7

Hinterher schämte Joel sich.

Der Barfußmann glaubte wahrscheinlich, daß er zu denselben Leuten wie Simon Urväder gehörte. Zu den Verrückten.

»Um Himmels willen, was machst du denn da?« hatte der Barfußmann gerufen. »Willst du mittenrein in den Heizkessel gehen?« Er hatte Joel am Jackenkragen gepackt und ihn zur Seite gerissen. »Wenn du in den Kessel fällst, kann dir niemand mehr helfen«, fuhr der Barfußmann fort. »Hast du nicht gesehen, daß die Luken offenstanden?« Natürlich hatte Joel es gesehen. Er hatte ein Gefühl gehabt, als stände er vor einem hungrigen Raubtier, das seinen Rachen mit tausend brennenden Zungen aufsperrte. Und der Rachen hatte ihn angezogen.

»Was ist los mit dir, Junge«, sagte der Barfußmann und sah ihn bekümmert an. »Hat dir niemand beigebracht, daß Feuer gefährlich ist?«

»Warum gehst du barfuß?« fragte Joel.

Manchmal war es das beste, man antwortete, indem man eine Gegenfrage stellte.

»Es ist so warm im Heizungsraum«, sagte der Barfußmann. »In den Schuhen schwellen die Füße an. Da lauf ich lieber barfuß. Wie heißt du übrigens?«

»Samuel«, sagte Joel.

Der Barfußmann lächelte.

»David und Samuel«, sagte er. »Man merkt, daß ihr Brüder seid.«

Joel sah sich in der Unterwelt um. Der große Heizkessel stand mitten in einem großen Raum. Aus Leitungen und Ventilen zischte und dampfte es.

Das Raubtier in der Unterwelt, dachte Joel. Hier wird es gefangengehalten.

»Wohin geht all diese Wärme?« fragte er. Er mußte rufen, damit der Barfußmann ihn hörte. Der war gerade dabei, große Holzkloben in den Rachen des Raubtiers zu werfen.

»Zum Krankenhaus und Pfarrhof und zum Altersheim und dem Rathaus und vielen anderen Häusern«, brüllte er zurück.

»Wie heißt er?« rief Joel.

Der Barfußmann richtete sich auf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. »Heißt?« fragte er. »Ich heiß Jan Nilson.«

»Ich mein den Heizkessel«, sagte Joel.

»Heizkessel haben keine Namen«, sagte der Barfußmann. »Oder hast du einen Vorschlag?«

Joel dachte nach. Der Heizkessel war wie ein Drache. Ein feuerspuckendes Raubtier.

»Herrscher des Feuers«, sagte er.

Der Barfußmann nickte. »Ein guter Name«, sagte er. »Herrscher des Feuers.«

Dann warf er noch ein paar Holzklötze ins Feuer und schloß die Luken. Er gab Joel ein Zeichen, ihm zu folgen, und führte ihn an sich schlangelnden Rohrleitungen entlang und kam zu einer weiteren Stahltür. Die öffnete er, indem er an einem dicken Eisengriff drehte. Die Tür führte in einen langen Korridor, der von einigen Glühlampen beleuchtet wurde. Die Luft war rauh und feucht, und Joel fragte sich, ob der Barfußmann keine kalten Füße bekam.

Er blieb plötzlich stehen. »Weißt du, wo wir hier sind?« Joel schüttelte den Kopf.

»Genau unter der Kirche«, sagte der Barfußmann. »Genau unter dem Fußboden der Kirche.«

Joel sah hinauf zur Decke des steinernen Korridors. War das wirklich möglich? Die ganze Kirche über seinem Kopf? Wenn die Decke nun einmal einstürzte! Dann würde er nicht auf dem Friedhof, sondern in der Kirche selbst begraben werden…

»Du hast doch keine Angst?« sagte der Barfußmann. »Das stürzt nicht zusammen.«

Sie gingen weiter. Der Korridor schien kein Ende zu nehmen. Es ging um scharfe Ecken, manchmal abwärts, manchmal aufwärts.

Wohin gehen wir, dachte Joel.

Schließlich blieb der Barfußmann vor einer weiteren Stahltür stehen.

»Kloake Eins« las Joel auf einem Schild.

Der Barfußmann öffnete die Tür. Joel betrat einen Raum, der voller Werkzeug und zerlegter Maschinen war. »Er ist nicht da«, sagte der Barfußmann.

»Schade«, sagte Joel und dachte, wie gut das war. Dann würde der erfundene kleine Bruder nicht entlarvt. »Wahrscheinlich ist er unterwegs und repariert ein Rohr«, fuhr der Barfußmann fort. »Aber wenn du willst, kannst du in meiner Kajüte warten.«

Kajüte! Gab es denn Kajüten in der Unterwelt? Joel hatte nur von Kajüten an Bord von Schiffen gehört.

Er folgte dem Barfußmann auf demselben Weg, den sie gekommen waren.

»Wo sind wir jetzt?« fragte Joel, als sie um eine Ecke bogen.

Der Barfußmann lächelte.

»Genau zwischen dem Schuhgeschäft und Leanders Konditorei«, antwortete er.

Er zeigte auf eine Eisenleiter, die in der Steinwand verankert war.

»Wenn du hier raufkletterst und den Deckel öffnest, kommst du bei der Konditorei raus«, sagte er. In der Unterwelt zu sein, ist ein großes Erlebnis, dachte Joel. Wenn man Häuser, Straßen, Füße und alles über seinem Kopf hat.

Der Käsemann, der David hieß und hier unter der Erde arbeitete, war bestimmt ein guter Mann für Gertrud. Und nicht nur für sie, sondern auch für Joel. Er kannte niemanden, der hier in der Unterwelt gewesen war. Er dachte hastig, daß er den Namen seines Geheimbundes ändern würde. Jetzt suchte er ja nicht mehr nach einem Hund, also mußte er sich einen neuen Namen einfallen lassen.

Herren der Unterwelt, dachte er. Der Käsemann und ich könnten das sein…

»Hier die Kajüte«, sagte der Barfußmann und blieb stehen.

Sie waren wieder in der Nähe des Raubtieres. Joel hörte das Getöse.

»Ich muß Holz nachwerfen«, sagte der Barfußmann. »Warte so lange hier drinnen.«

Joel betrat die Kajüte des Barfußmannes. Der Raum war nicht groß, kaum größer als ein Kellerverschlag. An einem Kabel baumelte eine einsame Glühlampe von der Decke. Es gab einen wackligen Tisch und ein paar Klappstühle. An den Wänden hingen Bilder, die aus Zeitungen gerissen waren. Darauf waren fast nackte Frauen. Eine Frau erinnerte Joel an Sara. Jedenfalls hatte sie genauso große Brüste wie Sara. Joel setzte sich auf einen Stuhl. Nachdem er sich zurechtgesetzt hatte, löste sich die Lehne. Er stellte den Stuhl zurück und setzte sich auf einen anderen. Aber der quietschte und knarrte so sehr, daß er sich nicht traute, sitzen zu bleiben. Er setzte sich lieber auf eine umgedrehte Bierkiste, die in der Ecke stand.

Alles war still. Durch die dicken Wände und die geschlossene Tür war das Raubtier nicht zu hören. Die Stille der Unterwelt war eine neue Stille. Joel lauschte. Er stellte sich vor, das Haus, in dem er mit Papa Samuel wohnte, wäre genau über seinem Kopf. Das Haus, das eigentlich ein Schiff war, das an seinen Ankerketten riß und auf Wind wartete.

Aber wenn das Haus ein Schiff war, dann war die Unterwelt der Meeresgrund. Und dort saß Joel auf einer Bierkiste …

Plötzlich wurde es schwer, alle Gedanken auseinanderzuhalten.

Joel spürte die beiden Geldmünzen in seiner Tasche. Wenn er sie klirren ließ, verschwanden Meeresboden und Ankerketten.

Er erhob sich und ging im Raum herum. Die halbbekleideten Frauen auf den herausgerissenen Zeitungsseiten sahen ihn an. Warum kam der Barfußmann nicht wieder?

Hatte der Herrscher des Feuers ihn verschlungen? Joel warf sich mit einem Tigersprung gegen die Tür. Vielleicht hatte der Barfußmann ihn eingesperrt? Die Tür war offen.

Joel schob sie vorsichtig auf und spähte in den Korridor. Das Stahltor zum Saal des Raubtiers war angelehnt. Joel beschloß, sich davonzuschleichen. Er brauchte weder auf den Barfußmann noch auf David zu warten. Er wußte ja, daß David der richtige Mann für Gertrud war. Er würde ihr den Herrscher der Unterwelt als seine gute Tat anbieten. Wie sollte sie der Gabe widerstehen können? Aber der Barfußmann würde sich vielleicht wundern, wenn Joel einfach verschwand. Und David würde sich Gedanken machen, wer wohl sein unbekannter kleiner Bruder sein mochte.

Joel schob die Tür zum Saal des Raubtiers auf. Es lärmte und donnerte, und die Wärme schlug ihm ins Gesicht. Weit entfernt zwischen den Rohren sah er den Barfußmann Holzkloben in den aufgerissenen Rachen werfen. Als Joel bei ihm ankam, hatte er gerade den letzten Holzkloben hineingeworfen und richtete sich auf. »Ich muß gehen«, sagte Joel. »Aber grüß David von mir. Vielleicht komm ich morgen wieder.«

Der Barfußmann wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus der Stirn. »Ich wußte gar nicht, daß David einen kleinen Bruder hat«, sagte er.

Ich wußte auch nicht, daß ich einen großen Bruder hab, dachte Joel.

»Findest du allein raus?« fragte der Barfußmann. Joel nickte.

Der Barfußmann öffnete ihm die schwere Tür. Dann wuselte er ihm durchs Haar. »Ähnlich seht ihr euch wirklich nicht«, sagte er. »David ist blond, und du bist braun wie ein alter Fuchs.«

»Wir haben verschiedene Mütter«, sagte Joel. »Ich muß jetzt gehen.«

Als er wieder in der großen Halle ankam, war sie immer noch leer. Der Telefonhörer schaukelte an seiner Schnur.

»Tschüs!« rief Joel, so laut er konnte. Es hallte zwischen den Wänden wider. Dann lief er hinaus zu seinem Fahrrad.

Vor Leanders Konditorei hielt er an und betrachtete den Gullydeckel auf der Straße. Da unten war er gewesen. Tief in der Unterwelt.

So schnell er konnte, fuhr er zum Kiosk am Bahnhof hinauf. Hustenbonbonschachteln mit Fußballbildern konnte man an vielen Stellen kaufen. Beim Kiosk am Bahnhof hatte er am meisten Glück gehabt. Da hatte er noch nie fette Ringerbilder bekommen.

Er kaufte acht Schachteln. So viele hatte er noch nie in der Hand gehabt. Er ging in den Wartesaal und setzte sich auf eine Bank in einer Ecke. Hin und wieder warf er einen Blick zum Fahrkartenschalter. Der Bahnhofsvorsteher, der Knif hieß, mochte es nicht, wenn man sich im Wartesaal aufhielt, ohne auf Reisen zu sein. Wenn man nicht aufpaßte, schlich er sich an und packte einen am Ohr. Außer Joel war nur noch eine alte Frau im Wartesaal, die in einer Ecke saß und schlief. Joel fürchtete schon, Knif könnte sie hören und sich heranpirschen, weil sie so laut schnarchte.

Joel öffnete die erste Schachtel und steckte sich einen Hustenbonbon in den Mund. Er war gelb und schmeckte säuerlich. Dann nahm er vorsichtig das Sammelbild heraus. Ein Handballspieler. Gösta Blomgren. Der war nichts wert, zwar nicht so schlecht wie ein Ringer, aber trotzdem nichts wert. Joel kannte nur zwei Jungen, die Handballspieler sammelten.

Er nahm es gelassen hin. Noch waren sieben Schachteln übrig. Ein Handballspieler konnte ihm noch keine schlechte Laune verursachen. Er warf einen Blick zum Fahrkartenschalter und öffnete die nächste Schachtel. Er zerbiß den Rest vom Bonbon und steckte sich zwei neue in den Mund. Er brauchte nicht sparsam zu sein. In jeder Schachtel waren mindestens zweiundzwanzig. Einmal hatte er eine Schachtel bekommen, in der waren sogar vierundzwanzig. Aber nie waren es weniger als zwanzig. Er hatte sie mehrere Jahre gezählt und Statistiken darüber geführt.

Das nächste Sammelbild. Ein Eishockeyspieler. Anders »Acka« Anderson. Mit großen Augen glotzte er Joel an. Joel kicherte bei dem Gedanken, daß »Acka« geschrumpft war, bis er in die Schachtel paßte. Wie ein Plattbild. Ein Plattkopf.

Eishockeyspieler waren ganz gut. Die konnte man leicht tauschen. Hatte man drei oder vier gute Eishockeyspieler, konnte man sie gegen ein seltenes Fußballerbild tauschen.

Als Joel die fünfte Schachtel öffnete, fand er einen Ringer. Einen richtig fetten Ringer, der Arne Blumgren hieß.

Blumenkohl, dachte Joel wütend und stopfte sich vier Bonbons in den Mund. Immer noch kein Fußballspieler. Er hatte kein Glück mehr. Ein Handballspieler, zwei Eishockeyspieler, ein Bandy-Idiot, und jetzt ein Ringer. Nur noch drei Schachteln. Jetzt riß er die Deckel von allen dreien fast gleichzeitig ab. Noch ein Ringer! Zweimal derselbe Ringer. Blumenkohl! Wie zum Teufel war das möglich? Wie wurden diese Schachteln eigentlich gepackt? Aus Rache steckte Joel sich den Inhalt einer ganzen Schachtel in den Mund. Nicht ein einziger Fußballspieler in acht Schachteln! Auf den beiden letzten Bildern waren ein Radfahrer und eine Fechterin. Ein Mädchen, das sich mit einer Art Säbel schlug. Wie kamen die bloß darauf, ein Weib in eine Hustenbonbonschachtel zu stecken?

Joel war außer sich. Er sah auf die schlafende Alte in der Ecke. Der Mund stand offen, und die Zunge hing heraus.

Vorsichtig tappte er über den Fußboden und legte ihr das Bild mit dem Fechtweib auf die Zunge.

Dann lief er raus und knallte die Bahnhofstür so laut zu, wie er konnte.

Auf dem Weg zu seinem Fahrrad warf er wütende Blicke zum Kiosk hinüber. Wenn er gekonnt hätte, er hätte befohlen, daß sich die Erde öffnet und der ganze Kiosk von dem Raubtier da unten verschluckt würde.

Es war fast elf. Er merkte, daß er Hunger hatte. Er schüttete sich den Inhalt einer weiteren Schachtel in den Mund und fuhr nach Hause. Als es den Hügel abwärts zur Lagerverwaltung und zum Haus des Tierarztes ging, ließ er den Lenker los und schloß die Augen. Er hielt sie geschlossen und zählte ganz schnell bis zehn. Bevor er zwölf Jahre alt wurde, wollte er blind fahren und dabei bis fünfundzwanzig zählen können. Das hatte er beschlossen. Als er in die Küche kam, goß er sich als erstes ein großes Glas Milch ein und kippte die restlichen Bonbons auf die Wachstuchdecke. Hundertdreiundzwanzig Stück. Wären es Perlen gewesen, er wäre reich.

Er legte die Bonbons zurück und steckte die Schachteln in den Schuhkarton, den er unter seinem Bett verwahrte. Auf den Deckel hatte er einen schwarzen Totenkopf gemalt, und niemand würde es wagen, den Karton zu öffnen. Ein Bindfaden, der unter dem Deckel heraushing, könnte auch eine Zündschnur sein…

Als er wieder in die Küche kam, merkte er, daß er Bauchschmerzen hatte. Noch nicht sehr schlimm. Aber irgendwas zog da drinnen.

Er saß ganz still am Küchentisch und wartete, ob es schlimmer werden würde. Aber es blieb bei diesem schwachen Ziehen.

Er atmete auf. Bauchschmerzen mochte er nicht. Schmerzen zu haben tat weh. Wenn man richtige Magenschmerzen hatte, solche Schmerzen, daß einem die Tränen in die Augen traten, schmerzte der ganze Körper. Sogar die Gedanken im Kopf taten weh.

Er saß ganz still, um sich zu vergewissern, daß die Schmerzen nicht zunahmen. Langsam zählte er bis hundertdreiundzwanzig. Dann konnte er wirklich aufatmen. Heute würde er keine Bauchschmerzen kriegen.

Nichts war so schön, wie keine Schmerzen zu haben. Plötzlich war er voll Unternehmungslust. Jetzt würde er den großen Plan entwerfen. Wie konnte er Gertrud und den Käsemann zusammenbringen?

Erneut ging er in Gedanken durch, was er in Büchern darüber gelesen hatte, wie sich Erwachsene kennenlernten und beschlossen zu heiraten. Aber von all dem, woran er sich erinnerte, war nichts gut.

Samuel und Mama Jenny fielen ihm ein. Sie hatten einander Briefe geschrieben. Das hatte Samuel einmal erzählt. Einmal hatte sein Schiff in einer Werft in Göteborg zur Reparatur gelegen. Zusammen mit ein paar anderen Seeleuten war Samuel an einem Abend an Land gegangen. Auf einem Fußweg war er gestolpert und Mama Jenny geradewegs in die Arme gefallen.

So konnte man sich also kennenlernen und einen Sohn bekommen, der Joel hieß und der ein Mirakel erlebte. Man stolpert auf einem Fußweg und fällt auf jemanden. Und dann schreibt man sich Briefe.

Samuel hatte erzählt, daß er Mama Jenny damals auf dem Fußweg dazu überredet hatte, ihm ihre Adresse zu geben. Dann hatte er ihr aus allen ausländischen Häfen geschrieben. Und in einem Brief hatten sie ein Treffen irgendwo in Göteborg verabredet. In einem Park hinter einer Statue. Joel überdachte das Ganze langsam.

Es so zu arrangieren, daß der Käsemann auf einem Fußweg stolperte und Gertrud geradewegs in die Arme fiel, war wohl zu schwer. Also mußte er mit den Briefen anfangen.

Sie könnten einander geheime Briefe schreiben und ein geheimes Treffen verabreden. Dann würde sicher alles von selbst gehen.

Geheime Briefe, die Joel Gustafson schreiben würde.

Aber wie schrieb man so einen Brief eigentlich? Das wußte er nicht.

Die Bibliothek, dachte er. Dort muß es ein Buch geben, das von geheimen Briefen handelt. So ein wichtiges Buch mußte es einfach geben!

Er sah auf die Küchenuhr. Es würde noch Stunden dauern, ehe Frau Arvidson die Bibliothek öffnete. Er mußte sich gedulden…

Um vier Uhr waren nur noch zweiundsiebzig Bonbons übrig. Da stürmte er die Treppe hinunter und radelte zur Bibliothek.

Frau Arvidson, die Bibliotheksleiterin, war sehr streng. Immer fand sie, daß man die verkehrten Bücher auslieh. Außerdem verbot sie Kindern, die Bücher auszuleihen, die sie gern wollten. Mehrere Male hatte Joel Bücher über Mord und andere Verbrechen auf ihren Tresen gelegt. Dann hatte sie jedesmal den Mund verzogen und gesagt, sie wären für Kinder verboten.

Joel konnte sich nicht vorstellen, daß ein Buch darüber, wie man geheime Briefe schrieb, für Kinder verboten war. Warum sollte man warten müssen, bis man fünfzehn war, ehe man das lernte?

Trotzdem hatte er beschlossen, vorsichtig zu sein. Lautlos öffnete er die Tür, machte einen tiefen Diener und zog die Stiefel aus. Dann ging er zwischen den Regalen hin und her und nahm einige religiöse Bücher heraus. Mit ihnen auf dem Arm kehrte er zum Ausleihtresen zurück. Frau Arvidson musterte die Buchtitel und nickte zufrieden. Dann begann sie zu stempeln. Jetzt war es soweit. »Ich suche noch ein Buch, in dem steht, wie man geheime Briefe schreibt«, sagte Joel.

Frau Arvidson sah ihn verständnislos an. »Geheime Briefe?«

»Liebesbriefe«, sagte Joel. »Geheime Liebesbriefe.« Plötzlich fing Frau Arvidson an zu lachen. Joel dachte, daß er bestimmt der erste Mensch auf der Welt war, der sie lachen hörte. Rundherum schauten erstaunte Gesichter zwischen den Bücherregalen hervor. Frau Arvidson lachte. Sie jaulte vor Lachen.

Sie lachte, bis Joel auch anfing zu lachen. Da wurde sie wütend.

»Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe«, sagte sie. »Ein Buch darüber, wie man geheime Briefe schreibt. Natürlich gibt es so ein Buch nicht.«

»Liebesbriefe«, versuchte Joel noch einmal. »Mein Papa will das haben, nicht ich.«

Papa Samuels Namen zu benutzen war ungefährlich, fand Joel. Er ging ja doch nie in die Bibliothek.

»Wenn dein Papa Liebesbriefe schreiben will, dann schafft er es auch allein«, sagte Frau Arvidson. »Liebesgedichte haben wir. Aber keine Liebesbriefe.«

»Vielleicht gehen die auch«, sagte Joel.

Frau Arvidson sah ihn einen Augenblick an. Dann ging sie zu einem Regal und kam mit zwei dünnen Büchern zurück.

»Das hier sind schöne Liebesgedichte«, sagte sie und begann zu stempeln. »Aber nächstesmal muß dein Papa selber kommen, wenn er Bücher haben will.«

Joel fuhr nach Hause und setzte die Kartoffeln auf. Dann fing er an, in den dünnen Büchern zu lesen. Meistens ging es um Rosen und Dornen. Tränen und verzweifelte Sehnsucht. Besonders das Wort Sehnsucht kam häufig vor.

Wenn er und Papa Samuel gegessen hatten, würde er die Briefe schreiben. Einen Brief von Gertrud an den Käsemann. Einen vom Käsemann an Gertrud.

Er hatte sich ein paar Bogen Briefpapier und Umschläge aus Samuels Zimmer genommen.

Der große Plan war fertig…

Aber als er nach dem Essen auf seinem Bett saß, das Briefpapier auf einem Seekartenbuch als Schreibunterlage, da war es gar nicht so einfach.

Wo sollten sie ihr geheimes Treffen verabreden? Im ganzen Ort gab es keine Statue. Es gab kaum einen Park. Außerdem mußte es eine Stelle sein, wo Joel sich in der Nähe verstecken konnte, damit er hörte, was sie miteinander redeten.

In Gedanken wanderte er durch den ganzen Ort. Hin und wieder blieb er stehen, ehe er weiterging. Nichts war wirklich gut. Der Friedhof war abends zu gespenstisch.

Auf dem Fußballplatz gab es keine Beleuchtung. Dort würden sie einander nicht einmal finden.

Schließlich, als er schon aufgeben wollte, fiel ihm die Lösung ein: Pferdehändler Unders Garten.

Der war groß und lauschig, und der Pferdehändler hatte nichts dagegen, wenn auch andere Leute darin spazieren gingen. Dort gab es ein kleines Vogelbad, das am ehesten einer Statue gleichkam.

Pferdehändler Under war außerdem nicht zu Hause. Im Herbst reiste er immer nach Süden, um Pferde zu kaufen.

Joel konnte sich hinterm Holzschuppen verstecken. Von dort waren es nur wenige Meter bis zum Vogelbad.

Das war der Platz! Samstagabend um acht.

Dann schrieb er die beiden Briefe. Gertruds Brief schrieb er mit der rechten Hand, den Brief vom Käsemann mit der linken, damit sich die Schrift unterschied. Mit links zu schreiben war am schwersten. Die Buchstaben neigten sich nach allen Seiten, und er kriegte einen Krampf in den Fingern. Aber endlich waren die Briefe fertig.

Er las noch einmal durch, was er geschrieben hatte. Zuerst Gertruds Brief.

»Warte Samstagabend um acht im Garten des Pferdehändlers beim Vogelbad auf mich. Dornen der Verzweiflung, falls Du nicht dort bist. Eine heimliche Bewunderin.« Wegen dieser »Dornen der Verzweiflung« war Joel unsicher. Er hatte die Wörter aus einem der Gedichte ausgesucht. Aber was bedeuteten sie eigentlich? Er hatte sie gewählt, weil eine Frau die Gedichte geschrieben hatte.

Der Brief vom Käsemann war länger. Joel stellte sich vor, daß Männer längere Briefe schrieben als Frauen. Aber vielleicht war es auch umgekehrt ?

»Geliebtes Herz, warte am Vogelbad auf mich, Samstagabend um acht. Ich warte auf Dich nach tausend Jahren Sehnsucht. Ich küsse Deine Tränen. Muß ich verzweifeln? Ein heimlicher Bewunderer.«

Joel faltete die Briefe zusammen und klebte die Umschläge zu.

In dem Augenblick kam Samuel ins Zimmer. »Schreibst du Briefe?« fragte er.

»Ich hab Kataloge bestellt«, antwortete Joel schnell. »Es ist lange her, daß ich Briefe geschrieben habe«, sagte Samuel. Seine Stimme klang traurig, fand Joel.

»Du kannst mir ja mal schreiben«, sagte er. »Ich versprech dir, ich antworte auch.«

Samuel lächelte.

»Es ist spät«, sagte er. »Leg dich schlafen, damit du morgen aus dem Bett kommst.«

Eigentlich hatte Joel noch an diesem Abend losfahren und die Briefe in Gertruds Briefkasten und den vom Käsemann stecken wollen. Aber er war zu müde. Das mußte warten bis zum nächsten Tag.

Der Abend am nächsten Tag war kalt. Die Kälte knisterte unter den Gummireifen, als Joel losfuhr. Er stellte das Fahrrad am Bahnhof ab und lief über die Brücke zu Gertruds Haus. Vor dem Gartentor blieb er stehen. Ihr Schatten zeichnete sich gegen die Vorhänge ab.

Jetzt tu ich meine gute Tat, dachte Joel und steckte den Brief in ihren Briefkasten.

Vor Taxi-Lasses Hof war es ganz still. Joel hatte das Fahrrad in einer Seitengasse gelassen und schlich sich vorsichtig im Schatten an. Jetzt war er wieder General Custers Botschafter, der mit einem Brief, der Leben oder Tod bedeutete, durch Feindesland schlich.

Am Zaun hingen zwei Briefkästen. Er beugte sich vor und entzifferte die Namen, obwohl die Straßenlaterne weit entfernt war.

Dann warf er den Brief ein.

Endlich war es erledigt!

Samstagabend würde die gute Tat vollbracht sein. Dann konnte er sich auf sein Geographiespiel konzentrieren. Ein besserer Fußballspieler werden und sich einen richtigen Freund suchen.

Er fuhr nach Hause. Der Ort war verlassen. Am Hotel fuhr ein Auto vorbei.

Joel stellte sein Fahrrad im Schuppen ab.

Da fiel ihm ein, was er getan hatte.

Er hatte nicht David Lundberg auf den Umschlag geschrieben.

Er hatte Käsemann geschrieben.

»An den Käsemann von einer heimlichen Bewunderin.« David konnte nicht wissen, daß er der Käsemann war. Und wahrscheinlich würde es ihm nicht gefallen, mit Käse verglichen zu werden.

Teufel, dachte Joel. Ich bin ein Idiot, ein Idiot, ein Idiot!

Alles kaputt.

Er setzte sich auf die kalte Außentreppe.

Wie hatte er nur Käsemann auf den Umschlag schreiben können?

Wie konnte ein Mensch so blöd sein!