sehen, was ihr bekannt vorkam.

Sie folgte der Hauptstraße und entschloss sich, in die übernächste Straße einzubiegen, den Birkenweg.

Sie war noch nicht weit gefahren, als sie abrupt auf die Bremse trat. Sie hatte Georgs Haus gefunden. Ruhig und friedlich lag es da. Nichts rührte sich. Der Vorgarten war gepflegt, als hätte der Gärtner ihn gerade verlassen.

Frauke betätigte die Glocke, und ein tiefer melodischer Gong ertönte. Es klang, als hätte jemand ein Glockenspiel in einer Kathedrale in Betrieb gesetzt.

Als wenn Georg auf sie gewartet hätte, öffnete er die Tür und strahlte sie an.

»Willkommen, Frauke«, sagte er mit seiner tiefen, angenehmen Stimme.

Sie betrachtete ihn. Auch heute trug er ein Seidentuch im offenen Hemdkragen. Der Dreitagebart wirkte in dem Gesicht mit den markanten Zügen ausgesprochen attraktiv. Georg sah aus, als wäre er den Seiten eines Lifestylemagazins entsprungen. Er war nicht nur eine attraktive, sondern auch eine gepflegte Erscheinung. Im selben Moment schämte sie sich, dass sie ihm in lässiger, fast ein wenig nachlässig wirkender Kleidung gegenübertrat. Doch Georg schien das nicht zu stören. Er breitete die Arme aus. Ihr »Hallo, Georg« ging in seinem »Ich habe dich schon früher erwartet« unter.

Er hatte sie geduzt.

»Ich musste dich finden«, sagte sie und versuchte, kühl zu klingen.

Er lachte. »Ich hatte nie Zweifel daran, dass du mich finden würdest. Wenn nicht, wäre ich ein wenig enttäuscht gewesen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Männliche Eitelkeit«, entgegnete er leichthin. »Auch Adams Jünger lassen sich gelegentlich gern schmeicheln.«

Er hatte immer noch die Arme ausgebreitet und streckte sie jetzt nach vorn, ihr entgegen. Dann machte er einen halben Schritt vorwärts. Instinktiv machte auch sie einen Schritt in seine Richtung, bis sie sich trafen und Georg sie im Arm hielt. Sie spürte die Wärme seiner Hände auf ihrem Rücken, es war ein angenehmes Gefühl, Georg so nah zu sein und seinen dezenten Herrenduft zu riechen. Langsam legte sie den Kopf ein wenig in den Nacken und schloss die Augen, als er sie brutal an sich riss und zur Seite stieß.

Sie hätte nichts gegen einen emotionsgeladenen Ausbruch gehabt, die Eruption vielleicht aufgestauter Gefühle, aber die Heftigkeit, die Georg an den Tag legte, war nicht unerwartet, sondern jenseits ihrer Vorstellung. Sie stemmte sich gegen seine Brust und wollte sich losreißen, aber Georgs Angriff war zu überraschend gewesen. Sie staunte über seine Kraft, als er sie ins Haus zog und zu Boden riss.

Dann hörte sie es zwei Mal hinter sich krachen.

Frauke musste nicht hinsehen. Sie wusste auch so, dass Geschosse in Holz und Wände gefahren waren und als Querschläger umhersirrten.

Sie versuchte, in ihre Umhängetasche zu greifen, doch Georg lag halb auf ihr und hielt sie umklammert. Mühsam befreite sie sich von seinem Griff.

»Lass das!«, schrie sie ihn an, bekam endlich ihre Hand frei und tauchte in die Tasche. Frauke spürte den kalten Stahl, zerrte die Pistole hervor, musste noch einmal Kraft aufwenden, um die andere Hand unter Georgs Körper hervorzuziehen, und riss dann den Verschluss der Waffe zurück. Das alles war in Bruchteilen von Sekunden geschehen, obwohl es ihr wie eine Ewigkeit erschien.

Sie drehte sich um, drückte dabei auf Georgs Knie und lugte vorsichtig um die Ecke.

Jetzt sah sie den Angreifer. Der Mann trug lederne Motorradkluft und einen schwarzen Helm. Das Visier war hochgeklappt. Nur schemenhaft konnte sie den Blick der dunklen Augen erfassen, die im Schatten des Helms lagen. Der Mann hatte beide Arme vorgestreckt und zielte in dem Augenblick auf Frauke, als sie knapp über dem Fußboden um den Türpfosten linste.

Der Todesschütze hatte fast das Podest vor der Tür erreicht. Ihn mochten zwei Meter von Frauke trennen.

Es war mehr ein Reflex als eine wohlüberlegte Tat, als Frauke abdrückte. Sie zielte auf den Mann. Wie von einer unsichtbaren Hand gehalten, blieb er stehen, erstarrte in der Bewegung, als wäre er mitten im Herzschlag zu Granit geworden. Noch immer hielt er seine Waffe mit dem aufgesetzten Schalldämpfer auf Frauke gerichtet. Sie sah in das dunkle Mündungsrohr, aus dem das todbringende Geschoss entweichen würde. Es kam ihr riesig vor, so als würde es sie verschlucken wollen.

Die Augen des Schützen nagelten Frauke mit einem stechenden Blick fest. Sie sah, wie sich langsam der Finger um den Abzug zusammenkrallte, zurückfuhr, dann aber kurz vor dem Druckpunkt einhielt. Für einen Moment verharrte der Finger in dieser Position, bis er sich kaum merklich zu entspannen schien und in unendlicher Langsamkeit wieder nach vorn glitt. Dabei war der Blick des Mannes unablässig auf sie gerichtet, dieser kalte Blick.

Die drei Finger, die um den Schutzbügel des Abzuges lagen, lösten sich langsam, dann gab der Daumen nach. Die Pistole knickte vornüber ab, hing für einen Herzschlag am Zeigefinger und rutschte dann aus der Hand. Polternd fiel sie zu Boden.

Frauke vermochte nicht zu sagen, wie lang dieser Augenblick war. Vermutlich hatte sich das alles in einer Zeitspanne abgespielt, die zu kurz zum Messen war.

Geistesgegenwärtig hob sie ihre Pistole und gab einen Schuss in die Luft ab.

Der Mordschütze starrte sie immer noch an. Dann griff seine linke Hand zu der Stelle knapp neben dem Schulterblatt, an der Frauke ihn getroffen hatte. Es war ein glücklicher Schuss gewesen. Sie hätte den Mann auch ins Gesicht oder ins Herz treffen können.

Jetzt knickte der Mordschütze in den Knien ein, fasste sich aber wieder, starrte wie gebannt auf seine linke, blutverschmierte Hand, knickte erneut ein und versuchte, sich umzudrehen.

Der Schock über den Treffer und die Energie, die davon ausging, hatten ihn aber gelähmt. Frauke stieß mit den Füßen Georgs Bein weg, das sie behinderte, zog sich am Türrahmen hoch, und dann stürzte sie sich auf den Schützen. Sie hatte Necmi Özden auch durch das offene Visier hindurch erkannt.

Sie packte den Türken und riss ihn zu Boden. Er stöhnte laut auf, leistete aber keine Gegenwehr. Sie drückte ihn zu Boden, ohne dabei Rücksicht auf die Schmerzen zu nehmen, die den Mann durchfließen mussten.

»Hab dich«, sagte sie atemlos. Sie konnte sich nicht davon abhalten, den ledergekleideten Körper noch einmal auf den Boden zu drücken. Erneut schrie der Türke auf. Es war ein bekanntes Phänomen, dass Menschen, die kaltblütig anderen zusetzten, selbst extrem wehleidig waren.

Frauke hielt Özden auf dem Boden fixiert und sah über die Schulter zurück. Dort rappelte sich Georg gerade auf. Er sah Frauke an, die den Türken festhielt, dann zu den beiden Waffen, die auf dem Boden lagen.

»Wag es nicht«, rief ihm Frauke drohend zu.

Georg sah sie aus großen Augen an. Es lag ungemein viel Ratlosigkeit in diesem Blick. Dann nickte er.

»Ich hole Hilfe«, sagte er und verschwand im Halbdunkel seiner Diele.

Kurz darauf kam er zurück.

»Rettungsdienst und Polizei sind verständigt«, erklärte Georg. Dann kniete er sich neben Frauke nieder.

»Alles okay?«, fragte er, und Frauke hörte Besorgnis in seiner Stimme.

»Nichts ist in Ordnung«, sagte sie.

Sie ärgerte sich, dass sie alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen hatte. Sie war so sehr mit der Verfolgung der Spur zu Georgs Haus beschäftigt gewesen, dass sie nicht auf etwaige Verfolger geachtet hatte. Oder war Necmi Özden ihr gar nicht gefolgt? Sie wusste es nicht.

Der Türke hatte möglicherweise mehrere Menschenleben auf dem Gewissen. Seine Kaltblütigkeit hatte er bei der Ermordung Giancarlo Rossis gezeigt. An dieser Stelle endete seine tödliche Karriere. Und seine Auftraggeber würde Frauke auch zur Strecke bringen. Nun erst recht. Eine Frauke Dobermann machte man nicht ungestraft zur Zielscheibe.

Georg hatte sich über Özden gebeugt und besah sich das Einschussloch. Fraukes Geschoss hatte den Körper durchschlagen und war durch das Schulterblatt wieder ausgetreten.

Georg fasste Frauke am Oberarm und zog sie sanft zur Seite.

»Lass mich mal«, sagte er bestimmt, griff in die abgewetzte Ledertasche, die im Fachhandel unter der Bezeichnung »Doktortasche« geführt wird, und zog eine stabile Schere hervor. Vorsichtig versuchte er, Kleidungsfetzen von der Wunde wegzuschneiden. Dann suchte er wieder in seiner Tasche, zog eine Kompresse hervor, löste die Verpackung und drückte die Mullbinde auf die Wunde, aus der das Blut pulsierend hervorschoss.

»Sie werden gleich versorgt«, sagte Georg in beschwichtigendem Ton zu dem bewegungslos daliegenden Özden. Zu Frauke gewandt fügte er an: »Nimm ihm den Helm ab.«

»Verstehst du etwas davon?«, erwiderte Frauke mit einer Gegenfrage. »Er wollte uns ermorden.« Dabei nickte sie in Özdens Richtung.

»Dich«, antwortete Georg betont. »Dich wollte er ermorden. Mich leitet ausschließlich der humanitäre Gedanke. Den Helm«, forderte er sie nachdrücklich auf.

Frauke befreite den stöhnenden Türken vom Helm.

Georgs Blick wanderte über das Leder der Motorradkluft.

»Was suchst du?«

Georg sah sie nicht an. »Du hast zwei Mal geschossen«, sagte er und ließ seinen Blick weiterwandern.

»Der erste war ein Warnschuss«, antwortete Frauke.

Georg ließ von Özden ab und sah sie lange an.

»Soso, ein Warnschuss«, sagte er. Er sprach in einer ungewohnten Tonlage.

Frauke war sich nicht sicher, ob Georg ihr Manöver mitbekommen hatte. Doch das war nicht die einzige Frage, die sie beschäftigte.

Wie konnte sie Igor Stupinowitsch als Drahtzieher im Hintergrund das Handwerk legen? Welche Rolle spielte der inhaftierte Bernd Richter?

Und … wer war Georg?