SECHS

Frauke saß lustlos vor einem halben Brötchen mit Marmelade. Sie hatte bereits die zweite Tasse Kaffee getrunken, aber der bohrende Schmerz in ihren Schläfen wollte nicht verschwinden. Die kurze Nacht und der ungewohnte Alkohol forderten ihren Tribut.

Im Frühstücksraum war sie den drei Männern begegnet, die sie am gestrigen Abend im Hotelfoyer angesprochen hatten. Ferdinand, der sich so kess gezeigt hatte, war mit einem leise gemurmelten »Guten Morgen« an ihr vorbeigeschlichen und hatte verschämt den Kopf zur Seite gedreht. Alkohol enthemmt, dachte sie, und dabei wurde ihr bewusst, dass sie am Vorabend in der Bar auch mehr getrunken hatte, als es die Umstände gestattet hätten. Ob es an Hannover lag? Immerhin gab es hier mit der Bischöfin ein prominentes Opfer, und dem Adeligen, der schon mehrfach durch Prügeleien und andere Exzesse aufgefallen war, wurde auch nachgesagt, dass er nicht gerade abstinent lebte. Nein! Das war Unsinn. Hannover überraschte mit anderen Dingen, zum Beispiel als Standort einer skrupellosen und überaus aktiven kriminellen Organisation.

Frauke ließ ihr Frühstück stehen, holte ihre Utensilien und kündigte an, dass sie heute ausziehen werde. Sie bat um die Rechnung, verstaute ihre Habe in ihrem Audi A3 und fuhr zum Landeskriminalamt. Niemand gab einen Kommentar ab, aber sie spürte schon die neugierigen Blicke, als sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit als Letzte eintraf.

Schwarczer nickte ihr freundlich zu, als sie ihm am Kaffeeautomaten begegnete, und tat so, als hätte es den vorherigen Abend nicht gegeben. Zumindest schien er solche Ausflüge eher gewohnt zu sein als Frauke, denn, abgesehen von den Ringen unter den Augen, merkte man ihm nichts an. Sie ging ihm hinterher, blieb am Eingang seines Zimmers stehen und sagte: »Trapattoni sollte vor einer halben Stunde hier sein. Jetzt ist es halb zehn. Wenn er erscheint, nehmen Sie sich seiner an. Ich werde noch einmal zum Großmarkt fahren.«

Der Kommissar nickte nur.

Frauke forderte Putensenf auf, sie zu begleiten.

»Muss das sein?«, fragte der Kriminalhauptmeister.

»Los, Putensenf, kommen Sie in Schwung.«

Sie hatte sich auf den Beifahrersitz gekauert und die Hände vor der Brust verschränkt. Es fröstelte sie. Natürlich bekam sie mit, dass Putensenf sie kritisch mehrfach von der Seite musterte und die Nase rümpfte. Hoffentlich riecht man nichts mehr, hoffte sie.

Als Putensenf erneut demonstrativ die Nase hochzog, fragte sie ihn: »Sind Sie erkältet oder haben Sie Heuschnupfen?«

»Ich habe einmal eine Brauerei besichtigt«, erwiderte der Kriminalhauptmeister. »Da hat es auch sehr streng gerochen.«

»Ist das schon lange her?«

»Schon eine Weile.«

»Da liegt dann ein Irrtum vor. Bei Ihrer Demenz können Sie sich bestimmt nicht mehr erinnern.«

»Wie Madame meinen.« Dabei grinste Putensenf.

Auf dem Großmarkt herrschte das gewohnte Treiben. Auf dem Stand des italienischen Importeurs waren heute Arbeiter beschäftigt, die Frauke noch nie gesehen hatte. Ihr fiel zudem auf, dass es hier ruhiger zuzugehen schien als an den anderen Ständen.

»Haben Sie es nicht nötig, schnelle Umsätze zu machen?«, fragte sie Giancarlo Rossi, der sich wenig begeistert vom erneuten Besuch der Polizei gezeigt hatte.

»Wir sind hoch profitabel. Aber Sie wollen nicht unsere Steuererklärung prüfen?«

»Wie kommt es, dass Sie nur halb so aktiv sind wie Ihre Nachbarn?«

Rossi tippte sich an die Stirn. »Mancher macht sein Geschäft mit Hektik. Wir benutzen unseren Verstand.«

Das stand im Widerspruch zu der Unruhe, die Rossi bei ihrem ersten Besuch an den Tag gelegt hatte.

»Wenn Sie so profitabel arbeiten … Verraten Sie mir Ihr Geheimnis.«

»Wir haben uns lukrative Absatzwege erschlossen. Außerdem verkaufen wir auch direkt an den Endkunden. So haben wir eine zusätzliche Handelsspanne.«

»Aha. Sie sind also Doppelverdiener.«

Rossi war die Spitze nicht entgangen. »Wie meinen Sie das?« In seiner Stimme lag ein lauernder Unterton.

»Warum laden Sie die Medikamente in der Scheune in Dübbekold um und nicht hier?«

»Die was?« Rossi starrte Frauke mit weit aufgerissenen Augen an.

»Die gefälschten Arzneien, die Sie über Weißrussland beziehen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Rossi wollte zum Telefon greifen, aber Putensenf war schneller und legte dem Mann die Hand auf den Oberarm.

»Nun tun Sie nicht so erstaunt, als würde ich Ihnen erklären, wie die kleinen grünen Männchen vom Mars ihren Nachwuchs zeugen.«

»Medikamente? Hier.« Rossi klopfte mit den Knöcheln seiner Hand heftig auf einen Stapel Lieferpapier auf seinem Schreibtisch. »Wir handeln mit Obst und Gemüse. Da sind viele Vitamine enthalten, weil wir für unsere frische Ware bekannt sind. Aber deshalb würde ich es nicht ›Medikamente‹ nennen, nur weil unsere Produkte gesund sind.«

Frauke erinnerte sich an die Aussage des russischen Lkw-Fahrers, der behauptet hatte, dass das Gemüse in Weißrussland nach dem Ausladen vergammeln würde. Sie verzichtete darauf, Rossi mit diesem Vorwurf zu konfrontieren. Es hätte den harmlosen Fahrer in Gefahr gebracht. Rossi hätte immer noch behaupten können, von den Geschehnissen in Weißrussland wisse er nichts, und dass die Polizei vermutete, hier würde massiv Geldwäsche betrieben, wollte sie ihm noch nicht erzählen. Es reichte, wenn die Organisation aufgeschreckt war. Ein Fuchs hatte in einem Hühnerstall immer dann die größten Erfolgsaussichten, wenn alles kopflos durcheinanderflatterte.

Zu den Medikamenten würden sie keine weiteren Auskünfte erhalten. Falls Rossi damit zu tun hatte, würde er wissen, dass man ihm nichts beweisen könnte. Die Arzneien wurden in einem großen Bogen um Hannover herumgeleitet.

»Woher kennen Sie Trapattoni?«

Rossi grinste unverschämt, hob die Hände und drehte sie in den Handgelenken. Dann zog er eine Grimasse. »S-t-r-u-n-z. Was erlauben sich dieser Mann? Flasche leeer«, imitierte er den gleichnamigen Extrainer Bayern Münchens mit dessen Kult gewordenem Zitat.

»Verkaufen Sie uns nicht für dumm.«

Rossi tippte sich theatralisch an die Brust. »Ich bin Italiener. Wir sind alle fußballversessen. Für uns gibt es nichts Schöneres, als gemeinsam vor dem Fernseher zu sitzen und mit unseren Mannschaften mitzufiebern. Da habe ich Massimo Trapattoni kennengelernt.«

»Er ist also ein enger Freund von Ihnen?«

»Enger Freund! Was heißt enger Freund?«

»Immerhin sind Sie so vertraut, dass er Ihnen seinen Alfa leiht.«

»Sì. Schickes Auto. Manchmal habe ich Verlangen danach, ein italienisches Auto zu fahren. Das ist, als wenn Sie statt Ihrer langweiligen deutschen Ehefrau Sophia Loren küssen.«

»Und weshalb war gestern Ihr Mitarbeiter mit dem Alfa in Lüneburg?«

Das Erschrecken in Rossis Augen war unübersehbar. Er schnappte förmlich nach Luft und rang nach Worten.

»Welcher Mitarbeiter?«, stieß er endlich hervor.

»Der türkische. Wie heißt er übrigens?«

»Wir haben jede Menge Türken. Welchen meinen Sie?«

»Nun stellen Sie sich nicht dumm. Oder sollen wir Ihre Gehaltsbuchhaltung beschlagnahmen?« Dabei zeigte Frauke auf die blonde Mitarbeiterin, von der sie wusste, dass sie Johanna hieß. »Dann laden wir alle Ihre Mitarbeiter, auch sämtliche Aushilfen der letzten Jahre, vor, um den Fahrer des Alfas zu identifizieren.«

»Ich weiß nichts davon, dass jemand mit dem Alfa gefahren ist.«

Frauke holte ihren Organizer hervor und zeigte Rossi das Bild mit dem Alfa und dem Mann, den die Polizei am Vortag in Lüneburg fotografiert hatte.

»Wer ist das?«

Rossi betrachtete das Bild lange. Er kniff dabei die Augen zusammen und tat, als müsse er intensiv nachdenken. Dann sagte er: »Das ist Necmi.«

»Necmi der Vierzehnte? Oder hat er auch einen Zunamen?«

»Necmi Özden.« Rossi schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. »Der Hund. Gestern ist er nicht zur Arbeit erschienen. Stattdessen hat er sich den Schlüssel genommen und ist mit dem Alfa unterwegs gewesen. Wenn ich den zu fassen kriege.«

»Wo ist Özden heute?«

»Keine Ahnung.« Dann wandte sich Rossi an die Kontoristin. »Johanna. Wo steckt der Kerl?«

»Heute ist Freitag«, überlegte die Blonde laut. »Dann ist er auf dem Wochenmarkt in Stöcken. In der Hogrefestraße.«

»War’s das? Kann ich jetzt weiterarbeiten?«, fragte Rossi sichtlich gereizt.

»Wir haben noch eine weitere Frage. Wie kommt das Motorrad auf den Lkw, der das Gemüse nach Weißrussland bringen sollte?«

»Was wissen Sie von der Moto Guzzi?«

»Wir haben tüchtige Behörden in Deutschland«, wich Frauke aus.

Rossi unternahm klugerweise gar nicht erst den Versuch, zu leugnen. »Das gehört unserem russischen Geschäftspartner. Er ist ganz vernarrt in die Moto Guzzi. Nun musste die Maschine zur Inspektion. Okay. Das war vielleicht nicht in Ordnung, dass die Moto Guzzi mit dem Gemüselaster transportiert wurde. Wir haben die Rechnung für die Inspektion erst einmal verauslagt. Johanna!«

Die Blonde wedelte mit einem Blatt Papier und reichte es Frauke. Sie warf einen kurzen Blick darauf. Es war eine ordnungsgemäße Werkstattrechnung. Sogar das weißrussische Kennzeichen stimmte. Frauke bat Johanna um eine Fotokopie.

Mehr war nicht in Erfahrung zu bringen. Es schien, als hätte Rossi auf alle Fragen eine Antwort, die die Polizei im Augenblick nicht widerlegen konnte. Falls der Mann aber doch in Verbindung mit der Organisation stand, würde der heutige Besuch bei ihm die Hintermänner noch mehr aufgeschreckt haben.

Auf der Dienststelle suchte Frauke Schwarczers Büro auf, aber der Kommissar war noch beim Verhör Trapattonis, erfuhr sie von einem Kollegen. Madsack war außer Haus, ohne zu hinterlassen, wo er sich aufhielt. Sie wählte seine Handynummer an. Der Hauptkommissar meldete sich schwer atmend, so als hätte er die oberste Etage eines höheren Hauses zu Fuß erklommen.

»Wo stecken Sie, Madsack?«, schimpfte Frauke.

»Ich bin in der Hogrefestraße in Stöcken.«

»Wo ist das, und was tun Sie da, zum Teufel?«

»Das ist am westlichen Rand Hannovers, ein kurzes Stück hinter den Herrenhäuser Gärten. Die Straße selbst ist nahe dem Stadtfriedhof Stöcken.«

»Was suchen Sie auf dem Friedhof? Wir bekommen die Leichen frei Haus geliefert und müssen uns nicht selbst um den Nachschub sorgen.«

Madsack ließ ein Lachen hören. »Hier ist Wochenmarkt. Ich beobachte den Stand unserer italienischen Freunde.«

»Floriert das Geschäft in dem Maße, wie man es uns weismachen wollte?«

»Überhaupt nicht. Da steht ein einsamer Mann und langweilt sich.«

»Wie sieht der aus?«

Madsack ließ einen Zischlaut hören. »Wie sieht er aus?«, wiederholte er. »Unbestimmtes Alter, schwarzer Schnauzbart. Das ist kein Deutscher.«

»Könnte es ein Türke sein?« Frauke erinnerte sich an die Aussage der Kontoristin, dass Necmi Özden heute in Stöcken sei.

»Danach sieht es aus. Ich habe übrigens mit einigen anderen Marktbeschickern gesprochen. Die wundern sich, wie die Italiener überleben können. Am Ende des Marktes blieben häufig Berge von Ware übrig, die die Leute einfach auf den Abfall werfen. Das hat sich natürlich bei den Kunden herumgesprochen. Viele Leute warten jetzt auf den Feierabend und machen sich über die Reste her. Das geht natürlich zulasten der Mitbewerber.«

»Gibt es eine Erklärung dafür?«

»Mir konnte keiner etwas Schlüssiges sagen. Hinter vorgehaltener Hand wird von ›schlechter Ware‹ gemunkelt, unfreundliches Personal und Desinteresse. Auf einem Wochenmarkt wollen auch der persönliche Kontakt und das Gespräch gepflegt werden. Es mangelt offensichtlich an allem.«

»Das bestärkt uns in der Vermutung, dass das ganze Importgeschäft nur der Geldwäsche dient. Ein Wochenmarktstand ist ideal. Niemand kann kontrollieren, was zu welchen Preisen umgesetzt wird. Und über hohe Einkünfte freut sich jedes Finanzamt. Perfekter geht die Geldwäsche nicht.« Frauke forderte Madsack auf, noch bis zum Ende des Marktes zu bleiben und die »Entsorgung« der unverkauften Ware zu dokumentieren.

»Ich habe schon eine Reihe von Fotos geschossen«, sagte der Hauptkommissar und beendete das Gespräch.

Mittlerweile war Schwarczer zurückgekehrt und berichtete vom Verhör Trapattonis. »Er behauptet, für Mittwoch ein Alibi zu haben. Wir haben es noch nicht überprüft. Trapattoni gibt an, mit einer Frau in seiner Wohnung gewesen zu sein. Angeblich handelt es sich um eine Kollegin aus dem Club. Den Alfa will er an Rossi verliehen haben. In diesem Punkt ist er bei seiner Aussage von gestern geblieben.«

»Das deckt sich mit dem, was Rossi uns heute Morgen erzählt hat«, warf Frauke ein.

»Trapattoni hat seine Verspätung übrigens damit begründet, dass sein Anwalt nicht eher konnte.«

»Anwalt?«, fragte Frauke. »Lassen Sie mich raten: Dottore Alberto Carretta.«

Schwarczer nickte. »Genau der. Der Anwalt drohte zunächst mit einer Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen mich. Ich habe darauf verwiesen, dass die Kamera Trapattonis wütenden Angriff auf uns aufgezeichnet hat, nachdem er die Tür öffnete. Es war folglich nur eine Abwehrmaßnahme. Der Türsteher ist daraufhin erregt dazwischengegangen und hat gemeint, die Kamera würde nichts aufzeichnen. Ich habe ihm erklärt, dass dieses Argument noch mehr gegen ihn spricht. An dieser Stelle hat sich Dottore Carretta eingeschaltet und seinem Mandanten etwas auf Italienisch erklärt. Trapattoni hat genickt, und die Sache war vom Tisch.«

»Der Anwalt ist ein kluger Mann. Ich verstehe immer noch nicht, welchen Einfluss er hat. Nach außen wirkt es so, als würde er seine Klienten mäßigen und dazu bringen, ihre Vergehen einzugestehen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Carretta auch als verlängerter Arm und Bote der Drahtzieher fungiert.«

Schwarczer ließ Fraukes Einwurf unkommentiert. »Ich habe im Handelsregister und bei der Gewerbeaufsicht nachgeforscht. Igor Stupinowitsch ist offiziell als Eigentümer eingetragen. Er hat auch einen Nebenwohnsitz in Hannover, und zwar bewohnt er ein Apartment in der Scharnhorststraße im Zooviertel. Hier.« Schwarczer legte Frauke einen Computerausdruck vor. Er zeigte einen finster dreinblickenden Mann mit flacher Stirn und einem Bart, der Frauke an Josef Stalin erinnerte. »Das ist er.«

»Das ist merkwürdig«, dachte Frauke laut nach. »Warum versteckt sich Stupinowitsch nicht hinter Strohmännern? Es ist unüblich, dass sich die Bosse so weit nach vorn wagen. Daraus könnte man natürlich schließen, dass wir bei Stupinowitsch noch nicht am Ziel sind, dass der Russe nur die zweite Führungsebene ist.«

Danach rief Frauke in Lüneburg an. Hauptkommissar Heidenreich war nicht in seinem Büro, erklärte ihm die unfreundliche Mitarbeiterin. Sie erreichte Heidenreich per Handy. Deutlich war zu hören, dass der Lüneburger in einem fahrenden Auto saß.

»Wir sind auf dem Rückweg von Göhrde. Dort wohnt der Landwirt, der die Scheune vermietet hat, die der Bande als Umschlagplatz diente. Natürlich gibt es keinen schriftlichen Vertrag. Der Landwirt hat die Miete bar auf die Hand erhalten. Die Leute waren Ausländer, hat er gesagt. Beschreiben konnte er sie nicht. Sie haben Deutsch mit starkem Akzent gesprochen. Ob es Russisch, Italienisch oder Türkisch war – darauf wollte er sich nicht festlegen. Er kommt selten aus seinem Dorf heraus. Und dort gibt es keine Ausländer, sodass ihm Vergleichsmöglichkeiten fehlen.«

»Ist es dem Mann nicht merkwürdig vorgekommen, dass man seine einsame Scheune gemietet hat?«

»Ja, das schon. Er hat sich auch gewundert und war neugierig. Zwei oder drei Mal ist er hingefahren, war aber beruhigt, als er feststellte, dass die Scheune leer war. Dann hat er sich nichts mehr dabei gedacht. Man hat ihm erklärt, dass sich ein paar Motorradfreunde zusammengetan haben, die dort im einsamen Wald Motocross fahren wollten. Das ist nicht legal. Sie wollten eine Unterstellmöglichkeit für ihre Maschinen haben, damit sie die nicht jedes Mal wieder mit an ihren Wohnsitz nehmen müssen.«

Das klang plausibel, zumindest für den Landwirt.

»Wir haben auch nachgeforscht«, fuhr Heidenreich fort, »wer die Annonce in der Landeszeitung aufgegeben hatte, auf die sich Günter Blechschmidt um den Nebenverdienst beworben hatte. Die Mitarbeiterin in der Anzeigenannahme konnte sich nicht mehr an den Kunden erinnern. Er hat bar bezahlt. Das ist nichts Ungewöhnliches.« Damit war auch diese Spur ins Leere gelaufen.

Anschließend rief Frauke in der Kriminaltechnik an. Dort hatte man festgestellt, dass die Rahmennummer der Moto Guzzi nicht manipuliert war. Es hatte den Anschein, als hätte Stupinowitsch die Maschine legal erworben. Offensichtlich handelte es sich um sein Motorrad. Ob der ungewöhnliche Weg, die Maschine zur Inspektion nach Hannover und wieder zurückzutransportieren, gegen irgendwelche zollrechtlichen Bestimmungen verstieß, interessierte Frauke nicht. Es war schwierig genug, den Nachweis zu erbringen, dass die Mörder Friedrich Rabensteins die Moto Guzzi zur Flucht benutzt hatten. Zu der benutzten Waffe gab es noch kein Untersuchungsergebnis.

»Was ist?«, fragte Frauke, die sich durch einen Anruf Madsacks gestört fühlte.

»Hier ist etwas Merkwürdiges geschehen«, berichtete der Hauptkommissar. »Wir haben Marktende. Die anderen Marktbeschicker bauen ihre Stände ab, aber bei unserem tut sich nichts.«

»Was heißt das? Verkauft der Türke weiter?«

»Das ist es«, gestand Madsack kleinlaut. »Vor einer Viertelstunde ist er mit einer Kiste unterm Arm weggegangen, nachdem er zuvor die Kasse geleert hatte.«

»Sind Sie ihm nicht gefolgt?«

»Ich dachte, er bringt die Ware zu seinem Auto. Dass er sicherheitshalber den Kasseninhalt mitnimmt, hat mich nicht stutzig gemacht.«

»Hat Özden vorher telefoniert?«

»Sicher«, erwiderte Madsack. »Der hat den ganzen Vormittag über telefoniert. Pausenlos.«

Da dürfte es schwierig sein, festzustellen, ob er von jemandem die Anweisung erhalten hat, sich unauffällig zurückzuziehen. Und Nathan Madsack mit seiner Korpulenz war natürlich auch alles andere als ein unauffälliger Observierer.

Frauke wählte die Nummer des Gemüseimporteurs auf dem Großmarkt. Nach mehreren Versuchen meldete sich die Kontoristin.

»Ich will Rossi sprechen«, sagte Frauke in einer Tonlage, die keinen Widerspruch duldete.

»Was ist nun schon wieder los!«, brüllte der Italiener in den Hörer. Frauke merkte ihm an, dass er immer gereizter wurde, wenn die Polizei Kontakt zu ihm aufnahm.

»Ist Necmi Özden bei Ihnen eingetroffen?«

»Warum fragen Sie das, eh? Wieso interessiert es Sie, was mit unserem Geschäft ist?«

»Mich würde nicht wundern, wenn Sie heute auf die Tageseinnahme aus Stöcken verzichten müssten. Es hat den Anschein, als wenn Özden mit der Kasse durchgebrannt ist. Sie sollten schnell jemanden in die Hogrefestraße schicken, um zumindest den Stand und die Restbestände der Ware sicherzustellen.«

»Mamma mia«, jammerte Rossi. »Was habe ich nur getan, dass ich es nur mit Verrückten zu tun habe? Wenn ich den Hund erwische, dann … Ausgerechnet Stöcken. Wie soll ich erklären, dass uns ein ganzer Tagesumsatz fehlt? Die Hogrefestraße am Freitag ist der absolute Renner. Haben Sie eine Vorstellung, mit welchem Batzen Geld Özden durchgebrannt ist?«

»Dann sollten Sie schnell zur Polizei gehen und Strafanzeige erstatten, damit wir Ihnen bei der Suche nach Ihrer prall gefüllten Kasse behilflich sein können.«

Rossi jammerte und fluchte auf Italienisch, bis Frauke schließlich auflegte. Wenn der Mann wüsste, dachte sie, dass er der Polizei mit seiner Überreaktion erneut ein kleines Puzzlesteinchen geliefert hatte, würde er vermutlich ganz anders klagen. Die Behauptung, der Markt in Stöcken sei ein erträgliches Geschäft, stand in direktem Widerspruch zu Madsacks Beobachtungen. Für Frauke war es ein weiterer Beweis dafür, dass in diesem Unternehmen Geld gewaschen wurde.

Sie hätte weiter an ihren Akten arbeiten, Protokolle wälzen, Aussagen prüfen, nach Unstimmigkeiten suchen können. Stattdessen schweiften ihre Gedanken erneut zu dem Motorrad ab. Frauke suchte Bilder von den verdächtigen Personen zusammen, ebenso vom Motorrad. Sie stopfte alles zusammen in ihre Handtasche, kontrollierte noch einmal ihre Dienstpistole und machte sich auf den Weg ins Zentrum. Sie folgte der Welfenstraße bis zur Celler Straße, an deren Ecke eine moderne Tankstelle residierte, und wählte den Weg durch die ruhige Steintorfeldstraße. Wie üblich musste sie warten, bis die Fußgängerampel an der lebhaften Hamburger Allee Grün zeigte. Sie passierte den Fuß des Fernmeldeturms mit der weithin sichtbaren Autoreklame an der Spitze, warf einen kurzen Blick auf das große Motorradfachgeschäft auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ging quer über den ZOB und tauchte durch den Eingang am Raschplatz in das Gewühl des Hauptbahnhofs ein.

Geschäftig bewegten sich die Passanten und Reisenden in der Bahnhofshalle. Sie hasteten durch den Gang, voller Ungeduld stießen sie mit anderen zusammen, die einem anderen Ziel nachjagten, hielten plötzlich rat- und orientierungslos inne, wechselten die Richtung und eilten samt Gepäck einem anderen Punkt entgegen.

Frauke ließ sich Zeit. Sie schwamm im Strom der Menschen mit, beobachtete die Leute und fand sogar Muße, über eine aufgeregt gestikulierende Gruppe japanischer Reisender zu lächeln, die gleich einer Karikatur fast alle einen Fotoapparat um den Hals trugen und lautstark in ihrer für europäische Ohren gewöhnungsbedürftigen Sprache diskutierten. Offenbar suchten sie ihr Ziel. Dabei zeigte jeder aus der Gruppe in eine andere Himmelsrichtung.

Während sie noch versonnen den Japanern nachsah, entdeckte sie vis-à-vis zwischen dem Papierwarenladen mit dem einer weltweiten Frikadellenbraterei ähnlich klingenden Namen und dem Bodyshop den braun gebrannten Mann mit dem dunklen Teint, der ihr schon einmal im Hauptbahnhof zugelächelt und sie anschließend bis zum Straßencafé am Kröpcke verfolgt hatte. Er trug einen roten Lederblouson und eine sehr körperbetonte Hose, die Frauke unwillkürlich an italienische Eleganz erinnerte.

Warum denke ich in letzter Zeit immer an Italien?, fragte sie sich selbst. Als wenn die Welt nur noch aus Europas Stiefel bestehen würde. Der Mann hielt ein Handy ans Ohr gepresst. Lässig schob er seine in die Haare gesteckte Sonnenbrille hin und her – eine überflüssige Geste. Als er merkte, dass Frauke ihn entdeckt hatte, und sich ihre Blicke kreuzten, wandte er sich abrupt ab und drehte ihr den Rücken zu.

Frauke hatte Zweifel, dass diese neuerliche Begegnung Zufall war. Entschlossen machte sie auf dem Absatz kehrt und wollte ihn zur Rede stellen. In diesem Moment schien die Gruppe der Asiaten sich auf eine gemeinsame Richtung geeinigt zu haben, ergriff das umfangreiche Gepäck und setzte sich in Bewegung. Es waren nur Sekunden, die Frauke benötigte, um die Japaner zu umrunden. Dieser Augenblick hatte gereicht, dass sie den Mann aus den Augen verlor. Sie sah sich um. Der Unbekannte war wie von der Bildfläche verschwunden. Sie spähte in die nahe liegenden Geschäfte, eilte die nächste Treppe zum Bahnsteig 7 und 8 empor, konnte aber keine Spur entdecken. Es war ihr rätselhaft, wo der Mann so schnell abgeblieben war.

Bei der nächsten abwärtsführenden Treppe ging sie ins Untergeschoss.

Hier unten herrschte ein buntes Treiben zwischen den zahlreichen Geschäften, Imbissbuden und Boutiquen. Frauke sah sich nach allen Seiten um, konnte aber weder einen Verfolger noch den Unbekannten entdecken.

Am Ende der Niki-de-Saint-Phalle-Promenade nahm sie die Treppe und fand sich am Kröpcke wieder.

Frauke hielt an einem Eisstand, kaufte sich eine Waffeltüte und bummelte gemächlich die Georgstraße abwärts Richtung Aegidientorplatz. Links lag das im spätklassizistischen Stil errichtete Gebäude der Staatsoper Hannover, eine der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt, nach deren Erbauer Georg Ludwig Friedrich Laves eine der Hauptverkehrsachsen benannt war.

Frauke hatte den Eindruck, dass dieses Straßenstück Hannovers Flaniermeile war. Das Varieté, die interessanten Geschäfte mit dem hochwertigen Angebot und die Cafés gaben diesem Abschnitt der Georgstraße ein besonderes Flair. Etwas weiter unten lag das »Oscar’s«, in das Schwarczer sie nach dem Einsatz im Rotlichtviertel geführt hatte.

Frauke hielt einen Moment inne, als es von ihrer Eiswaffel leckte und auf ihren Finger tropfte. Dabei warf sie einen Blick zurück und gewahrte zwei Männer, die ihr im Abstand von zwanzig Metern zu folgen schienen. Im selben Moment, als die beiden bemerkten, dass Frauke sie entdeckt hatte, blieben sie stehen, sprachen miteinander, suchten nach einer Zigarette und zündeten sich einen Glimmstängel an. Die Männer waren nicht sehr geschickt. Immer wieder sahen sie in Fraukes Richtung. Es gab keinen Zweifel. Sie wurde verfolgt. Frauke hatte nur einen kurzen Blick auf die beiden geworfen. Einer war in eine fast schmuddelig wirkende Jeansjacke gekleidet, und der zweite passte nicht zu ihm. Er trug saloppe, aber dennoch sicher nicht in jedem beliebigen Kaufhaus zu erstehende Kleidung. Der Jeansträger konnte ein Einheimischer sein, während sein Kumpan mit den dunklen, glänzenden Haaren eher einem südeuropäischen Typ entsprach.

Frauke ging langsam weiter, reduzierte ihr Tempo und hielt an der nächsten Straßeneinmündung, einer Fußgängerzone, an.

Sie aß in aller Ruhe ihr Eis auf, kramte in ihrer Handtasche und holte ein Papiertaschentuch hervor, mit dem sie sich umständlich die Lippen abtupfte und die Finger reinigte. Während sie das Tuch in die Tasche zurücksteckte, zog sie ihr Handy hervor, schaltete noch in der Tasche mit einer Hand auf Kameramodus, zielte mit dem Apparat in Richtung der beiden Verfolger und machte rasch zwei Aufnahmen. Das war den Männern nicht verborgen geblieben. Der Jeansträger stieß seinen Begleiter an. Beide gingen mit schnellem Schritt auf Frauke zu. Dabei sah sie, wie das Sakko des Südländers ein wenig zurückgestreift wurde und der matt schimmernde dunkle Stahl eines Pistolenknaufs sichtbar wurde.

Frauke hatte Gewissheit. Die beiden hatten es auf sie abgesehen. Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich der Situation entziehen konnte. Wenn sie ihre eigene Waffe zog, könnte es in ein Feuergefecht münden, bei dem unbeteiligte Passanten in Mitleidenschaft gezogen würden. Die Männer waren ihr aber so dicht auf den Fersen, dass sie keine Möglichkeit sah, Hilfe herbeizutelefonieren. Es schien, als wäre sie in einer hoffnungslosen Position.

Sie hatte die nächste Straßenecke erreicht. Auf der anderen Seite befand sich ihr Ziel – der Georgsplatz. Es war zutreffend, was man ihr berichtet hatte. Dort trafen sich am Freitagnachmittag bei gutem Wetter die Biker, nicht institutionell, sondern nur aus der Freude am gemeinsamen Hobby Motorradfahren. Dicht an dicht parkten auf dem dreieckigen Platz unter den Kronen der mächtigen Bäume die Kräder, dazwischen standen in kleinen Gruppen Männer und eine Handvoll Frauen in Lederkluft, besahen sich die Maschinen, fachsimpelten, rauchten und genossen die Vorfreude auf das Wochenende. Auch die Sitzbänke am Rand des Platzes aus Glasbausteinen waren von den Motorradfreunden belegt. Frauke erblickte die Skulptur aus drei roten Säulen, die Bäume in den Pflanzbottichen und die Fontänen der drei Springbrunnen, die förmlich die Kulisse des bunten Treibens bildeten.

Mit raschem Schritt überquerte sie beim Wechsel der Ampel auf Grün die Seitenstraße. Am Rande der Versammlung stand eine Gruppe von drei Männern, die ihr entgegensahen. Ein älterer mit kurzem grau-weißem Haar löste sich daraus und kam ihr ein paar Schritte entgegen, nachdem er seinen Freunden etwas zugeraunt hatte. Frauke war zunächst versucht, dem Mann auszuweichen, aber er machte einen halben Ausfallschritt, sodass er genau in ihre Laufrichtung kam, breitete die Arme aus und fing sie förmlich auf. Dabei sah er an ihr vorbei über ihre Schulter in Richtung der Verfolger.

»Probleme?«, fragte er mit sonorer Stimme.

Bevor Frauke antworten konnte, waren die beiden anderen Biker neben Frauke und dem Mann.

»Wollen die etwas von Ihnen?«, fragte ein Jüngerer und rief über die Schulter: »Eh! Smookie.«

»Was ist?«, meldete sich eine Männerstimme aus einem Pulk heraus.

»Komm mal.«

Zunächst kam ein halbes Dutzend Motorradfreunde auf die kleine Gruppe zu, dann wurden es immer mehr in Leder Gekleidete, bis sie schließlich von einem Ring umschlossen waren.

»Wollen die etwas von Ihnen?«, wiederholte der Ältere mit den kurzen Haaren die Frage seines Kollegen.

»Ach, nichts«, wiegelte Frauke ab. »Ich glaube, das ist ein Missverständnis.« Sie drehte sich um. Die beiden Verfolger waren mitten auf der Straße stehen geblieben, hatten ratlos auf die sich bildende Gruppe von Bikern geblickt und sich dann auf die andere Straßenseite zurückgezogen. Von dort sahen sie grimmig zu Frauke herüber.

»Sollen wir uns die holen?«, fragte der Jüngere.

Der Ältere sah Frauke fragend an. Als sie leise den Kopf schüttelte, sagte er: »Lass, Thunder. Die Dame möchte keinen Ärger.«

»Die Typen schon«, zeigte sich Thunder angriffslustig.

Doch der Ältere sprach beschwichtigend auf ihn ein. Dann hob er seinen Arm und winkte in Richtung der Motorräder.

»Kommt zurück, Leute. Es ist alles in Ordnung.« Dabei fasste er Frauke sanft am Oberarm und zog sie mit.

»Kennen Sie die?«, fragte er und sah Frauke an. Dann merkte er, dass seine Frage zu persönlich wirkte. »Oh, Verzeihung. Ich wollte nicht aufdringlich sein.« Er sah zur anderen Straßenseite. »Die sehen aus, als wären sie von der hartnäckigen Sorte.« Er zog die Stirn kraus. »Wenn Sie jetzt weitergehen, lassen die nicht von Ihnen ab.«

Das vermutete Frauke auch. Die Verfolger standen immer noch dort, ein wenig ratlos. Aber sie machten keine Anstalten, aufzubrechen. Im Kreis der Biker schien sie vorläufig sicher zu sein. Natürlich hatte sie jetzt Gelegenheit, die Polizei zu verständigen. Das würde bei den Motorradfreunden aber zu Unruhe führen, obwohl alle friedlich aussahen und diese Versammlung alles andere als ein Rockertreffen war. Was würden die uniformierten Kollegen ausrichten können? Zwei Männer waren zufällig den gleichen Weg wie Frauke gegangen. Sie hatten Frauke nicht einmal angesprochen. Lediglich die Waffe, die der eine trug, hätten die Herren zu erklären gehabt. Alles andere, so könnte man argumentieren, wäre ihrer übersteigerten Phantasie entsprungen. Sie sah Putensenfs Grinsen vor sich: »Frauen sind für diesen Job nicht geeignet.« Nein. Sie musste allein mit der Situation fertig werden.

Der Ältere hatte sie keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Fast schien es, als könne er Fraukes Gedanken lesen.

»Sie sind sich nicht sicher«, stellte er fest. Dann gab er sich einen Ruck. »Ich könnte Sie ein Stück auf dem Motorrad mitnehmen.«

Frauke sah sich um. Der Mann wies auf eine wuchtig aussehende BMW. »Leider habe ich keinen zweiten Helm dabei. Würden Sie das Risiko eingehen?«

Hatte sie eine Alternative? »Gut«, sagte sie. »Vielleicht ein, zwei Straßen.«

Erneut fasste er sie vorsichtig am Ärmel und führte sie zu seinem Motorrad. »Thunder und Smookie. Könnt ihr uns Geleitschutz geben?«

»Klar«, kam es wie im Chor von den beiden zurück.

Der Ältere setzte den Helm auf, schwang sich auf seine Maschine, tippte mit der Hand auf den Sozius und startete das Motorrad. Ein satter Sound ertönte. Er gab noch einmal Gas, und es schien, als würde die BMW zu Leben erweckt und darauf warten, ihre ungebändigte Kraft auf die Straße zu bringen. Frauke kletterte auf den Sozius und suchte eine Möglichkeit, sich festzuhalten. Smookie hatte ebenfalls seinen Helm aufgesetzt und seine Maschine gestartet. Er bemerkte Fraukes suchenden Blick und zeigte auf etwas, was sie nicht verstand. Jetzt hatte auch der Ältere es mitbekommen. Er drehte sich um, ergriff Fraukes Hand und zog sie um seinen Körper herum nach vorn. Dann zeigte er auf die andere Hand. Frauke hatte jetzt seinen Leib umschlungen. Sie sah, wie sich der schwere Helm bewegte. Es sollte ein Nicken sein. Dann ergriff der Ältere ihre beiden Hände und legte sie so zusammen, dass sie ineinander verschränkt waren. Schließlich gab er Gas und brauste, begleitet von seinen beiden Freunden als Eskorte, Richtung Aegidientorplatz davon. Von dort zweigte ihr Fahrer Richtung Hauptbahnhof ab, unterquerte die Eisenbahn an der Königstraße und brauste schließlich an einer lang gezogenen Grünanlage zur Rechten vorbei, von der Frauke annahm, dass es die Eilenriede war.

Sie wollte dem Mann auf die Schulter klopfen, dass er sie nun wieder absetzen konnte, aber der Fahrer machte keine Anstalten, anzuhalten. Immer wenn sie ihre Hand lösen wollte, gab der Mann Gas und ließ den Motor aufheulen. Es klang wie eine Warnung. Frauke spürte das Vibrieren der BMW zwischen ihren Schenkeln. Sie befürchtete, rücklings vom Motorrad zu fallen, wenn sie sich nicht an ihrem Fahrer festklammerte. Ohne Helm und Schutzkleidung war das lebensgefährlich. Außerdem fror sie jämmerlich. Der Fahrtwind machte ihr zu schaffen. Daher presste sie sich zwangsläufig eng an den Rücken des Mannes. Durch den Wind waren ihr Tränen in die Augen gestiegen. Sie sah nichts mehr, konnte nur im Unterbewusstsein registrieren, dass sie über einen Wasserlauf fuhren, gleich darauf links abbogen, noch zweimal die Straße wechselten, zu der parallel die Straßenbahn fuhr, und schließlich eine Autobahn oder Eisenbahn unterquerten. Kurz darauf bog der Mann in ein Wohngebiet ab und hielt schließlich in einer ruhigen Wohnstraße. Er winkte noch einmal Smookie und Thunder zu, die sich mit aufheulendem Motor verabschiedeten, dann nahm er seinen Helm ab, half Frauke, vom Sozius zu steigen, und bockte die Maschine auf.

Frauke sah sich um. Das große, repräsentative Haus mit dem Walmdach stand in einem gepflegten Garten. Entweder leistete sich der Mann einen Gärtner, oder die Pflege des Anwesens war sein zeitraubendes Hobby. Zur Straße hin verhinderte eine undurchsichtige Hecke den Blick Neugieriger auf das Anwesen. Nur gedämpft drangen die Geräusche der Stadt bis hierher. Im Frühjahr mussten die sorgfältig geschnittenen Rhododendren ein imposantes Farbfeuerwerk liefern. Jetzt standen Inseln mit blühenden Herbstblumen im Garten und bildeten Farbtupfer, bei denen die Augen verweilen konnten.

»Wo sind wir hier?«, fragte sie. Die Kälte steckte ihr noch in den Knochen. Sie hatte Mühe, ihre Gliedmaßen zu bewegen. Die Zähne schlugen aufeinander, so bibberte sie.

»Sie brauchen erst einmal einen heißen Tee«, sagte der Mann und lächelte sie an. Sie fand das erste Mal Zeit, ihn genauer zu betrachten. Die Lederjacke war hochgeschlossen. Der Hals wurde von einem Seidentuch verdeckt. Unter den kurzen grau-weißen Haaren zeigte sich ein Gesicht, aus dem zwei dunkelbraune Augen Frauke musterten. Lachfalten hatten neben den Augen ihre Furchen ins Antlitz gegraben. Der Mund war schmal, das Kinn kantig. Es war das, was der Volksmund »ein energisches Kinn« nannte. Wangen, Oberlippe und Halsansatz waren von einem gepflegten Dreitagebart überzogen. Die gesunde Gesichtsfarbe vervollständigte das Bild von einer attraktiven Erscheinung. Er hatte seine Handschuhe ausgezogen. Frauke sah auf zwei schlanke, gepflegte Hände.

Da Frauke immer noch unschlüssig im Vorgarten stand, ergriff er ihren Arm und zog sie sanft mit sich.

»Ich dulde keinen Widerspruch. Sie brauchen jetzt einen heißen Tee. So lasse ich Sie nicht gehen.«

Dann führte er sie ins Haus. Der erste Eindruck war überraschend. In der großzügigen Diele herrschte eine fast gespenstische Ruhe. Auf den mosaikartig gelegten Fliesen lag ein dicker Teppich. Eine antike Vitrine aus geschnitztem dunklem Holz beherrschte die Szene. An den Wänden hingen Ölbilder, die Frauke nicht zuordnen konnte, die aber nicht wie Repliken aussahen. In der Ecke stand eine mannshohe Holzfigur mit breitrandigem Hut und einem langen Bart. Sie glaubte, Don Quichotte zu erkennen. An der Decke hing ein gewaltiger Lüster. Es waren zwiespältige Eindrücke, die Frauke für einen Moment zögern ließen. Die Einrichtung wirkte düster, pompös, beeindruckend und auf eine merkwürdige Weise abstoßend und anziehend zugleich. Eine mit dickem Teppich belegte Treppe mit geschnitztem Handlauf führte nach oben.

Der Mann geleitete sie durch die Diele in einen Raum, der bis oben hin mit Büchern gefüllt war. Lediglich an einer Wand befand sich ein großer gemauerter Kamin, um den eine Gruppe schwerer Ohrensessel gruppiert war. Die in den Garten führenden Terrassentüren waren von dichten dunkelgrünen Samtvorhängen umgeben. Ein antiker Globus mit historischen Darstellungen, Frauke schätzte den Durchmesser auf einen guten Meter, bestimmte die Bibliothek. In einer anderen Ecke stand ein antiker Schreibtisch. Der gepolsterte, hochlehnige Stuhl harmonierte hervorragend damit.

Frauke trat in den Raum und versank fast im tiefen Teppich.

»Wollen Sie Platz nehmen?«, fragte der Mann.

Sie blieb stehen. »Wer sind Sie?«

Er verbeugte sich leicht. »Oh, Verzeihung.« Seine Stimme klang ein wenig spöttisch. »Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns einander bekannt zu machen. Wer bin ich?« Dabei blitzten seine dunkelbraunen Augen auf. »Ist das nicht eine Frage, die wir uns ein ganzes Leben lang stellen?« Er fuhr sich mit der Hand durch das kurze, widerborstige Haar. »Das ist grau geworden. Aber eine Antwort habe ich noch nicht gefunden.« Er hielt für einen Moment inne. »Ach ja. Ich bin unhöflich zu Ihnen. Sie können mich schließlich nicht ›den Suchenden‹ nennen. Sagen wir – ich bin Georg. Schließlich sind wir uns am Georgsplatz begegnet.«

»Und weiter?«

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Belassen wir es dabei. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

Frauke war versucht, ihm die Antwort zu verweigern, umgehend das Haus zu verlassen und sich ein Taxi zu rufen. Zuvor müsste sie aber herausfinden, wo sie sich befand. Und wo sollte sie hin? Im Hotel hatte sie ausgecheckt. Ihre Sachen lagen im Auto beim Landeskriminalamt. Entweder würde sie sich ein anderes Hotel suchen müssen, oder sie würde in ihre unfertige Wohnung einziehen, die der Organisation aber bekannt war. Ein Kälteschauer jagte ihr über den Rücken. Nein! Sie spürte keine Angst. Es war noch die Kühle der rasanten Fahrt auf dem Motorrad.

Georg hatte ihr Zittern mitbekommen. »Nehmen Sie Platz«, sagte er mit Bestimmtheit. »Ich werde einen Tee zubereiten und mich umziehen.« Er duldete keinen Widerspruch, drehte sich um und verließ den Raum. Kurz darauf kehrte er mit einer flauschigen Decke aus Kaschmirwolle zurück und reichte sie Frauke. »Hüllen Sie sich damit ein.« Dann verschwand er wieder.

Frauke stand unschlüssig im Raum. Schließlich setzte sie sich in einen der Sessel und schlang die Decke um ihren Leib. Die Wolle war angenehm weich und schmiegte sich an ihren Körper. Sie versuchte, auf Distanz die Titel auf den Rücken der Ledereinbände zu lesen. Es waren zum großen Teil fremdsprachige Titel. Sie entdeckte Englisch, Französisch, aber auch eine ganze Reihe lateinischer Beschriftungen. Oder war es Italienisch? Sie schalt sich eine Närrin. Überall vermutete sie Italien. Zeigte der gegen sie gerichtete Psychoterror Wirkung?

Ihr Gastgeber ließ sich eine Viertelstunde Zeit, bis er zurückkehrte. Dabei balancierte er ein silbernes Tablett mit feinen Ziselierungen am Rand. Behutsam setzte er es auf dem runden Tisch neben Fraukes Sessel ab, entzündete mit einem langen Streichholz das Stövchen und schenkte aus der bauchigen Kanne einen goldenen Tee in die Tasse aus feinem Knochenporzellan mit den rotbraunen Jagdmotiven ein. Dann füllte er sein Trinkgefäß und nahm im Nachbarsessel Platz.

»Bitte.« Er zeigte auf das Zuckerdöschen, und, als Frauke zögerte, füllte er einen der braunen Würfel in seine Tasse. Anschließend nahm er den Milchtopf und ließ den Strahl der Sahne über den Rücken des Teelöffels in das Getränk laufen. Sofort bildeten sich weiße Wölkchen.

»Darf ich?«, fragte er, wartete die Antwort nicht ab und richtete auch Fraukes Tee her.

Georg griff seine Tasse, hob sie unter die Nase, schloss die Augen und ließ das Aroma des Tees auf sich wirken, bevor er einen Schluck nahm. »Es ist das Geheimnis des Teegenusses«, erklärte er, »dass Tee und Zucker nicht umgerührt werden.«

»Sind Sie Ostfriese?«, fragte Frauke unvermittelt.

Er lachte hell auf. »Nein. Aber ich habe lange in England gelebt und mir die englische Teekultur zu eigen gemacht.«

Frauke nickte in Richtung der Bücher. »Sie waren oft im Ausland?«

»Ja«, antwortete Georg. »Ich hatte das Glück, schon viele schöne Flecken der Erde kennenzulernen.«

»Wo denn?«

»Ach, das würde zu weit führen. England. Ein paar Jahre habe ich in Amerika zugebracht.«

»Und Italien?«, fragte Frauke.

Georg sah sie eine Weile an, als würde er sie mustern wollen. »Dem Land verdanken wir sehr viel für die europäische Kultur.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Sie meine auch nicht.«

Frauke ließ sich Zeit. Dabei betrachtete sie ihn. Georg hatte markant geschnittene Gesichtszüge, männlich, aber nicht zu herb. Die schlanken, gepflegten Hände waren Frauke schon früher aufgefallen. Er trug eine helle Hose aus grober Seide, ein dazu passendes cremefarbenes Hemd, aus dessen Kragen ein Seidentuch ragte. Der Raum und er atmeten Noblesse, stellte Frauke für sich fest.

»Ich bin Frauke.«

»Frau-ke.« Es schien, als würde Georg sich den Namen auf der Zunge zergehen lassen. »Was bedeutet das? Ich vermute, es ist ein nordischer Name.«

»Der Name hat seinen Ursprung im Althochdeutschen, das ja bekanntlich Verwandtschaft mit dem Niederdeutschen aufweist. Er findet sich auch im Friesischen und bedeutet ›kleine Frau‹.«

Georg spitzte die Lippen. »Eine intelligente Namenswahl Ihrer Eltern für ein so charmantes Wesen.«

Frauke war irritiert. So hatte sie schon lange kein Mann mehr genannt. »Was bezwecken Sie mit der Aktion?«, fragte sie unvermittelt.

»Aber, aber«, lächelte Georg. Es klang fast eine Spur überheblich. »Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie mir in die Arme gelaufen sind? Ich habe mich nicht auf den Georgsplatz gestellt und auf Sie gewartet.«

Georgsplatz, dachte Frauke. War es wirklich Zufall? Oder spielte dieser Mann mit ihr?

»Sie könnten die beiden Männer beauftragt haben.«

Der Mann nickte versonnen. »Gute Idee. Darauf bin ich noch nicht gekommen. Statt Anzeigen in der Wochenendausgabe oder der mühevollen Suche im Internet heuert man zwei Kerle an, die einem eine attraktive Frau einfangen. Man selbst spielt dann den willkommenen Ritter.«

»So wie Ihr Don Quichotte in der Diele?«

»Gefällt Ihnen die Plastik? Ich habe sie aus dem Herzen Spaniens, genauer gesagt aus Kastilien mitgebracht. Dort soll Don Quichotte gelebt haben. Eine pittoreske Region voller Unergründlichkeiten und zum Glück touristisch noch nicht überlaufen. Haben Sie Cervantes gelesen?«

Georg war zweifellos nicht nur intelligent, sondern auch gewandt, stellte Frauke fest. Geschickt hatte er das Thema gewechselt und war ihr ausgewichen.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte Frauke. »Obwohl es mir sympathischer gewesen wäre, wenn Sie mich zwei Straßen weiter abgesetzt hätten.«

»Was hätte es Ihnen gebracht?« Georg sah auf ihre Hände. »Sie tragen keinen Ehering«, stellte er fest. »Soll ich jemanden benachrichtigen, der Sie abholt?«

Frauke hatte den Eindruck, sie würde ausgehorcht werden. »Das kann ich allein«, sagte sie barsch.

»Dazu brauchen Sie aber meine Hilfe. Ich müsste Ihnen die Adresse sagen. Oder?«

Am »Oder« erkannte Frauke, dass Georg mit ihr spielte. Würde sie behaupten, ihren Standort zu kennen, hätte sie offenkundig gelogen und ihre Position geschwächt. »Ein paar Schritte an der Luft werden mir guttun.«

Erneut erschien der spöttische Zug um Georgs Mundwinkel. »Und dann? Die beiden Männer haben nicht den Eindruck auf mich gemacht, als wäre Ihre Begegnung mit ihnen Zufall. Was hatte es für eine Bewandtnis, dass einer von den beiden eine Waffe trug?«

Frauke beugte sich vor. »Was wissen Sie? Spielen Sie nicht den Ahnungslosen.«

Georg faltete die Hände. »Ich bin durchaus selbstbewusst und weiß vieles, aber leider nicht alles.«

Der Mann hatte eine merkwürdige Art, ihren Fragen auszuweichen.

»Ich werde jetzt gehen.«

Georg wies Richtung Tür. »Bitte!« Er wartete eine Weile, bis er fortfuhr. »Und wohin?«

Leider hatte er recht. Außerdem war Frauke neugierig geworden. Wer war dieser Mann? Wenn er zu den beiden Verfolgern gehören würde, hätte er sie nicht vom Georgsplatz fortgebracht.

»Wie soll es weitergehen?«, fragte Frauke. Es klang wie eine Kapitulation. Georg sollte nicht merken, welches Ziel sie verfolgte. Er sollte nicht an ihren Gedanken teilhaben.

Der Mann trank in aller Ruhe seinen Tee aus. »Genießen wir den Augenblick«, sagte er und schenkte beiden Tassen nach. »Da Sie nicht protestiert haben, darf ich vermuten, dass Ihnen meine Mischung zugesagt hat.« Er wartete Fraukes Antwort nicht ab, sondern kredenzte die zweite Tasse in der gleichen Weise.

Sie spürte die wohltuende Wirkung des heißen Tees und die Wärme, die von der Decke ausging.

Sie saßen schweigend in der Bibliothek, belauerten einander wie zwei Raubtiere, die sich nicht aus der Deckung trauten, aber dem anderen auch keinen Vorteil verschaffen wollten. Georg musterte sie immer wieder aus den Augenwinkeln. Wenn er bemerkte, dass Frauke es registriert hatte, lächelte er versonnen in sich hinein.

Die Stille wurde schließlich durch Fraukes Magen unterbrochen, der sich mit einem heftigen Knurren bemerkbar machte.

»Borborygmus«, sagte Georg lachend. Als Frauke ihn fragend ansah, erklärte er: »Das sind Hungerkontraktionen. Die können nur bei einem leeren Magen entstehen, wenn bei Bewegungen der Magenwände Luft und Magensaft miteinander verwirbelt werden.« Er erhob sich. »Ich habe kein Talent in der Küche. Wenn Sie nicht anspruchsvoll sind, würde ich mich aber dort versuchen. Wollen Sie sich inzwischen ein wenig frisch machen?«

Frauke folgte ihm ins Obergeschoss. Er führte sie zu einer Tür, hinter der ein kleiner Flur lag. Von dem zweigte ein Gästezimmer ab, das im Unterschied zur düster wirkenden Bibliothek mit weißen Einbaumöbeln und zwei Rattansesseln ausgestattet war. Auch das Badezimmer war in freundlichen hellen Farben gefliest. Frauke versuchte, aus dem Dachschrägenfenster einen Blick zu erheischen, um Aufschluss über ihren Standort zu erzielen, konnte aber hinter der nächsten Häuserreihe nur ein weitgestrecktes Feld entdecken, das kein Ende zu nehmen schien.

Sie verschloss zunächst die Flurtür, dann das Badezimmer. Ihre Waffe lud sie durch und legte sie unter einem Handtuch versteckt auf den Hocker vor der Duschkabine. Dann ließ sie das warme Wasser über ihre Haut rauschen und fühlte sich anschließend herrlich vitalisiert.

Georg empfing sie am Fuß der Treppe und geleitete sie in ein Esszimmer, in dessen Mittelpunkt ein langer Tisch stand, an dem acht Personen Platz finden konnten. Georg hatte an einem Ende für zwei Personen gedeckt. Fraukes Blick blieb an dem silbernen Kerzenleuchter haften, wanderte über das erlesene englische Porzellan aus der gleichen Serie, die sie vom Tee her kannte, zum schweren Silberbesteck, den beiden Kristallgläsern und zum Dekantiergefäß, in dem ein Rotwein schimmerte. Georg geleitete sie an einen Platz, schob ihr den Stuhl zurecht und entschuldigte sich, um kurz darauf mit einem Servierwagen zurückzukehren, auf dem er Platten mit Leckereien aus dem Meer, von der Fleisch- und von der Käsetheke gezaubert hatte. Er merkte mit einem leisen Lächeln Fraukes Erstaunen an.

»Sie scheinen über viele Talente zu verfügen«, sagte Frauke.

»Ich selbst mag darüber kein Urteil fällen«, erwiderte er, schwenkte das Dekantiergefäß und schenkte sich ein, hielt das Glas gegen die Kerze und prüfte das Rubinrot. Er nahm einen Schluck, ließ ihn im Mund rollen, zog schmatzend Sauerstoff durch die gespitzten Lippen und nickte zufrieden. »Ich nehme mir die Freiheit, einen Schluck zu trinken, da ich nicht glaube, dass Sie sich heute noch meinen Fahrkünsten anvertrauen möchten.« Dann prostete er Frauke zu.

Sie probierte den Rotwein, der vollmundig war, einen samtenen Eindruck vermittelte und ohne Kratzen im Rachen einen runden Abgang hinterließ.

»Ich hoffe, er sagt Ihnen zu.« Dann forderte Georg sie auf, zuzugreifen.

Sie ließen sich viel Zeit beim Essen. Der Mann war ein charmanter und unterhaltsamer Plauderer. Er konnte ebenso ausführlich über die kulturelle Szene der Landeshauptstadt plaudern wie über die deutsche Theaterlandschaft, war in Literatur ebenso bewandert wie in der Musik, berichtete mit einem besonderen Glanz in den Augen von den Menschen und ihren Gewohnheiten in England und Amerika, wo er vorgab gelebt zu haben, und erwies sich als aufmerksamer Gastgeber.

Obwohl Frauke verschiedene Versuche unternahm, ihm Persönliches zu entlocken, seinen Zunamen oder den Beruf in Erfahrung zu bringen, gelang es ihr nicht. Auf höfliche, aber bestimmte Weise wich er immer wieder aus und schien dabei eine klammheimliche Freude zu empfinden. Umgekehrt unternahm er keinen einzigen Versuch, Frauke auszuhorchen. Diese Tatsache schärfte ihre Sinne, denn es konnte nur bedeuten, dass sie ihm nicht unbekannt war. Trotz des genossenen Weines war sie vorsichtig, stets darauf gefasst, dass Georgs freundliche Haltung umschlagen könnte. Aber er machte während des ganzen Abends nicht einen Versuch, ihr näher zu kommen, weder verbal noch handgreiflich.

Irgendwann überkam sie relativ plötzlich eine unstillbare Müdigkeit. Es war nicht die Wirkung des Rotweins, die sich langsam angekündigt hätte, sondern eine bleierne Schwere, die das Rückgrat heraufgekrochen kam, sich über die Schulter und den Nacken ausbreitete, die Oberarme erfasste und bis zu den Ellenbogengelenken reichte. Sie sah auf ihre Hände, die sich mühelos bewegen ließen. Die Schwere zog den Hals empor, teilte sich im Genick und wanderte an den Wangen entlang zur Schläfe. Es war, als wenn eine Teillähmung Augenlider und Lippen erfasste und schließlich auch ihr Gehirn nicht ausließ.

»Kommen Sie«, sagte Georg wie durch eine Nebelwand, stand auf und stützte sie auf seinem Arm. Willenlos folgte sie ihm.