EINS

Wie auf Kommando erstarb die Geräuschkulisse, als der Pianist eintrat. Er verharrte einen Moment am Flügel und verneigte sich, um den Beifall der Gäste über sich ergehen zu lassen. Dann setzte er sich an das Instrument, ließ dreimal in der Luft seine Hände über die Tastatur gleiten, schüttelte seine Finger demonstrativ aus, schlug mit dem rechten Fuß zweimal auf den Fußboden, murmelte dabei sicht-, aber unhörbar: »Drei – vier«, und hämmerte ansatzlos in atemberaubender Geschwindigkeit in die Tasten.

Frauke Dobermann war sprachlos. Es war faszinierend, in welchem Tempo der Künstler »Boogie Woogie with me« intonierte. Ein Lächeln erschien auf seinem sonst konzentriert wirkenden Gesicht, als mitten im Stück Beifall aufbrandete.

Auch Frauke spendete Applaus. Den hatte sich der Mann redlich verdient. Es folgte der »Swanee River Boogie«, und beim »Powerhouse Boogie-Woogie« gab es kein Halten mehr unter den Zuschauern. Der Pianist hatte sie alle in seinen Bann gezogen.

Frauke war überrascht, überwältigt und begeistert. Das hätte sie Nathan Madsack nicht zugetraut. Der korpulente Hauptkommissar und neben Putensenf zweite Mitarbeiter ihres Teams war ein außergewöhnlicher Pianist.

In einer Pause zwischen zwei Stücken beugte Putensenf sich zu ihr herüber. »Na? Zu viel versprochen?«

Sie wollte antworten, konnte aber nur nicken, weil die Worte in den ersten Tönen des nächsten Stücks untergegangen wären.

Madsack hatte sich den tosenden Applaus und die Pause verdient.

»Ich kümmere mich um den Getränkenachschub«, sagte Putensenf und wurde kurz abgelenkt, als Fraukes Handy klingelte.

Böse Blicke und launische Kommentare von anderen Tischen straften sie dafür ab, dass sie vergessen hatte, das Telefon auszuschalten.

»Dobermann«, sprach sie leise in das Gerät und deckte das Telefon mit der flachen Hand ab.

»Sie haben einen Fehler gemacht«, sagte eine fremdländisch klingende Männerstimme. »Sie werden sterben.«

Dann hatte der Teilnehmer aufgelegt.

Nachdenklich starrte Frauke auf ihr Telefon. Warum hatte sie vergessen, das Gerät abzuschalten? Nach ihrem turbulenten Einstand beim Landeskriminalamt in Hannover war es der erste Abend, an dem sie es für ein paar Stunden vergessen hatte: den unfreiwilligen Wechsel von der Leitung der Flensburger Mordkommission in die Niedersachsen-Metropole, die niederträchtigen Intrigen und Verleumdungen, die der Anlass gewesen waren, das Hineingestürztwerden in die Ermittlungsgruppe für organisierte Kriminalität und der erste Fall in Hannover, der an Dramatik kaum zu überbieten war und an dessen Ende sie die Leitung der Gruppe übertragen bekommen hatte.

»Ist was?«, fragte Jakob Putensenf und reichte ihr ein Glas Rotwein.

Frauke staunte über die charmante Art des Kriminalhauptmeisters. Putensenf hatte ihr mit seinem Machogehabe viele Steine in den Weg gelegt, als sie zu der männerdominierten Ermittlungsgruppe gestoßen war. Er machte keinen Hehl aus seiner Überzeugung, Frauen würden nicht in den Polizeidienst gehören, schon gar nicht zur Kriminalpolizei. Tatsächlich traf man in den sogenannten »harten Sachgebieten« Frauen nur in geringer Zahl an. Jetzt war sie seine Vorgesetzte.

»Ich habe vergessen, mein Handy auszuschalten«, sagte Frauke.

Doch Putensenf musterte sie argwöhnisch.

»Privaten Ärger?«, fragte er leise und war erst beruhigt, als Frauke nickte.

Es hatte sich herumgesprochen, dass sie verheiratet war, aber Herr Dobermann in Flensburg residierte und das offensichtlich Beste an dieser Ehe das beiderseitige Schweigen war.

Frauke prostete dem Kriminalhauptmeister zu, dann erhob sie das Glas in Richtung seiner Frau. Anschließend nippte sie am Rotwein. Es war eine gute Idee von Putensenf gewesen, sie hierher in den Jazzclub zu entführen, zum ersten ruhigen Abend seit ihrer Ankunft an der Leine. Und dass das dritte Mitglied ihres Teams, der schwergewichtige Hauptkommissar Nathan Madsack, der bei jeder Bewegung ins Schnaufen kam, hier als fetziger Boogie-Woogie-Pianist auftrat, war eine besondere Überraschung gewesen. Das hätte sie dem korpulenten Mann nicht zugetraut.

Erneut nippte sie am Weinglas und sah sich um. Geschwätziges Treiben herrschte in den Katakomben des Clubs, der in Hannover Kult war. Im Publikum fehlten die ganz jungen Leute, die offenbar keinen Bezug zu dieser Musik hatten. Dafür fanden sich hier Damen und Herren, denen man getrost das Attribut »betagt« zusprechen konnte, bewusst lässig gekleidete »Silveragers«, wie die Generation der Fünfzig- bis Sechzigjährigen genannt wurde, ein paar auf jugendlich getrimmte Oberstudienräte und andere, die mit ein wenig Glück nicht zum Schaulaufen hier waren, sondern weil sie Gefallen an dieser Musik fanden. Sicher gehörten auch Jakob Putensenf und seine Frau dazu.

Frauke lächelte ihn an und musterte das zerfurchte Gesicht mit den grauen Haaren, dem gepflegten Bart, der Oberlippe und Kinn zierte und in dem das Weiß dominierte. Ob es Putensenf in diesem Moment schwerfiel, auf seine geliebten Zigarillos zu verzichten?, dachte Frauke. Kriminalhauptmeister – einer der wenigen Beamten, die noch zum mittleren Dienst gehörten, da der Einstieg in die Polizeilaufbahn heute beim Kommissar begann. Putensenf, so hatte Kriminaloberrat Ehlers ihn damals vorgestellt, war ein altgedienter Haudegen, dessen Lebensweg ihn irgendwann vom gelernten Handwerker zur Kriminalpolizei geführt hatte, eine Karriere, die heute undenkbar war. Damit verzichtete man aber auf Menschen, die auf andere Art schon Einblicke in »das Leben« genommen hatten, dachte Frauke.

Sie zuckte unmerklich zusammen, als ihre Gedanken zu dem Anruf zurückkehrten. Man hatte ihr eine Todesdrohung zukommen lassen. Natürlich war die Ermittlungsgruppe für organisierte Kriminalität etwas anderes als das Aufklären von Einbrüchen in Gartenlauben. Trotzdem kam es selten vor, dass Polizeibeamte mit Mord bedroht wurden. Irgendwie schien Frauke in ein Wespennest gestochen zu haben, als sie die drei Morde und die Zusammenhänge zwischen diesen Tötungsdelikten aufgeklärt hatte. Täter und Motive waren ermittelt. Doch die auf ihren Prozess wartenden Mörder waren nur Handlanger gewesen. Die Auftraggeber, die hinter diesen Taten standen, liefen noch frei herum. Und diese Freiheit wollten sie sich bewahren. Deshalb schreckten diese Leute nicht davor zurück, der Ermittlungsleiterin die Drohung zukommen zu lassen: »Wir werden Sie töten!«