ZEHN
Putensenf sah übermüdet aus. Ihm schien der nächtliche Einsatz am meisten zugesetzt zu haben. Frauke zollte ihm insgeheim Respekt, da er offensichtlich der Erste gewesen war, der am nächsten Morgen auf der Dienststelle erschienen war.
Frauke war im Eingang mit Schwarczer zusammengestoßen, der einen erstaunlich frischen Eindruck machte. Als sie beide im Gespräch vertieft an der offenen Bürotür von Putensenf vorbeikamen, hörten sie ein herzhaftes Gähnen. Frauke steckte den Kopf durch die Türöffnung.
»Moin, Putensenf. Gute Arbeit gestern.«
»Hä?« Der Kriminalhauptmeister sah erstaunt auf. Ihm war anzumerken, dass er kein lobendes Wort von Frauke erwartet hatte. »Hier heißt es ›guten Morgen‹«, erwiderte er dann. »›Moin‹ sagen die Typen, die dort oben bei den Pinguinen wohnen.«
»Pinguine wohnen im Süden«, belehrte ihn Frauke.
»In Bayern? Dort nennt man die mit dem Frack Kapellmeister.«
»Am Nordpol gibt es keine Pinguine.«
»Nicht? Da verkehren nur eiskalte Dobermänner.«
Frauke verzichtete auf eine Antwort und ging in ihr Büro. Erwartungsgemäß lagen noch keine Ergebnisse der Kriminaltechnik von der Razzia vor.
Sie nahm Kontakt zu Ehlers auf, der schon in groben Zügen über die Aktion unterrichtet war.
»Außerdem war es in der Hannoverschen Allgemeinen nachzulesen«, schloss der Kriminaloberrat. Er versprach, sich um die richterliche Anordnung zur Entnahme einer DNA-Probe vom Türsteher Massimo Trapattoni zu kümmern.
Aus dem Arrestbereich erhielt Frauke die Information, dass sich die in Gewahrsam genommenen beiden Italiener ruhig verhalten hatten. Battaligia hatte die Aufsicht jede Stunde damit genervt, dass er seinen Anwalt anrufen wollte. Man hatte ihn aber auf die Morgenstunden vertröstet.
Frauke war kaum in ihr Büro zurückgekehrt, als Madsack schwer atmend erschien und sich mit einem Ächzen auf dem Besucherstuhl niederließ. Er schwenkte einen Computerausdruck.
»Das ist die Anrufliste von Trapattonis Handy, das wir gestern sichergestellt haben. Genau genommen hatte der Mann drei. Doch dieses scheint das interessanteste zu sein.«
»Mit wem hat er gesprochen?«
Madsack schüttelte den Kopf. »Spannender ist, wer ihn angerufen hat.« Er legte eine kleine Kunstpause ein. »Ich habe die letzten gespeicherten Nummern zurückgerufen. Dabei gab es eine faustdicke Überraschung. Eberhard Annenmeyer.«
»Der Polizist aus Wittingen«, staunte Frauke. »Welche Verbindung gibt es zwischen dem so harmlos auftretenden Mann, der so tat, als wäre er über die von Bernd Richter vermittelte Hypothek unfreiwillig in die Sache hineingeraten, und Trapattoni?« Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und legte die Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Haben Sie auch eine Uhrzeit?«
Madsack nickte. »Freitag. Am späten Vormittag.«
»Madsack.« Sie trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. »Wann war Annenmeyer im Untersuchungsgefängnis und hat Bernd Richter besucht?«
Frauke rief in der Justizvollzugsanstalt an und erhielt die Bestätigung, dass Annenmeyer genau zu dieser Zeit bei Richter war.
»Durchsuchen Sie alle Besucher?«, fragte sie.
»Natürlich«, entrüstete sich der Gefängnisaufseher.
»Auch Polizisten, wenn sie in Uniform kommen und sich ausweisen?«
»Wieso das? Sie haben die Frage nicht ernst gemeint.«
»Der Kreis schließt sich, Madsack«, sagte Frauke. »Annenmeyer hat gestanden, dass Dottore Carretta ihn angerufen hat. Der Anwalt hat ihn informiert, dass Richter in Untersuchungshaft sitzt, und ihn aufgefordert, unseren ehemaligen Kollegen zu besuchen. Da sich Richter und Annenmeyer von früher kannten, glaubten alle Beteiligten, wir würden nicht hinter die Kulissen sehen können. Das war ein äußerst geschickter Schachzug, einen Polizeibeamten ins Gefängnis zu schicken. Natürlich hatte Annenmeyer sein Handy dabei. Nicht er hat mit Trapattoni telefoniert, sondern Richter.« Frauke sah den schwergewichtigen Hauptkommissar an. »Prüfen Sie sämtliche Handys von Trapattoni. Ich möchte wissen, mit wem der Türsteher direkt nach dem Anruf von Richter gesprochen hat.«
»Ja, schon, aber warum?«, fragte Madsack.
Frauke blieb ihm die Antwort schuldig. Am Freitagnachmittag war sie auf dem Weg zum Motorradtreff am Georgsplatz von den beiden Männern verfolgt worden und Georg begegnet. Sie war sich noch immer im Unklaren, welche Rolle der Mann spielte.
»Madsack. Fahren Sie umgehend nach Wittingen und befragen Sie Annenmeyer, ob es sich so abgespielt hat, wie wir vermuten. Kommen Sie nicht ohne Geständnis wieder«, fügte sie noch an. Sie sah dem Hauptkommissar an, dass er zu gern gewusst hätte, warum ausgerechnet er in die Kleinstadt fahren sollte. Aber Madsack verkniff sich, Frauke zu fragen.
Als der Hauptkommissar das Büro verlassen hatte, schloss Frauke für einen Moment die Augen. Welche Rolle spielte Bernd Richter, dass er noch aus dem Gefängnis heraus Anweisungen gab? Hatte Frauke etwas übersehen? Niemand hatte bisher an die Möglichkeit gedacht, dass Richter eventuell gar nicht im Auftrag, sondern aus eigenem Entschluss Lars von Wedell ermordet hatte, weil der junge Kommissar etwas entdeckt hatte, was Richter hätte gefährlich werden können.
Sie ließ Massimo Trapattoni in den Verhörraum bringen und bat Schwarczer, ihr ein paar Minuten später zu folgen.
Der Türsteher sah übernächtigt aus. Dunkle Ringe lagen um seine Augen. Die Haare standen ihm vom Kopf ab. Ein nervöses Zucken umspielte seine Mundwinkel. Als Frauke den Raum betrat, schien es für einen Moment, als würde er sich auf sie stürzen wollen. Der Beamte, der Trapattoni hergeführt hatte, machte einen Schritt auf den Italiener zu. Dann begann der Türsteher auf Italienisch zu schimpfen. Frauke verstand es nicht, aber auch ohne Kenntnis der Sprache war deutlich zu vernehmen, dass es eine Mischung aus Beschimpfungen und Drohungen war. Das wurde durch die lebhafte Gestik des Mannes unterstrichen. Er entwickelte eine ungeahnte Lebhaftigkeit und bewegte seine Hände wie ein Gebärdendolmetscher.
»Genug mit Ihrer Theatralik«, versuchte ihn Frauke zu bremsen.
»Theatralik?«, schrie Trapattoni und machte erneut einen schnellen Schritt auf Frauke zu. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Schwarczer trat ein. Der Italiener hielt mitten in der Bewegung inne und starrte auf den Kommissar. Das hatte Frauke bezweckt. Sie wollte Trapattoni ein wenig Furcht einjagen, der Türsteher sollte sich an die erste Begegnung mit Schwarczer erinnern, die für den Italiener ein schmerzhaftes Ende gefunden hatte. Zum anderen wollte sie wissen, wie die Erscheinung Schwarczers auf ein aggressiv auftretendes Gegenüber wirkte. Es beruhigte sie, dass der Kommissar offensichtlich Eindruck machte.
»Warum haben Sie Friedrich Rabenstein vom Motorrad aus mit einem Gewehr erschossen?«
»Sind Sie komplett bescheuert?«
Frauke klopfte eine Weile mit dem Druckknopf ihres Kugelschreibers auf der Tischplatte herum. Das »Klack-klack« schien Trapattonis Nervosität noch zu steigern.
»Lassen Sie das!«, schrie er und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
Frauke griff in ihre Handtasche und holte eine Packung Kaugummi heraus. Sie legte sie vor sich auf den Tisch und sah, wie Trapattoni davon abgelenkt wurde. Wie festgenagelt ruhte sein Blick auf dem Kaugummi. Frauke ließ ihn eine Weile zappeln, bis sie schließlich mit den Fingern schnippte und das Päckchen über den Tisch schob.
Froh über diese Ablenkung riss Trapattoni das Paket auf, wickelte zwei Streifen aus dem Stanniolpapier und schob sie sich in den Mund. Nervös zerknüllte er das Papier. Frauke ließ ihn gewähren. Als er sich beruhigt hatte, lächelte sie ihn an. Sofort war die Aggressivität wieder da.
»Eh, was soll das?«, rief Trapattoni.
»Wir haben ausgespienes Kaugummi gefunden. In der Lister Meile. Genau an dem Fleck, an dem das Motorrad gewartet hat, bis das Signal kam, dass ich im Eingang meines Wohnhauses stand und mich mit dem alten Mann unterhielt. Das war ein unverhoffter Zufall. So wurde der Plan kurzfristig geändert, und Sie haben Friedrich Rabenstein erschossen.«
Sofort verfiel Trapattoni wieder in seine Muttersprache und ließ einen ganzen Stapel von Verwünschungen über Frauke hereinbrechen.
»Wir haben die Moto Guzzi sichergestellt. Und auf der haben wir Ihre Fingerabdrücke gefunden. Was glauben Sie, wie begeistert Ihr oberster Chef Igor Stupinowitsch sein wird, wenn wir nachweisen können, dass mit seinem Motorrad der Mord vergeübt wurde. Eine Tat, die Stupinowitsch nicht angeordnet hat. Aber das ist nicht alles. Wir werden mittels des genetischen Fingerabdrucks auch nachweisen, dass Sie das Kaugummi ausgespuckt haben. Außerdem hat Agnezia Boronin gestanden, dass sie Ihnen ein falsches Alibi geliefert hat. Sie waren am Tattag miteinander intim, aber nicht so lange, wie Sie uns zunächst vormachen wollten. In Ihrem Alfa, Signore Trapattoni, ist Necmi Özden nach Lüneburg gefahren und hat die gefälschten Medikamente an den Verteiler ausgehändigt.«
»Wer ist dieser Özden?«, fragte Trapattoni.
»Das habe ich Ihnen schon erklärt.«
»Den kenne ich nicht. Ich habe meinen Alfa an Giancarlo Rossi verliehen.«
Und der hat zugegeben, dass Necmi Özden sich illegal den Wagen ausgeliehen hat, dachte Frauke. Seit der Türke – angeblich – mit der Tageseinnahme vom Wochenmarkt in Stöcken verschwunden war, fehlte von ihm jede Spur.
Frauke stand auf. »Sie sitzen ganz schön in der Tinte, Trapattoni.« Dann machte sie eine Geste des Halsabschneidens. »Flasche leer«, sagte sie und verließ den Verhörraum, gefolgt von Schwarczer.
»Der kann zurück«, wies Frauke den uniformierten Beamten an.
Sie hätte gern im direkten Anschluss Danielo Battaligia verhört. Doch der bestand auf der Anwesenheit seines Anwalts. So musste sie sich gedulden, bis Dottore Carretta eintraf. Der Advokat lächelte Frauke hintergründig an.
»Sie sind gut im Geschäft, Dr. Carretta«, begrüßte sie ihn. »Man kann fast sicher sein, dass Sie als Verteidiger auftreten, wenn wir einen Täter aus dem großen Umfeld der organisierten Kriminalität verhaftet haben.«
»Aber, Signora«, antwortete der Anwalt mit schmeichelnder Stimme. »Es gibt nicht viele Rechtsanwälte in Hannover, die Italienisch als Muttersprache haben.«
»Es gibt sicher jede Menge hervorragender Juristen, die im Strafrecht firm sind und sich für die Interessen ihrer Mandanten einsetzen.« Dann trug Frauke die Anschuldigungen gegen Battaligia vor.
»Das sind Missverständnisse«, versuchte der Anwalt zu beschwichtigen. »Hinsichtlich der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis mag es sein, dass mein Mandant nicht alle in Deutschland geltenden Bestimmungen kannte. Es gibt gravierende Unterschiede zwischen preußischer Regelwut und südländischer Gelassenheit.«
»Das, was Sie Regelwut nennen, bezeichnen wir als die Einhaltung von Recht und Gesetz. Und wer dagegen verstößt, hat die Konsequenzen zu tragen. Das ist bei Ihnen in Italien nicht anders. Wie erklären Sie den Besitz der Pistole, die wir in Battaligias Schreibtisch gefunden haben?«
»Signore Battaligia, bitte«, belehrte sie der Anwalt. Dann sah er seinen Mandanten an, der dem Gespräch bisher schweigend gefolgt war und dessen Augen zum jeweils Sprechenden wanderten. »Er«, dabei nickte Dottore Carretta zum Bordellbetreiber hin, »ist in einem Geschäftsfeld tätig, für das vielen Menschen das Verständnis fehlt. Es ist aber eine uralte Kultur, den Garten der Lust mit käuflichen Frauen zu verschönern.«
»Die mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt und zur Prostitution gezwungen wurden.«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Die der puren Not ihrer Heimat entflohen sind. Was leistet der reiche Westen für solche Menschen? Niemand fragt sie nach ihrer Qualifikation. Deshalb müssen sie ihren Körper verkaufen.«
Frauke lachte auf. »Sie wollen Ihren Mandanten doch nicht als Wohltäter darstellen?«
»In gewisser Weise schon«, sagte der Anwalt. »Niemand bestreitet, dass dabei auch Geld verdient wird.«
»Sehr viel«, fuhr Frauke dazwischen.
Dottore Carrettas Gelassenheit schien unerschütterlich zu sein. »Davon profitiert der deutsche Staat. Wenn jeder Unternehmer so viel an die Staatskasse abführen würde wie mein Mandant, wäre der Finanzminister der glücklichste Politiker Deutschlands.« Der Advokat blinzelte Frauke zu. Dann streckte er den Zeigefinger seiner runzeligen Hand in ihre Richtung aus. »Ihr Gehalt wird davon bezahlt.«
»Das ist eine köstliche Argumentation. Die Mädchen prostituieren sich, um die deutsche Polizei zu besolden.«
Der Anwalt sah sie mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Sì« war sein ganzer Kommentar.
»Battaligia, den Sie hier als Wohltaten verbreitenden Unternehmer präsentieren möchten, ist doch nur ein Strohmann.«
»Was Sie so bezeichnen, nennt das deutsche Recht Geschäftsführer, genau genommen das GmbH-Gesetz.«
Frauke musterte ihr Gegenüber. Dottore Carretta hatte die Angewohnheit, beim Sprechen die Augen zusammenzukneifen. Frauke war sich nicht sicher, ob es ein Reflex war oder ob der alte Mann so geschickt agierte, dass er dem Gesprächspartner den Blick in seine Augen verschloss, weil sich dort Emotionen, aber auch die Anspannung zeigten, die etwas über die Seelenlage des Sprechenden verrieten.
»Ist es nicht ungewöhnlich, dass ein russischer Investor einen italienischen Geschäftsführer bestellt?«
»Warum? Wir leben in einer globalisierten Welt. Haben Sie etwas gegen Russen? Gerade hier in Hannover sollte man sich erinnern, dass der Exkanzler, der ja einen besonderen Bezug zu dieser Stadt hat, ein hoch dotierter Vertreter russischer Interessen geworden ist.«
Zumindest hatte die Gegenseite nicht geleugnet, dass Igor Stupinowitsch hinter dem schmuddeligen Bordell stand.
»Nun haben Sie auf geschickte Weise versucht, von meiner Frage nach dem Waffenschein für die Heckler & Koch abzulenken.«
Der Anwalt fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dabei fielen Frauke die deutlich erkennbaren Altersflecken auf seinem Handrücken auf.
»Das ist ein wenig diffizil. Schön, die Pistole hätte angemeldet werden müssen. Signore Battaligia war in Sorge, dass man ihm keine Genehmigung erteilen würde. Deshalb hat er zum Selbstschutz die Waffe in seinem Schreibtisch aufbewahrt. Es gibt viele Neider. Und Verbrecher, die sich nicht davor scheuen, Überfälle zu begehen.« Der Anwalt zwinkerte mit dem rechten Auge Frauke vertraulich zu. »Auch mögen manche Leute das Gewerbe nicht, dem Signore Battaligia nachgeht.«
»Sie meinen: den Handel mit Rauschgift und gefälschten Medikamenten.«
»Damit hat mein Mandant nichts zu tun. Das schwört er.«
Frauke zog die Mundwinkel herab. »Meineid wird bestraft in Deutschland.« Es gelang ihr, den Satz voller Zynismus auszusprechen.
Der Dottore und Battaligia wechselten einen schnellen Blick. »Sie haben einen abgrundtiefen Hass gegen meine Landsleute«, erklärte der Anwalt. »Das ist eigentlich verwunderlich. Von einer Polizistin erwartet man etwas anderes als Ausländerhass …«
Frauke schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das ist doch absoluter Blödsinn, was Sie erzählen. Kommen Sie mir nicht mit solchem Gerede. Wir verfolgen hier Straftaten aus dem Umfeld der organisierten Kriminalität.« Sie zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Anwalt. »Nennen Sie mir ein Feld, auf dem sich Ihre Mandanten nicht tummeln.«
Carretta blieb gleichbleibend freundlich. Offenbar gab es nichts, was ihn die Fassung verlieren ließ. »Vor dem Hintergrund der Vorurteile gegen Südeuropäer könnte es doch möglich sein, dass die Drogen und die Medikamente – was sagten Sie noch gleich? Sprays? Salben? – vor dem Eintreffen der Polizei noch gar nicht im Betrieb meines Mandanten waren.«
»Ich sprach weder von Salben noch von Sprays. Sie wissen genau, um welche Art von Medikament es sich handelt. Und dass die Polizei Ihrem Mandanten falsche Beweismittel untergeschoben hat … Das glauben Sie doch selbst nicht.«
Dottore Carretta drehte die Hand im Gelenk. »Wer weiß. Möglich ist alles. Vielleicht sollten Sie hierzu den Türsteher befragen.«
Frauke war nicht überrascht. Es war die schon oft angewandte Methode der Organisation, überführten Mitgliedern auch andere Straftaten zuzuschieben.
»Weshalb haben Sie«, dabei sah Frauke Battaligia an, »dem Polizisten Eberhard Annenmeyer aus Wittingen bereitwillig einen Kredit zur Finanzierung seines Hauses gewährt?«
»Ach? Der Mann ist auch bei der Polizei?«, tat Carretta anstelle seines Mandanten erstaunt. »Signore Battaligia ist Geschäftsmann. Und wenn er Kredite vergibt, erhält er Zinsen. Und zwar höhere, als er bei der Bank bekäme. Das ist eine typische Win-win-Situation. Der eine erhält einen Kredit zu guten Konditionen, der andere höhere Zinsen.«
»Annenmeyer hat gestanden, dass er dazu gezwungen worden ist, Bernd Richter im Untersuchungsgefängnis zu besuchen. Wir wissen sogar noch mehr.«
Dottore Carretta beugte sich ein wenig vor. Frauke merkte ihm an, dass er gern mehr erfahren hätte. Allerdings war der Mann zu gewieft, um auch nur eine Spur Unsicherheit erkennen zu lassen. Dennoch sah Frauke ihm an, dass er fieberhaft überlegte, worauf Frauke anspielen wollte.
Stattdessen sagte er: »Es handelt sich um korrekte Kreditverträge, die ordnungsgemäß durch die Buchhaltung gelaufen sind. Hier geschieht nichts Geheimnisvolles, das Sie so gern in die völlig legalen Geschäfte meines Mandanten hineininterpretieren möchten.«
Frauke beschloss, das Verhör zu beenden. Sie konnten Battaligia nicht zwingen, anstelle seines geschickten Verteidigers zu antworten. Und Dottore Carretta war aalglatt. Zu glatt, um sich eine Blöße zu geben. Dennoch hatten die Beamten durch die Razzia der vergangenen Nacht genügend Punkte, um Battaligia vor Gericht stellen zu können.
»Welche Verbindungen bestehen zwischen dem Sexclub und dem Gemüseimport?«, fragte Frauke.
»Natürlich keine. Wenn Sie darauf hinauswollen, dass Sie Herrn Stupinowitsch, Signore Rossi und noch einen Herrn in meiner Gegenwart in einem Restaurant getroffen haben, dann können Sie daraus nicht zwangsläufig einen Zusammenhang konstruieren, selbst wenn die Herren sich kennen sollten.«
Frauke verzichtete darauf, die Verbindung näher zu erläutern. Dottore Carretta spielte auf die Geschäftsverbindung zwischen den beiden an. Stupinowitsch kaufte Rossi das aus Italien importierte Gemüse ab.
»Sind die Geschäfte so bedeutsam, dass sich Mateo Zafferano persönlich nach Hannover bemüht?«
Der Anwalt zeigte sich nicht erstaunt darüber, dass Frauke den Namen des Inhabers kannte. »Sie sind tüchtig, Frau Dobermann«, sagte er und fügte kaum hörbar an: »Vielleicht zu tüchtig.«
Es klang wie eine Drohung.
»Verteidigen Sie auch Giancarlo Rossi, den wir uns als Nächstes vornehmen?«, fragte Frauke.
»Rossi?«, antwortete Carretta mit einer Gegenfrage. »Der führt die Geschäfte des Gemüseimporteurs. Was liegt gegen den vor?«
Nichts, dachte Frauke. Tatsache war, dass die Arzneimittel über Stupinowitsch geschmuggelt wurden, der Mann auch hinter dem Bordell stand und alle Spuren ausschließlich auf den Weißrussen und seine Geschäfte wiesen. Es gab lediglich zwei Verbindungen zwischen den beiden, Trapattonis Alfa, den sich Rossi angeblich ausgeliehen hatte, und Necmi Özden, der mit dem Wagen nach Lüneburg gefahren war, außerdem war der Türke spurlos mit der Tageseinnahme vom Stöckener Wochenmarkt verschwunden.
»Dann können wir jetzt gehen?«, fragte der Anwalt und stopfte die Unterlagen in seine abgewetzte Aktenmappe.
»Sie ja. Battaligia bleibt hier.«
»Ich lege Beschwerde ein«, protestierte der Anwalt.
»Gern«, erwiderte Frauke. »Sie kennen die Gepflogenheiten. Bitte in zweifacher Ausfertigung und beim Ausdruck anderthalbzeilig.«
Nach dem Verhör zog sich Frauke in ihr Büro zurück. Sie war froh, eine Weile nicht gestört zu werden. Es würde noch viel Arbeit bedeuten, die Fakten, die sie bisher zusammengetragen hatten, so aufzubereiten, dass sie gerichtsfest waren.
Schließlich meldete sich Madsack aus Wittingen.
»Annenmeyer hat gestanden, Bernd Richter im Untersuchungsgefängnis sein Handy überlassen zu haben.«
»Das muss die Aufsicht doch bemerkt haben«, schimpfte Frauke.
»Leider nicht«, antwortete Madsack leise. »Da der Besucher ein Polizist in Uniform war, hat man ihn nicht durchsucht und die beiden allein gelassen.«
»Typisch deutsch«, fluchte Frauke. »Vor einer Uniform stehen alle stramm.«
»Ich habe ein unterschriebenes Protokoll«, ergänzte Madsack. Es klang, als würde er um ein Lob betteln. Doch Frauke tat ihm nicht den Gefallen.
Sie überlegte, ob sie in die Stadt gehen sollte, um eine Kleinigkeit zu essen. Nach den unliebsamen Erfahrungen der jüngsten Zeit verzichtete sie aber darauf.
Frauke suchte Schwarczer in dessen Büro auf. »Kennen Sie Stupinowitschs Adresse?«
Der Kommissar nickte. »Der hat ein Apartment im Zooviertel, in der Scharnhorststraße.«
Frauke wiederholte den Straßennamen. »So hieß ein preußischer General mit Wurzeln im Großraum Hannover. Hoffen wir, dass Stupinowitsch nicht über dessen strategisches Geschick verfügt. Vielmehr ist zu wünschen, dass der Name Scharnhorst auf das angeblich unbesiegbare Schlachtschiff gleichen Namens verweist, das schließlich doch versenkt wurde. Dort, im Zooviertel, ist doch auch das italienische Restaurant, in dem sich Stupinowitsch mit Don Mateo getroffen hat?«
»Richtig. Das ist eine Gegend, in der überwiegend gut betuchte Leute wohnen. Sie ist im Krieg neben den Vororten weitgehend verschont geblieben, sodass sich zum großen Teil die ursprüngliche Bausubstanz erhalten hat. Die Nähe zum Zoo und zur Eilenriede sind ein zusätzliches Sahnehäubchen. Es verwundert nicht, dass Gerhard Schröder dort früher gewohnt hat.«
»Kommen Sie«, forderte Frauke den Kommissar auf. »Das möchte ich mir ansehen.«
Die Fahrt währte nur wenige Minuten. An der Ecke zur Gellertstraße residierten eine Anzahl von Anwaltskanzleien sowie das griechische Generalkonsulat.
Vor dem repräsentativen Haus mit der gewaltigen Magnolie und der bizarren Krüppelkiefer im Vorgarten bewahrte ein gepflegter Vorgarten Abstand zum Bürgersteig. Das Gebäude selbst war mit seinen Friesen und kunstvollen Verzierungen eine wahre Augenweide. Es wirkte gepflegt und freundlich. Die zahlreichen Details luden direkt zum Betrachten ein.
Frauke war nicht überrascht, dass sich kein Namenshinweis an der Klingelknopfleiste fand. Mit ein wenig Mühe fanden sie den Hausmeister, der sich zunächst beharrlich weigerte, ihnen behilflich zu sein.
»Brauchen Sie nicht so ein Papier, so ein Dingsbums?«, zeigte er sich starrköpfig.
»Wir möchten keine Hausdurchsuchung machen, sondern mit Herrn Stupinowitsch sprechen«, erklärte Frauke.
»Ja – aber … Wie ist das mit dem Datenschutz? Ich kann doch nicht jedem erzählen, wer in diesem Haus wohnt. Und wo.«
»Wir sind nicht jeder, sondern die Polizei.«
»Auf Ihre Verantwortung«, sagte der Mann und erklärte ihnen, in welcher Etage Stupinowitsch wohnte.
Es gab keinen Fahrstuhl. Sie nahmen die Treppe mit den Steinstufen und den dunklen Holzpaneelen an den Wänden.
Zunächst rührte sich nichts in der Wohnung, als sie klingelten. Es bedurfte mehrerer Anläufe, bis sie schlurfende Schritte hörten und eine tiefe Bassstimme fragte: »Wer ist da?« Offenbar hatte Stupinowitsch die Gegensprechanlage benutzt.
Schwarczer antwortete auf Russisch. Es entspann sich ein Dialog zwischen den beiden Männern durch die geschlossene Wohnungstür, in dessen Verlauf Schwarczer irgendwann einmal mit der flachen Hand gegen die Türfüllung aus geriffeltem Glas trommelte.
Dann wurde es wieder ruhig.
»Was ist los?«, ragte Frauke ungeduldig.
»Er sagte, er muss sich etwas überziehen.«
Sie warteten geduldig, bis sie hörten, dass umständlich aufgeschlossen wurde. Dann erschien Igor Stupinowitsch, in einen seidenen Morgenmantel gehüllt. Frauke betrachtete den Russen kritisch. Der Mann war unrasiert, die Haare ungekämmt. Es sah aus, als wäre er gerade dem Bett entstiegen. Sie fragte sich, was Stupinowitsch in der Zwischenzeit gemacht hatte. Das Ankleiden hatte mit Sicherheit nicht so lange gedauert.
»Polizei. Wir möchten uns mit Ihnen unterhalten«, sagte Frauke und zeigte ihren Ausweis.
Der Russe winkte ab. »Geschenkt«, sagte er. »Ich kenne Sie.«
»Woher?«, fragte Frauke misstrauisch.
»Vom Restaurantbesuch. Dort sind wir uns begegnet, als Sie mit einem Mann unterwegs waren.«
Frauke sah aus den Augenwinkeln, wie Schwarczer sie überrascht ansah. Auch Stupinowitsch hatte es bemerkt. Er sah offenbar eine Möglichkeit, Misstrauen zwischen den Beamten zu säen.
»Das war ein eleganter Herr. Wir haben uns gefragt, wie Sie zusammengehören«, stichelte er.
»Das habe ich mich auch gefragt, als ich Sie, Dottore Carretta, Rossi und Don Mateo Zafferano sah.«
»Wir sind Geschäftspartner.« Stupinowitsch winkte ab. »Aber das wissen Sie doch. Wir kaufen italienisches Gemüse.«
»Warum läuft das über Hannover? Sie könnten es direkt aus Italien beziehen, ohne den Umweg über die Bundesrepublik. Dann würde die Ware auch nicht vergammeln, nachdem sie hinter der weißrussischen Grenze in Hrodna eingetroffen ist«, zitierte Frauke die Aussage des Lkw-Fahrers.
Doch Stupinowitsch ignorierte die Spitze. »Die Lieferung über Hannover ist zuverlässiger.«
»Ihnen gehört der Sexclub in der Reitwallstraße«, stellte Frauke fest.
Stupinowitsch unternahm gar nicht erst den Versuch, es zu leugnen. »Kommen Sie mit durch«, forderte er die beiden Beamten auf, nachdem sie bisher auf dem Flur gestanden hatten. Er führte sie ins Wohnzimmer.
Frauke war erstaunt. Im Raum mit der hohen Stuckdecke, fast vier Meter hoch, glänzte und funkelte es wie in einem Museum. Schwere Ölschinken mit vergoldeten Rahmen, kunstvoll eingefasste Ikonen, dunkle Möbel mit geschnitzter Front und eine Sitzgruppe, die Louis XIV. gut zu Gesicht gestanden hätte. Alles wirkte barock und schwermütig. Es war kein einheitlicher Stil zu erkennen, sondern sah eher so aus, als hätte jemand versucht, sich mit viel Geld eine vermeintlich prunkvolle Umgebung zusammenzukaufen.
»Setzen Sie sich«, forderte Stupinowitsch die Polizisten auf. Frauke nahm neben Schwarczer Platz, während sich der Russe ächzend auf eine Chaiselongue niederließ, die zwar den gleichen gestreiften Samtbezug trug wie die anderen Sitzmöbel, aber trotzdem nicht harmonierte.
»Die Bar ist kein Sexclub«, versuchte Stupinowitsch klarzustellen. Immerhin leugnete er nicht, der Eigentümer zu sein.
»Bar?«, sagte Frauke in verächtlichem Ton. »Das ist ein Bordell. Und zwar ein besonders schäbiges.«
»Das ist Ihre Interpretation.«
»Wir haben bei der Razzia nicht nur illegal hier lebende Frauen vorgefunden, sondern auch Drogen und gefälschte Medikamente.«
»Ich habe davon gehört.«
»Nur gehört?«
»Sicher. Glauben Sie, ich habe es nötig, mich mit solchen Machenschaften von Kleinkriminellen auseinanderzusetzen?«
»Sie sind für die großen Dinge zuständig?«
Stupinowitsch ließ ein »Pah« hören, angelte nach einem Humidor und zündete sich umständlich eine Zigarre an. Er ließ sich Zeit und rauchte die Zigarre genussvoll an. Nach jedem vollen Zug, bei dem sich seine Wangen nach innen zogen, stieß er den Rauch kunstvoll in die Luft und besah sich die glühende Spitze, ließ die Zigarre leicht kreisen und nickte zufrieden über die feine weiße Asche, die auf ein außergewöhnliches Blatt schließen ließ.
»Ich bin Geschäftsmann. Wie Sie wissen, handele ich mit Obst und Gemüse. Die Waren sind in meiner Heimat heiß begehrt. Es sind die neuen Reichen, wie Sie es im Westen nennen, die, ohne auf den Rubel zu achten, Qualität kaufen.«
»Auf die scheinen Sie bei der Einrichtung Ihres Sexclubs nicht geachtet zu haben.«
Stupinowitsch schmauchte seelenruhig und genussvoll an seiner Zigarre. »Ich bin ein viel beschäftigter Mann. Es war unverzeihlich von mir, dass ich mich nicht persönlich um das Geschäft gekümmert habe. Battaligia hat es heruntergewirtschaftet. Dieser Mensch hat meinen guten Ruf ruiniert. Ich war schockiert, als ich von der Razzia hörte.«
»Ich wundere mich, dass Dottore Carretta noch nicht vorstellig geworden ist und in Ihrem Namen bei uns protestiert hat«, sagte Frauke, und der Zynismus troff aus jedem Wort.
»Sie meinen den Anwalt meines italienischen Geschäftspartners?«
»Mateo Zafferano.«
»Ja. Don Mateo. Carretta ist nicht mein Rechtsanwalt.«
»Sondern?«
»Dr. Eigelstein, Knappe & Collegen.«
Frauke warf Schwarczer einen schnellen Blick zu. Der Kommissar nickte unmerklich. Das hieß, er kannte die Kanzlei. Für Stupinowitsch unsichtbar streckte Schwarczer den Daumen in die Höhe. Daraus schloss Frauke auf die Seriosität der Kanzlei.
»Wann werden die sich bei uns melden?«
»Warum?«, fragte Stupinowitsch und zog seine buschigen Augenbrauen in die Höhe. »Ich sagte schon, dass es mein Fehler war, Battaligia zu vertrauen. Ich habe den Mann fristlos hinausgeworfen.«
»Sie wollen behaupten, Sie hätten von alldem nichts gewusst?«
»Ich habe so viele geschäftliche Interessen, da kann ich nicht jedem kleinen Laden hinterher sein.«
»Immerhin wurde dort mit Drogen und gefälschten Medikamenten gehandelt.«
»Ich habe gehört, dass hierfür der Türsteher verantwortlich ist, dieser …« Stupinowitsch schnippte mit den Fingern.
»Trapattoni«, half Frauke weiter.
»Ja, lustiger Name. Ich habe volles Vertrauen in die Polizei. Sie werden den Mann zur Rechenschaft ziehen.«
»Darf ich ehrlich sein? Ich bin erstaunt über Ihre Gelassenheit. Ich hatte erwartet, dass Sie sich laut über den Polizeieinsatz beschweren würden.«
»Das kostet mich viel Geld. Das tut weh. Dafür werde ich das Lokal umgehend renovieren lassen. Ich habe gehört, dass es dort grässlich ausgesehen haben muss.« Der Russe schüttelte sich demonstrativ, um gleich im Anschluss voller Wohlbehagen an seiner Zigarre zu ziehen. »Ich hoffe, mit neuem Personal wird man schnell vergessen, wie sehr der Ruf unter Battaligia gelitten hat.«
Frauke staunte über diese Reaktion. Ihr Plan, durch viel Aufsehen einen Dorn ins Fleisch der Organisation zu setzen, schien nur zum Teil aufgegangen zu sein. Wie mächtig waren die Hintermänner, wenn sie mit großer Gelassenheit das Etablissement mit anderen Tapeten an den Wänden weiterbetrieben? Tatsächlich gab es derzeit keine stichfesten Beweise gegen Stupinowitsch, den Frauke für den Mann hinter den Kulissen hielt. Battaligia war nur ein kleines Licht und Massimo Trapattoni der Handlanger für die schmutzigen Geschäfte. Hatte die Polizei sich getäuscht? War die Organisation gar nicht südländisch geprägt, sondern gehörte zum Sammelbegriff »Russenmafia«? Sicher trug dazu bei, dass Stupinowitsch italienische Mitarbeiter beschäftigte. Wenn es wirklich keine Verbindung zum Gemüseimporteur gab, war das ein geschickter Schachzug. Dem widersprachen aber die Ermittlungsergebnisse. Das aufgebauschte Geschäft des Gemüseimporteurs und die nicht sehr erfolgreichen Stände auf den Wochenmärkten, die angeblich blendend liefen, deuteten auf Geldwäsche hin. Warum war Giancarlo Rossi so erbost, dass sein türkischer Mitarbeiter mit einer Tageseinnahme untergetaucht war?
»Wie erklären Sie sich den Transport von gefälschten Arzneien aus indischer Produktion über Weißrussland zu uns?«
»Das ist eine Unverschämtheit«, empörte sich Stupinowitsch. »Leider gibt es in meiner Heimat noch viele Leute, die unsaubere Geschäfte machen. Und wenn der Transporter, der meine Waren nach Weißrussland gebracht hat, auf dem Rückweg missbraucht wurde, so müssen Sie Rossi fragen. Der hat die Transporte organisiert und war dafür verantwortlich.«
Der Mann war aalglatt. Er wusste, dass die Polizei noch keine Beweise gegen ihn in Händen hielt. Frauke war davon überzeugt, dass Stupinowitsch bei Weitem nicht so unschuldig war, wie er sich gab. Frauke hielt ihn für einen der Drahtzieher, wenn nicht gar für den Boss. Andererseits resultierte der gegen sie gerichtete Hass, der sie auf die Todesliste der Organisation gebracht hatte, aus den Ermittlungen im ersten Fall, dem Mord an Marcello Manfredi, der Geldwäsche und dem Drogenschmuggel in den arabischen Raum. Dort waren nur Italiener involviert. War Stupinowitsch wirklich unschuldig? Sie hatte Zweifel, dass sich der Russe bei seinen Geschäften im legalen Rahmen bewegte. Aber …
»Für den Mord an Friedrich Rabenstein, einem harmlosen alten Herrn, wurde nachweislich Ihr Motorrad benutzt.«
»Es ist grauenvoll«, jammerte Stupinowitsch. »Der bedauernswerte Mann.« Er legte die manikürte Hand aufs Herz. »Ich war erschüttert, als ich davon hörte. Es war nicht rechtens, dass ich mein Motorrad zur Inspektion mit dem Gemüsetransporter hierhergebracht habe. Aber bei uns in Weißrussland versteht man sich nicht auf solche Technik. Ich habe kein Vertrauen in die dortigen Werkstätten. Wie hätte ich die Maschine sonst nach Hannover bekommen?«
Stupinowitsch hatte für alles eine Erklärung, auf jeden Vorwurf eine Antwort.
»Die niederträchtigen Mörder haben für diesen feigen Mord mein Motorrad benutzt. Ich weiß nicht, ob ich mich bei diesem Gedanken jemals wieder auf die Maschine setzen und die Fahrt genießen kann.«
Leider hatte der Mann recht. Es war nicht zu beweisen, dass Trapattoni sich nicht unberechtigterweise das Motorrad angeeignet hatte.
»Trapattoni, den wir als einen der Mörder von Friedrich Rabenstein überführt haben, war aber Ihr Angestellter, während das Motorrad beim italienischen Gemüseimporteur stand.«
»Ich habe gehört, dass die sich kannten – Trapattoni und Rossi. Da war etwas mit gemeinsamer Leidenschaft für Fußball. Trapattoni hat Rossi den Alfa geliehen. Ich nehme an, dass Rossi sich dafür mit der Moto Guzzi revanchiert hat. Der Lump. Mit meinem Motorrad.«
Frauke stutzte. Die Begründung war gut ausgedacht. Zu gut.
»Woher wissen Sie, dass sich Rossi den Alfa ausgeliehen hat, mit dem Necmi Özden nach Lüneburg gefahren ist?«
Stupinowitsch erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde. Es bedurfte vieler Erfahrung, um das zu registrieren. Frauke hatte das Erschrecken wahrgenommen. Es geschah oft, dass sich Leute im Verhör durch Winzigkeiten verrieten, sehr häufig, weil sie ein aus ihrer Sicht gutes Argument noch einmal mit einem ihrer Ansicht nach besseren bekräftigen wollten.
»Das hat mir …« Stupinowitsch war ins Straucheln gekommen. »Wie das man sagt?«, radebrechte er und versuchte, es auf mangelndes Sprachverständnis zu schieben. Das war der nächste Fehler, da er während des ganzen Gesprächs keine Verständigungsprobleme zu erkennen gegeben hatte.
»Das weiß nur die Polizei«, half Frauke nach.
Stupinowitsch hatte sich wieder gefangen. Er lächelte milde. »Vielleicht ist es unklug, wenn ich es Ihnen anvertraue. Aber es stimmt nicht ganz, dass nur die Polizei darüber informiert war. Sonntagabend, als wir uns zufällig im Restaurant begegnet sind, da saß auch Giancarlo Rossi mit am Tisch. Und der hat es erzählt. Genau!« Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf dem Antlitz des Russen. Entspannt ließ er sich auf die Lehne der Chaiselongue zurücksinken.
Das Argument zog. Was blieb, war die winzige Unsicherheit, die der Russe gezeigt hatte.
Stupinowitsch spitzte die Lippen und ließ den blauen Rauch in Kringeln zur Decke steigen. »Ich habe nichts, absolut nichts, mit dem Mord zu tun. Da es aber mein Motorrad war, fühle ich mich moralisch verantwortlich. Wenn ich aus christlicher Nächstenliebe dennoch etwas für die Angehörigen des alten Herrn tun kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen.« Dann sah er auf die Armbanduhr, die für Fraukes Geschmack zu protzig und zu golden war. »Ob Sie mich jetzt entschuldigen würden. Die Geschäfte warten auf mich.«
Frauke stand auf. Schwarczer, der die ganze Zeit still dabeigesessen hatte, ebenfalls. Frauke hatte schon ein paar Schritte Richtung Zimmertür zurückgelegt, als sie sich noch einmal umdrehte.
»Ach, was ich noch sagen wollte. Hüten Sie sich vor Verstrickungen in Geldwäschegeschäfte. Wir haben eine heiße Spur. Es war eine interessante Erkenntnis für uns, dass man Geld auch mit Importgemüse waschen kann. Da bekommt der Begriff vom ›Gemüseputzen‹ gleich eine ganz andere Bedeutung.«
Stupinowitsch, der sich mühsam von der Chaiselongue erhoben hatte, lachte herzhaft auf.
»Inspektor Columbus«, sagte er. »Die Paraderolle von Peter Falk. Der hat es genauso versucht wie Sie: sich beim Hinausgehen noch einmal umgedreht und so trottelig getan.«
Frauke schenkte ihm ein Lächeln und bewegte den Zeigefinger hin und her, als würde sie einem kleinen Kind etwas erklären.
»Es sind die Kleinigkeiten, Herr Stupinowitsch, über die auch die großen Verbrecher dieser Welt stolpern. Inspektor Columbo, nicht Columbus!«
Im Landeskriminalamt wurden sie von Madsack empfangen, der aus Wittingen zurückgekehrt war.
»Günter Blechschmidt ist doch von zwei Unbekannten überfallen worden. Ich habe Bilder von uns bisher aufgefallenen Verdächtigen nach Lüneburg geschickt. Die Kollegen sollen Blechschmidt im Städtischen Klinikum in Lüneburg und seine Lebensgefährtin Frau Kohlschreiber befragen, ob sie möglicherweise die Täter wiedererkennen, die ihn zusammengeschlagen haben. Außerdem«, dabei strahlte Madsack, »liegt uns eine Auswertung von Trapattonis Handy vor.«
»Und?« Frauke war ungeduldig. »Machen Sie es nicht so spannend, Madsack.«
Der korpulente Hauptkommissar war ein wenig enttäuscht. Frauke wusste um sein Bedürfnis, wie ein kleines Kind gelobt zu werden.
»Kurz nach dem Anruf von Richter – mit Annenmeyers Handy – aus der Justizvollzugsanstalt hat Trapattoni wiederum jemanden angerufen.«
»Wer ist das?«
»Der Mann heißt Michele Buffolo. Er wohnt in der Nordstadt. Uns ist er bekannt wegen Körperverletzung und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz.«
Frauke seufzte. »Ich werde am Sonntag wieder einmal in die Kirche gehen müssen, um mit dem Pastor endlich jemandem zu begegnen, der keinen Dreck am Stecken hat.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, lästerte Putensenf, der hinzugekommen war.
»Dann sollten wir uns den Buffolo ansehen«, entschied Frauke.
»Ich habe schon veranlasst, dass man ihn holt«, entgegnete der Hauptkommissar.
»Gut«, lobte Frauke.
Madsack strahlte.
Frauke ließ sich vom Hauptkommissar das gespeicherte Profil und das passende Bild Buffolos auf ihren Rechner schicken. Als sie es auf ihren Bildschirm aufrief, erkannte sie den Mann wieder. Es war der südländische Typ, aus dessen Hosenbund der Stahl einer Pistole geblitzt hatte, als er sie mit einem Kumpan vom Kröpcke aus verfolgt hatte und sie Georg erstmalig begegnet war.
Merkwürdig, ihre Gedanken schweiften dahin ab, dass der geheimnisumwitterte Georg sich seit Sonntag nicht mehr bei ihr gemeldet hatte – seitdem sie Stupinowitsch, Rossi, Dottore Carretta und Don Mateo in dem italienischen Restaurant aufgespürt hatte.
Später meldete Madsack, dass der Italiener ins Landeskriminalamt verbracht worden war und in einem Verhörzimmer saß.
»Dann sollten wir beide ihn uns vornehmen«, sagte Frauke.
Sie erkannte Buffolo sofort wieder. Es war der südländisch aussehende Typ, der ihr gefolgt war. Als sie den Raum betrat, grinste er sie breit an. Buffolo hatte sich auf den Stuhl gelümmelt, die Beine weit von sich gestreckt und die Arme vor der Brust verschränkt.
Frauke erledigte die Formalitäten, nachdem sie das Aufnahmegerät eingeschaltet hatte. »Wir kennen uns«, eröffnete sie das Verhör.
Als Antwort erntete sie ein verschärftes Grinsen. Dann fingerte der Mann ein Streichholz aus der Brusttasche seines Designerhemdes, brach den Zündkopf ab und ließ den Rest zwischen den Zähnen hin und her wandern. Es sollte cool wirken. Dabei schätzte Frauke den Mann als nachgeordneten Handlanger für schmutzige Dienste ein. In Anbetracht der Art seiner Vorstrafen wurde ihr bewusst, dass von Buffolo und seinem schmierigen Kumpan vermutlich keine Gefahr ausgegangen wäre. Doch das war damals nicht erkennbar gewesen.
»Ist dir die Muffe gegangen?«, fragte er zwischen den geschlossenen Zähnen heraus und spielte auf diese Begegnung an. Ohne Zweifel fühlte er sich wohl in der Rolle des Machos.
Frauke lächelte ihn überheblich an.
»Ich duze mich nur mit Männern, denen ich schon einmal in der Herrentoilette begegnet bin. Da haben Typen wie Sie vermutlich keinen Zutritt.«
An seinem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass ihn diese Beleidigung traf. Das Streichholz verharrte auf einer Position, und er beugte sich vor.
»Wollen Sie mich beleidigen?« Immerhin war er zum Sie gewechselt.
»Kann man jemanden beleidigen, der die Regeln der Höflichkeit nicht kennt?« Sie zählte die bekannten Vorstrafen auf. »Nicht wirklich viel, schon gar nicht bedeutsam. Was veranlasst ein kleines Licht, sich auf eine denkbar dumme Weise strafbar zu machen?«
Das Streichholz wanderte wieder zwischen den Mundwinkeln. Er bohrte sich demonstrativ mit einem Finger im Ohr und wollte lässig wirken.
»Ich höre schlecht. Was soll ich gemacht haben? Ich bin arglos mit einem Freund die Straße entlanggegangen. Habe ich Sie angequatscht?« Er schüttelte den Kopf. »So alte Ladys sind nicht mein Kaliber.«
»Sie werden für Ihre Dummheit zur Rechenschaft gezogen«, erklärte Frauke ihm.
An seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er ihr nicht folgen konnte.
»Es wird ein neues Verfahren gegen Sie geben. Unter Berücksichtigung Ihres Vorstrafenregisters wird der Staatsanwalt an die obere Grenze des Möglichen beim geforderten Strafmaß gehen. Ich werde ihm jedenfalls gut zureden.«
Er zeigte ihr den Mittelfinger. »Fuck you.« Dann grinste er wieder. »Und was soll ich getan haben?«
Frauke sah ihn eine ganze Weile an und zeigte einen leicht spöttischen Gesichtsausdruck. Das machte Buffolo nervös.
»Nun sag schon. Was habe ich verbrochen, hä?« Die Arme lagen jetzt auf der Tischplatte. Mit dem Zeigefinger tippte sich der Mann gegen die Brust.
»Unerlaubter Waffenbesitz.«
Er lachte höhnisch auf. »Lächerlich.«
»Durchaus nicht«, erwiderte Frauke, kramte ihr Handy hervor, ließ ihren Zeigefinger routiniert über die kleine Tastatur huschen, nickte zufrieden und zeigte ihm das Bild, das sie auf der Straße von Buffolo und seinem Begleiter aufgenommen hatte. Sie vergrößerte den Ausschnitt, und jetzt war deutlich die Waffe in seinem Hosenbund zu erkennen.
Buffolo sah auf das Display, dann auf Frauke. Er kniff die Augen zusammen, musterte wieder das Handy, und plötzlich schnellte seine Hand vor, und er versuchte das Mobiltelefon zu greifen. Doch Frauke war schneller.
»Ich sagte Ihnen doch. Sie werden wegen Dummheit bestraft.«
Wie sie es von anderen Verdächtigen mittlerweile gewohnt war, begann Buffolo auf Italienisch zu fluchen.
Ich werde diese Sprache doch noch lernen müssen, dachte Frauke, wenn ich mich länger mit diesem Umfeld beschäftigen muss.
»Wie gefällt Ihnen Beihilfe zum Mord?«
»Mord?« Buffolos Antlitz erstarrte zur Maske. »Ich und Mord?« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Das ist absurd.«
»Wir wissen sehr viel, Buffolo. Wir können Ihrem Freund Massimo Trapattoni nachweisen, dass er einen harmlosen alten Mann erschossen hat. Und jener Trapattoni hat sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt und Ihnen den Auftrag erteilt, mir zu folgen. Sie arbeiten eng mit ihm zusammen, mit dem Mafiakiller.«
Buffolo streckte beide Hände von sich. »Ich weiß nicht, was Sie gegen Massimo vorliegen haben. Damit habe ich nichts zu tun. Gut. Er hat mich angerufen und gesagt, mein Freund und ich sollen Ihnen ein wenig Angst einjagen. Sonst nichts. Ich bin doch nicht blöd. Nein. Mord – niemals.«
Dann fiel Frauke wieder Georg ein. War es wirklich ein Zufall, dass man sie förmlich Richtung Georgsplatz getrieben hatte, wo Georg sich als »Retter« erwies? Diese Frage hatte sich ihr schon öfter gestellt, ohne dass sie bisher eine Antwort darauf gefunden hatte.
»Massimo Trapattoni steht in der Organisation deutlich über Ihnen. Er hatte eine ganz andere Bedeutung.«
»Nix Organisation.« Buffolo hatte Frauke beide Hände wie zur Abwehr entgegengestreckt.
»Doch. Wir kennen die Struktur mittlerweile sehr gut.« Madsack warf ihr bei diesen Worten einen fragenden Blick zu. »Wir wissen, welche Rolle Ihr Freund Trapattoni spielt und von wem er seine Aufträge erhält. Das war einmal ein wichtiger Mann.« Der möglicherweise noch heute eine bedeutende Rolle spielt, fuhr Frauke im Stillen fort. Auch wenn er …
»Massimo hat davon gesprochen, dass ein hoher Polizeibeamter eine wichtige Rolle spielt. Er hat sich damit gebrüstet, sogar den Namen zu kennen.«
»Sie können gehen«, sagte Frauke zum überraschten Buffolo.
Der sah sie verdutzt an.
»Jaa – aaber«, kam es gedehnt über seine Lippen, von denen das Streichholz schon lange verschwunden war.
»So groß sind unsere Haftanstalten nicht, dass wir jedes kleine Licht darin unterbringen können. Und wenn wir Sie suchen, weil wir Sie vor Gericht stellen wollen, werden wir Sie finden. So wie die anderen Sie finden, wenn die erfahren, dass Sie mit der Polizei gesprochen haben.«
Sie lächelte Buffolo an. So schnell kann sich ein Machogehabe wandeln, dachte sie, als sie in sein graues Gesicht sah.