NEUN

Frauke war nahezu beschwingt ins Landeskriminalamt gefahren. Sicher trug dazu das Wetter bei. Hannover zeigte sich heute von seiner besten Seite. Sie war am gestrigen Abend von Georg mit einer Taxe bis vor die Haustür gebracht worden. Er hatte sich galant von ihr verabschiedet, und sie war sich nicht sicher, ob sie die ritterliche Art begrüßen oder Zweifel an ihrer Anziehungskraft als Frau hegen sollte. Zumindest hatte Georg nicht den leisesten Versuch unternommen, sie noch in ihre Wohnung zu begleiten.

Im Stillen hatte sie es begrüßt. Ihre Räume waren nur notdürftig hergerichtet und hätten Georg sicher erschrecken lassen, insbesondere in Anbetracht der luxuriösen Umgebung, in der er lebte. Natürlich fragte sie sich, was der Mann von ihr wollte. Er unternahm keine Annäherungsversuche.

War es wirklich ein Zufall, dass ausgerechnet Georg sich als Retter erwies, als sie von den beiden Unbekannten bedrängt wurde? Sein ganzes Verhalten war ausgesprochen merkwürdig. Und wenn Frauke nicht mit ihrer geschulten Beobachtungsgabe registriert hätte, dass Georg und Stupinowitsch kaum merkliche Blicke ausgetauscht hatten, wäre die Verbindung zwischen den beiden Männern verborgen geblieben.

Ihre gute Laune resultierte nicht nur aus einem unterhaltsamen Abend, sondern auch daraus, dass sich ihr Beharrungsvermögen schon nach so kurzer Zeit ausgezahlt hatte. Es war ein großer Zufall, dass sie auf die vier Männer gestoßen war und sich die Vermutung, dass es Verbindungen zwischen ihnen geben musste, bestätigt hatte. Zu gern hätte sie gewusst, wer der elegante Vierte war, der an dem Treffen teilgenommen hatte.

Während Giancarlo Rossi ausgesprochen nervös gewesen war, hatten die beiden anderen Männer sehr selbstsicher gewirkt. Und dass Dottore Carretta überall mitmischte, überraschte Frauke schon lange nicht mehr. Der gewiefte Advokat schien eindeutig der Anwalt der Organisation zu sein.

Frauke sah auf die Uhr, raffte ihre Unterlagen zusammen, besorgte sich einen Becher Kaffee und suchte das triste Besprechungszimmer auf. Die drei Männer ihres Teams erwarteten sie bereits.

Frauke berichtete von den Neuigkeiten des Wochenendes, ließ dabei aber die Begegnung mit Georg unerwähnt.

»Wie haben Sie die beiden Verfolger abgeschüttelt?«, fragte Madsack.

»Ich bin schon länger Polizistin«, erwiderte sie ausweichend.

»Wären Sie das wirklich, hätten Sie die Identität der Männer festgestellt«, knurrte Putensenf.

»Sie haben zu viel John Wayne gesehen«, antwortete sie. »Wissen Sie, was man unter angemessenem Handeln versteht?«

Frauke beendete den Diskurs mit einer abwertenden Handbewegung. Dann erzählte sie von ihrer Begegnung mit den vier Männern im italienischen Restaurant.

»Donnerwetter«, staunte Madsack, während Schwarczer keine Miene verzog.

»In Hannover gibt es hunderte von Pizzerien«, sagte Putensenf voller Übertreibung, und das Misstrauen troff aus seiner Stimme. »Wie kommen Sie ausgerechnet auf diese?«

»Intuition, Putensenf. Sie sind deshalb nicht Teamleiter, weil Sie vermutlich am Bahnhofsimbiss gesucht hätten. Doch die Leute, mit denen wir es zu tun haben, sind andere Kaliber. Und wer behauptet, ich hätte die Herren gleich im ersten Restaurant gefunden?«

»Sie sind durch unsere Stadt gelaufen? Von Pizzeria zu Pizzeria?«, fragte Madsack.

»Genau.« Dann sah sie Putensenf an. »Klärt das auch Ihre kritische Frage, weshalb ich mich nicht ständig am Arbeitsplatz aufhalte?«

»Wer ist nun der geheimnisvolle Fremde, den Sie vereint mit Rossi und Stupinowitsch gesehen haben?«, fragte Madsack.

»Ich habe eine Vermutung«, sagte Frauke.

»Mateo Zafferano.« Madsack sah Frauke fragend an.

»Der Mann im Hintergrund? Der Inhaber des italienischen Gemüseimportunternehmens?«

Frauke nickte Putensenf zu. »Richtig. Rossi ist nur der Geschäftsführer, der Statthalter. Sicher. Das ist nur eine Vermutung. Da wir aber schon sehr viel Unruhe in die Organisation hineingetragen und ihre Strukturen zum Teil aufgedeckt haben, hat man sich in Hannover zum Krisengipfel getroffen.«

»Wenn Dottore Carretta dabei war, würde das heißen, dass der Anwalt in die kriminellen Machenschaften involviert ist«, gab Putensenf zu bedenken.

»Vorsicht«, gemahnte Frauke. »Beim Treffen am gestrigen Abend könnte man sich darauf beschränkt haben, rechtliche Fragen zu klären. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Stupinowitsch und Don Mateo – wenn er es war – in aller Öffentlichkeit strategische Überlegungen anstellen.«

»Das kann ich nachvollziehen«, stimmte Madsack zu.

Schwarczer räusperte sich und zog alle Blicke auf sich.

»Ich könnte versuchen, es zu eruieren«, bot er an.

»Gut.« Frauke nickte.

»Warum hat Danielo Battaligia, der als Strohmann für Stupinowitsch das Bordell führt, nicht an dem Gipfeltreffen teilgenommen?«, fragte Putensenf.

»Dafür gibt es zwei Gründe. Möglicherweise ist Battaligia zu unbedeutend. Außerdem scheint es, als wäre Stupinowitsch nur für die Beschaffung der illegalen Medikamente zuständig, während die Organisation die Verteilung und den Verkauf wahrnimmt«, erklärte Frauke.

Dann erörterten sie Richters Selbstmordversuch und die Verstrickung des Wittinger Polizisten Eberhard Annenmeyer.

»Es verwundert mich nicht, dass Richter sich Dottore Carretta als Anwalt genommen hat«, schloss Frauke. »Ich werde jetzt ins Untersuchungsgefängnis fahren und Richter vernehmen. Sie, Schwarczer, werden mich begleiten. Rufen Sie vorher Richters Anwalt an, sonst begeben wir uns vergeblich dorthin. Gibt es sonst noch etwas?«

Madsack nickte. »Die Lüneburger Kollegen haben uns heute Morgen informiert, dass Günter Blechschmidt gestern in seinem Haus in Salzhausen überfallen wurde. Am späten Nachmittag klingelten zwei Männer. Als Blechschmidt öffnete, schlugen sie sofort zu. Er liegt mit gebrochenem Kiefer, Jochbeinbruch und Milzriss im Städtischen Klinikum in Lüneburg. Er ist nicht vernehmungsfähig. Seine Lebenspartnerin ist dazugekommen, konnte aber zu den Tätern keine Angaben machen.«

»Das ist ein weiterer Beweis dafür, wie brutal und professionell die Organisation vorgeht. Die haben sofort erkannt, dass Blechschmidt unser Tippgeber war. Dank seiner Mitarbeit ist die Logistikkette aufgeflogen. Dafür hat man sich gerächt.«

Madsack stimmte Frauke zu. »Der Mann hat Glück gehabt, dass er mit dem Leben davongekommen ist.«

»Da wäre ich mir nicht sicher«, widersprach Frauke. »Wenn wir weiterhin erfolgreich sind und es uns gelingt, noch mehr aufzudecken, besteht die Gefahr, dass man Blechschmidt noch weiter bestraft. Für die Organisation ist die abschreckende Wirkung wichtig. Man hat ein Exempel statuiert, um anderen deutlich zu zeigen, wie man mit Verrätern umgeht.«

»Wie wollen wir Blechschmidt schützen?«, fragte Madsack.

»Setzen Sie sich mit Lüneburg in Verbindung. Das sollen die dortigen Kollegen übernehmen«, entschied Frauke. Sie hatte selbst erfahren müssen, wie die Organisation vorging. Laut sagte sie: »Der Mord an Friedrich Rabenstein sollte uns allen ein mahnendes Beispiel sein, dass die Leute vor nichts zurückschrecken.«

»Auch nicht vor einem weiteren Polizistenmord?« Putensenf hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und musterte Frauke aus zusammengekniffenen Augen.

Frauke ahnte, dass der Kriminalhauptmeister darauf anspielen wollte, dass der Anschlag auf den Rentner Rabenstein eigentlich ihr gegolten hatte.

»Auch Polizeibeamte sind nicht sicher«, wich sie aus. »Denken Sie an unseren Kollegen Lars von Wedell. Und – passen Sie gut auf sich auf.«

Frauke hatte den Eindruck, als würden ihre Mitarbeiter eine Spur nachdenklicher in ihre Büros zurückkehren.

Sie rief in der Kriminaltechnik an und erkundigte sich, ob es weitere Ergebnisse aus der Untersuchung des Motorrads gab, das die Mörder Friedrich Rabensteins benutzt hatten.

»Ja«, bestätigte der Beamte am anderen Ende der Leitung. »Wir haben mehrere Fingerabdrücke gewinnen können. Eigentlich eine ganze Menge. Die Kollegen haben Kontrollabdrücke von den Mechanikern der Werkstatt genommen. Noch vergleichen wir, um im Ausschlussverfahren die Techniker aus dem Kreis der Verdächtigen zu eliminieren. Es gibt aber noch zahlreiche weitere Prints, die wir nicht zuordnen können. Dabei spreche ich noch nicht einmal von denen, die überlagert oder zum Teil verwischt sind.«

»Wie lange dauert es noch?«, fragte Frauke ungeduldig. »Es handelt sich hier um eine Mordermittlung.«

»Wie gut, dass wir es in allen anderen Fällen, die wir bearbeiten, nur mit einem Partyspaß zu tun haben und nicht mit Straftaten«, erwiderte der Beamte beleidigt. »Moment. Ich will mal nachsehen, ob wir schon ein Zwischenergebnis haben.« Nach einer Weile meldete er sich wieder. »Es dauert doch noch ein bisschen. Sie hören wieder von mir, Frau äh …«

»Dobermann!«

Der Beamte kicherte. »Wie der Hund?«

»Machen Sie Ihren Job«, erwiderte Frauke scharf und legte auf. Inzwischen hatte Schwarczer Dottore Carretta erreicht und einen Termin im Untersuchungsgefängnis vereinbart.

Frauke und der Kommissar mussten noch eine Weile warten, bis der Anwalt eintraf und man Bernd Richter in die Verhörzelle brachte. Frauke führte das routinemäßige Prozedere durch, klärte Richter über seine Rechte auf und beschuldigte den ehemaligen Kriminalhauptkommissar erneut des Mordes am Polizisten Lars von Wedell.

»Moment!« Der greise Anwalt hob beschwörend die Hand. »Zuvor möchte ich noch gegen Ihre Verhaltensweise von gestern protestieren. Mein Mandant lag vernehmungsunfähig im Hospital, und Sie haben ihn unrechtmäßig mit unzulässigen Fragen behelligt. Dagegen lege ich Rechtsmittel ein.«

»Das bleibt Ihnen unbenommen«, erwiderte Frauke ohne jede Regung. In ihrer beruflichen Laufbahn war sie oft dem Geplänkel der Rechtsvertreter von Beschuldigten begegnet.

»Ich verlange, dass alles, was Sie gestern zu hören geglaubt haben, für die weitere Sicht der Dinge unberücksichtigt bleibt.«

»Das klingt wie ein Plädoyer«, sagte Frauke höhnisch. »Haben Sie so große Sorge, dass Ihr Mandant noch mehr verraten haben könnte, als es die Fakten schon beweisen?« Dabei klopfte sie mit der flachen Hand auf den Aktendeckel vor sich.

»Ich habe nichts gesagt«, mischte sich Richter ein. Die enorme Anspannung war ihm deutlich anzumerken.

Carretta legte ihm die Hand auf den Oberarm. Der Anwalt war wirklich ein erfahrener Advokat. Kein Wunder, dachte Frauke, dass sich die Organisation seiner Dienste bediente. Er hatte erkannt, dass Richter mit seiner unbeherrschten Äußerung genau das Gegenteil dessen erreicht hatte, was er bezweckte.

So dumm konnte Richter nicht sein. Schließlich war er nicht nur geschult, sondern verfügte auch über eine langjährige Erfahrung bei Verhören. Sie ließ sich Zeit und ließ ihren Blick auf Richter ruhen, auf seinem Gesicht, auf den Händen. Ihr war das leichte Zucken um die Mundwinkel und das Flattern der Augenlider nicht entgangen, ebenso wenig das unruhige Kneten der Finger. Richter hatte Angst. Nicht vor mir oder der Polizei, dachte Frauke, sondern vor Dottore Carretta.

Frauke lehnte sich zurück und lächelte still in sich hinein. Das irritierte sowohl Richter wie seinen Anwalt. Die beiden konnten sich offenbar nicht vorstellen, dass Frauke das Spiel und die Zusammenhänge durchschaut hatte. Nun wollte sie Richters Angst weiter schüren.

»Haben Sie gehört, dass man den Medikamentenverteiler Günter Blechschmidt, ein unbedeutendes kleines Licht, fürchterlich zugerichtet hat?«, wandte sie sich an Richter.

»Das gehört nicht hierher«, mischte sich Dottore Carretta schnell ein.

»Sie wissen davon? Interessant. Sicher werden Sie Blechschmidts Mandat nicht übernehmen, da Sie schon für die Täter gebucht sind, die ihn so grauenvoll verletzt haben.« Frauke hatte mit Bedacht Worte gewählt, die in Richters Phantasie das Bild eines schrecklichen Vorgehens entstehen lassen sollten.

Zum ersten Mal, seit sie Dottore Carretta begegnet war, bemerkte sie eine Gefühlsregung bei dem Anwalt. Deutlich war der Zorn in seinen Augen zu sehen, der ihn erfasst hatte.

»Ich verlange, dass wir über diesen Fall und Ihre lächerlichen Anschuldigungen sprechen«, sagte Carretta barsch.

»Schön. Auch das ist ein Beispiel dafür, wie man Menschen aus dem Weg räumt. Ein junger Polizeibeamter musste sterben, weil er zufällig etwas aufgeschnappt hatte, was er gar nicht richtig beurteilen konnte. Die Hintermänner glaubten aber, er wüsste viel mehr und würde eine Gefahr für sie darstellen. Und Sie«, dabei zeigte sie auf Richter, »sind einer der Drahtzieher. Und trotzdem bangen Sie um Ihr Leben.«

»Sie soll damit aufhören!«, sagte Richter überlaut.

»Wollen Sie bei Richter nicht die gleiche Taktik anwenden wie bei Simone Bassetti? Den haben Sie überredet, sich des Mordes für schuldig zu erklären.«

Carretta bewegte seinen Zeigefinger hin und her. »Nicht des Mordes. Bei Bassetti war es ein Totschlag im Affekt.«

»Und das gleich in zwei Fällen? Manfredi und Manuela Tuchtenhagen? Ich hätte Sie für klüger gehalten, Herr Dr. Carretta. Bassetti wird genauso wegen Mordes verurteilt werden wie Richter. Ihr Stern sinkt. Wäre es nicht klüger, in Ehren abzutreten und den wohlverdienten Ruhestand zu genießen? Sie beginnen, Fehler zu machen. Das mag die Organisation nicht.«

»Es reicht!«, sagte Dottore Carretta barsch.

Frauke war zufrieden. Es war ihr gelungen, den so selbstsicher auftretenden Anwalt zu reizen. Und wer nervös war, beging eher einen Fehler.

»Kommen wir zur Sache. Wir haben Richters Telefon analysiert. Von dem Apparat aus ist ein Gespräch mit Bassetti geführt worden. Der wiederum hat gleich darauf in Tuchtenhagens Wohnung angerufen, während die Polizei dort anwesend war, und das Gerücht gestreut, dass Manuela Tuchtenhagen flüchtig ist und ihr Ehemann sie mit dem Notwendigsten versorgt hat. Das, Richter, war ein Fehler, denn davon wusste nur die Polizei. Nur Ihnen war bekannt, wo Putensenf und ich waren. Ebenso haben wir einwandfrei nachgewiesen, dass Sie in der Niki-de-Saint-Phalle-Promenade waren, als Putensenf Sie anrief. Deshalb waren Sie auch daran interessiert, den Fall selbst zu bearbeiten und nicht an die Mordkommission abzugeben. So konnten Sie selbst auf die Ermittlungen Einfluss nehmen. Es ist schon außergewöhnlich, dass ein Hauptkommissar die Ermittlungen in einem Mordfall leitet, den er selbst begangen hat. Das haben Sie sich gut ausgedacht. Wie vieles andere auch, meine Herren.«

Frauke klopfte auf die Tischplatte. »Doch Sie werden scheitern. Dafür machen Sie zu viele Fehler.« Dabei zeigte sie auf Dottore Carretta. »Woher kannte Bassetti von Wedells Handynummer? Das war Richters Fehler, dass er sie an Bassetti weitergegeben hat. Ich habe Erkundigungen eingezogen. Lars von Wedell hat seine Mobilfunknummer laut seiner Freundin wie seinen Augapfel gehütet. Pech, meine Herren.«

Der Anwalt stand auf und stopfte seine Unterlagen in seine alte, abgewetzte Aktentasche.

»An dieser Stelle beenden wir das Gespräch«, erklärte er. Ihm war die Verärgerung deutlich anzumerken. Die Gelassenheit, die er früher zur Schau gestellt hatte, war von ihm gewichen.

»Ich danke Ihnen beiden für die Informationen, die Sie uns heute wieder gegeben haben.«

Carretta und Richter wechselten rasch einen Blick. In Richters Augen spiegelte sich Ratlosigkeit wider. Er verstand genauso wenig wie der Advokat, was Frauke vorgeblich in diesem Verhör herausgehört haben wollte.

Genau das fragte Thomas Schwarczer, als die beiden Beamten zum Landeskriminalamt zurückfuhren.

»Mir kam es darauf an, die Gegenseite zu verunsichern. Manches von dem, was ich vorgebracht habe, basiert noch auf Vermutungen. Carretta hat mit Sicherheit guten Kontakt zur Führungsebene und wird dort nicht nur über unsere Aktionen, sondern auch das Verhalten der Leute sprechen, die wir schon dingfest gemacht haben. Die Drahtzieher fürchten nichts mehr als Verräter. Außerdem stört es die Herrschaften empfindlich, dass wir in ihre Geschäfte hineinwirken und peu à peu ihre Kreise stören. Und genau damit werden wir weitermachen.«

Dann besann sich Frauke. »Wie hieß die Frau, die Massimo Trapattoni das Alibi für die Tatzeit gegeben hat, ich meine, für den Mord an Friedrich Rabenstein?«

»Agnezia Boronin«, antwortete Schwarczer. »Sie möchten die Adresse?«

Frauke nickte.

Schwarczer nahm Kontakt zur Dienststelle auf. Kurz darauf sagte er: »Die wohnt in der Eichstraße. Das ist in der Oststadt.«

»Dann besuchen wir die Dame«, entschied Frauke.

Hannover überraschte sie immer wieder aufs Neue. Diese Wohngegend in der Oststadt lag nur einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt. Trotzdem sah es so aus, als wäre es ein Quartier, in dem Menschen mit einem überschaubaren Einkommen lebten. Das traf auch auf das Haus an der Ecke Bütersworthstraße zu. Dicht an dicht standen die Fahrzeuge in der schmalen Straße, sodass sie verbotswidrig vor einer Einfahrt parken mussten.

Das Haus war ein schmuckloser Kasten aus Beton mit kleinen Fenstern. Die Balkonbrüstungen erinnerten Frauke entfernt an Wellblech. Lediglich der Kinderhort im Erdgeschoss bildete einen Farbtupfer. »Strandkrabben« stand in bunten Lettern an der Balkontür, und der Name erinnerte Frauke an ihre schleswig-holsteinische Heimat.

Gegenüber befand sich in einem freundlicher aussehenden Haus jüngerer Bauart ein Lottoladen. Solche Geschäfte verfügen häufig über gute Informationen über die Nachbarschaft, dachte Frauke, während das Ladengeschäft neben dem Zugang zum Haus verlassen aussah. Schon seit Langem schien sich niemand mehr um die Baustelle gekümmert zu haben.

Am Hauseingang fanden sie keinen Hinweis, dass Agnezia Boronin hier wohnte.

»Wir werden irgendwo klingeln und fragen müssen«, sagte Frauke, als die Tür von innen geöffnet wurde und ein älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht ins Freie trat. Die türkische Herkunft war ihm unverkennbar anzusehen.

»Was du wollen?«, fragte er Frauke.

»Wir suchen Frau Boronin.«

»Nix hier wohnen.«

»Doch«, mischte sich Schwarczer ein. »Eine hübsche blonde Frau mit langen Haaren.«

Der Mann lachte und zeigte dabei eine Reihe schwarzer Zahnstummel. »Manchmal auch Haare schwarz. Du meinst Nutte?«

»Wohnen hier noch mehr blonde Mädchen?«

»Nix da. Sonst nur anständige Leute. Geh in zweite Etage. Dort steht Schmidt an Tür. Frau Schmidt sehr alt. Lebt jetzt in Heim. Seit sie weg, dort nur merkwürdige Leute wohnen. Brrrh.« Der Mann schüttelte sich, drehte sich um und ging seines Weges.

»Dann wollen wir Frau Schmidt unsere Aufwartung machen«, sagte Frauke und ging voraus.

In der zweiten Etage fanden sie das ältere Emailleschild, wie man es früher oft angetroffen hatte, weiße Schrift auf schwarzem Grund. Eine schrille Glocke ertönte, nachdem Frauke den Knopf betätigt hatte. Alles blieb ruhig. Nichts rührte sich. Sie probierte es erneut, wiederum ohne Erfolg.

»Vielleicht ist sie nicht da. Oder sie logiert wieder bei ihrem Freund Trapattoni«, meinte Schwarczer.

Frauke drückte erneut auf den Klingelknopf und klopfte mit der anderen Hand kräftig gegen das Türblatt. Trotzdem dauerte es noch eine ganze Weile, bis die Tür aufgerissen wurde und ein kräftig gebauter blonder Hüne erschien. Er trug ein olivefarbenes Unterhemd. Der oberste Knopf seiner Jeans war offen, und die Enden des Gürtels hingen lose herab.

»Eh, was soll der Scheiß«, rief er, griff Fraukes Hand und drückte sie von der Klingel fort. »Verpisst euch. Sonst gibt’s trouble

»Nicht für uns«, entgegnete Frauke. »Polizei!«

»Na und. Hau ab.«

»Wir wollen mit Frau Boronin sprechen«, sagte Frauke ruhig.

»Die aber nicht mit euch.«

Der Mann war an den Armen, auf den Handrücken, an den Schultern und am Oberkörper tätowiert. Ein weiteres Tattoo zog sich vom Hals zum Rücken abwärts.

»Wer sind Sie?«, mischte sich Schwarczer ein.

»Geht dich einen Dreck an.«

»Ich möchte Ihre Papiere sehen.«

Der Kommissar machte einen Schritt auf den Blonden zu. Plötzlich stieß der Mann Schwarczer vor die Brust, dass der zurücktaumelte.

»Das war Widerstand gegen einen Vollzugsbeamten, Paragraph einhundertdreizehn des Strafgesetzbuches«, belehrte ihn Schwarczer.

»Schieß in Wind, du Spinner«, blökte der Blonde und wollte die Tür wieder schließen.

Doch der Kommissar war schneller. Er machte einen raschen Schritt vorwärts, ergriff den Unterarm des Blonden und zog daran, gleichzeitig schob er sein Bein vor. Das geschah so schnell und überraschend, dass der Mann nicht reagieren konnte, über Schwarczers Bein stolperte und vor dem Kommissar zu Boden ging. Blitzschnell hatte Schwarczer den rechten Arm gepackt, auf den Rücken gedreht und nach oben gebogen. Mit seiner linken Hand fasste der Kommissar den Haarschopf am Hinterkopf, zog zunächst an den Haaren und drückte den Kopf des Blonden dann auf den Fußboden, sodass dessen Nase und Lippen schmerzhaft gegen die Bodendielen gepresst wurden.

»Sind Sie friedlich?«, fragte er.

Als der Blonde nicht antwortete, verstärkte Schwarczer den Druck, bis sein Kontrahent durch ein Aufstöhnen kundtat, dass die Schmerzschwelle überschritten war.

Schwarczer ließ von dem Mann ab. Frauke bemerkte aber, dass der Kommissar immer noch die Spannung hielt. Man sah es an den Muskeln, die sich wölbten, und am Unterkiefer, den er nach vorn geschoben hatte.

Mühsam erhob sich der Blonde und tastete mit zwei Fingern die aufgeschrammte Stelle an Lippe und Nase ab.

Widerstandslos kehrte er in die Wohnung zurück. Die beiden Beamten folgten ihm, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Der Mann betrat das Schlafzimmer, wenn man den dürftig möblierten Raum so bezeichnen konnte. Anstelle eines Schranks hing die Kleidung über einem Wäscheständer oder war achtlos auf dem Fußboden verteilt. In einem Bett mit fleckiger Wäsche hockte eine Frau, die die Decke bis zum Kinn hochgezogen hatte.

»Polizei«, sagte Frauke knapp, um sich zunächst um den Blonden zu kümmern. Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Den Ausweis«, sagte sie unfreundlich.

Der Mann fingerte in der engen Gesäßtasche seiner Jeans und zog einen abgegriffenen Führerschein hervor.

»Holger Mahlstedt«, las Frauke laut vor. »Aus Hannover.« Der Mann war neununddreißig Jahre alt. Sie drehte das Dokument um. Mahlstedt besaß keine Fahrerlaubnis für Motorräder.

»Fahren Sie Motorrad?«, fragte sie trotzdem.

»Das steht doch da drin.« Dann fasste er sich ans Gemächt und ruckelte daran herum. »Ich habe genug Potenz und muss es nicht durch Biken unter Beweis stellen.«

Frauke notierte sich die Daten des Mannes.

»Eh, was soll das?«, blaffte Mahlstedt.

»Wir wollen doch wissen, wem wir die Strafanzeige zustellen müssen. Den Tatbestand hat Ihnen mein Kollege vorhin genannt.«

»Blödes Volk«, knurrte Mahlstedt.

»Sie können jetzt verschwinden«, sagte Frauke.

»Und? Was ist mit meinem Hunni, den ich der Schlampe abgedrückt hab?«

»Das ist ein stolzer Preis für einen Coitus interruptus«, erwiderte sie ungerührt. »Nun machen Sie, dass Sie verschwinden. Sonst überlegen wir es uns noch anders.«

»Scheißbullen.«

Als Schwarczer die Hände leicht anhob und einen Schritt in Mahlstedts Richtung andeutete, beeilte sich der Mann doch, die Wohnung zu verlassen, nicht ohne vom Flur her noch einmal Schmähungen gegen die Polizisten auszustoßen.

»Und nun zu Ihnen«, wandte sich Frauke an die junge Frau, die sichtlich beeindruckt von den Geschehnissen war.

»Sie sind Agnezia Boronin?«

Sie nickte schüchtern.

»Wo kommen Sie her?«

»Aus Polen«, antwortete sie mit einem harten Akzent.

»Ich möchte Ihre Papiere sehen.« Frauke streckte die Hand aus.

Die Frau griff ihre Handtasche und begann mit fahrigen Bewegungen darin zu suchen. Zwischendurch sah sie immer wieder auf und blickte zu Frauke. Es war ihr anzusehen, dass sie ziellos in der Handtasche wühlte.

»Sie haben keinen Ausweis«, sagte Frauke mit Bestimmtheit.

»Doch«, erwiderte Agnezia Boronin und kramte weiter in dem Behältnis.

Frauke nickte Schwarczer zu, der in den Wäschestapeln suchte und kurz darauf einen Pass schwenkte.

»Weißrussland«, sagte er.

Frauke nahm den angstvollen Blick der jungen Frau auf. Es schien, als würde sie sich noch ein wenig mehr in die Bettdecke zurückziehen wollen.

»Das ist nicht mehr Europäische Union«, stellte Schwarczer fest. Dann begann er, mit der Frau Russisch zu sprechen.

Sie antwortete nur zögerlich, manchmal erst, nachdem der Kommissar sie ein zweites oder gar drittes Mal angesprochen hatte. Aufmerksam verfolgte Frauke den Dialog, konzentrierte sich auf den Tonfall der Weißrussin und auf ihre Gestik.

Es fiel Agnezia Boronin sichtlich schwer, Schwarczer zu antworten. Fast immer hakte der Kommissar nach, bis er erneut eine kurze Erwiderung erhielt.

Nach einer Weile wandte er sich an Frauke. »Sie kommt aus Minsk, sagt sie, und hat dort als Chemielaborantin gearbeitet. Arbeits- und Lebensbedingungen sind dort schlecht, sodass sie das Angebot angenommen hat, in Deutschland als Sängerin in einer Bar zu arbeiten.«

Frauke war skeptisch. »Das sind allzu häufig Märchen, die wir zu hören bekommen. Wie wird aus einer Chemielaborantin eine Sängerin? Ich bin skeptisch hinsichtlich des Wahrheitsgehalts solcher Erklärungen. Es ist ein schwieriges Feld, da wir es kaum prüfen können. Tatsache ist, dass sie sich illegal in Deutschland aufhält. Darüber haben andere zu befinden. Mich interessiert, ob sie uns die Wahrheit gesagt hat, als sie Massimo Trapattoni zu einem Alibi verholfen hat. Sie hat behauptet, sie wäre mit Trapattoni intim gewesen, als Friedrich Rabenstein ermordet wurde.«

Schwarczer setzte seine Befragung auf Russisch fort. Zunächst schüttelte die Frau heftig den Kopf bei ihren Erwiderungen. Erst als der Kommissar nachsetzte, mal beruhigend, dann wieder streng auf sie einsprach, wurde Agnezia Boronin leiser. Ihre Stimme war kaum noch zu verstehen, und man musste sich konzentrieren.

Schließlich richtete sich Schwarczer auf. »Es stimmt, dass sie nach Feierabend noch bei Trapattoni war. Dort ist es auch zu Intimitäten gekommen. Sie hat manchmal geglaubt, dass der Italiener wirklich etwas für sie empfindet, da sie sich hier in Hannover sehr einsam und verlassen, aber auch schutzlos vorgekommen ist. Sie wollte sich gern ein wenig geborgen fühlen. Daher war sie sehr enttäuscht, als ihr Liebhaber sie am Mittwoch förmlich von der Bettkante gestoßen hat. Trapattoni hatte einen Anruf erhalten und sie direkt aus seiner Wohnung geworfen. Sie sagt, es sei demütigend gewesen, dass sie sich im Treppenhaus habe anziehen müssen. Abends hat Stupinowitsch sie an die Seite genommen und ihr gedroht, falls sie nicht so aussagen würde, wie sie es aus Angst getan hat.«

»Stupinowitsch.« Frauke ließ den Namen auf der Zunge zergehen. »Dann sind wir weiter ins Wespennest vorgestoßen, als wir geglaubt haben.«

Sie wurde durch die Weißrussin abgelenkt, die still zu weinen begonnen hatte. Frauke ließ sich dadurch nicht beeindrucken.

»Warum hat sie plötzlich so bereitwillig ausgepackt?«, fragte sie Schwarczer. »Alle in der Organisation haben Angst vor Repressalien. Was hat ihren Sinneswandel hervorgerufen?«

Der Kommissar druckste zunächst ein wenig herum. »Ich habe ihr erzählt, dass sie sich möglicherweise der Beihilfe zum Mord schuldig machen würde. In einem solchen Fall ist es nicht auszuschließen, dass sie einen Teil der Strafe in ihrer Heimat verbüßen muss. Und wem solches droht, der hat auch keine Angst mehr vor der Organisation.«

Frauke setzte sich auf die Bettkante und wollte die Hand der jungen Frau ergreifen, aber Agnezia Boronin entzog sie ihr sofort.

»Sind Sie für Ihre Dienste als Prostituierte entlohnt worden?«, fragte sie. Schwarczer übersetzte es ins Russische.

Die Frau schüttelte ihren Kopf.

»Nein«, erklärte der Kommissar. »Die Freier haben den Liebeslohn im Club entrichtet. Sie hat davon nichts zu sehen bekommen.«

»Da kommen eine Reihe von Straftaten zusammen«, überlegte Frauke laut. »Ich habe noch eine letzte Frage. Hat sie mitbekommen, dass im Club Viagra verteilt wurde? Ich meine die Fälschungen.«

Schwarczer musste diesmal nicht übersetzen. Frauke konnte die Antwort am heftigen Nicken der Frau ablesen.

Frauke stand auf. »Sie soll sich anziehen. Wir werden sie zum eigenen Schutz mitnehmen. Was dann geschieht, ist sicher nicht schön.«

»Zeugenschutzprogramm?«, fragte Schwarczer.

Frauke zog den linken Wangenmuskel in die Höhe, dass sich ihr Auge in einen schmalen Schlitz verwandelte, um ihre Skepsis auszudrücken.

»Ich fürchte, dazu spielt sie eine zu unbedeutende Rolle. Oft stoßen wir an unsere Grenzen, wenn wir erkennen, dass kleine Mitläufer häufig viel mehr unter den Folgen ihres Tuns leiden müssen als die Drahtzieher. Wenn wir ihrer überhaupt habhaft werden«, ergänzte sie mehr für sich selbst.

»Was gibt es Neues?«, wollte Madsack wissen, als er Frauke und Schwarczer auf dem Flur des Landeskriminalamts begegnete.

»Kommen Sie in fünf Minuten zu mir«, sagte Frauke. »Und bringen Sie Putensenf mit.«

Dem schwergewichtigen Hauptkommissar war die Neugierde ins Gesicht geschrieben. Er war schon nach drei Minuten bei Frauke im Büro, ließ sich ächzend ihr gegenüber nieder und breitete eine Handvoll Fruchtbonbons auf der Arbeitsfläche aus.

»Geistesnahrung«, sagte er mit einem schelmischen Schmunzeln und wickelte genüsslich eines der Bonbons aus.

»Sind wir hier beim Sabbelverein oder bei der Polizei?«, maulte Putensenf, als er in den Raum eintrat.

»Hellseher dürfen wieder gehen, Unwissende bleiben«, erwiderte Frauke und begann, nachdem auch Schwarczer dazugestoßen war, von dem Besuch im Untersuchungsgefängnis und dem Geständnis der jungen Weißrussin zu berichten.

»Bei mir gibt es auch Neuigkeiten«, fuhr Madsack fort, nachdem Frauke ihren Bericht beendet hatte. »Die Kriminaltechnik konnte einen Fingerabdruck, den sie auf dem Motorrad gefunden haben, zuordnen.«

»Massimo Trapattoni«, sagte Frauke und nahm dem Hauptkommissar das Überraschungsmoment.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Madsack erstaunt.

»Bauchgefühl«, antwortete Frauke lapidar.

»Wenn Frauen von ihrem Bauchgefühl sprechen, heißt das meistens, dass sie schwanger sind«, knurrte Putensenf.

»Und wenn Sie von Ihrem Bauchgefühl reden, gärt wahrscheinlich das Bier, das Sie zu viel getrunken haben.« Dann drehte sie sich ostentativ zu Madsack um. »Wir können nachweisen, dass Trapattoni das Motorrad zumindest berührt hat.«

»Das ist als Beweis aber sehr dürftig«, warf Putensenf ein. Frauke überraschte die ruhige, sachliche Tonlage des Kriminalhauptmeisters.

»Mir ist noch etwas aufgefallen«, meldete sich Schwarczer zu Wort und fuhr fort, als Frauke ihm zunickte. »Als wir Trapattoni im Sexclub besucht haben, hat er ein Kaugummi ausgespuckt. Ein weiteres Mal bin ich ihm begegnet, als ich ihn hier im LKA verhört habe. Auch dabei hat er unablässig Kaugummi gekaut.«

Madsacks Augen leuchteten auf. Bevor Frauke ihren Gedanken aussprechen konnte, der auch Schwarczer gekommen war, erklärte der Hauptkommissar: »Wenn jemand ständig Kaugummi bearbeitet, wird er es auch benutzt haben, als er in der Lister Meile auf dem Motorrad saß und darauf gewartet hat, dass ihm der Unbekannte grünes Licht für das Attentat auf Sie gab.«

»Nicht auf mich, sondern auf Friedrich Rabenstein. Man hatte nicht vor, mich zu exekutieren, sondern wollte ein Zeichen setzen.« In der Zwischenzeit war man aber zu anderen Erkenntnissen gekommen, dachte Frauke für sich, und hat es schon auf mein Leben abgesehen.

»Das Warten bedeutet auch für einen Profi eine gewaltige Nervenanspannung«, setzte Madsack seinen Gedanken fort. »Da kann es durchaus sein, dass er das mit Kaugummi überbrückt hat.«

»Das er direkt vor der Tat ausgespuckt hat«, ergänzte Schwarczer.

»Wir haben Zeugenaussagen, die uns ziemlich genau den Ort beschrieben haben, an dem das Motorrad mit den beiden Männern gewartet hat«, schloss Frauke die Überlegung und sah Putensenf an.

»Eine gewagte Theorie«, erwiderte der.

»Ich habe eine Führungsaufgabe für Sie, Putensenf. Organisieren Sie ein paar Leute und suchen Sie den Ort ab. Sammeln Sie alles auf, was auch nur entfernt wie ein Kaugummi aussieht.«

»Bin ich denn der Leo?«, empörte sich Putensenf. »Ist das jetzt die Rache der Frau

»Nein, Leo«, sagte Frauke und lächelte süffisant. »Das ist eine klare Anweisung Ihrer Teamleiterin. Leiterin«, überbetonte sie die die letzten beiden Buchstaben.

»Ich habe in der Zwischenzeit den Bericht über den Tod von Kurt Buggenthin sowie dem zweiten Opfer der gefälschten Medikamente in Bad Bevensen erstellt und dabei auch die anderen Fälle erwähnt, in denen es Komplikationen nach der Einnahme des Präparats gab«, mischte sich Madsack ein.

»Das ist ein guter Ansatz. Den müssten wir noch ergänzen um …«, lobte Frauke, wurde aber von Madsack unterbrochen.

»Natürlich habe ich auch auf die Beziehung zum Verteiler Günter Blechschmidt, das Attentat auf ihn, auf den Kurierfahrer und die Durchsuchung des Umschlagplatzes in Göhrde verwiesen. Sie wissen – die abseits gelegene Feldscheune. Auch Necmi Özden taucht auf.«

»Ist der inzwischen wieder aufgetaucht, nachdem er angeblich mit der Tageseinnahme vom Wochenmarkt in Stöcken verschwunden ist?«

Betretenes Schweigen in der Runde sagte Frauke, dass zu diesem Punkt keine aktuellen Informationen vorlagen.

»Wenn Sie einverstanden sind«, wandte sich Schwarczer an Frauke, »würde ich das italienische Restaurant aufsuchen, in dem Sie Stupinowitsch, Rossi, den Anwalt und den Unbekannten angetroffen haben.«

»Gut«, stimmte Frauke zu.

»Das könnte ich doch machen …«, warf Putensenf ein. »Und er«, dabei zeigte er auf Schwarczer, »organisiert die Suche nach dem Kaugummi. Das war schließlich auch seine Idee.«

»Putensenf! Sie fahren in die Lister Meile und sondieren das Areal. Sie sind schließlich unser Experte für klebrige Sachen. Wie sagen die Hannoveraner? Basta! Und Sie, Madsack, helfen mir bitte bei der Vorbereitung unserer nächsten Aktion.«

»Darf man erfahren, um was es sich handelt?«, fragte Putensenf.

»Ja«, erwiderte Frauke. »Heute Abend. Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr. Hier auf dem Hof des LKA

»Überstunden?«

»Ja, Putensenf. Ihre Gattin hat mich angesprochen. So von Frau zu Frau. Sie möchte endlich einmal einen ruhigen und schönen Abend verbringen. Deshalb ziehe ich Sie aus dem häuslichen Verkehr.«

Unter den spöttischen Blicken seiner beiden Kollegen trottete Putensenf aus dem Raum.

»Ich besorge uns noch einen Kaffee«, sagte Madsack und folgte ihm. Kurz darauf kehrte er mit zwei Bechern zurück. Frauke war nicht überrascht, dass er auch eine Rolle mit Schokolade gefüllter Kekse dabei hatte. Dann begannen die beiden die Vorbereitungen für den abendlichen Einsatz.

Die Nacht war hereingebrochen. Frauke war immer wieder überrascht, wie dunkel es um diese Zeit in Hannover war. Im heimischen Flensburg zeichnete sich stets noch ein Schimmer Restlicht des Tages am Horizont ab. Dafür hing hier über der ganzen Stadt eine Lichtglocke, die sich in ihrer Intensität doch erheblich von Flensburg unterschied.

Kriminaloberrat Ehlers hatte sich Fraukes Vortrag geduldig angehört, nachdem sie gemeinsam mit Madsack das Konzept erarbeitet hatte. Er hatte den fast kahlen Kopf bedenklich gewiegt, sie gelegentlich mit einer Verständnisfrage unterbrochen und schließlich mit einem Blick auf die Uhr gemeint: »Das können wir in der Kürze der Zeit nicht mehr organisieren.«

»Doch«, hatte Frauke geantwortet. »Das haben wir schon. Uns fehlt nur noch Ihre Zustimmung.«

»Ich hätte es für angebrachter gehalten, wenn Sie mich vorher gefragt hätten.«

»Dann hätte ich Ihnen aber noch keinen fertigen Plan vorlegen können«, hatte Frauke erwidert. »Es war nicht absehbar, ob wir alle benötigen Ressourcen auch zusammenbekommen.«

Ehlers hatte nicht einmal Fraukes Aufzeichnungen zur Hand genommen. »Da fahren Sie ein ganz großes Geschütz auf. In einer stillen Stunde müssen Sie mir verraten, wie Sie als Neuling in Hannover und ohne langjährige Beziehungen die ganzen beteiligten Stellen zur Teilnahme animieren konnten.«

Als Antwort hatte Frauke es bei einem Lächeln belassen. Schließlich hatte Ehlers genickt und ihr viel Erfolg gewünscht.

Auf dem Platz vor dem unscheinbaren Eingang zum Landeskriminalamt stauten sich die Einsatzfahrzeuge. Irgendjemand hatte den Scheinwerfer an der Fassade des eingeschossigen Baus angeschaltet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen neugierige Bewohner der Häuser an ihren Fenstern und bestaunten die Szene.

Frauke stand mit den Einsatzleitern der Schutzpolizei und der Fahndungsgruppe Schwarzarbeit des Zolls zusammen und ging noch einmal die Vorgehensweise durch. Die Männer nickten, bevor sie in ihre Fahrzeuge stiegen und sich die Kolonne auf den Weg machte.

Putensenf hatte neben Frauke im Fond des VW Variant Platz genommen. Er würdigte sie keines Blickes. Deutlich war ihm anzumerken, dass er immer noch beleidigt war über den Sonderauftrag »Kaugummisuche« in der Lister Meile, obwohl Frauke ihn ausdrücklich gelobt hatte, nachdem Putensenf und die beiden Spurensicherer nach zwei Stunden mit einer Ausbeute von vier durchgekauten Gummis zurückgekommen waren.

Frauke wunderte sich darüber, wie oft man mit geschlossenen Augen durch die Stadt läuft. Wer achtete auf Kaugummi, das auf dem Bürgersteig klebt, wenn er nicht aus Versehen hineintrat und die zähe Masse sich im Profil des Schuhs festsetzte? Und Putensenf hatte gleich vier Stück sichergestellt. Sie warteten in der Forensik auf die Gegenprobe, die Trapattoni zu entnehmen war.

Frauke tippte Schwarczer auf die Schulter, der am Steuer saß. »Wir hatten noch keine Gelegenheit … Waren Sie im italienischen Restaurant erfolgreich?«

Sie sah, wie der Kommissar kurz in den Rückspiegel blickte und dann erklärte: »Der elegante Mann war schon zwei, drei Mal dort, immer in Begleitung von Stupinowitsch, der dort anscheinend öfter verkehrt. Das Personal konnte sich daran erinnern, da sowohl der Mann wie Dottore Carretta sich mit den Mitarbeitern in ihrer Muttersprache unterhielten. Rossi war nur einmal dort, so glaubt man, und zwar an dem besagten Abend, als Sie die Gesellschaft dort angetroffen haben. Der Kellner hat mitbekommen, wie Rossi den Unbekannten mit ›Don Mateo‹ angesprochen hat, eine durchaus nicht mehr häufig anzutreffende Ehrbezeugung.«

»Galt das auch für die beiden anderen?«

»Offenbar nicht«, erwiderte Schwarczer. »Rossi hat den Anwalt ›Dottore‹ genannt. Über den Umgang mit Stupinowitsch konnte der Kellner nichts sagen.«

»Dann könnte der Unbekannte Mateo Zafferano sein. Das ist der Inhaber des Importunternehmens. Das würde auch erklären, weshalb Rossi ihn ›Don‹ nennt. Der Mann ist sein Chef.«

»Heißen in mafiösen Strukturen nicht alle Bosse ›Don‹?«, merkte Putensenf an.

»Das ist eine schöne Legende«, sagte Madsack, dem Frauke bereitwillig den Beifahrersitz überlassen hatte, da der korpulente Hauptkommissar Schwierigkeiten gehabt hätte, sich auf die enge Rückbank zu quetschen.

Es war nur ein kurzes Stück bis in die Reitwallstraße. Sie hatten ein Fahrzeug mit drei uniformierten Polizeibeamten vorausgeschickt, die den Hintereingang des Gebäudes zu einem umbauten Innenhof sichern sollten. Nach den Informationen, die Madsack eingeholt hatte, gab es neben dem Haupteingang keine weiteren Zugänge zu den Räumlichkeiten.

Die vier Fahrzeuge fuhren bis vor die Eingangstür des Sexclubs und hielten mitten in der Fußgängerzone. Erst jetzt schaltete der Fahrer des VW-Bullis das Blaulicht ein. Gespenstisch zuckten die Strahlenfinger über die Fassaden der Häuser. Hier tauchten keine neugierigen Gesichter hinter den Fensterscheiben auf.

Hinter der angekratzten, dunklen Holztür des Clubs rührte sich nichts. Für diese Unaufmerksamkeit würde der Türsteher Trapattoni sicher einiges von seinem Boss zu hören bekommen, vermutete Frauke.

Die Polizisten mit ihren kugelsicheren Westen und den Helmen sahen fast ein wenig unwirklich aus. Sie hatten sich im Halbkreis vor die Tür gestellt und bildeten die erste Reihe.

Frauke machte den Einsatzleiter auf den Zugang zum Treppenhaus aufmerksam, der ein Stück weiter ins Haus führte.

»Wir sollten damit rechnen, dass es noch einen Fluchtweg aus dem Club dorthin gibt.«

Der Hauptkommissar nickte und gab dreien seiner Männer Anweisung, sich dort zu postieren. Dann sprach er in sein Funkgerät und vergewisserte sich, dass die Rückfront des Hauses gesichert war.

»Wir sind bereit«, sagte er zu Frauke. Die stand mit ihren Männern in der zweiten Reihe.

Bis auf Madsack hatten sie ihre Dienstwaffen gezogen. Putensenf wirkte auf Frauke ungewöhnlich nervös, während Thomas Schwarczer offenbar durch nichts zu erschüttern war. Über Madsack musste sie lachen. Es sah aus, als würde sich der Schwergewichtige klein machen und hinter Putensenf verstecken wollen. In der dritten Reihe standen die Beamten des Zolls. Sie hatten ihre Dienstwaffen nicht gezückt, waren aber ebenfalls mit schusssicheren Westen geschützt.

Frauke sah noch einmal in die Runde, in die entschlossen wirkenden Gesichter der Männer und vier Frauen, zwei davon unter den Polizisten und zwei bei den Kollegen vom Zoll.

»Dann los«, sagte sie.

Einer der Beamten betätigte die Glocke. Nichts rührte sich. Das hatte Frauke nicht anders erwartet. Die Polizisten hatten keine Anstrengungen unternommen, sich zu verbergen. Nachdem der Beamte erneut die Türklingel in Bewegung gesetzt hatte und es weiterhin stumm geblieben war, hämmerte der Beamte mit dem Schlagstock aus Hartgummi gegen das Holz.

»Aufmachen, Polizei«, rief er laut.

Frauke hatte darum gebeten, dass bei dem Einsatz möglichst viel Lärm gemacht und Aufmerksamkeit erzeugt werden sollte. Sie wollte eine öffentlichkeitswirksame Aktion durchführen. Um die Geschäfte in Ruhe führen zu können, war der Organisation daran gelegen, möglichst unauffällig zu bleiben.

»Auch hartnäckige Freier scheuen das Bordell, in dem die Polizei eine Razzia durchführt. Mancher Kunde wird künftig verschreckt fortbleiben. Dies wäre eine unliebsame Beeinträchtigung der Geschäfte«, hatte sie in der Einsatzbesprechung erklärt. Und das wollte Frauke erreichen. Sie beabsichtigte, die Kreise der Organisation an allen nur möglichen Stellen zu stören.

Die Tür blieb verschlossen. Mit einem breiten Grinsen hämmerte der Polizist weiter gegen die Tür.

»Ich helf dir«, sagte ein Kollege und schlug ebenfalls gegen das Holz, dass die Schläge von den Hauswänden widerhallten. Mit Genugtuung stellte Frauke fest, dass jetzt doch ein paar Neugierige hinter den Gardinen Stellung bezogen hatten und die wenigen Passanten, die hier unterwegs waren, ebenfalls mit Interesse die Polizeiaktion aus sicherer Entfernung verfolgten.

»Wir hätten die örtliche Presse dazubitten sollen«, sagte Frauke zu Madsack, der sich jetzt in ihrem Windschatten hielt. Sie hatte um diese Stunde mehr Lebhaftigkeit in der Straße des Lasters erwartet. Es wirkte alles sehr ruhig, fast ein wenig zurückgezogen. So als hätten sich die Bewohner, aber auch die Gäste vor dem Polizeieinsatz in Sicherheit gebracht.

Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf die drei Beamten gelenkt, die das Treppenhaus bewachten. Ein Mann und in seinem Gefolge eine Frau versuchten, sich über diesen Weg davonzustehlen. Im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung glaubte Frauke Massimo Trapattoni zu erkennen, während die leicht bekleidete Frau ihr unbekannt war. Der Widerstand, den der Türsteher entgegenbringen wollte, währte nur kurz. Mit wenigen Handgriffen hatten die Beamten ihn überwältigt und ihm Einmalfesseln angelegt.

Die beiden Uniformierten wollten gerade wieder ihr Klopfkonzert aufnehmen, als sich die Tür öffnete und eine kleine, gedrungene Gestalt erschien, beschwichtigend und erschrocken zugleich die Hände in Schulterhöhe hielt und mit unverkennbar italienischem Akzent sagte: »He, he, he. Was soll das?«

»Wir sind vom Wasserbauamt und wollen hier einen Sumpf trockenlegen«, meldete sich Putensenf aus dem Hintergrund, während Frauke ein rosafarbenes Dokument schwenkte.

»Dies ist ein Durchsuchungsbeschluss«, sagte sie und hielt dem Mann das Papier vor die Nase, das Kriminaloberrat Ehlers noch am Nachmittag besorgt hatte.

»Aber warum? Das geht doch nicht …« Die Geste, mit der er die vorwärtsdrängenden Beamten aufhalten wollte, war mehr symbolisch zu verstehen.

»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte Frauke.

»Der Geschäftsführer.« Er fuhr sich mit der gespreizten Hand durch das lichte Haupthaar und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Danielo Battaligia«, stellte Frauke fest. »Wo ist Trapattoni?«

»Der ist … Verdammt. Ich weiß es nicht. Eigentlich … Er hätte die Tür bewachen sollen, der Hund«, stammelte der Mann. Entweder wusste er nicht, dass sein Türsteher versucht hatte, durch den Nebenausgang zu entweichen, oder er war ein hervorragender Schauspieler.

»Wir können das Verfahren abkürzen. Wo ist das Viagra?«

Battaligia stellte sich dumm. Zunächst tat er, als kenne er das Präparat gar nicht, dann versuchte er, sich mit Verständigungsproblemen herauszureden, bis der erste Beamte mit einem Stapel gefälschter Arzneimittelpackungen auftauchte.

»Das war easy«, sagte er. »Wir haben es unverdeckt unter dem Bartresen gefunden.«

Battaligia sah Frauke verstört an. »Das ist vielleicht ein Fehler«, räumte er ein. »Aber manche Kunden verlangen danach. Das ist Service. Wir verdienen nichts daran.«

»Fehler?«, fauchte ihn Frauke an. »Sie haben keine Hemmungen, Menschen in den Tod zu schicken. Wissen Sie, dass Leute an diesen nachgemachten Arzneien gestorben sind?«

»Die sind doch echt, nicht falsch«, behauptete Battaligia.

Frauke sah dem Mann an, dass er log. Er konnte nicht einmal erklären, woher er die Medikamente bezog.

»Das ist eine wahre Fundgrube«, meldete sich ein zweiter Beamter bei Frauke und hielt ihr kleine Tütchen mit einem weißen Pulver hin. Der Polizist strahlte über das ganze Gesicht. »Das macht richtig Spaß. Ich habe schon lange niemanden mehr gesehen, der so blöd wie die hier war. Die haben alles auf dem Präsentierteller liegen.«

Frauke verstand es auch nicht. Für so dumm hätte sie die Organisation nicht gehalten. »Kümmern Sie sich um den hier«, sagte sie zu einem Beamten und zeigte auf Battaligia. »Den nehmen wir mit ins LKA

Während der Geschäftsführer des Etablissements laut protestierte, zog ihn ein Polizist am Ärmel vor die Tür.

Frauke hörte aus dem Inneren lautstarkes Schimpfen und Fluchen. Bisher hatte sie vom Eingangsbereich aus den Einsatz geleitet. Jetzt folgte sie den Beamten in das Innere. Der kurze Flur war dunkel. Von der Wand blätterte die Farbe ab. Es roch muffig. Den Zugang zur Bar versperrte ein halbrunder schwerer Vorhang. Nur widerwillig schob sie ihn zur Seite. Zu gern hätte sie sich nach der Berührung mit dem schmutzigen Stoff die Finger gewaschen.

Sie fand sich in einem nur spärlich beleuchteten Raum wieder, dessen Stirnseite eine Bar einnahm. Drei Nischen und eine Handvoll Barhocker komplettierten die Einrichtung. Mattes rotes Licht sollte eine intime Atmosphäre vorspiegeln. Frauke erschien alles nur schmutzig und heruntergekommen.

Aus dem Hintergrund tauchte Putensenf auf. Der Kriminalhauptmeister sah Fraukes skeptischen Blick.

»Der hat doch glatt gelogen, wer eine solch düstere Spelunke ›Freudenhaus‹ nennt. Da kommt wirklich kein Vergnügen auf.«

»Was ist dahinten?«, fragte Frauke und zeigte auf den rückwärtigen Durchgang.

»Die Toiletten. Dagegen sind nicht gereinigte Bahnhofstoiletten ein Hort der Sauberkeit. Es gibt einen Poolraum. Ich möchte wetten, wer in das Becken taucht, hat morgen Syphilis. Eine schmuddelige Spielwiese, eine Küche, in der sich statt eines Kochs Kakerlaken aufhalten, ein Vorratsraum, in dem sich auch das Personal umzieht. Eine Treppe führt nach oben. Da befinden sich die Gesellschaftszimmer. Dann wäre da noch das Büro des Geschäftsführers.«

Frauke schüttelte sich. »In solchen Etablissements haben Männer Spaß?«

Putensenf bewegte den Kopf hin und her. »Wenn Sie solche Fragen stellen … Da bin ich kein Mann.«

»Was haben wir gefunden?«

»Fünf Mädchen. Mit der einen, die sich durch den Nebeneingang davonmachen wollte, sechs. Sieben Freier. Außer denen da.« Putensenf zeigte auf die Bar.

Frauke sah ihn erstaunt an. »Wie geht das?«

»Vielleicht ist das billiger, wenn sich zwei Männer eine Frau teilen. Wir haben jedenfalls diese Konstellation angetroffen. Außerdem saß einer in einer Kabine und hat über einen Monitor ein anderes Paar beobachtet. Der hatte eine Rolle Kleenex dabei …«, ergänzte Putensenf mit einem süffisanten Lächeln.

»Ersparen Sie mir unappetitliche Einzelheiten«, stoppte Frauke den Kriminalhauptmeister. »Sind wir fündig geworden?«

»Sie meinen, in Sachen Viagra? Ja. Im Büro des Geschäftsführers lag ein ganzer Berg von dem Zeug.«

»Gab es weitere Funde an Betäubungsmitteln?«

»Bisher nicht. Nur das, was die Kollegen hinter dem Tresen gefunden haben.«

»Und sonst?«

»Das Übliche. Keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Arbeitserlaubnis. Einer der Gäste wurde gesucht, weil er eine Haftstrafe wegen wiederholten Schwarzfahrens nicht angetreten hat. Ich sag es ja nicht gern, aber die Razzia war ein voller Erfolg.«

»Ein Kompliment aus Ihrem Mund?«

Putensenf sah sich um. »Na ja. Hier hört es ja keiner.«

»Wer keine Papiere hat, wird mitgenommen«, wies Frauke ihn an.

»Ist schon veranlasst.«

Schnaufend stieß Madsack zu den beiden. »Das ist ein richtiges Dreckloch«, sagte er entsetzt und zog sich demonstrativ seinen Krawattenknoten gerade. »Wir haben die Gewerbeaufsicht und das Gesundheitsamt nachbestellt.«

Frauke nickte. Die Aktion würde hohe Wellen schlagen. »Was ist mit denen?«, fragte Frauke und wies zum Tresen.

»Die sind schon überprüft. Bei denen ist alles sauber«, antwortete Putensenf.

Frauke sah auf die Frau mit entblößtem Oberkörper, die hinter dem Tresen stand und die Gäste versorgte. Sie hatte die besten Jahre lange hinter sich und sah trotz der dicken Schminke verlebt aus. Frauke musste lächeln, als sie einen jungen Polizisten gewahrte, der seinen Blick nicht von der Barfrau lassen konnte. Auch Putensenf hatte es mitbekommen.

»Die Frau sollte ihren BH Marke Zauberflöte wieder anlegen.«

»Zauberflöte?«, fragte Frauke mit einer hochgezogenen Augenbraue.

»Ja«, erwiderte Putensenf mit einem breiten Grinsen. »Wenn sie den ablegt, geht der ganze Zauber flöten.« Dabei deutete er mit seinen Händen in übertriebener Weise an, wie sich üppige weibliche Rundungen links und rechts des Bauchnabels ausmachen würden.

Frauke steuerte die beiden Männer an, die am Tresen saßen und scheinbar unbeteiligt Bier tranken.

»’n Abend«, sagte sie.

Die beiden starrten sie aus glasigen Augen an.

»Oh God, what a nice place«, sagte der Größere mit schwerer Zunge.

»What, what, what?«, fragte sein Zechkumpan und hielt sich am Tresen fest, damit er nicht hintenüberfiel.

»Engländer?«, fragte Frauke Putensenf, der ihr gefolgt war.

Der Kriminalhauptmeister nickte. »Die werden keine schönen Erinnerungen an ihren Aufenthalt in Hannover mitnehmen.«

Frauke drehte sich um. »Madsack. Ich möchte, dass hier alles umgedreht wird. Jeder Winkel soll durchleuchtet werden. Ich möchte wissen, ob hier noch mehr verborgen ist. Illegale Medikamente, Drogen – das ganze Programm. Und sagen Sie allen Beteiligten, sie sollen möglichst viel Lärm machen. Das Ganze soll mit so viel Aufhebens wie möglich vonstattengehen.«

Der Hauptkommissar lächelte vergnügt in sich hinein und rieb sich die Hände. »Aber gern doch«, strahlte er.

Während Frauke und Madsack versuchten, Danielo Battaligia zu verhören, durchsuchten die im Einsatz befindlichen Beamten das Etablissement. Zusätzlich war noch ein Hundeführer mit einem Drogensuchhund angefordert worden.

Der Geschäftsführer des Bordells saß auf einem Barhocker.

»Ich will sofort meinen Anwalt sprechen«, wiederholte er ständig.

»Dottore Carretta«, stellte Frauke lakonisch fest.

Battaligia ließ es unkommentiert und drückte jede zweite Minute nervös auf die Wahlwiederholung seines schnurlosen Telefons.

»Das wirft kein gutes Licht auf diesen Laden«, merkte Putensenf im Vorbeigehen an, »wenn Sie die Nummer Ihres Anwalts schon fest eingespeichert haben.«

Mit den Beamten wollte Battaligia nicht reden. Das traf auch auf Massimo Trapattoni zu, der zudem die Zähne krampfhaft zusammenbiss als äußeres Zeichen dafür, dass er sich weigerte, eine DNA-Probe abzugeben.

Sie wurden durch den Einsatzführer der Schutzpolizei unterbrochen.

»Alle Mädchen, die hier beschäftigt werden, sind Illegale. Keine konnte ordnungsgemäße Papiere vorzeigen. Wir haben bei der Durchsuchung der persönlichen Sachen bei einem Mädchen einen ukrainischen Pass gefunden. Die anderen können wir nicht zuordnen. Und Auskünfte geben sie keine.«

Frauke zeigte auf Battaligia und Trapattoni. »Die nehmen wir mit«, wies sie an.

»Wieso das?«, ereiferte sich der Geschäftsführer. »Ich muss mich hier um das Geschäft kümmern.«

»Heute wird kein Kunde mehr kommen«, entgegnete Frauke. »Und an Ihrer Stelle wäre ich mir auch nicht sicher, ob das Geschäft in der nächsten Zeit gut laufen wird. Das, was Sie hier betrieben haben, spricht sich schnell herum. In so etwas möchte kein Freier verwickelt werden.«

»Das wird Sie teuer zu stehen kommen«, schimpfte Battaligia.

»Sie auch«, erwiderte Frauke. »Igor Stupinowitsch wird es nicht gefallen, was Sie mit seinem Club angestellt haben. Prostitution, Menschenhandel, Drogenhandel, Umschlagplatz für gefälschte Medikamente.«

»Verstoß gegen die Sozialversicherungspflicht und vielleicht auch Steuerhinterziehung«, gab Putensenf seinen ungebetenen Kommentar ab. »Und das wird in Deutschland besonders hart verfolgt.«

»Sie können überlegen, was schwerer wiegt: das Strafmaß, das Ihnen die deutsche Justiz aufbürden wird, oder die Rache Stupinowitschs, der mit Sicherheit Sie für dieses Desaster verantwortlich machen wird.«

Battaligia war blass geworden.

»Das ist alles Humbug, was Sie erzählen«, sagte er mit schwacher Stimme und probierte erneut, den Anwalt zu erreichen.

Frauke ließ die beiden Männer abführen.

»Fuck you«, rief ihr Trapattoni zu, als ihn zwei stämmige Polizisten an den Oberarmen packten und hinauszerrten.

Frauke machte einen Rundgang durch alle Räume, sah den Beamten bei der Durchsuchung zu und erfuhr, dass man bisher nichts weiter habe finden können. Lediglich eine Heckler & Koch P9S sowie etwa dreißig Patronen 9mm Parabellum.

»Wo haben Sie die Waffe gefunden?«, fragte sie einen Uniformierten.

»Im Büro. Sie lag im Schreibtisch.«

»Haben Sie Hinweise auf ein Gewehr finden können?« Frauke dachte an die Mordwaffe, mit der Friedrich Rabenstein erschossen worden war.

Der Beamte schüttelte den Kopf.

Ein anderer Polizist begleitete einen mit Handfesseln ruhiggestellten Schwarzafrikaner durch den Raum.

»Den haben wir in einer Abstellkammer gefunden«, erklärte der Beamte. »Der war für den Abwasch und die Küche zuständig.« Der Beamte schüttelte sich dabei. »Ein einziges Dreckloch. Und er hier«, dabei zeigte er auf den Dunkelhäutigen, »hat da auch noch gewohnt.«

Nachdem alle Personalien aufgenommen, die beschlagnahmten Drogen und Medikamentenfälschungen sichergestellt und die Mädchen abgeführt worden waren, blieb einzig die barbusige Frau hinterm Tresen übrig. Sie hatte ihre Blöße inzwischen mit einer halbdurchsichtigen Bluse verdeckt, ohne die üppigen Launen der Natur mit einem Büstenhalter zu bändigen. Frauke konnte sich nicht vorstellen, dass Männer an so etwas Gefallen finden würden.

Unwillkürlich schweiften ihre Gedanken kurz zu Georg ab. Sie hatte bei ihm noch nie bemerkt, dass er sie gemustert hatte, ihre frauliche Figur mit den Augen gescannt und seinen Blick auf den weiblichen Attributen hat verweilen lassen. Warum interessierte sich Georg für sie, wenn nicht in ihrer Eigenschaft als Frau? Bei aller Geheimniskrämerei musste ihm klar sein, dass sie doch hinter seine Identität kommen würde.

Frauke nickte der Bardame zu.

»Wir werden uns jetzt zurückziehen. Ich gebe das«, sie ließ ihren Blick durch das Lokal schweifen, »Etablissement wieder frei. Uns soll niemand vorwerfen, wir würden den Geschäftsbetrieb stören.«

»Pöh«, war der einzige Kommentar der Blonden, die sich in einen Whiskybecher zwei Fingerbreit eingeschenkt hatte und die goldene Flüssigkeit mit einem Schluck in sich hineinlaufen ließ.