SIEBEN
Die Sonne stand zu dieser Jahreszeit schon merklich flacher am Horizont. Sie begrüßte den neuen Tag erst, nachdem die Helligkeit die Nacht schon eine Weile abgelöst hatte. Dann dauerte es noch, bis sie einen solchen Stand erreicht hatte, dass sie schräg durch das Fenster fiel und sich an der Wand mit der Textiltapete ein verschobenes Rechteck abzeichnete, dessen untere Ecke halb die Hundertwassergrafik beleuchtete, die die Wand zierte. Es war ein schwacher Schein, da ein milchiger Schleier am Himmel hing und die Sonne um diese Jahreszeit nicht mehr die Kraft des Sommers besaß.
Frauke betrachtete das Bild. Ihre Augen wanderten durch den Raum, erfassten den Einbauschrank mit den aufgesetzten Leisten an den Türen, das passende Sideboard, den bequemen Sessel mit dem kleinen Tisch, den modernen Flachbildfernseher. Ihre Hand tastete zur Seite, erspürte eine Bettdecke, und als sie über die Schulter sah, erkannte sie die zweite Hälfte des Doppelbetts. Es war unbenutzt.
Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Pellegrino, daneben ein unberührtes Glas. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Es war halb acht. Der Raum sah aus wie ein komfortables Hotelzimmer, aber eben wie ein Hotel. Es war nicht das Hotel, in dem sie die Nächte seit ihrer Ankunft in Hannover zugebracht hatte. Sie kniff die Augen zusammen und rieb sich über die Lider. Langsam tauchten die Erinnerungen an den Vorabend auf. Georg. Sie hatten Rotwein getrunken, bis sie eine unendliche Müdigkeit überkam. Georg hatte ihr den Arm geboten und sie ins Obergeschoss begleitet. Jetzt lag sie hier – in diesem fremden Bett. Ein Schreck durchfuhr sie. Sie stützte sich auf den Ellenbogen und sah auf dem Fußboden vor ihrem Bett ihre Jeans und den hellen Pullover liegen, den sie gestern getragen hatte. Sie streckte die Hand unter die leichte und angenehm warme Decke und spürte, dass sie ihren Büstenhalter trug. Ihre Hand rutschte weiter abwärts und stieß mit den Fingerkuppen an den Bund ihres Slips. Was hatte das zu bedeuten? Natürlich wusste sie um die Wirkung von K.-o.-Tropfen. Ausgerechnet ihr musste es widerfahren, dass sie beim zwischenzeitlichen Gang auf die Toilette nicht damit rechnete, dass ihr jemand etwas ins Glas schüttete. Ein Schauder durchfuhr sie bei dem Gedanken. Sie war bestimmt kein Kind von Traurigkeit, aber den Partner für gewisse Stunden wollte sie sich schon selbst aussuchen.
Frauke kostete es Überwindung, die Erkundung fortzusetzen. Ihre Hand fuhr unter den Bund des Höschens, tastete sich langsam vorwärts, bis sie die Slipeinlage spürte, die sie gestern nach dem Duschen eingelegt hatte. Zumindest war der Mann nicht mit Brachialgewalt über sie hergefallen, sonst hätte der Zellstoff nicht mehr an diesem Platz gelegen. Sie schloss die Augen und ließ ihre Hand weiter erkunden. Nichts. Es gab keine Anzeichen dafür, dass Georg ihr Gewalt angetan oder ihren Blackout ausgenutzt hatte. Überrascht hielt sie inne.
Merkwürdig war auch, dass sie keine Kopfschmerzen verspürte, keinen Kater und keine Nachwirkungen der K.-o.-Tropfen. Ein leichtes Hungergefühl stellte sich ein, aber keine Übelkeit. Mit Schwung stand sie auf, ging ins Badezimmer und fand dort alles so vor, wie sie es gestern nach dem Duschen verlassen hatte. Einer Eingebung folgend ging sie, die Zahnbürste im Mund, zur Tür des Apartments, die den kleinen Flur zum Rest des Hauses begrenzte. Dort steckte der Schlüssel von der Innenseite. Millimeterweise bewegte sie die Türklinke. Der Raum war abgesperrt. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, aber demnach musste sie selbst die Tür hinter sich verschlossen haben. Demnach war es auch möglich, dass sie sich selbst ausgekleidet und ins Bett gelegt hatte. Mit einem Achselzucken und merklich gehobener Stimmung kehrte sie ins Bad zurück und unterzog sich der Morgentoilette.
Als sie eine halbe Stunde später die Treppe hinunterkam, empfing sie Georg mit einem Lächeln in der Diele. Er hatte die Tür, aus der er herausgetreten war, nur angelehnt. Verführerischer Kaffeeduft stieg ihr in die Nase.
»Guten Morgen«, sagte er. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Und erholsam.«
»Was haben Sie mir in den Rotwein getan?«, erwiderte sie anstelle eines Grußes und stemmte dabei die Fäuste in die Hüften.
»Ach?« Er zog die linke Augenbraue in die Höhe. »Sie haben es bemerkt?« Er fasste sie mit beiden Händen an die Schläfen. »Und? Spüren Sie etwas?«
»Was geht es Sie an«, fauchte sie zurück.
Er lächelte immer noch. »Ich vermute … Tierkreiszeichen Löwe, so wie Sie fauchen. Dann habe ich das richtige Präparat in der richtigen Dosierung gewählt.«
»Was soll das? Warum haben Sie das gemacht?«
»Hätten Sie sonst so gut geschlafen?«, antwortete er mit einer Gegenfrage. »Sie sind ausgeruht und erholt.«
»Was soll das Ganze?«
»Sie haben sich mir aufgedrängt«, erinnerte er sie an den Vortag, »Dafür haben wir aber einen schönen Abend verbracht.«
»Wer sind Sie?«
Er lächelte. Dieses fast überheblich wirkende Lächeln, der leicht ironische Zug um seinen Mund, reizte Frauke.
»Georg.« Dabei verbeugte er sich leicht. »Aber das haben Frau Hauptkommissarin doch schon gestern in Erfahrung gebracht.«
Frauke stutzte. Sie hatte mit keiner Silbe erwähnt, dass sie Polizistin war. »Woher wissen Sie das?«
Er ließ nicht von seinem spöttischen Dauerlächeln ab und zeigte an ihr vorbei in Richtung Bibliothek.
Meine Handtasche!, schoss es Frauke durch den Kopf. Sie drehte sich auf dem Absatz um und eilte in den Raum, der tadellos aufgeräumt war. Die Terrassentür war einen Spaltbreit geöffnet, und die frische, noch etwas kühle Luft des Spätsommers strömte in den Raum. Die Tasche lag neben dem Sessel, in dem sie gestern gehockt hatte. Rasch öffnete sie das Behältnis und untersuchte den Inhalt. Pistole, Ausweispapiere, Handy, Portemonnaie. Alles war vorhanden. Sie kontrollierte die Anzahl der Patronen. Auch das stimmte. Von ihrem Handy war nicht telefoniert worden. Es lagen auch keine Anrufversuche vor. Auf die Kontrolle der Geldbörse verzichtete sie.
Georg stand an den Türrahmen gelehnt. »Ich mache andere Sachen, raube aber keine Handtaschen aus«, sagte er.
Frauke griff entschlossen ihre Tasche und klemmte sie sich unter den Arm. »Ich werde gehen.«
Georg schüttelte den Kopf, ohne seinen Platz zu verlassen. »Nein«, sagte er.
Blitzschnell fasste Frauke nach der Waffe und richtete sie auf den Mann. »Geben Sie den Weg frei.«
Er fing schallend an zu lachen, ohne sich durch ihre Drohgebärde beeindruckt zu zeigen.
»Was soll das?«, fragte er und zeigte auf die Pistole. »Wie wird das geahndet? Mundraub mit vorgehaltener Pistole? Sie bekommen auch ohne Einsatz von Waffengewalt Frühstück.« Er drehte sich um und kehrte ihr den Rücken zu. »Kommen Sie. Es ist gedeckt.«
Frauke steckte ihre Waffe wieder in die Tasche und folgte ihm in das Esszimmer. Tatsächlich war für zwei Personen eingedeckt. Auf dem Tisch standen zwei Platten mit Wurst und Käse, Honig, Marmelade, ein gekochtes Ei und frisch gepresster Orangensaft.
Georg setzte sich, schenkte Kaffee ein und sagte: »Ihre Präferenzen beim Genuss von Tee kenne ich ja nun. Wie Sie den Kaffee trinken, werden Sie mir jetzt verraten. So lerne ich Sie Stück für Stück besser kennen.«
Frauke nahm Platz und aß. Das Ei war auf die Minute genau wachsweich gekocht, der Schinken hauchfein geschnitten und so zart, dass er auf der Zunge zerging, und die Salate stammten mit Sicherheit aus einem Delikatessengeschäft.
»Wollen Sie mich damit beeindrucken?«, fragte sie zwischen zwei Bissen.
»Kann man das?«, erwiderte er.
»Wenn Sie wissen, dass ich Polizistin bin, können Sie mir vielleicht sagen, ob Sie dieses Motorrad kennen?« Sie holte die Fotografie von Stupinowitschs Maschine heraus.
Georg warf einen flüchtigen Blick darauf. »Eine Moto Guzzi«, stellte er fast beiläufig fest.
»Sie kennen das Krad?«
Er nickte. »Die Moto Guzzi – ja.«
»Auch diese bestimmte Maschine?«
»Das kann ich anhand einer Fotografie nicht sagen«, antwortete er lapidar und aß weiter.
Nach dem Frühstück wollte Frauke gehen, aber Georg ließ sie nicht. Er holte einen Schutzhelm, nötigte Frauke, ihn auszuprobieren und führte sie zum Motorrad. Sie erklomm den Sozius, klappte das Visier ihres Helms herunter und klammerte sich bei Georg fest. Ihre Hoffnung, durch die Fahrt Aufschluss über ihren Aufenthaltsort zu erhalten, wurde aber nicht erfüllt. Das Visier war so dunkel, dass sie so gut wie nichts erkennen konnte. Erst als sie durch die Welfenstraße am markanten Gebäude der Polizeiinspektion Ost vorbeifuhren, fand sie die Orientierung wieder. An der nächsten Ecke bog Georg in die Schützenstraße ab und hielt nach wenigen Metern vor dem Landeskriminalamt. Er half ihr vom Sozius und befreite sie vom Helm. Als sie hinters Motorrad gehen und einen Blick auf das Kennzeichen werfen wollte, hielt er sie am Ärmel fest.
»Ich habe Sie um nichts gebeten, aber das möchte ich nicht.«
»Wie kann ich Sie wieder erreichen?«, fragte Frauke.
Er lachte. »Ich melde mich bei Ihnen.« Dann zeigte er auf den Eingang. »Sie werden nun ins Haus gehen. Erst dann fahre ich ab.«
Sie überlegte, ob sie sich dem widersetzen sollte. Andererseits hatte Georg ihr gestern vorbehaltlos geholfen und weder den Aufenthalt in seinem merkwürdigen Haus noch ihren Blackout ausgenutzt. Sie verstand sich selbst nicht, verzichtete aber darauf, der Vernunft zu folgen und sich über seine Bitte hinwegzusetzen. Anhand der Einzelheiten, die sie sich gestern hatte merken können, würde sie das Haus wiederfinden. Und damit seine Identität. Da war sich Frauke sicher.
Im Landeskriminalamt waren die Flure leer und die Gänge verwaist. An dieser Tatsache zeigte sich, dass auch die Polizei nur eine Behörde war. Den geordneten Bürodienst konnten jedoch nicht alle Mitarbeiter wahrnehmen.
Frauke schaltete ihren Computer ein und fand eine ganze Handvoll neuer Nachrichten. Madsack hatte ihr mitgeteilt, dass man Blechschmidts Telefonverbindungen ausgewertet hatte. Der Verteiler der Arzneimittelfälschungen hatte gelegentlich eine Nummer in Weißrussland angerufen, die aber nicht weiter nachzuverfolgen war. Damit hatte er die Polizei belogen, als er erklärt hatte, über keine Kontaktdaten zu den Lieferanten zu verfügen, sondern stets angerufen worden zu sein. Sicher war der Rentner ein kleines Licht und in die Fänge dieser Leute geraten. Trotzdem ärgerte es Frauke, dass die Menschen die Polizei immer wieder unterschätzten und für dumm verkaufen wollten. Immerhin waren Madsacks Nachforschungen ein weiteres, wenn auch kleines Puzzleteil. Auch seine winzigen Fakten stützten den Nachweis, dass die Lieferungen über Weißrussland liefen.
Schwarczer hatte ebenfalls einen Tätigkeitsbericht in den Computer eingestellt. Er hatte Erkundigungen über die Motorradwerkstatt eingezogen, in der Stupinowitschs Maschine gewartet worden war. Es lag nichts gegen diesen Betrieb vor. Die Werkstatt war unverdächtig und unter Motorradkennern eine gute Wahl, schrieb der Kommissar. Außerdem hatte er Trapattonis Alibi geprüft. Mireille alias Agnezia Boronin, die als Animierdame im Sexclub arbeitete, hatte bestätigt, Mittwoch früh nach Feierabend mit ihrem »Kollegen« Massimo Trapattoni in dessen Wohnung gefahren zu sein. Ungefragt hatte sie angefügt, dass es dort immer wieder und bis in den späten Nachmittag hinein zu sexuellen Handlungen gekommen sei – »intensiv und ausdauernd«, hatte sie dabei ausdrücklich und mehrfach betont. Frauke drückte den Text weg. Das Intimleben anderer Leute interessierte sie herzlich wenig.
Danielo Battaligia, der als Strohmann Betreiber des Bordells war, war wegen unerlaubtem Schusswaffenbesitz, Körperverletzung und Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz vorbestraft, schrieb Schwarczer weiter und verwies auf die mögliche Verbindung zu Igor Stupinowitsch. Wenn das zutrifft, dachte Frauke, gäbe es den ersten konkreten Hinweis auf eine unheilvolle Allianz zwischen den Italienern und den Weißrussen.
Die Kriminaltechnik hatte einen Bericht geschickt. Bei der Waffe, mit der Friedrich Rabenstein ermordet wurde, handelte es sich höchstwahrscheinlich um ein Gewehr der Marke G3. Die Techniker zogen ihre Schlüsse aus dem verwendeten Kaliber und dem Geschoss, das die Rechtsmedizin bei der Obduktion aus dem Kopf des Rentners geborgen hatte.
Frauke war überrascht, was sich während ihrer Abwesenheit alles ereignet hatte. Als Letztes öffnete sie eine Nachricht von Jakob Putensenf.
»Es wäre schön, wenn Sie sich verabschieden würden, bevor Sie ins lange Wochenende verschwinden«, schrieb der Kriminalhauptmeister. Dann berichtete Putensenf, dass Bernd Richter einen Anwalt mit der Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen betraut hatte. »Richter hatte außerdem am Freitag Besuch. Das war vom Staatsanwalt genehmigt«, hatte er noch angefügt.
Frauke klopfte zornig gegen den Bildschirm. »Putensenf, das hat Methode«, schimpfte sie. »Jeder andere hätte ausführlicher geschrieben.« Es dauerte eine Weile, bis Frauke einen Beamten erreicht hatte, der sich zuständig fühlte, ihr weitere Informationen zu geben.
»Wie kommen Sie dazu, dem Untersuchungshäftling Außenkontakte zu gewähren?«, herrschte Frauke den verdutzen Mann an.
»Moment mal. Erstens habe ich das nicht zu verantworten, und zweitens sollten Sie sich in Ihrem Ton mäßigen.«
»Das ist unprofessionell und kontraproduktiv«, schimpfte Frauke. »Worüber haben Richter und sein Besucher gesprochen?«
»Ich bin nicht allwissend.«
»Dann sagen Sie mir wenigstens, wer der Besucher war.«
»Moment.« Frauke hörte, wie der Telefonhörer auf den Tisch gelegt wurde. Dann dauerte es eine Ewigkeit. Frauke hatte den Eindruck, der Beamte ließ sie extra lange warten, bis er sich wieder meldete. »Eberhard Annenmeyer.«
»Fein. Und wer ist das?«
»Ich kenne ihn nicht persönlich. Er hat sich ausgewiesen und wohnt in Wittingen.«
»Weiter. Alter, Anschrift. Beruf.«
»Annenmeyer wohnt in der Spörkenstraße und ist dreiundvierzig Jahre alt. Leider sind hier weder Schuh- noch Hutgröße vermerkt.«
»Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus. Was ist Annenmeyer von Beruf?«
»Das Gleiche wie Sie, vermutlich nur von einer etwas freundlicheren Art.«
»Der Mann ist Polizist?«
Der Beamte am anderen Ende der Leitung bestätigte es noch einmal. Dann beendete er ziemlich frostig das Gespräch.
Frauke schüttelte den Kopf. »Dilettantisch«, schimpfte sie und schüttelte den Kopf. »Das wäre in Flensburg nie passiert.« Sie suchte die Telefonnummer heraus und rief in Wittingen an. Zunächst hatte sie Schwierigkeiten, den Teilnehmer zu verstehen, weil im Hintergrund überlaute Musik dröhnte.
»Geht’s auch leiser?«, fragte sie.
»Nö«, antwortete eine Stimme an der Grenze zwischen Knabenchor und Jungmann, bequemte sich aber doch, die Lautstärke zu drosseln.
»Ich möchte Eberhard Annenmeyer sprechen.«
»Der ist nicht da.«
»Ist das dein Vater?« Frauke unterstellte, dass es sich um den Sohn handelte. Sie hatte das Du gewählt. Prompt erwiderte der junge Mann: »Was willst du denn von ihm?«
»Gibt es Themen, die nur Erwachsene etwas angehen?«
»Dann versuch doch selbst, ihn zu erreichen«, erwiderte der Sohn, wie Frauke vermutete, nachdem er nicht bestritten hatte, dass Annenmeyer sein Vater sei.
Frauke reichte es. Nach dem merkwürdigen Auftreten von Georg, Putensenfs unbefriedigenden Nachrichten und dem unfreundlichen Vollzugsbeamten hatte der junge Mann das Fass zum Überlaufen gebracht.
»Hör mal zu, du Schnösel. Hier ist das Landeskriminalamt. Und wenn du mir nicht augenblicklich sagst, wo ich deinen Vater erreichen kann, hat das ausgesprochen unangenehme Konsequenzen für dich. Und für deinen alten Herrn. Ist das klar?« Die letzten Worte waren so scharf ausgesprochen worden, dass es einen Augenblick ruhig blieb im Hörer. Sichtlich kleinlauter meldete sich der Junge wieder.
»Der ist zum Dienst.«
»In Wittingen?«
»Ja.«
»Wie heißt du? Damit ich deinem Vater erzählen kann, welchen Naseweis er sich da herangezogen hat.«
»Philipp«, kam es über die Leitung, dem ein gehauchtes »Entschuldigung« folgte.
»Denk das nächste Mal nach«, riet ihm Frauke, »und hör dir anständige Musik an, du oller Klütenkacker.« Dann legte sie auf in der Gewissheit, dass Philipp Annenmeyer ihre letzten Worte nicht verstanden hatte.
Frauke war zunächst versucht, Richter zu befragen, entschied sich dann aber doch, nach Wittingen zu fahren, um von Annenmeyer zu erfahren, was den Mann bewogen hatte, Bernd Richter im Untersuchungsgefängnis zu besuchen.
Sie besorgte sich aus dem Automaten einen Becher Kaffee und ärgerte sich über sich selbst, dass sie an einem Sonnabend oder Samstag, wie man hier zu sagen pflegte, der Versuchung erlegen war. Das Gebräu war abgestanden und schmeckte abscheulich. Nun hatte sie Geld geopfert, nur um die Leitung im Automaten zu reinigen.
Frauke atmete tief durch, als sie merkte, dass sie mit allem und jedem unzufrieden war. Ihr Missmut übertrug sich auch auf ihre Fahrweise. Es schien ihr, als wären an diesem Samstag nur Leute unterwegs, die es darauf abgesehen hatten, sie zu ärgern. Hinter Gifhorn fuhr sie durch das große Moor und das lang gestreckte Straßendorf Neudorf-Platendorf, das vor vielen Jahren bundesweit durch ausgedehnte Moorbrände in die Schlagzeilen geraten war, als auch – so schien es Frauke in der Erinnerung – die halbe Lüneburger Heide in Flammen gestanden hatte. Zur Rechten verbarg sich der bei Soldaten ungeliebte Truppenübungsplatz Ehra-Lessien, dahinter das VW-Versuchsgelände mit der Hochgeschwindigkeitsteststrecke.
Frauke war mit sich selbst zufrieden, da sie, zumindest in groben Zügen, um diese regionalen Besonderheiten wusste.
Die Kleinstadt Wittingen zeigte sich von der ruhigen Seite, die Frauke erwartet hatte. Hier, fernab der großen Zentren, wo die nächsten Städte Gifhorn, Salzwedel oder Uelzen hießen, schien alles eine Spur beschaulicher abzulaufen. Das Leben der Menschen war einen Gang heruntergeschaltet. Wer sich daran gewöhnt hatte, dachte Frauke, hatte für sich selbst mit Sicherheit Lebensqualität gewonnen. Auch wenn die nahe ehemalige deutsch-deutsche Grenze schon lange nicht mehr existierte, hatte Wittingen immer noch eine »Randlage«.
Das Polizeikommissariat war in einem unscheinbaren Gebäude am Grünen Weg, unweit des Krankenhauses, untergebracht. Von außen wirkte das Haus mit dem weißen Putz und dem roten Ziegeldach wie ein größeres Einfamilienhaus. Vor dem Haus parkten ein älterer Audi sowie der Streifenwagen.
Frauke musste eine Weile warten, bis ihr ein behäbig wirkender älterer Beamter mit grauen Haaren öffnete und sie mit hochgezogener Augenbraue ansah.
»Ich möchte den Kollegen Annenmeyer sprechen«, sagte Frauke, hielt dem Polizisten ihren Dienstausweis direkt vor die Nase und schob hinterher: »Dobermann. Ich komme vom LKA.«
»Ja, aber …«, sagte der Mann verdutzt.
»Wollen Sie mich vor der Tür stehen lassen?«
Der Beamte trat zur Seite. »Nein«, stotterte er. »Kommen Sie bitte mit, Frau äh …«
Frauke unterließ es, ihren Namen zu wiederholen, und folgte dem Polizisten in einen Aufenthaltsraum, in dem ein zweiter Beamter saß und aufsah.
»Eberhard. Da ist jemand vom LKA und will zu dir.«
»Zu mir?« Annenmeyer war rotblond, hatte aufgeblasene rote Wangen wie das Kind auf der Zwiebackpackung und sah Frauke erstaunt an. An den beiden silbernen Sternen auf der Schulterklappe erkannte Frauke, dass Annenmeyer Oberkommissar war. Er schob eine Papiertüte mit Berlinern zur Seite, aus denen sich die beiden Beamten offenbar bedient hatten.
Frauke drehte sich zum zweiten Polizisten um. »Ich würde gern allein mit dem Kollegen sprechen.«
Der Grauhaarige zuckte die Schultern, murmelte: »Ich bin im Büro«, und verließ den Raum.
Frauke folgte ihm. »Ich sagte: allein!« und schloss die Tür so schwungvoll, dass es knallte, nachdem der Beamte sie mehr als einen Spalt offen stehen lassen wollte.
Die Aktion hatte Annenmeyer sichtlich beeindruckt. Er sah Frauke aus großen Augen unsicher an.
»Sie haben Bernd Richter im Untersuchungsgefängnis in Hannover besucht. Warum?«
Annenmeyer öffnete den Mund, als wollte er antworten, doch dann schloss er die Lippen wieder. Er presste sie zusammen, als fürchtete er, etwas Ungewolltes auszusprechen.
»Annenmeyer, Sie sind Polizist und kennen die Spielregeln. Richter wird dringend des Mordes verdächtigt. Und das an einem Kollegen, an einem Polizisten wie Sie und ich.«
»Das muss noch bewiesen werden«, sagte der Beamte. Es klang trotzig.
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Wer hat Ihnen so etwas erzählt? Richter?«
»Bernd und ich waren zusammen in der Ausbildung, damals in Hannoversch Münden. Anschließend haben wir uns in Braunschweig wiedergetroffen und waren dort zwei Jahre zusammen, bis …« Der Mann sah an Frauke vorbei, bevor er fortfuhr. »Bis Bernd zur Kripo ging. Ich blieb noch in Braunschweig, bis ich hierherkam.«
»Was verbindet Sie mit Richter?«
»Wir waren Kollegen, gute Kollegen. Als Polizist fällt es schwer, Freundschaften zu schließen. Der Dienst – und so. Sie können kaum einem geregelten Hobby nachgehen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich der Freundeskreis oft auf die Kollegen ausrichtet.«
»Sie sind also mit Richter befreundet?«
»Ja.« Annenmeyer sprach leise. »Obwohl der Kontakt mal intensiver, dann wieder etwas lockerer war. Wir haben uns unregelmäßig gesehen.«
»Für eine lockere Freundschaft ist es aber ungewöhnlich, dass Sie Ihren Kumpel Richter in der Untersuchungshaft besuchen.«
Annenmeyers Hände strichen nervös über die Tischplatte, als würde er etwas wegwischen wollen.
»So locker war die Verbindung doch nicht.«
»Hatten Sie einen triftigen Grund, mit Richter zu sprechen?«
»Nun – ja. Wie gesagt … Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bernd ein Mörder ist.«
»Das glaubt man von den wenigsten Tätern.« Frauke kniff die Augen ein wenig zusammen und musterte Annenmeyer, der immer nervöser wurde und sich wegduckte, als könnte er sich dadurch unsichtbar machen.
»Führen Sie mich nicht an der Nase herum. Das haben heute schon andere versucht. Warum hat Richter um Ihren Besuch gebeten?«
Annenmeyer sah sie aus weit geöffneten Augen an. »Wieso? Woher wissen Sie …«, stammelte er, versuchte sich aber schnell zu korrigieren. »So war es nicht. Ich habe mit Bernd sprechen wollen.«
Frauke lehnte sich zurück. »Nur mal so. Weil Sie an einem Freitag nichts Besseres zu tun hatten. Woher wussten Sie überhaupt, dass Richter in Untersuchungshaft ist?«
Annenmeyer schien sich ein wenig zu fangen. »Aus der Zeitung. Und für diese Region ist die Schulenburger Landstraße zuständig.« Er nannte die Adresse der Justizvollzugsanstalt.
»Nein!«, widersprach ihm Frauke und zupfte mit den Fingern den Pullover auf ihrer Schulter in die Höhe, dort, wo Annenmeyer seine Schulterklappen trug. »Sie sollten im Interesse Ihrer Karriere bei der Wahrheit bleiben. Mit über vierzig erlernen Sie keinen anderen Beruf mehr. Wie wollen Sie Philipp klarmachen, dass er aus dem schönen Haus in der Spörkenstraße ausziehen muss? Wollen Sie ihm zumuten, durch eine Kleinstadt wie Wittingen Spießruten zu laufen, weil jeder hinter ihm hertuschelt, dass sein Vater als Polizeibeamter Verfehlungen begangen hat?«
»Ich habe doch nichts getan, nur Bernd Richter besucht. Ehrlich.«
Frauke streckte ihre Hand aus und zeigte mit dem Finger auf Annenmeyer. »Ich mag keine Leute wie Sie, die mit Mördern konspirieren. Wenn Sie mit der Mafia zu tun haben, ist Ihr Leben zu Ende«, drohte sie ihm und schnipste dabei mit den Fingern.
»Mafia?« Erschrecken stand dem Polizisten ins Gesicht geschrieben. »Welche Mafia?«
»Richter hat vermutlich im Auftrag der organisierten Kriminalität gehandelt, die man gemeinhin als Mafia bezeichnet, auch wenn in diesem Fall eine andere Vereinigung dahinterstecken mag.«
»Damit habe ich nichts zu tun.« Annenmeyer atmete schwer und wischte sich mit dem Hemdsärmel über die schweißnasse Stirn.
Frauke hatte eine Idee. »Hat Dottore Carretta Sie informiert?«
Der Polizist schüttelte sich, als hätte er Fieber. »Der Anwalt hat doch nichts mit der Mafia zu tun.«
Frauke atmete tief durch. »Also doch. Der Anwalt hat Sie angerufen. Weshalb?«
»Er vertritt Bernd«, antwortete Annenmeyer schwach. »Und Richter hat ihn gebeten, mich zu informieren.«
Das war eine faustdicke Überraschung für Frauke, dass Richter, der sich bisher geweigert hatte, sich rechtlich vertreten zu lassen, ausgerechnet den italienischen Anwalt als Verteidiger gewählt hatte. Der greise und auf den ersten Blick fast senil wirkende Advokat schien überall seine Finger im Spiel zu haben. Andererseits hatte die Gegenseite damit einen – weiteren – Fehler begangen. Wenn Richter dem Dottore das Mandat übertrug, dokumentierte er seine Verbindung zur Organisation. Auch die geschicktesten Verbrecher verstrickten sich oft in Kleinigkeiten.
»Woher kennen Sie den Anwalt?«
Annenmeyer hielt sich beide Hände vor den Bauch, als hätte er Leibkrämpfe. Als er sie ein wenig verlegte, sah Frauke die nassen Abdrücke auf dem Uniformhemd. Dem Mann schoss der Schweiß aus allen Poren.
»Dr. Carretta hat den Vertrag aufgesetzt«, sagte er mit kaum wahrnehmbarer Stimme. Immerhin, registrierte Frauke, hatte der Polizist »Dr. Carretta« und nicht »Dottore« gesagt.
»Was für einen Vertrag?«
»Als Polizist, Sie wissen …« Annenmeyer schluckte schwer. »Als Polizist verdienen Sie nicht übermäßig. Meine Frau konnte nicht mitarbeiten, weil wir neben Philipp noch ein krankes Kind haben. So war es damals schwierig, eine Hypothek für das Haus zu bekommen. Uns fehlte es am nötigen Eigenkapital. Und hier, in Wittingen, können Sie nur schwer eine Wohnung bekommen. Das Angebot ist sehr dürftig.«
»Sie haben Geld genommen?« Frauke hatte in ihre Frage alle Schärfe gelegt.
»Um Gottes willen. Nein!« Es klang wie ein Aufschrei. »Bernd hat mir damals geholfen, einen Kreditgeber zu finden, der das fehlende Eigenkapital ersetzt hat. Wir haben einen regulären Kreditvertrag gemacht, mit Zinsen und so.« Annenmeyer seufzte. »Ich zahle dafür sogar wesentlich mehr Zinsen, als ich bei einer normalen Bank zu entrichten hätte. Ich kann das alles belegen. Monat für Monat.«
»Wer ist der Kreditgeber?«
»Einer aus Hannover. Ein Gastwirt. Danielo Battaligia.«
Frauke war nicht überrascht. Battaligia hielt als vermeintlicher Strohmann die Geschäftsanteile für den Sexclub in Hannover, hinter dem Igor Stupinowitsch stecken sollte.
»Gastronom?«, fragte Frauke mit deutlichem Zynismus in der Stimme. »Ihr Baugeld stammt aus einem Bordell.«
Annenmeyer presste die Hände noch fester vor seinen Leib. Plötzlich würgte er, sprang auf und rannte aus dem Raum. Dabei fiel sein Stuhl polternd nach hinten.
Die Tür zum Nebenraum wurde aufgerissen, und der grauhaarige Polizist steckte seinen Kopf durch den Türspalt. »Was ist denn hier los?«, fragte er mit einem drohenden Unterton. Dann hielt er inne, als er und Frauke durch die geöffneten Türen vernahmen, wie Annenmeyer eine Sturzentleerung des Darms durchlitt.
Frauke stand auf. »Ich bin hier fertig«, sagte sie und nickte mit dem Kopf in Richtung der Nasszellen, aus der jetzt zu vernehmen war, dass Annenmeyers Übelkeit auch den Magen erfasst hatte, dessen Inhalt sich einen anderen Weg ins Freie suchte. »Kümmern Sie sich um Ihren Kollegen.« Sie verließ ohne weitere Erklärung das Polizeikommissariat in der an einem Wochenende so friedlichen Kleinstadt Wittingen.
Frauke hatte für die Rückfahrt den Weg über Celle gewählt. Sie war schon auf Höhe Burgdorf, als sich ihr Handy meldete. Das Display zeigte einen anonymen Anrufer an. Sie drückte auf den Knopf für die Freisprecheinrichtung und meldete sich mit »Ja«.
»Hallo«, vernahm sie eine männliche Stimme. Über Lautsprecher klang sie ein wenig verzerrt, dennoch erkannte Frauke sie.
»Woher haben Sie meine Nummer?«
»Wollen Sie mich nicht zunächst einmal begrüßen und mir erklären, dass Sie sich über meinen Anruf freuen?«, erwiderte Georg.
»Gibt es einen Grund dafür?«
»Ja. Schließlich haben wir einen angenehmen Abend miteinander verbracht.«
»Was kann ich für Sie tun?«, antwortete Frauke schnippisch. Sie war sich selbst nicht sicher, ob sie sich über den Anruf freuen oder ärgern sollte. Woher kannte Georg ihre Handynummer? Selbst wenn er am Morgen ihre Handtasche durchgesehen hatte, gab es dort keinen Hinweis auf den Anschluss. Er musste sich folglich das Gerät näher angesehen und die Funktion »eigene Rufnummer« aufgerufen haben. Das missfiel ihr.
»Och«, sagte Georg. »Wenn Sie so direkt fragen … Nehmen Sie meine Einladung für heute Abend an. Ich möchte mit Ihnen essen gehen. Und bevor Sie mit einer Ausrede kommen … Sie haben in der letzten Nacht erholsam geschlafen. Das Argument, Sie bräuchten die Nachtruhe, zählt also nicht.«
Frauke musste innerlich schmunzeln. »Bei Ihnen zu Hause? Und welche Droge wollen Sie mir dann verabreichen?«
»Keine. Und ich möchte Sie auch an einen neutralen Ort führen.«
»Gut«, entschied Frauke. »Aber den bestimme ich.«
Georg schien für einen Moment enttäuscht. »Was schlagen Sie vor?«
»Ich möchte mit Ihnen zu einem Italiener.«
»Pizza und so?«, fragte er. Es klang ein wenig geringschätzig.
»Genau. Und zwar in Jeans.« Frauke legte Betonung auf diese Worte, nachdem sie sich an das Ambiente in Georgs Haus und die üppige Auswahl zum Frühstück erinnerte.
»Welchen Verhandlungsspielraum habe ich?«
»Keinen.«
Georg seufzte. »Schön. Dann hole sich Sie um halb acht ab.«
Der Mann wurde ihr immer unheimlicher. Woher kannte er ihre Anschrift? Sie hatte sich noch nicht umgemeldet, und in ihren Papieren stand noch die alte Adresse. Sie wollte etwas erwidern, aber Georg hatte schon aufgelegt.
Sie hatte Glück und fand einen Parkplatz in der Lister Meile unweit ihrer Wohnung. Aufmerksam sah sie sich um und suchte nach verdächtigen Leuten. Die Straße war mäßig frequentiert, aber niemand erregte ihr Misstrauen. Sie verschloss sorgfältig ihr Fahrzeug und ging langsam zum Hauseingang. Unterwegs blieb sie vor jedem zweiten Schaufenster stehen, sah sich um und suchte nach einem Verfolger. Aber sie konnte niemanden entdecken. Alle Passanten schienen harmlos zu sein.
Mit großer Anspannung betrat sie das Treppenhaus, stets in der Erwartung, dass jemand hinter einem Mauervorsprung lauern könnte. Du bist übersensibilisiert, schalt sie sich selbst. Woher sollte ein Verfolger wissen, ob und wann sie wieder ihre Wohnung betreten würde? Niemand würde sich so lange im Treppenhaus aufhalten, schon gar nicht unentdeckt.
Bevor sie die Wohnungstür aufschloss, entnahm sie ihrer Handtasche die Waffe und lud sie durch. Das Schloss war durch zwei Umschließungen gesichert, so wie sie es hinterlassen hatte. Im Flur empfing sie der muffige Geruch, der immer noch in den Räumen waberte. Obwohl es heller Tag war und genügend Tageslicht aus den Räumen auf den Flur fiel, knipste sie das Licht an. Die nackte Glühbirne, die provisorisch an zwei Drähten von der Decke hing, tauchte den Korridor in ein kaltes Licht. Mit gespannter Aufmerksamkeit und der Waffe in Vorhalte suchte sie alle Räume ab, sah in die Kammer und in die Schränke. Nichts. Die Wohnung war leer. Es sah auch nicht so aus, als hätte sich ein ungebetener Besucher während ihrer Abwesenheit hier aufgehalten.
Frauke verschloss die Haustür und balancierte ein leeres Glas auf dem Türgriff. So würde sie hören, wenn sich jemand heimlich Zugang verschaffen sollte.
Dann brühte sie sich einen Kaffee auf, verrichtete ein paar Handgriffe im noch ungeordneten Haushalt und schaffte es dabei sogar, sich ein wenig abzulenken.
Sie ärgerte sich über sich selbst, als sie registrierte, dass sie zwischendurch oft auf die Uhr sah. Noch erstaunter war sie, als sie sich ins Badezimmer zurückzog, sich sorgfältig zurechtmachte und auch die Auswahl ihrer Kleidung kritisch vollzog. Bei einem prüfenden Blick in den Spiegel überlegte sie, wie lange es her war, dass sie so viel Mühe aufgewandt hatte, weil sie sich mit einem Mann traf.
Auf die Minute genau klingelte ihr Handy. Georg teilte ihr mit, dass er vor der Haustür auf sie warten würde. Hatte er nicht an der Haustür geklingelt, weil er aufgrund des fehlenden Namens nicht wusste, welcher Knopf ihr gehörte? Oder war es seine an den Tag gelegte Zurückhaltung?
Georg begrüßte sie mit Handschlag. Er hatte legere Kleidung gewählt, die aber trotzdem den edlen Herrenausstatter verriet.
»Wohin?«, fragte er.
»Ich habe kein Ziel«, sagte Frauke. »Bummeln wir ein wenig.«
»Einfach so?«
Ein wenig mürrisch beugte sich Georg ihrem Wunsch und schritt an ihrer Seite scheinbar planlos durch die Straßen. Frauke versuchte, unauffällig nach einem System die Gegend abzulaufen, während sie nach italienischen Restaurants Ausschau hielt. Sie hatten nach gut eineinhalb Stunden Fußmarsch eine Handvoll entdeckt und inspiziert, aber Frauke hatte stets bekundet, ihr würde das Lokal nicht zusagen.
»Wenn Sie mir Ihre Wünsche offenbaren, könnte ich vielleicht behilflich sein«, sagte Georg. »Außerdem fällt mir auf, dass Sie nach einem festen Plan strukturiert die Gegend erkunden. Suchen Sie etwas?«
»Nein«, bestritt Frauke und merkte selbst, wie schwach ihr Argument klang.
Als sie auf die nächste Pizzeria stießen, weigerte sich Georg weiterzulaufen. Frauke willigte ein und folgte ihm. Es war ein italienisches Restaurant mit einer umfangreichen Karte, auf der sich all das fand, was der deutsche Gast als »typisch italienisch« erachtete.
Der Kellner war freundlich, das Essen genießbar, ohne dass Frauke ins Schwelgen verfiel, der Rotwein rustikal und ehrlich, und Georg erwies sich – wieder einmal – als kurzweiliger und unterhaltsamer Begleiter.
Obwohl Frauke mehrfach den Versuch unternahm, ihn auszufragen, nach seinem Namen, seinem Beruf oder anderen persönlichen Dingen, wich er stets aus. Es schien ihm fast eine diebische Freude zu bereiten, sich geheimnisvoll zu geben.
Frauke achtete sorgfältig darauf, dass Georg ihr nichts ins Glas geben konnte, und als sie irgendwann von der Toilette zurückkehrte, bat sie den Kellner um ein neues.
Georg lachte. »Sie trauen mir alles Böse zu.«
»Solange Sie sich nicht offenbaren – ja.«
Erneut zeigte er ein fast jugendlich-frisches Lachen. Dabei zogen sich die Falten um seine Augen zusammen. »Ich genieße es, Frau Hauptkommissarin, wenn Sie gegen mich ermitteln.«
»Das sollten Sie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Im Übrigen ist meine Nähe nicht ungefährlich, wie Sie gestern selbst gesehen haben.«
Georg war immer noch belustigt. »Ich liebe Gefahr. Ansonsten bin ich mir sicher, dass mir niemand etwas zuleide tut.«
Frauke hielt in der Bewegung inne. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Ach nichts«, wiegelte Georg ab. Zum ersten Mal vermeinte Frauke, eine Unsicherheit bei ihm festzustellen. Schnell wich er auf ein anderes, belangloses Thema aus und schien fast ein wenig verstimmt, als Frauke zwingend nach einer Erklärung suchte.
Der Mann war ihr ein Rätsel. Er unternahm weder verbal noch handgreiflich einen Annäherungsversuch, obwohl er sich nicht mit versteckten Komplimenten zurückhielt.
Es war kurz vor Mitternacht, als der Kellner sie zum Aufbruch mahnte. Sie waren die letzten Gäste.
Georg begleitete Frauke bis zu ihrer Haustür.
»Wo haben Sie Ihr Motorrad stehen?«
Georg lächelte und zeigte auf seine Kleidung. »Ich bin mit dem Auto gekommen.«
»So etwas haben Sie auch?«, fragte Frauke mit spitzer Zunge zurück.
»Ich habe vieles, aber nicht alles«, erwiderte er.
Dann verabschiedete er sich mit einem angenehmen Händedruck, ohne auch nur andeutungsweise den Versuch zu unternehmen, mit ihr in die Wohnung zu gelangen. Nachdenklich kehrte Frauke in ihre vier Wände zurück. Der Mann war ihr ein Rätsel.