FÜNF
Frauke hatte eine unruhige Nacht verbracht. Immer wieder war sie aus leichtem Schlaf hochgeschreckt. Jedes Geräusch im Hotel hatte Irritation ausgelöst.
Sie hatte ihre Dienstwaffe durchgeladen auf den Nachttisch gelegt und sich nicht allein auf die abgeschlossene Tür verlassen, sondern ein Glas auf die Türklinke gestellt. Außerdem hatte sie die Beleuchtung angelassen. Doch weder in der Nacht noch auf dem Weg zu ihrer neuen Wohnung war ihr etwas aufgefallen.
Sie hatte ein unbestimmtes Gefühl im Nacken verspürt, als sie die Haustür aufschloss und unwillkürlich auf den Fleck eingetrockneten Blutes auf dem Pflaster blickte.
Im Hausflur hatte sie ihre Waffe gezückt und vorsichtig um die Ecken gelugt. Doch sie traf niemanden an, auch keine Hausbewohner. Die Wohnung war ebenfalls rein.
Die Möbelleute waren pünktlich und hatten das Bett zügig zusammengebaut. Auf die Montage des Tisches und der Stühle verzichtete Frauke. Anschließend fuhr sie ins Landeskriminalamt. Auf dem Flur begegnete sie Thomas Schwarczer. Er räusperte sich.
»Es gibt einen Hinweis, den wir einem Zufall verdanken. Ein Autofahrer ist von einer Streife angehalten worden, weil er nach Meinung der Beamten am Kreisverkehr in der Bückeburger Allee einem anderen Fahrzeug die Vorfahrt genommen hat. Der Mann hat fürchterlich geschimpft und behauptet, er hätte überhaupt nichts falsch gemacht im Unterschied zu jenem Idiot – das war wörtlich – auf dem Motorrad, der ihn am Deisterplatz geschnitten hätte. Da hätten zwei Leute auf dem Motorrad gesessen, und der Sozius hätte zudem mit ›so einem langen Ding‹ herumhantiert. Der Autofahrer meint, es wäre eine Stange gewesen. Den Streifenbeamten fiel auf, dass der Pkw-Fahrer eine Moto Guzzi erwähnte. Da wäre er sich sicher gewesen, betonte er nach Rückfrage. Ein Kennzeichen hat er sich nicht gemerkt.«
»Wo war das?«, fragte Frauke.
»Am Deisterplatz«, wiederholte Schwarczer und zeigte die Örtlichkeit auf dem Stadtplan an. »Von dort zweigt die Bornumer Straße ab, die unter anderem zum Großmarkt führt.«
»Das muss gestern gewesen sein«, sagte Frauke verärgert. »Warum erfahren wir das erst jetzt?«
Schwarczer zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Mich hat die Meldung vor zwei Minuten erreicht.«
Frauke sprang auf. »Kommen Sie«, forderte sie ihn auf. »Wir fahren sofort zum Großmarkt.«
Sie hatte Schwarczer das Steuer überlassen und konnte dabei feststellen, dass er Hannover wie seine Westentasche kannte. Er ordnete sich frühzeitig auf der richtigen Spur ein, fuhr zügig, ohne dabei draufgängerisch oder riskant zu wirken.
Auf dem Großmarkt herrschte das übliche Gedränge. Es war schwierig, einen Parkplatz auf der weiträumigen, überdachten Fläche zu finden. Schwarczer hatte Glück und fand eine Möglichkeit, als ein Pkw mit Anhänger aus einer Lücke herausrangierte.
Für Außenstehende schien alles ein unkoordiniertes Durcheinander zu sein. Alle wuselten wie in einem Ameisenhaufen durcheinander. Frauke konnte keinen Plan erkennen, und doch funktionierte es. Es war ein eingespieltes Chaos, wo reibungslos ein Zahnrad ins nächste griff.
Der Stand des italienischen Gemüseimporteurs glich denen der Nachbarn zu beiden Seiten. Paletten mit Gemüse standen herum, wurden hin und her bewegt, Männer schrien sich gegenseitig etwas zu, liefen mit Papieren und Lieferscheinen in der Hand herum und stapelten Kisten.
Im gläsernen Büro saßen die Kontoristin, die Frauke schon bei ihrem ersten Besuch gesehen hatte, und Giancarlo Rossi, der an der Telefonstrippe hing. Er parlierte laut auf Italienisch und benutzte zum Untermalen seiner Ausführungen die andere Hand, mit der er große Gesten vollführte, als würde er ein Orchester dirigieren. Frauke hatte den Eindruck, als würde Rossi ein wenig erschrocken aufsehen, als er sie gewahrte, und rasch das Gespräch beenden. Mit großen Augen sah er den beiden Beamten entgegen.
Frauke wünschte einen guten Morgen und wandte sich zunächst an die blonde Mitarbeiterin, die Rossi »Johanna« genannt hatte.
»Das ist richtig stressig bei Ihnen.«
Die Frau sah auf. »Man gewöhnt sich daran.«
»Stört Sie der Lärm nicht?«
»Nein. Das ist eine Frage der Gewohnheit.«
»Sprechen Sie Italienisch?«
»Nein«, lachte sie. »Kein Wort. Ich arbeite hier schon eine ganze Weile, aber das ist nichts für mich.«
»Was soll das, eh?«, fragte Rossi. Aus seiner Stimme klang deutlich die Verärgerung. »Warum fragen Sie meine Mitarbeiter aus? Was wollen Sie überhaupt? Sie sehen doch, dass wir hier beschäftigt sind. Sie stören.«
»Wer ein schlechtes Gewissen hat, empfindet unseren Besuch als störend. Haben Sie ein Motorrad?«
Rossi war überrascht von der direkten Frage.
»Ich … äh … Nein«, stammelte er. »Ich habe gar keinen Führerschein dafür.«
»Das dürfte die geringste Sorge sein, wenn man sonst die Gesetze missachtet«, fuhr Frauke ihn an.
»Was soll das? Wollen Sie mir etwas vorwerfen? Kommen Sie mir nicht komisch.« Rossi war Frauke einen halben Schritt entgegengekommen, stoppte aber mitten in der Bewegung, als Schwarczer sich straffte und einen Knurrlaut von sich gab.
»Dürfen wir uns hier umsehen?«, fragte Frauke. »Natürlich können Sie das verweigern. Dann besorge ich mir einen Durchsuchungsbeschluss, und wir rücken in großer Besetzung an.«
»Das ist Erpressung«, schimpfte Rossi.
Frauke schüttelte den Kopf und lächelte dabei. »Ich nenne es Rechtsstaat.«
»Was suchen Sie?«
»Ein Motorrad.«
Rossi prustete wie ein Walross.
»Ein Motorrad«, äffte er Frauke nach. »Wir sind ein Gemüsegroßmarkt. G-e-m-ü-s-e«, buchstabierte er und hielt für jeden Buchstaben einen anderen Finger in die Luft. »Bitte! Wenn es Ihnen Spaß macht.« Er wollte zum Telefonhörer greifen.
»Einen Moment noch«, hielt ihn Frauke davon ab. »Wohin verkaufen Sie eigentlich das importierte Gemüse?«
»Wir haben viele Abnehmer.«
»Bitte genauer.«
»Soll ich unsere Kundenliste herunterbeten?« Rossi hatte nichts von seiner Aggressivität zurückgenommen.
»Vielleicht später. Vorerst genügt mir ein grober Überblick.«
»Wir beliefern Händler. Den Einzelhandel«, ergänzte Rossi. »Großverbraucher wie Kantinen, Restaurants, Krankenhäuser und so was.«
»Ist das alles?«
»Ja – nein. Wir haben auch Stände auf Wochenmärkten und verkaufen darüber direkt an den Endkunden. Ein sehr gutes Geschäft.«
»Auf welchen Märkten?«
»Ach«, winkte Rossi ab. »Fragen Sie Johanna.«
»Klagesmarkt, Lister Meile, Lindener Marktplatz und Stöcken«, warf die blonde Mitarbeiterin ein.
»Haben Sie nicht noch etwas vergessen?«, fragte Frauke.
Rossi sah sie mit erstaunten Augen an.
»Ich meine Ihre Geschäfte mit Weißrussland.«
»Woher wissen Sie das?«, stotterte der Italiener.
»Wir sind die Polizei«, erwiderte Frauke und musste dabei lachen, weil ihr einfiel, dass sie mit dieser Antwort Oberkommissar Große Jäger aus Husum zitiert hatte.
Anschließend stöberten Frauke und Thomas Schwarczer im Stand des Importeurs herum, ließen sich weitere Lagerflächen zeigen und kontrollierten auch das Areal des Großmarktes, soweit es ihnen möglich war. Sie stießen auf ein paar Motorräder und Mofas, die offenbar Beschäftigten des Marktes gehörten. Eine Maschine des Typs Moto Guzzi fanden sie nicht.
Frauke sah auf die Uhr und erschrak. In einer Dreiviertelstunde sollte das Treffen in Lüneburg stattfinden. Sie wäre gern dabei gewesen, obwohl sie nichts hätte ausrichten können. Deshalb rief sie die Polizeidirektion an.
»Eckermann-Bunselmann«, meldete sich eine Frauenstimme auf dem Apparat des Hauptkommissars.
»Ich hätte gern Herrn Heidenreich gesprochen.«
»Der ist außer Haus.«
»Ich weiß. Um diesen Einsatz geht es. Geben Sie mir bitte seine Mobilfunknummer.«
»Das darf ich nicht.«
»Frau Ecker … äh«.
»Eckermann-Bunselmann«, wiederholte die Frau mit spitzer Stimme ihren Namen.
»Es ist dringend. Ich muss unbedingt mit Herrn Heidenreich sprechen.«
Doch Heidenreichs Mitarbeiterin blieb stur.
»Dann sagen Sie ihm, er soll mich umgehend zurückrufen. Aber zackig. Dobermann. Landeskriminalamt.«
»Auch wenn Sie vom LKA sind, müssen Sie nicht unfreundlich sein«, sagte die Lüneburgerin pikiert und legte auf.
Fünf Minuten später meldete sich der Hauptkommissar.
»Wir sind durch einen Einsatz in Hannover verhindert.«
»Hier läuft alles planmäßig«, versicherte Heidenreich. »Wir kommen auch ohne Sie aus.«
* * *
Es war ein wunderbarer Herbsttag. Das erleichterte die Mission. Viele Menschen nutzten das schöne Wetter, belebten den ältesten Platz Lüneburgs Am Sande mit den typischen Backsteingiebelhäusern aus verschiedenen Epochen. Wer Zeit und Muße fand, konnte von den alten gediegenen Fassaden förmlich die Geschichte ablesen, sah, wie die Türen zu den Dachböden, die als Speicher dienten, in früheren Zeiten die Handelswaren aufgenommen hatten, die neben dem Salz die Grundlage für den Reichtum der alten Handels- und Hansestadt waren. Viele Häuser wurden damals aus Holz gebaut. Wer es sich leisten konnte, baute sein Haus aus Stein. Er war folglich »steinreich«. Doch nicht nur das schlichte Bauwerk am ersten Platz der Stadt, auch die Pracht der Fassaden kündeten vom Wohlstand der Besitzer.
Hauptkommissar Mark Heidenreich stand mit dem Rücken zur Straße vor dem Schaufenster eines Ein-Euro-Ladens, der zu seinem persönlichen Leidwesen auch vor dieser historischen Stätte nicht haltgemacht hatte.
»Alles auf dem Posten?«, fragte er leise in das Mikrofon, das am Kragen seines Hemdes angebracht war. Über die Kopfhörer seines angeblichen MP3-Players hörte er die Bestätigung der rund um den Sand eingesetzten Beamten.
Er drehte sich um, blinzelte gegen die Sonne, schlenderte gemächlich auf eine durch zwei Abfallbehälter flankierte Sitzbank vor der Apotheke zu und nahm dort Platz. Heidenreich schlug die Beine übereinander, wippte dazu im Takt der nicht vorhandenen Musik und sah ostentativ jeder Frau nach, die in seine Nähe kam. Als der ältere Mann, mit dem er die Bank geteilt hatte, aufstand, ihm einen guten Tag wünschte und Richtung St.-Johannis-Kirche davonging, sah Heidenreich zur anderen Straßenseite. Dort drückte sich vor einem Geschäft ein Pärchen herum, das sich eng umschlungen hatte.
»Mensch, Dicker«, lästerte Heidenreich. »Du genießt deine Tarnung auch aus vollen Zügen. Treib es nicht zu doll, sonst gibt’s Ärger mit Eveline.«
»Funkdisziplin«, mahnte sofort die Stimme des Kommandoführers des MEK.
Heidenreichs angesprochener Kollege drehte sich für einen Moment zu ihm um, grinste unverschämt und zog die widerstrebende Kollegin noch ein wenig dichter an sich heran. Als er sie auch noch küssen wollte, wurde er brüsk zurückgewiesen. Jetzt war es an Heidenreich zu grinsen. Verstohlen streckte er seinen Mittelfinger in die Höhe und zeigte damit über den Sand. Dann sah er einen älteren Mann mit Glatze und aufgedunsenem Gesicht die Kleine Bäckerstraße aus Richtung Marktplatz kommen. Fast hätte er den Wohnungslosen gerammt, der dort unter einem Schild mit der Aufschrift »Hinz und Kunz« aus einem Einkaufsroller die Obdachlosenzeitung verkaufte. Heidenreichs Blick fiel auf das aufsteigende Einhorn an der Hausecke, das auf die gleichnamige Apotheke verwies. Nervös sah der Mann sich um, schob immer wieder die dunkle Hornbrille auf der Nase hin und her und ging unruhig vor dem Haus der Industrie- und Handelskammer auf und ab. Dabei schenkte er der prachtvollen Tür und dem Portal mit den kunstvollen Tausteinen keine Beachtung. Tausteine, fiel es Heidenreich ein, hießen so, weil sie wie ein geflochtenes Tau in sich gedreht waren.
»Das erste Zielobjekt ist eingetroffen«, wisperte Heidenreich in sein Mikrofon.
»Biittee?«, fragte die Frau – Heidenreich schätzte sie auf gut siebzig Jahre –, die neben ihm auf der Bank Platz genommen hatte.
»Ich habe nichts gesagt«, erwiderte Heidenreich mit einem Lächeln, nickte der Dame freundlich zu und stand auf.
Er musste schmunzeln, als die Frau mit der flachen Hand die Ohrmuschel rieb, als müsse sie sich vergewissern, dass ihr Gehör noch funktionierte. Heidenreich schlenderte gemächlich den Sand abwärts und vermied es, sich dabei umzusehen. Er wusste, dass seine Kollegen Blechschmidt im Auge hatten. Auf der Höhe der Bushaltestelle vor dem schmucken Gebäude der Landeszeitung drehte er um und kehrte zurück.
»Achtung«, meldete sich eine andere Stimme aus dem Kopfhörer. »Zielobjekt wird angesprochen.«
»Wir haben ihn gut im Visier«, schaltete sich ein weiterer Beamter ein. »Das gibt prächtige Bilder.« Dann folgte ein Kichern.
»Was ist, Lukas?«, fragte der Kommandoführer.
»Ach. Ich habe nur gedacht, wenn ich statt der Kamera etwas anderes in der Hand hätte … Blattschuss.«
»Lukas!«, donnerte es aus dem Kopfhörer, dass Heidenreich erschrak.
»Ist schon gut. Was nur ein Joke.«
»Jetzt findet der Austausch statt«, kommentierte der Kommandoführer. »Der Überbringer übergibt dem Zielobjekt vier prall gefüllte Plastiktaschen. Vorher hat er einen Umschlag übernommen.«
»Alles im Kasten«, bestätigte der Fotograf. »Schade, dass es nicht mit dem Richtmikrofon geklappt hat.«
Den Rest beobachtete Heidenreich selbst. Blechschmidt griff sich die Taschen und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war, während der Partner, mit dem er sich getroffen hatte, dem Hauptkommissar entgegenkam. Hastig löste Heidenreich das Mikrofon vom Kragen und ließ es im Hemd verschwinden. Als der Mann auf seiner Höhe war, sah Heidenreich demonstrativ an ihm vorbei. Nur aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass der Fremde vom Aussehen her kein Einheimischer war. Heidenreich blieb auch nicht verborgen, dass der Mann misstrauisch seine Umgebung beobachtete und jeden Passanten argwöhnisch musterte.
Erst als Heidenreich aus dem Kopfhörer hörte, dass der Mann den Sand am unteren Ende verlassen hatte und Richtung Altenbrückertorstraße abgebogen war, drehte er um und eilte ihm hinterher.
»Er geht auf direktem Weg Richtung Parkhaus Stadtmitte«, vernahm der Hauptkommissar eine Standortmeldung. Dann berichtete die Stimme, dass der Fremde in die Kasse der zum Parkhaus gehörenden Tankstelle gegangen war, sein Parkticket bezahlt hatte und ins Parkhaus verschwunden war. Noch einmal berichtete der Verfolger, dass der Fremde in einen silbernen Alfa Romeo 156 Sportwagen mit Hannoveraner Kennzeichen eingestiegen sei.
»Ich lasse das Kennzeichen checken«, mischte sich Heidenreichs Kollege, den er zuvor mit »Dicker« angesprochen hatte, ein. Kurz darauf hielt neben Heidenreich ein unauffälliger Audi, in dem das vermeintliche Liebespärchen saß, und Heidenreich stieg zu den beiden ins Fahrzeug. Der Hauptkommissar ließ seinen Blick über die Front des Parkhauses gleiten, die auch durch eine künstlerische Gestaltung nicht gewann und in unschönem Kontrast zum direkt benachbarten Wasserturm stand, der hoch über die Dächer der Altstadt aufragte und eines der Wahrzeichen der Stadt war.
Nach einer Weile tauchte der silberne Alfa aus dem Parkhaus auf, hielt an der Einmündung zur Altenbrückertorstraße, bog rechts ab und musste an der Kreuzung Schießgrabenstraße an der roten Ampel warten.
Der »Dicke« hatte sich dahintergesetzt und drei Fahrzeuge zwischen sich und den Alfa gelassen. Er folgte dem Wagen auf die Willy-Brandt-Straße Richtung Süden.
Der Alfa schwamm im Verkehr mit. Der Fahrer vermied offensichtlich jede Auffälligkeit. Hinter Lüneburg bog das Fahrzeug auf die Bundesstraße Richtung Soltau ab und fuhr mit angepasstem, manchmal auch geringfügig die Geschwindigkeitsbeschränkung überschreitendem Tempo quer durch die Heide, ließ Amelinghausen hinter sich, fuhr an der »Raubkammerheide« vorbei und steuerte bei Soltau die Autobahn an.
»Gott sei Dank ist hier reger Verkehr«, stellte Heidenreich fest. Die Beamten konnten sich hinter anderen Fahrzeugen regelrecht verstecken. In Höhe Fallingbostel meldete sich das Funkgerät.
»Sie hatten eine Halteranfrage?«
»Ich höre«, nahm Heidenreich das Gespräch entgegen.
Der Beamte in der Lüneburger Polizeidirektion wiederholte das amtliche Kennzeichen des Alfa. »Das Fahrzeug ist auf Massimo Trapattoni zugelassen.«
»Wollt ihr mich verarschen?«, empörte sich der Hauptkommissar.
Für einen Moment war es still in der Leitung. »Sorry, der heißt wirklich so.« Es hörte sich an, als wollte sich der Beamte in Lüneburg entschuldigen.
»Ist gut«, antwortete Heidenreich und ließ sich die Adresse durchgeben.
»Trapattoni ist wegen Körperverletzung, Fahren ohne Führerschein und Besitz kleinerer Mengen von Marihuana vorbestraft«, ergänzte der Kollege aus der Zentrale.
»Dann passt er hervorragend in unseren Kundenkreis«, stellte Heidenreich fest, nachdem er das Gespräch beendet hatte.
Es war unkompliziert, dem Alfa zu folgen. Unterwegs überholten sie ein Fahrzeug des MEK, das ebenfalls dem italienischen Auto hinterherfuhr.
Der Fahrer bog am Dreieck Hannover-Nord ab, befuhr die Eckverbindung bis zum Dreieck Hannover-West und fädelte sich auf die A2 Richtung Ruhrgebiet ein.
»Wo will der denn hin?«, fragte Heidenreich erstaunt, erhielt aber an der nächsten Abfahrt die Antwort, als der Alfa die Autobahn in Garbsen verließ und über den Westschnellweg bis zum Deisterplatz fuhr. Unterwegs streiften sie immer wieder Hannovers Hausfluss, die Leine. Der Weg führte an einem Industriegebiet vorbei, während sich auf der rechten Seite eine endlos erscheinende Kleingartenkolonie erstreckte. Kurz nach dem Überqueren einer großen Gleisanlage, Heidenreich vermutete einen Güterbahnhof, bog der Alfa ab und fuhr auf einen Parkplatz hinter einer großen Halle.
»Wo sind wir hier gelandet?«, fragte Heidenreich.
»Am Großmarkt Hannover«, erwiderte der »Dicke«.
* * *
»Ich war immer der Meinung, die Arbeitsplätze im Landeskriminalamt wären um ein Vielfaches komfortabler als draußen im Lande.« Mark Heidenreich sah sich noch einmal demonstrativ um, dann streckte er die Arme aus, dass es in den Gelenken knackte. »Und der Kaffee ist auch nicht besser.«
»Wollen Sie einen kritischen Reisebericht verfassen?«, fragte Frauke.
»Sie sollten sich nicht daran stören«, mischte sich Putensenf ein und zeigte mit der Spitze eines Kugelschreibers auf Frauke. »Dobermann! Nomen ist omen.«
»Nomen est omen«, korrigierte ihn Madsack.
Mark Heidenreich grinste. »Zumindest ist es eine muntere Truppe hier.« Dann berichtete er von der Observation des Überbringers der gefälschten Arzneimittel an Blechschmidt in Lüneburg, während seine beiden Mitarbeiter andächtig lauschten.
Frauke hatte ihr Team zusammengerufen.
»Es überrascht mich nur bedingt, dass die Fahrt zum Großmarkt führte. Ich habe fast damit gerechnet«, sagte sie und sah Madsack an. »Sind Sie fertig?«
Der Hauptkommissar nickte. Er hatte den SD-Chip aus der Überwachungskamera der Lüneburger auf ein Notebook überspielt und schaltete jetzt den Beamer ein.
»Den kennen wir doch«, entfuhr es Putensenf. »Das ist der Mann, der auf dem Großmarkt den Lkw für die Russen beladen sollte. Wir haben ihn gesehen, als wir das erste Mal bei dem italienischen Gemüseimporteur waren.«
Frauke hatte den Arbeiter auch erkannt.
»Sollen wir uns den vorknöpfen? Der sieht nicht als aus, als wäre er standhaft«, sagte Putensenf.
»Nein«, fuhr Frauke dazwischen. »Sie waren doch mit – auf dem Großmarkt. Das ist nur ein kleines Licht. Im Zweifelsfall hat der Mann keine Ahnung, was er da überhaupt hingebracht hat. Ein unbedeutender Handlanger, vermutlich Türke.«
»Das sehe ich anders«, versuchte Putensenf einzuwenden, wurde aber von Frauke mit einem bösen Blick abgestraft.
»Madsack«, wandte sich Frauke an den Hauptkommissar, »Sie eruieren anschließend, ob wir weitere Informationen über Massimo Trapattoni haben. Vielen Dank«, verabschiedete sie dann die Lüneburger.
Frauke sah die Mitarbeiter ihres Teams an. »Was gibt es Neues?«, fragte sie.
Madsack hüstelte verlegen. »Wir haben eine Einlieferung bekommen. Da ist etwas schiefgelaufen.«
»Nun reden Sie nicht um den heißen Brei herum, Madsack. Wir haben nicht alle Zeit der Welt.«
»Ja … Also … Der Lkw, der das Gemüse vom italienischen Importeur vom Hannoveraner Großmarkt nach Weißrussland bringen sollte, als der … Den hat man, genau genommen eine gemischte Streife von Zoll und Bundespolizei, kurz vor dem Grenzübergang Pomellen abgefangen. Das ist an der polnischen Grenze bei Stettin. Dabei haben sie hinter dem Gemüse ein Motorrad entdeckt, eine Moto Guzzi.«
Frauke war außer sich. »Welcher Schwachkopf ist dafür verantwortlich?«, rief sie aufgebracht in die Runde.
Die Männer ihres Teams schienen sich wegzuducken. Putensenf nestelte an der Knopfleiste seiner Jacke herum, nahm dann die Brille ab und suchte imaginäre Staubkörnchen, Madsack kramte in seiner Sakkotasche, zog eine Tüte mit Vitaminbonbons heraus und versuchte, den Kollegen davon anzubieten, und Schwarczer prüfte diskret den Sitz seines Schulterholsters.
»Wer?«, wiederholte Frauke ihre Frage mit aller Schärfe.
»Also, wir …«, stotterte Madsack und begann noch einmal neu. »Von uns war das keiner. Das muss in Zusammenarbeit zwischen Lüneburg, dem Zoll und der Bundespolizei an der Grenze geschehen sein.«
»Da werden alle Ermittlungsansätze zunichtegemacht«, schimpfte Frauke. »Nun ist diese Quelle versiegt, und die Organisation sucht sich eine neue Verteilerbasis, von der wir nichts wissen. Wie sollen wir an die Hintermänner herankommen?«
In der Runde herrschte betretenes Schweigen. »Amateure«, fluchte Frauke.
»Immerhin scheint es das Motorrad zu sein, das beim Mord an Friedrich Rabenstein zur Flucht benutzt wurde. Der Zoll hat es sichergestellt, obwohl es nicht als gestohlen gemeldet wurde und auch die Rahmennummer nicht beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg registriert ist«, sagte Madsack mit leiser Stimme.
»Die Meldung an uns ist wichtig, aber wir sind auf der Suche nach ganz anderen Dingen«, sagte Frauke mit scharfer Stimme. Dann zeigte sie auf Putensenf und Schwarczer. »Sie beide begleiten mich in den Verhörraum. Wir werden den Fahrer befragen. Wie heißt er eigentlich?«
»Wolodymyr Kasarow«, sagte Schwarczer. »Ich kümmere mich darum«, schob er schnell hinterher.
Wenig später saßen die drei Beamten einem Mann mit zerfurchtem Gesicht und schwieligen Händen gegenüber. Auf Frauke wirkte Kasarow wie ein Landarbeiter aus einer abgelegenen Region. Der Mann in dem selbst gestrickten Pullover mit dem Ölfleck auf der Vorderseite sah betroffen zu Boden und vermied jeden Blickkontakt.
»Darf ich?«, fragte Schwarczer und wartete die Antwort nicht ab. Er war aufgestanden, hatte sich hinter Kasarow gestellt und vorsichtig eine Hand auf dessen Schulter gelegt. Mit ruhiger, beinahe sanfter Stimme sprach er auf den Mann ein. Er sprach Russisch. Zumindest nahm Frauke es an, da sie kein Wort verstand.
Kasarow saß zunächst teilnahmslos auf seinem Stuhl, dann sah er sich suchend um. Er musterte Frauke, dann Putensenf, schließlich sah er über die Schulter zu Schwarczer, der immer noch hinter ihm stand und ruhig seine Hand auf Kasarows Schulter liegen ließ.
Der Mann sandte einen unverkennbar hilfesuchenden Blick zu Frauke. Dann sprach Schwarczer in gleichbleibend ruhiger Tonlage weiter. Kasarow begann nervös seine Hände zu kneten. Ungläubig sah er den Kommissar an. Als dieser erneut zu reden begann, nickte Kasarow heftig. Plötzlich sprudelte es aus ihm heraus. Es schien, als wäre er gar nicht mehr zu bremsen.
Schwarczer hatte seine Hand von der Schulter genommen, war langsam um den Tisch herumgegangen und hatte neben Frauke auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz genommen. Beinahe beruhigend nickte er Kasarow zu, sagte noch etwas in der fremden Sprache und wandte sich dann Frauke zu.
»Das war Russisch«, erklärte er und wies auf das Mikrofron auf dem Tisch. »Ein vereidigter Dolmetscher wird es für das Protokoll übersetzen.«
»Was haben Sie gesagt?«, herrschte Frauke den Kommissar an. »Der Mann war sichtlich verängstigt. Wir arbeiten hier sauber, Schwarczer. Schmutzige Tricks machen unsere Arbeit zunichte, weil sie von jedem Rechtsanwalt vor Gericht zerrissen werden. Ist das klar?«
Der Kommissar nickte, ohne sich irritiert zu zeigen. »Ich sagte bereits, dass die Aussage von einem Dolmetscher übersetzt werden muss. Ich habe ihn gefragt, ob die Polizei seines Heimatlandes von seiner Tätigkeit weiß. Die russischen Ermittlungsbehörden sind nicht sehr begeistert, wenn sie es mit Rauschgifthändlern zu …«
»Moment«, unterbrach ihn Frauke. »Wer spricht von Rauschgift?«
»Medikamente sind in Russland etwas Ähnliches wie Rauschgift«, erklärte Schwarczer. »Besonders falsche. Es ist nicht erstrebenswert, in einem russischen Gefängnis zu sitzen. Wenn die Mitgefangenen auch noch erfahren, dass man Beziehungen zur Drogenmafia hat, dann wird man schnell unter Druck gesetzt und soll seine ›Kontakte‹ nutzen, um Drogen ins Gefängnis zu schmuggeln. Die Bosse werden aber kaum auf ein so kleines Licht wie ihn hier hören. So würde er zwischen Baum und Borke schweben und wäre den Chefs im Gefängnis ausgesetzt, weil die vermuten würden, dass er die Geschäfte auf eigene Faust machen will. Das ist sehr ungesund. Das habe ich ihm erzählt. Und dass es besser ist, sich den deutschen Behörden anzuvertrauen, als in Russland verhaftet zu werden. Er kann nicht davon ausgehen, dass wir bei der Polizei seines Heimatlandes keine spezifische Nachfrage starten werden.«
Frauke war erstaunt. Schwarczer hatte nichts gesagt, was nicht vor Gericht verwendet werden durfte. Trotzdem hatte er Kasarow in Panik versetzt. Der Mann musste fürchterliche Angst bekommen haben. Mit weit aufgerissenen Augen hatte er Fraukes und Schwarczers Gespräch verfolgt.
»Was hat er erzählt?«, fragte Frauke.
»Er stammt aus Tschernjachowsk, das Sie vielleicht unter dem alten Namen Insterburg kennen. Das liegt ziemlich in der Mitte der Oblast Kaliningrad.«
»Sie meinen die russische Exklave Königsberg«, fuhr Putensenf dazwischen.
»Kaliningrad«, wiederholte Schwarczer. »Er ist von Haus aus Maschinenarbeiter, aber sein Betrieb hat schon lange Pleite gemacht. So kam es ihm sehr gelegen, als ihm ein Job als Kurierfahrer angeboten wurde. Er behauptet, keine Ahnung gehabt zu haben, was er dort transportierte. Für jede Fuhre hatte er gültige Lieferpapiere. Zumindest ist er davon ausgegangen, denn lesen konnte er sie nicht. Er ist nur ein einfacher Mann und hat Probleme, andere Buchstaben als das kyrillische Alphabet zu lesen.«
»Halten Sie ihn für glaubwürdig?«, fragte Frauke.
Schwarczer nickte. »Schon.«
»Wer ist sein Auftraggeber?«
»Da wird es etwas kompliziert. Er arbeitet für einen weißrussischen Auftraggeber aus Hrodna. Das ist eine Stadt, ungefähr so groß wie Bielefeld, Bonn oder Mannheim, die fast direkt hinter der polnischen Grenze liegt. Als Russe hat er keine Probleme, in Weißrussland zu arbeiten. Wie er dabei durch das EU-Gebiet, das heißt über Polen, kommt, wollte er mir nicht verraten.«
»Und wie heißt sein Auftraggeber?«
»Er kennt ihn unter dem Namen Igor Stupinowitsch.«
»Wie oft hat er die Strecke schon zurückgelegt?«
Schwarczer fragte den Russen, dann berichtete er: »Elf oder zwölf Mal. Außerdem hat er Angst vor seinem Auftraggeber, denn in Polen, er sagt, bei Olsztyn, also Allenstein, hat er sich regelmäßig mit seinem Schwager getroffen. Dort haben sie auf der Rückfahrt stets etwas vom Gemüse umgeladen und mit nach Hause genommen, um es dort auf eigene Rechnung zu verkaufen.«
Putensenf schüttelte den Kopf. »Das ist nicht zu fassen. Da betrügt ein Ganove den anderen.«
»Hat Igor Dingsbums das nicht gemerkt?«, fragte Frauke.
Erneut fragte Schwarczer Kasarow. Dann erzählte er: »Nein. Igor Stupinowitschs Leute hätten die Ware nur sehr nachlässig, fast überhaupt nicht kontrolliert. Das hat ihn gewundert. Er musste das Gemüse ausladen, und dann blieb es in einem Schuppen liegen. Einmal hat er bemerkt, dass bei seiner Rückkehr immer noch die verwelkte Ware von der vorhergehenden Lieferung dort lag.«
»Hat er sich auch etwas von den Medikamenten angeeignet, die er auf der Hinfahrt transportiert hat?«
Schwarczer fragte den Russen. Mit angstvollem Blick antwortete der.
»Um Gottes willen«, übersetzte der Kommissar. »Zum einen hat Kasarow nicht gewusst, was er nach Deutschland gefahren hat, zum anderen hatte man ihm eingeschärft, dass es für ihn ungesund – wörtlich: ungesund! – wäre, wenn er sich an der Lieferung vergreifen würde.«
»Für wen war das Motorrad bestimmt?«
Der Kommissar richtete die Frage an Kasarow. Dann berichtete er: »Das ist die Maschine von Stupinowitsch. Das weiß er genau, weil der Chef unheimlich stolz auf die Moto Guzzi ist.«
»So blöd kann auch nur ein Russe sein«, mischte sich Putensenf ein. »Schickt sein Motorrad hierher, damit da jemand mit ermordet werden soll.«
Frauke ignorierte den Einwand des Kriminalhauptmeisters und sah Schwarczer an. »Fragen Sie ihn, wo er die Arzneien abgeliefert hat.«
Der Russe begann, wort- und gestenreich etwas zu erklären. Schwarczer schien mit der Antwort nicht zufrieden zu sein und hakte nach. Schließlich nickte der Kommissar und erklärte: »Die Übergabe hat in Dübbekold stattgefunden.«
Frauke sah Schwarczer ratlos an. »Muss man das kennen?«
»Das liegt im Wendland, an der Bundesstraße zwischen Dannenberg und Lüneburg. Dort soll es ein Dorf namens Göhrde geben, von dem eine Nebenstraße in ein Waldgebiet abzweigt. Da irgendwo im Wald verborgen liegt eine alte Feldscheune. Das war der Treffpunkt.«
Frauke wies Schwarczer an, sich um das Protokoll und die Übersetzung zu kümmern.
»Was ist mit Kasarow?«, fragte der Kommissar.
»Den behalten wir hier«, entschied Frauke, stand auf und verließ den Verhörraum. Putensenf folgte ihr.
»Wie kommt es, dass Meister Proper so gut Russisch spricht?«, fragte Putensenf, der versuchte, mit Frauke auf dem Flur Schritt zu halten.
»Das heißt ›Herr Schwarczer‹ und nicht ›Meister Proper‹, Putensenf. Und Bildung hat noch nie jemandem geschadet.«
»Aber Russisch? Wenn Proper in der Ostzone groß geworden ist, dann war er zu jung, um dort noch Russisch in der Schule gelernt zu haben«, überlegte Putensenf laut.
Frauke blieb so abrupt stehen, dass der Kriminalhauptmeister sie anstieß. »Sie sind ein ewig Gestriger. Die ehemalige DDR gibt es schon lange nicht mehr, und die ›Ostzone‹ ist ein Relikt aus dem Wortschatz bestimmter Presseorgane der sogenannten bildungsfernen Schichten.«
»Ich meine nur …«, sagte Putensenf, aber Frauke war schon weitergegangen und wartete die Antwort nicht mehr ab.
»Von Ihnen«, beauftragte Frauke kurz darauf Madsack, »möchte ich gern wissen, wer die Scheune in Dübbekold angemietet hat. Wie wird die Miete bezahlt? Wurden außergewöhnliche Aktivitäten beobachtet? Jetzt, wo dieser Logistikpunkt aufgeflogen ist, müssen wir keine Rücksicht mehr nehmen.«
»Soll ich persönlich dorthin fahren?«, fragte der Hauptkommissar.
»Nein! Schicken Sie Ihren Bruder, wenn Sie einen haben.«
Madsack schluckte. »Was soll ich nun zuerst erledigen?«
»Alles. Die Organisation fragt auch nicht nach Prioritäten, auch wenn die Personaldecke enger zu sein scheint, als wir vermutet haben, wenn man schon Hilfsarbeiter als Kuriere einsetzt.«
»Sie meinen wirklich, der Türke ist so harmlos?«
»Absolut.« Damit ließ sie den Hauptkommissar stehen und kehrte in ihr Büro zurück. »Männer«, murmelte sie leise vor sich hin. »Sind nicht fähig, mitzudenken. Um alles muss man sich selbst kümmern.«
»Das ist aber übertrieben«, sagte Ehlers, der unbemerkt herangetreten war. »Sie sind sehr dynamisch. So habe ich Sie zumindest kennengelernt. Und ungeduldig. Mehr als arbeiten können die Herren Ihres Teams auch nicht. Und es sind nicht die Schlechtesten, die sich um Sie versammelt haben.«
»Ich habe sie nicht ausgewählt«, erwiderte Frauke bissig.
»Ein wenig der Verantwortung müssen Sie schon an mich delegieren«, sagte der Kriminaloberrat. Deutlich schwang der spöttische Unterton in seinen Worten mit. Dann ließ er sich von Frauke über den aktuellen Stand informieren. »Sie legen sich anscheinend mit der geballten organisierten Kriminalität der Landeshauptstadt an«, stellte er abschließend fest. »Dabei machen mir bestimmte Dinge Sorgen.« Er legte die Stirn in Falten. »So erschließt sich mir nicht, weshalb man den alten Herrn ermordet hat. Hat man danebengeschossen, und es galt eigentlich Ihnen?«
Frauke schüttelte den Kopf. »Dafür sind die Leute zu gut. Es war Absicht, Friedrich Rabenstein zu ermorden. Es sollte eine Drohung sein. Man erhofft sich dadurch, dass wir uns zurückziehen. Die Methode, Polizei und Staatsanwaltschaft einzuschüchtern, mag in Italien erfolgreich sein. Aber das gilt nicht für hier.«
»Wenn nur genügend Druck aufgebaut wird, könnte vielleicht dieser oder jener Kollege schwach werden. Ich meine nicht, dass er sich bestechen lässt. Aber wenn es um Drohungen gegen die Familie geht, dann …« Ehlers ließ seinen Satz unvollendet.
Frauke zeigte auf das Fenster. »Da draußen ist man vielleicht der Meinung, dass auch in Deutschland Korruption vorherrscht. Sicher gibt es immer wieder solche Fälle. Aber man mag noch so viel über unsere Behörden und deren Bedienstete schimpfen – noch herrscht das preußische Pflichtbewusstsein vor.«
Der Kriminaloberrat lächelte. »Das war ja ein richtiges Plädoyer, obwohl wir in den eigenen Reihen eine böse Enttäuschung erlebt haben.«
»Es kommt nicht oft vor, dass ein Polizeibeamter im Dienst zum Mörder wird. An dieser Stelle gibt es auch noch viel zu erledigen«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Wir haben viele Beweise gegen Bernd Richter, aber am liebsten wäre mir ein Geständnis.«
»Richter weiß, dass er dann auch Ross und Reiter nennen muss. Und der Arm der Organisation reicht mit Sicherheit auch hinter jede Gefängnismauer. Richter müsste überall um seine Gesundheit, wenn nicht gar um sein Leben fürchten.«
»Deshalb hat Simone Bassetti auch gestanden. Damit zieht er alle Schuld auf sich. Er beharrt darauf, dass die Morde an Marcello Manfredi und Manuela Tuchtenhagen aus Eifersucht und verschmähter Liebe erfolgt sind. Es wird noch viel Arbeit für uns bedeuten, ihm ein anderes Motiv nachzuweisen.«
»Außerdem hat er mit Dottore Alberto Carretta einen Anwalt, der mit allen Wassern gewaschen ist«, sagte Ehlers. »Der Alte spielt damit, dass er gebrechlich wirkt und älter aussieht, als er ist. Hinter der dicken Hornbrille wohnt ein wacher Geist.«
»Kann man vermuten, dass Carretta ein Advokat der Mafia ist?«
»Mafia.« Der Kriminaloberrat hatte das Wort gedehnt ausgesprochen. »So nennt der Laie es, wenn man eine kriminelle Vereinigung hinter den Straftaten vermutet. Ich würde lieber von der Organisation sprechen, solange wir nicht wissen, wer dahintersteckt. Mich überrascht auch, dass es plötzlich eine Verbindung zwischen den Italienern und den Russen geben soll.«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Frauke. »Irgendwie müssen die Medikamente ja nach Deutschland. Der Zoll ist inzwischen hellhörig geworden und hat gute Methoden entwickelt, solche Lieferungen, wenn sie per Luftfracht kommen, abzufangen. Da muss man sich anderer Wege bedienen. Es scheint so, als wäre die Ostgrenze der Europäischen Union eine Schwachstelle. Wenn man dort in großen Mengen Zigaretten schmuggeln kann, sollte es auch möglich sein, Medikamente zu schmuggeln. Natürlich gibt es keine Beweise, aber mir scheint, dass dieser italienische Gemüseimporteur eine Drehscheibe ist. Wir werden das Unternehmen im Auge behalten.«
»Wenn Sie Unterstützung brauchen, steht Ihnen meine Tür jederzeit offen«, sagte Ehlers zum Abschluss.
»Ich muss Sie noch einmal stören«, meldete sich dafür Madsack, der in der Tür mit dem Kriminaloberrat zusammengestoßen war. Er legte Frauke einen Computerausdruck auf den Schreibtisch. »Trapattoni«, erklärte er. »Das ist ein alter Bekannter. Der Mann ist vierunddreißig Jahre alt und hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich gebracht, vom Carabiniere zum vorbestraften Türsteher eines zweifelhaften Sexclubs.«
»Carabiniere?«, fragte Frauke. »Was ist das für eine Welt. Mit Richter haben wir einen kriminellen deutschen Polizisten, nun einen italienischen.«
Madsack räusperte sich und legte dann den Zeigefinger auf die wulstigen Lippen. »Die Carabinieri sind nicht mit uns vergleichbar. Es handelt sich um eine paramilitärische Einheit, die besondere Aufgaben wahrnimmt, etwa vergleichbar mit unserer Bundespolizei, dem ehemaligen Grenzschutz, aber auch wiederum nur zum Teil.« Er bewegte seine Hand hin und her. »Irgendwie so ein Mittelding zwischen Polizei und Militär.«
»Weshalb betätigt sich so einer jetzt im Rotlichtmilieu?«
»Das geht aus unseren Unterlagen nicht hervor. Irgendwann ist Trapattoni ausgeschieden und nach Deutschland gekommen. Das war vor drei Jahren. Soweit uns bekannt ist, arbeitet er seitdem als Türsteher. Das ist zumindest die offizielle Diktion.«
»Und für welches Bordell?«, fragte Frauke.
»Das Etablissement liegt in der Reitwallstraße …«
Frauke stutzte. »Wie heißt die Straße mit dem Bordell?«
»Reitwallstraße«, erwiderte Madsack.
Frauke schmunzelte. »Da scheint der Name Programm zu sein.«
»Das Bordell gehört formell Danielo Battaligia«, fuhr Madsack fort und ging nicht auf Fraukes Anmerkung ein. »Man vermutet aber, dass der nur vorgeschoben ist und Igor Stupinowitsch dahintersteckt. Nur nachzuweisen war es bisher nicht.«
Frauke rieb sich über die Augen. »Stupinowitsch. Der betreibt doch angeblich einen Gemüsehandel und bezieht seine Ware vom italienischen Gemüseimporteur Giancarlo Rossi.«
»Der aber auch nur ein Strohmann ist«, warf Madsack ein.
»Und Stupinowitsch gehört das Motorrad, mit dem aller Wahrscheinlichkeit nach die Mörder Friedrich Rabensteins unterwegs waren. Welche Verbindung gibt es zwischen den Italienern und den Russen?«
»Darf ich?«, fragte der Hauptkommissar und ließ sich mit einem Ächzen auf den Besucherstuhl nieder. »Die Geschäftsbeziehung scheint klar zu sein. Rossi liefert Gemüse nach Russland. Das ist aber offensichtlich nur ein Vorwand, denn die Ware vergammelt am Zielort. Auf der Rückfahrt nach Deutschland schmuggelt die Bande gefälschte Medikamente.«
»Die sind ausgesprochen geschickt«, sagte Frauke nach einer Weile. »Angeblich verkaufen sie das Gemüse zu einem hohen Preis an die Russen. Nein, Madsack. Die bezwecken damit etwas ganz anderes. Mit dem überhöhten Verkaufserlös macht der italienische Gemüseimport einen hohen Gewinn. Der wird ordnungsgemäß versteuert. Wissen Sie, was da geschieht?«
Madsack sah sie ratlos an.
»Da wird Geld gewaschen. Über diesen Weg kommt sauberes Geld an, angeblich durch einen cleveren Gemüsehandel verdient. Das Geld ist legal, und sie können es in andere Geschäfte investieren. Und das schwarze Geld, mit dem die Gemüselieferungen bezahlt werden, stammt vielleicht aus dem illegalen Arzneihandel.«
Der Hauptkommissar sah sie mit großen Augen an. »Das sind aber nur Vermutungen«, gab er zu bedenken.
»Natürlich. Deshalb müssen wir uns eine Strategie einfallen lassen, diesen Geldwaschsalon auszutrocknen. Damit treffen wir die Organisation empfindlich.« Frauke sah auf die Armbanduhr. »Was gibt es noch über Massimo Trapattoni zu berichten?«
»Er hat bei den Carabinieri eine Spezialausbildung absolviert und …«
»Moment«, unterbrach Frauke. »Was für eine Ausbildung?«
»Das steht hier leider nicht.« Der Hauptkommissar tippte mit seinem Wurstfinger auf das Dossier. »Offenbar hat er aber auch noch anderes gelernt. Jedenfalls ist er vorbestraft wegen Körperverletzung. Er hat einen Gast des Etablissements, mit dem es Streit gab, zusammengeschlagen und erheblich verletzt. Bei der Gelegenheit hat man bei ihm eine Waffe gefunden, für die er keine Trageerlaubnis besaß. Also illegaler Waffenbesitz. Er ist in beiden Fällen allerdings glimpflich behandelt worden. Der Waffenbesitz ist gegen Auflagen eingestellt worden, die Körperverletzung wurde mit einer Bewährungsstrafe und einer Geldbuße geahndet. Derzeit läuft allerdings ein neues Verfahren. Es handelt sich wieder um Körperverletzung.«
»Wissen wir, wer Trapattoni vertritt?«
»Ja«, erwiderte Madsack.
Frauke ahnte es, bevor der Hauptkommissar es aussprach: »Dottore Alberto Carretta.«
»Ein sehr umtriebiger Advokat«, stellte Frauke fest, bevor sie Madsack entließ und Schwarczer zu sich bestellte. »Bringen Sie Ihre Waffe mit«, hatte sie dem Kommissar aufgetragen.
Während sie auf Schwarczer wartete, ging ihr nicht aus dem Kopf, wie unlogisch manches schien. So verstand sie nicht, weshalb Stupinowitsch sein geliebtes Motorrad für den Mordanschlag zur Verfügung gestellt hatte. So dumm konnte jemand wie er nicht sein.
Frauke hatte das Lenkrad übernommen. Sie fuhr über die Hamburger Allee, am Raschplatz vorbei und bog dann in die Marienstraße ab, in der es einen ewigen Stau zu geben schien. Hinter dem Braunschweiger Platz auf der Hans-Böckler-Allee rollte der Verkehr.
Schwarczer saß stumm auf dem Beifahrersitz und starrte stur geradeaus. Er enthielt sich jeglichen Kommentars und gab auch keine Hinweise zur Zielerreichung. In Kleefeld, ein Stück vor dem Bahnhof, bog Frauke in das gewachsene Wohngebiet mit den schlichten Häusern ab. Die Straßen glichen Schluchten, in denen Frauke Bäume vermisste. Sie mussten einen Block umrunden, da ihr Ziel eine Einbahnstraße war. Das phantasievolle Schild einer Kneipe »Zum Schildbürger« entlockte Frauke ein Schmunzeln.
Am Schlegelplatz fanden sie einen Parkplatz vor einem Trafohäuschen, hinter dem sich ein schmuckloser Spielplatz versteckte, der zumindest von ein wenig Grün umrahmt wurde. Das gegenüberliegende Eckgeschäft mit der großen Markise wirkte genauso tot wie der Kiosk mit der Reklame für eine einheimische Biersorte.
Trapattoni wohnte in der Brentanostraße in einem Haus, das wenigstens durch die gegliederte Fassade ein wenig von der Tristesse ablenkte, die sich Fraukes Blick bot. Sie fanden seinen Namen auf dem Klingelschild neben der Haustür mit den deutlichen Kratzspuren, die vermuten ließen, dass hier schon mancher versuchte hatte, das Schloss mit anderen Mitteln als dem passenden Schlüssel zu überwinden. Frauke überließ Schwarczer die Betätigung des Knopfes. Nichts rührte sich. Zwei weitere Versuche blieben ebenfalls erfolglos.
»Zu wem wollen Sie denn?«, fragte eine ältere Frau, die sich mit einem Einkaufstrolley genähert hatte.
»Zu Herrn Trapattoni«, erwiderte Frauke.
»Der ist meistens nicht da. Oder er schläft. Der ist in einer Bar beschäftigt. Ich weiß nicht, was er da macht. Aber oft kommt er erst nach Hause, wenn ich schon wach bin. In meinem Alter kann man nicht mehr so lange schlafen. Außerdem bin ich es seit frühester Kindheit gewohnt, mit den Hühnern aufzustehen.« Frauke war froh, dass die Frau einen Augenblick in ihrem Redefluss innehielt. »Was wollen Sie denn von ihm?«, fragte sie dann und streckte ihren Kopf ein Stück vor.
»Das ist persönlich«, erwiderte Frauke. »Vielen Dank.« Sie wandte sich ab.
»Man kann ja mal fragen«, murmelte die Frau hinterher. »So was Unhöfliches …«
Die beiden Beamten suchten die Straße und die Nebenstraße nach dem Alfa ab, aber sie fanden das Fahrzeug nicht. Möglicherweise stand es noch auf dem Großmarkt.
»Es war einen Versuch wert«, sagte Frauke, und die beiden Polizisten fuhren zum Landeskriminalamt zurück. »Haben Sie heute Abend etwas vor?«, fragte sie unterwegs Schwarczer. Der sah sie irritiert an.
»Wenn wir Trapattoni nicht zu Hause erreichen, müssen wir ihn an seinem Arbeitsplatz aufsuchen.«
»Wann?«, antwortete Schwarczer mit einer Gegenfrage.
»Ich nehme an, in diesem Etablissement beginnt der Betrieb erst zu fortgeschrittener Stunde. Holen Sie mich um zweiundzwanzig Uhr vor meinem Hotel ab?« Sie nannte die Adresse.
Schwarczer nickte stumm.
Den Rest des Tages verbrachte Frauke in ihrem Büro, bevor sie sich ins Hotel begab. Unterwegs hielt sie Ausschau nach Verdächtigen, die sie beobachten könnten. Sie konnte niemanden entdecken.
Fünf Minuten vor zehn Uhr abends stand Frauke im Foyer des Hotels und wartete auf ihren Kollegen. Drei offenbar leicht angetrunkene Gäste trafen mit einer Taxe ein, unterhielten sich lautstark und betraten schließlich den Raum.
»Holla«, sagte einer mit unverkennbar süddeutscher Klangfärbung in der Stimme, als er Frauke sah, und steuerte auf sie zu. »Wohin, schöne Frau? Sie wollen doch nicht noch ausgehen.« Er wies auf die Straße. »Nichts los in Hannover. Kommen Sie, wir machen eine Privatparty. Das ist viel lustiger.«
»Nein!«, sagte Frauke energisch.
»Püppchen, nun zier dich nicht. Ich weiß ja, dass Frauen immer so tun müssen, als würden sie sich sträuben. Ich sag dir: Hier geht die Post ab.«
In diesem Moment hielt ein knallroter Mercedes CLK 200 vor der Tür, und Schwarczer stieg aus. Er trug ein weißes Hemd, das weit geöffnet war und den Blick auf sein Brustbein freigab. Mit der engen Jeans, die deutlich die männlichen Konturen zeigte, und der Lederjacke sah er eine Spur verrucht aus. Frauke erwischte sich dabei, wie sie ihn durch die Glasscheibe einen Moment zu lange betrachtete. Dann winkte sie ihm zu und ging zur Tür.
»Ist das dein Sohn?«, lästerte der Mann, der sie angemacht hatte. »Was willst du mit dem? Der sieht aus wie ein … wie ein …«, rang er nach Worten.
»Sei vorsichtig, Ferdinand«, mahnte ihn einer seiner Begleiter, um sich dann an Frauke zu wenden. »Entschuldigen Sie, sonst ist er nicht so. Der Alkohol hat seine Zunge gelöst. Und zu Hause warten eine liebe Frau und seine Kinder auf ihn. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.« Dann packte er Ferdinand am Arm und zog ihn fort.
Schwarczer musterte Frauke. Sie spürte, wie sein Blick sie förmlich scannte, und konnte nicht verhehlen, dass ein leichtes Prickeln über ihre Haut zog. Dann zeigte der Kommissar auf die Beifahrertür.
»Kommen Sie«, sagte er. Waren es verloren gegangene Höflichkeitsformen oder ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, überlegte Frauke, dass er ihr nicht den Wagenschlag offen hielt.
»Schönes Auto«, merkte Frauke an, als sie Platz genommen hatte.
»Ist schon über zehn Jahre alt«, erwiderte Schwarczer und fuhr über den Klagesmarkt und die enge Steintorstraße zu einem Platz namens Am Marstall. Auf beiden Seiten säumten Wohnhäuser die als Parkplatz genutzte freie Fläche in der Mitte. Die grelle Neonreklame an den Hauswänden warb für Nonstop-Sexkinos, Gay-Wäsche, Automatenspielhallen, Imbisse und – Frauke war sehr überrascht – den Fanclub des türkischen Fußballclubs Trabzonspor.
Schwarczer fand eine Parklücke unter den Bäumen und führte Frauke zu einer kleinen Seitenstraße, die als Fußgängerzone ausgewiesen war.
»Das ist die Reitwallstraße«, erklärte er und zog die Nase kraus. »Hannovers St. Pauli.«
Es herrschte mäßiger Betrieb auf der Straße. Ein lebhaftes Vergnügungsviertel hätte Frauke sich anders vorgestellt. Vieles wirkte ein wenig schmuddelig.
»Sind Sex und die Befriedigung des Spieltriebs beim Mann untrennbar miteinander verbunden?«, fragte Frauke mit Blick auf die auch hier vorhandenen Spielhallen.
Schwarczer lächelte. Er wusste, dass sie keine Antwort erwartete.
Die Leuchtreklame warb für asiatische Girls, zu denen laut Schild im rot beleuchteten, düsteren Flur Frauen und Jugendliche keinen Zutritt hatten, für das Eroscenter und die Sexworld bis zum Irrgarten für alles, von dem die Betreiber vermuteten, dass es »Mann« Freude bereitete.
»Deshalb nennt man es Freudenhaus«, murmelte Frauke halblaut vor sich hin.
»Bitte?«, fragte Schwarczer, der ihren Gedanken nicht erraten konnte.
»Ach, nichts.«
Manche Häuser wirkten, als wären sie vor nicht allzu langer Zeit erbaut worden. Zwischen einem geklinkerten Neubau und einem Haus mit Putzfassade, an dessen Tür schlicht »Zu den Girls« als einziger Hinweis den Geschäftszweck verriet, stand das schäbigste Haus der Straße, ein in schmutzigem Schweinchenrosa gestrichenes Gebäude, von dem an zahlreichen Stellen der Putz abfiel.
»Stupinowitschs Bordell gehört nicht zu den Edeletablissements der Stadt«, sagte Frauke.
»Die reichsten Deutschen betreiben auch keine Gourmettempel, sondern Discountketten«, antwortete Schwarczer. »Mit Masse kann man offensichtlich mehr Geld verdienen als mit Klasse.«
Sie passierten eine Gruppe von zwei schon fast ordinär zurechtgemachten Frauen und einem langmähnigen blonden Mann, der beim Näherkommen älter aussah als aus der Distanz.
»Hi, Tom«, grüßte der Schönling.
Schwarczer beschränkte sich darauf, als Antwort andeutungsweise seine Hand zu heben.
»War das …?«, hörte Frauke hinter ihrem Rücken eine der Frauen mit einem harten osteuropäischen Zungenschlag fragen.
»’n Bulle, ist aber ganz okay«, antwortete der Blonde.
Schwarczer hielt vor einer dunklen Holztür an, die von außen arg ramponiert aussah, so als wäre es gang und gäbe, dass Besucher mit Gegenständen und Fußtritten auf die Pforte einschlugen.
Frauke sah sich um. Kein Schild, keine Leuchtreklame, nicht ein einziger Hinweis deutete auf den Sexclub hin. »Wie findet man das?«, fragte sie.
»Das weiß man. Der Laden ist in und lebt von der Mund-zu-Mund-Propaganda.« Schwarczer drückte auf einen unscheinbaren Klingelknopf und wies auf das Objektiv einer Kamera, das auf den Eingangsbereich gerichtet war. Nichts rührte sich. Erneut betätigte der Kommissar die Klingel. Diesmal ließ er seinen Finger auf dem Knopf. Nach kurzer Zeit meldete sich eine Stimme, der deutlich die italienische Muttersprache anzuhören war. »Hau ab, du Arsch, und vögel deine Oma woanders.«
Schwarczer ließ sich dadurch nicht beirren und behielt seinen Finger auf der Klingel.
»Wenn du deine Dreckspfoten nicht runternimmst, komme ich raus, und du kriegst was in die Fresse.«
Mit der linken Hand zeigte der Kommissar den Stinkefinger, während er weiterläutete.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und ein breitschultriger Mann mit einem Dreitagebart und zu einem langen Zopf zusammengebundenen Haaren stürmte heraus und wollte sich auf Schwarczer stürzen. Der schien das erwartet zu haben, machte einen halben Schritt zur Seite, packte den Mann am rechten Arm und drehte den auf den Rücken, sodass der Angreifer überrascht aufschrie. Mit der linken Hand fasste Schwarczer ihn am Zopf und zog so kräftig an den Haaren, dass der Mann in die Knie ging.
»Polizei«, sagte Schwarczer in aller Ruhe, als wäre nichts geschehen. »Wir werden jetzt hineingehen und ein wenig miteinander sprechen. Ist das klar?«
»Leck mich, du Wichser«, erwiderte der Mann.
Schwarczer verstärkte den Druck auf dem Rücken, sodass der Türsteher aufstöhnte.
»Ist das klar?«, fragte Schwarczer erneut.
Als der Mann nickte, lockerte der Kommissar den Griff, ohne ihn ganz freizugeben, und zerrte den Türsteher in das Etablissement.
Frauke war erstaunt, welche Methoden der junge Beamte anwandte. Es waren nicht ihre, trotzdem maßregelte sie ihn nicht. Anders hätten sie keinen Zugang erhalten.
»Sind Sie Trapattoni?«, fragte sie.
»Interessiert das die Nutte?«, stöhnte der Mann auf und gab gleich darauf einen weiteren Schmerzenslaut von sich, als Schwarczer an den Haaren zog.
»Wohin?«, fragte Schwarczer und schob den Italiener in ein kleines Kabuff, das als Lager für Leergut diente und in dem ein wackliger Tisch und zwei Holzstühle standen. Es roch muffig nach abgestandenem Bier und kaltem Zigarettenrauch, der von einem überquellenden Aschenbecher ausging. Offensichtlich diente das schmutzige Loch dem Türsteher als Aufenthaltsraum. Eine grell geschminkte Frau sah die drei mit weit aufgerissenen Augen an.
»Verpiss dich«, schrie der Türsteher sie an. Hastig drückte sie ihre Zigarette aus und verschwand.
Schwarczer gab dem Mann einen Stoß, dass er in die aufgetürmten Getränkekisten fiel und unter dem zusammenbrechenden Stapel begraben wurde. »Das ist für die Oma«, sagte er gelassen.
Mühsam rappelte sich der Mann aus den leeren Flaschen empor und rieb sich den Ellenbogen. »Das wirst du teuer bezahlen«, sagte er und schickte eine ganze Litanei italienischer Flüche hinterher.
»Ist das eine Drohung, Trapattoni?«, zischte Schwarczer und machte Anstalten, als wollte er den Türsteher am Revers packen und hochziehen. »Wir gehen jetzt zu deinem Boss und erklären ihm, was für eine Flachpfeife er als Türsteher eingestellt hat.«
Trapattoni fluchte in seiner Muttersprache, unternahm aber keinen weiteren Angriffsversuch.
»Wo ist Ihr Alfa?«, fragte Frauke.
Der Italiener zischte ihr etwas Unverständliches entgegen.
»Für dich ist gleich Schichtende«, drohte Schwarczer und spielte scheinbar zufällig mit zwei Einmalfesseln.
»Den habe ich einem Freund geliehen«, bequemte sich Trapattoni zwischen den fast geschlossenen Lippen hervorzupressen, während er sein Kaugummi ausspie.
»Und wer ist der Freund?«
»Ein Freund eben.«
»Wir möchten den Namen hören.«
»Eh, was soll das? Ist doch meine Sache.«
»Name!«
»Ein Landsmann. Italiano.«
»Giancarlo Rossi.« Frauke hatte geraten.
Für einen Moment war ein erschrecktes Aufblitzen in Trapattonis Augen zu erkennen. »Warum fragt die Tante, wenn sie es weiß«, sagte er zu Schwarczer.
»Was wollte Rossi mit dem Auto?«
»Keine Ahnung. Er hat mich gefragt. So einfach ist das.«
»Macht er das öfter – ich meine, das Auto ausleihen?«
»Warum interessiert das die Bullen? Ich sag jetzt nichts mehr.«
»Schön«, sagte Frauke. »Morgen früh um neun im Landeskriminalamt in der Schützenstraße. Überlegen Sie bis dahin auch, wo Sie sich gestern am frühen Nachmittag aufgehalten haben.«
»Warum das denn?«
»Weil wir dich wegen Mordes einbuchten«, mischte sich Schwarczer ein.
»Pah! Hohle Sprüche.«
»Morgen früh«, wiederholte Frauke und drohte mit dem Zeigefinger. »Und wenn Sie nicht erscheinen, holen wir Sie ab. Das gibt viel Aufsehen und wird weder den Nachbarn noch Ihrem Boss gefallen.«
Trapattoni verfiel wieder in seine Muttersprache und schickte den beiden Beamten einen ganzen Schwall Italienisch hinterher.
Schwarczer klopfte sich seine Lederjacke ab und rückte das Hemd zurecht. »Soll ich Sie zurück zum Hotel bringen, oder möchten Sie noch etwas trinken?«, fragte er.
Frauke war einen Moment unsicher, ob sie mit dem jungen Kollegen noch etwas unternehmen sollte. Andererseits erwartete sie ein tristes Hotelzimmer, und allein würde sie in der gegenwärtigen Situation nicht durch die Stadt ziehen. Schwarczer hatte gezeigt, dass er Durchsetzungsvermögen besaß. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher, wenn auch nicht ungezwungen. Der Kollege war zwanzig Jahre jünger als sie, aber warum durfte eine Frau in ihrem Alter nicht auch ein wenig geheimnisvolles Prickeln verspüren, selbst wenn sie es unter allen Umständen verbergen musste? Dafür sprach die Vernunft. Und die nötige Disziplin glaubte sie zu haben.
»Haben Sie einen Vorschlag?«, fragte sie.
Schwarczer nickte. »Kommen Sie. Wir laufen ein paar Schritte.« Ohne die Antwort abzuwarten, marschierte er los.
»Ihr Auto?«, fragte Frauke.
Schwarczer winkte ab. »Es mag merkwürdig klingen, aber an einem solchen Modell vergreift sich in dieser Gegend keiner.«
Frauke ahnte, was der Kommissar damit ausdrücken wollte. Der alte Mercedes war kein bürgerliches Auto im herkömmlichen Sinne und hätte auch einem Zuhälter gehören können. Da ließ man lieber die Finger von.
Schwarczer führte sie zu einem kleinen Platz, auf dem ein jetzt geschlossener Pavillon für seine Currywurst warb. Das Haus eines großen Bekleidungsgeschäfts sowie die Filiale eines Kaufhauses lockten mit ihren dekorierten Schaufenstern zu dieser Stunde keine Bummler mehr an. Das galt auch für die vielen Geschäfte in der Georgstraße. Sie trafen bis zum Kröpcke keine Menschenseele, erst kurz vor dem ehemaligen Traditionskaufhaus Magis lehnte ein Betrunkener an einer Bronzeplastik, die einen alten Mann mit einem Regenschirm darstellte.
Der Weg führte sie am Kröpcke und dem Varieté vorbei, an den Läden mit dem nobleren Angebot und an einer Bar namens »Henry’s«.
Schwarczer blieb vor einem Haus mit grau geputzter, fein strukturierter Fassade stehen, in dem sich eine Bar befand. »Oscar’s« stand in goldenen Lettern auf blauem Grund über der Markise. Damit es auch niemandem entging, tauchte der Name noch einmal unterhalb der Markise in Leuchtschrift auf. Tagsüber ließ sich die Front des schmalen Schlauches ganz öffnen. Jetzt säumten zwei Palmen links und rechts die Bar. Ein großes Fass mit der Aufschrift »Guinness« diente zwei Männern als Stehtisch. Sie hatten sich auf der großen Platte auf dem Fass abgestützt und waren in eine lebhafte Diskussion verwickelt. Gegenüber, erinnerte sich Frauke, lag jetzt im Dunkeln das Bankenviertel, in dem alle bedeutenden Geldinstitute der Republik und die Börse ihren Sitz hatten, einen Steinwurf weiter befand sich die Zentrale der Norddeutschen Landesbank.
Schwarczer nickte dem Barkeeper zu. An dessen Erwiderung glaubte Frauke zu erkennen, dass der Kommissar hier kein Unbekannter war. Sie wählten einen Platz auf der Empore gegenüber der Bar. Frauke sah sich in dem schlauchartigen, gediegen eingerichteten Lokal um.
»Was möchten Sie?«, wurde sie von Schwarczer abgelenkt.
»Ich verlasse mich auf Ihre Empfehlung.«
Schwarczer ging zum Tresen. Von Weitem sah Frauke, wie er sich mit dem Barkeeper unterhielt. Schließlich kehrte er an ihren Tisch zurück und stellte ihr eine hochstielige Schale hin, in der zwei Rosenblätter in einer prickelnden Flüssigkeit schwammen.
Frauke nippte an dem Getränk, nachdem sie dem Kommissar zugeprostet hatte. »Champagner«, sagte sie nach dem Probierschluck.
»›Rosemarie‹ heißt der Cocktail«, erklärte Schwarczer. »Champagner mit Rosenöl.«
Es war eine ungewohnte, aber durchaus interessante Komposition, stellte Frauke fest. »Und was trinken Sie?«
Schwarczer lächelte. »›Papa Hemingway‹. Das ist brauner und weißer Rum, Grand Marnier und einige weitere Geheimnisse.«
»Hierher entführen Sie Ihre Freundin?«, fragte Frauke.
»Wen auch immer«, wich Schwarczer aus.
»Oder erobern Sie sich immer wieder neue Bekanntschaften?«
»Das Leben hat viele Seiten.«
»Ist es zu geheimnisvoll, um darüber zu reden?«
»Ich versuche, Ihren Verhörtechniken standzuhalten.« Er lachte und prostete ihr zu.
Frauke gab es auf. Der Kommissar wollte nicht über sein Privatleben sprechen. Sie wechselten das Thema und sprachen über die Stadt. Nachdem Frauke die zweite »Rosemarie« getrunken hatte, überkam sie eine gewisse Leichtigkeit. Sie spürte den Alkohol. Das lag sicher an der Überarbeitung, dem geringen Schlaf und vor allem am Stress der letzten Tage. Dennoch wurde sie mutig, als Schwarczer die nächsten Getränke holen wollte.
»Ich möchte auch einen ›Hemingway‹«, bat sie.
»Sicher?«
Sie nickte und sah ihm nach. Merkwürdig, dachte sie, warum wirken Männer mit Glatze auf Frauen oftmals besonders maskulin? Als er zurückkam, probierte sie den Cocktail. Es war eine ebenso raffinierte wie gefährliche Mischung. Die große Menge Alkohol wurde durch Lemon Squash und Gingerale verdeckt, sodass die Schärfe nicht durchdrang. Sie wichen auf Hemingway und seine Vorliebe für ein sehr ungezügeltes Leben aus, ohne dabei sehr tiefgründig zu werden. Frauke spürte immer deutlicher die Wirkung des Alkohols und die aufkommende Müdigkeit. Trotzdem bat sie um einen weiteren »Papa Hemingway«.
Es war weit nach Mitternacht, als Schwarczer sie zu ihrem Hotel zurückbegleitete.