10

General Custer, dachte Joel.

Oder Geronimo. Oder beide zusammen. Mit dem hier wären sie nicht fertig geworden. Nicht mal zusammen! Als er begriffen hatte, daß Samuel und Sara an diesem Abend wirklich zu Kringströms Musik tanzen wollten, hatte er ein Gefühl gehabt, als ob alles verloren wäre. Die gute Tat, die er mit so viel Mühe organisiert hatte und jetzt nur noch zu Ende bringen wollte, würde nie getan werden.

Er war wieder am Ausgangspunkt. Genau wie an dem Tag, als er sich für den falschen Pfad in Simon Urväders Labyrinth entschieden hatte. Die gute Tat war etwas, woraus er nie einen Ausweg finden würde. Er würde sich mit ihr herumschlagen, bis er so alt war, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Er saß in seinem Zimmer und fluchte. Er murmelte alle Flüche vor sich hin, die ihm einfielen. Er erfand neue Flüche. Die ganze Zeit summte Samuel in der Küche. Er füllte die große Badewanne mit warmem Wasser. Dann rief er nach Joel, er solle kommen und ihm den Rücken schrubben. Joel dachte, lieber würde er ihm die Bürste an den Kopf hauen. Warum mußte er ausgerechnet heute abend mit Sara ausgehen? Warum nicht nächsten Samstag? Warum nicht jeden anderen Samstag, nur heute nicht?

Warum kapierten Erwachsene nicht, wann sie nicht tanzen gehen durften ?

Joel schrubbte, und Samuel grunzte. Wenn die Bürste mit einem Schlafmittel vergiftet gewesen wäre, wäre Samuel eingeschlafen und erst morgen wieder aufgewacht. Joel würde Kringström und sein Orchester bezahlen, er würde das ganze Gemeindehaus mieten, nur damit Sara und Samuel miteinander tanzen durften. Nur heute abend nicht! Aber die Bürste war nicht vergiftet, und Samuel summte vor sich hin. Er stand in einer kleinen Wasserpfütze und rasierte sich.

»Heute essen wir bei Sara«, sagte er zufrieden. »Dann gehen wir tanzen. Du kannst bei ihr zu Hause bleiben und Radio hören, wenn du willst.«

»Nein«, sagte Joel.

»Warum nicht«, sagte Samuel. »Sara kann gut kochen, besser als du und ich zusammen.«

»Ich will nicht«, sagte Joel.

Da wurde Samuel ärgerlich. Oder irritiert. Joel kannte den Unterschied nicht genau.

»Ausnahmsweise wird das getan, was ich sage«, sagte Samuel.

»Nein«, sagte Joel und leerte die Badewanne. Er goß einen Eimer Schmutzwasser nach dem anderen in den Abfluß der Spüle.

»Was willst du denn essen?« fragte Samuel.

Ich werde verhungern, dachte Joel.

Aber er sagte es natürlich nicht.

»Ich mach mir selbst was«, sagte er statt dessen. »Du hast doch gesagt, daß ich schon so selbständig bin. Oder etwa nicht?«

»Das hab ich vielleicht gesagt«, antwortete Samuel. »Ich begreif bloß nicht, warum es so schwer geworden ist, mit dir umzugehen.«

Joel gab keine Antwort.

Samuel war auch still.

Noch eine Stille, dachte Joel. Wieder eine andere als die im Wald oder in der Unterwelt.

Um sechs band Joel Papa Samuel den Schlips. »Und du willst wirklich nicht mitgehen?« fragte Samuel noch einmal.

»Ich möchte am liebsten zu Hause bleiben«, antwortete Joel.

»Mach, was du willst«, sagte Samuel. Dann ging er. Joel winkte ihm nicht nach. Er ging geradewegs in sein Zimmer. Dort legte er sich auf sein Bett und zog sich die Decke über den Kopf. In eineinhalb Stunden sollte er an der Hintertür vom Gemeindehaus sein. So hatten sie es verabredet. Aber jetzt wurde nichts draus.

Er richtete sich heftig auf. »Teufel!« schrie er. Dann legte er sich wieder hin, den Kopf unter der Decke. Warum läuft alles verkehrt, dachte er. Man macht es richtig. Und trotzdem wird es verkehrt. Warum ist das Leben so anstrengend?

Er stand auf. Es wurde ja nicht besser, wenn er im Bett lag und sich die Decke über den Kopf zog. Er sah auf die Küchenuhr. Siebzehn Minuten nach sechs.

Ich pfeif drauf, dachte er. Der Käsemann und Gertrud müssen ohne mich klarkommen. Und wenn es Gott gibt, bleibt er ohne Dank für das Mirakel. Er kann mir die Polizei auf den Hals schicken, wenn er will. Mir, Joel Gustafson, ist das egal…

In diesem Augenblick beschloß er, sich zu verkleiden. Er könnte sich ja so maskieren, daß ihn niemand erkannte. Er könnte sich hinter dem dicken Schlagzeuger verstecken, der Holmström hieß. Der dickste Mann im ganzen Ort. Der fetteste Schlagzeuger der Welt.

Er sah wieder auf die Uhr. Vierundzwanzig Minuten nach sechs. Jetzt fluchte er, weil er nicht eher draufgekommen war.

Joella, dachte er. Ich verkleide mich als Mädchen. Zu Kringström kann ich ja sagen, daß mein Bruder Joel leider krank geworden ist. Aber ich möchte auch gern lernen, Saxophon zu spielen…

Es geht nicht, dachte er im nächsten Moment. Ich kann doch nicht Mama Jennys Kleid anziehen. Und was anderes gab es nicht.

Er sah wieder auf die Uhr. Fast halb sieben. Als es zehn nach sieben war, hatte er immer noch keine Idee, wie er sich verkleiden sollte. Jetzt mußte er gehen. Noch einmal beschloß er, zu Hause zu bleiben. Aber kaum hatte er die Decke über den Kopf gezogen, hüpfte er wieder aus dem Bett. Er mußte gehen! Er holte Samuels Hut aus dem Schrank, den er einmal in Hüll gekauft hatte. Den drückte er sich auf den Kopf. Dann nahm er Samuels Ersatzbrille und ließ sie auf der Nase baumeln. Das war alles. Er stürmte die Treppe hinunter und hinaus in den kühlen Abend. Bald ist es Winter, dachte er. Bald kommt Schnee.

Er lief so schnell, daß er Seitenstiche kriegte. Er mußte stehenbleiben und Luft holen. Dann lief er weiter. In dem Augenblick, als er die Kirchturmuhr zweimal schlagen hörte, war er beim Gemeindehaus. Kringströms großer Ford war rückwärts auf den Hof gefahren. Die Orchestermitglieder waren dabei, die Instrumente auszuladen. Der fetteste Schlagzeuger der Welt trug die große Baßtrommel vor sich her, als ob er einen zweiten Bauch hätte. Auf dem Autodach balancierte der Bassist herum und löste die Taue vom Kasten der Baßgeige. Joel wußte, daß er Rost hieß. Aber war das ein Vorname oder ein Nachname? In dem Augenblick kam Kringström mit Direktor Engman aus der Hintertür. Joel blieb stehen, als er hörte, daß die beiden sich stritten.

»Natürlich müssen wir eine Glühlampe in unserem Umkleideraum haben!« brüllte Kringström. »Sollen wir uns etwa im Dunkeln umziehen und in den Pausen ohne Licht Kaffee trinken?«

»Ihr trinkt keinen Kaffee«, antwortete Engman wütend. »Ihr trinkt Schnaps, und dann seid ihr so beduselt, daß ihr kaum noch die Instrumente halten könnt.«

»Nimm das zurück!« brüllte Kringström. »Sonst kannst du dir ein anderes Orchester suchen.«

Der Streit hörte genauso schnell auf, wie er angefangen hatte. Engman verschwand brummend durch die Hintertür.

Joel kam heran.

Kringström sah ihn erstaunt an.

»Was ist das denn«, sagte er, »ein Zwerg mit Hut?« »Ich bin's. Ich will doch Saxophon spielen lernen«, sagte Joel und lüftete den Hut. Kringström brach in Lachen aus. Dann erklärte er den anderen Orchestermitgliedern, wer Joel war. Als ob Joel ein Erwachsener wäre, gaben sie ihm alle der Reihe nach die Hand. Rost hieß Einar mit Vornamen. Der fetteste Schlagzeuger der Welt hatte eine so große Hand, daß es ein Gefühl war, als ob Joels Hand darin verschwände.

»Wir müssen uns beeilen«, rief Kringström. »Gleich stürzt sich die Wolfsmeute auf uns!«

Joel half Instrumente tragen.

»Welche Wolfsmeute?« fragte er Rost.

»Das Publikum«, sagte Rost. »Es ist eine Wolfsmeute. Wenn wir nicht gut spielen, fressen sie uns auf.« Bald waren die Instrumente ausgepackt, die Notenblätter lagen in der richtigen Reihenfolge, und sie fingen an, ihre Instrumente zu stimmen. Hin und wieder nahmen sie einen Schluck aus einer Flasche, die von Hand zu Hand ging. Direktor Engman kam auf die Bühne und sagte, er habe eine neue Glühlampe eingeschraubt.

»Jetzt ziehen wir uns um«, sagte Kringström zu Joel. »Bleib auf der Bühne und paß auf die Instrumente auf.«

Joel ist allein auf der Bühne. Plötzlich ist der Saal vor der Tribüne voller Menschen. Alle warten darauf, daß Joel Gustafsons Orchester anfängt zu spielen. Joel tut das, was er meint, tun zu müssen. Er stampft auf den Fußboden, zählt bis vier und hebt das Saxophon an den Mund.

Kringström steht hinter den Kulissen und bindet sich eine Fliege. Er bemerkt Joels Soloauftritt und macht den anderen aus dem Orchester ein Zeichen. Dann kommen sie auf die Bühne gestürzt und beginnen auch, auf eingebildeten Instrumenten zu spielen. Als Joel sie kommen sieht, hört er auf zu spielen. Aber Kringström feuert ihn an. Noch eine Stille, denkt Joel. Das Orchester der lautlosen Instrumente.

Plötzlich ertönt Kringströms Stimme.

»Jetzt müssen wir uns aber wirklich umziehen, bevor die Wolfsmeute kommt.«

»Das klang richtig gut«, sagt der fetteste Schlagzeuger der Welt und klopft Joel mit seiner riesigen Hand auf die Schulter.

Joel wird rot. Es war doch nur ein Spiel! Ein Spiel, für das jemand, der bald zwölf Jahre alt wird, zu alt ist. Plötzlich spürt er die Unruhe wieder herankriechen. Kein Spiel der Welt kann die Wirklichkeit ändern. Sie ist, wie sie ist. Bald kommen Sara und Samuel. Und Gertrud und der Käsemann. Und die Wolfsmeute.

Er betrachtet den hohen Vorhang, der hinter dem Orchester hängt. Er ist wie ein riesiges Gemälde, größer als das Altargemälde in der Kirche. Auf dem Gemälde ist Sommer. Ein blauer glitzernder See. Grüne Birken. Am Himmel hängt eine Möwe. Joel geht hinter den Vorhang. Dort ist es staubig und dunkel. Aber eigentlich ist er aus dem Herbst in den Sommer hineingestiegen. So müßte es sein. Man müßte in einem Haus wohnen, in dem jedes Zimmer eine andere Jahreszeit ist. Da könnte man wählen. Die Küche könnte Sommer sein und das Schlafzimmer Frühling. Die Vorratskammer Winter und der Vorraum Herbst. Er entdeckt ein Guckloch im Vorhang. Mitten durch eine der weißen Birken kann er in den Saal hinaussehen. Jetzt kommen die Leute. Mädchen mit aufgesteckten Haaren auf hohen Absätzen. Jungen in schwarzen spitzen Schuhen und gelecktem Haar. Joel sieht, daß bei den Schwingtüren am hinteren Ende des Saals Gedränge herrscht. Direktor Engman fuchtelt mit den Armen. Plötzlich wird es schwarz vor Joels Augen. Rost geht über die Bühne und stimmt seine Baßgeige. Mehr und mehr Leute strömen in den Saal. Das Licht ist gedämpft. Es ist schon sehr laut. Die Mädchen stehen in Trauben an der einen Wand. Joel weiß, daß sie Wand der spitzen Gipfel genannt wird. Auf der anderen Seite sind die Jungen. Jemand scharrt über den Fußboden wie ein Pferd. Ein anderer haut jemandem auf den Rücken. Mehr und mehr Leute kommen. Aber Sara und Samuel nicht. Und der Käsemann und Gertrud auch nicht. Das Orchester hat Platz genommen. Eine Reihe Lämpchen entlang des Bühnenbodens leuchtet rot und gelb. Joel hinter dem Vorhang wird fast geblendet. Jetzt tragen alle Orchestermitglieder rote Jacken. Kringström hat schon ein schweißnasses Gesicht.

Dann fangen sie an zu spielen. Zu Anfang tanzen nicht viele. Manche Jungen pirschen sich an die Wand der spitzen Gipfel heran, kehren aber wieder um. Joel behält die ganze Zeit die Schwingtüren im Auge, wo Engman die Wolfsmeute in Schach zu halten versucht. Immer noch ist keiner von denen, auf die Joel wartet, gekommen. Es wird langsam eng im Saal. Gedränge an den Schwingtüren. Engman fuchtelt mit den Armen. Jetzt spielt das Orchester ein neues Stück. Das ist schneller. Jetzt tanzen schon mehr. Vor der Tribüne steht ein Trupp Jungen und beobachtet das Orchester. Sie tanzen nicht. Sie stehen nur da und hören zu.

Da entdeckt Joel Sara und Samuel. Engman fuchtelt mit den Armen, und Sara und Samuel bahnen sich einen Weg durch das Gedränge.

Hier können sie mich nicht sehen, denkt Joel. Nicht, wenn ich mich hinter einer Birke verstecke.

Jetzt tanzen sie. Samuel hält Sara umfaßt. Er scheint zu hoppeln. Er streckt den Hintern heraus und schiebt Sara vor sich her. Joel hinter der Birke fängt an zu lachen. So hat er Samuel noch nie gesehen. Er folgt Sara und Samuel mit Blicken und vergißt ganz, die Schwingtüren zu überwachen. Erst als der Tanz zu Ende ist und Samuel sich den Schweiß aus dem Gesicht wischt, fällt Joel ein, daß er aufpassen muß, wer hereinkommt. Das Gedränge an den Türen ist weniger geworden. Den Käsemann und Gertrud kann er nicht entdecken.

Samuel ist daran schuld, denkt er wütend. Wenn er Sara nicht angeschleppt hätte, hätte er nicht vergessen, die Schwingtüren im Auge zu behalten.

Jetzt spielt das Orchester wieder. Sara und Samuel tanzen. Joel späht durch das Loch. Plötzlich entdeckt er den Käsemann. Sein Nacken taucht flüchtig zwischen den Tanzenden auf. Aber es ist doch nicht der Käsemann. Es ist jemand anders. Und wo ist Gertrud?

Sie kommen nicht, denkt Joel. Auch diesmal ist es wieder schiefgegangen…

Es ist anstrengend, durch das Loch in der Birke zu gucken. Er muß vorgebeugt stehen, um etwas sehen zu können. Als das Orchester aufhört zu spielen, streckt er sich. Er geht weiter vor und guckt neben dem Birkenwald aus den Kulissen heraus. Der fetteste Schlagzeuger der Welt wischt sich den Schweiß aus der Stirn. Kringström legt das Saxophon beiseite und nimmt die Klarinette.

»Siam Blues«, ruft Kringström. »Macht ihr mit?« Er stampft auf den Fußboden, und Joel stampft auch. Als Kringström den ersten Ton bläst, entdeckt Joel den Käsemann.

Er steht in dem Haufen vor der Tribüne und sieht zum Orchester herauf.

Joel zieht sich hastig in den Schatten der Kulissen zurück. Hat er sich wieder getäuscht? Nein, es ist der Käsemann. Er ist gekommen!

Sehnsuchtsvoll schaut er zum Orchester herauf. Hin und wieder bewegt er die Lippen, als ob er auf einem unsichtbaren Saxophon spielte. Genau wie Joel. Plötzlich dreht er sich um und guckt hinter sich. Er sucht nach Gertrud, denkt Joel. Aber es ist nicht Gertrud, die da gekommen ist. Jemand hat dem Käsemann in den Rücken gestoßen. Er sieht wütend aus. Er schüttelt die eine Schulter, um sich Platz zu verschaffen im Gedränge.

Dann wird es ganz schwarz vor Joel. Der fetteste Schlagzeuger der Welt hat seinen Hocker ein bißchen verrückt und ist genau vor dem Guckloch gelandet. Joel sieht nichts mehr. Vorsichtig stellt er sich wieder in die Kulissen. Da ist es nicht so gut wie hinter der Birke. Wenn der Käsemann plötzlich den Kopf dreht, kann er Joel bemerken. Und alle Tanzenden auch. Jetzt muß er in mehrere Richtungen gleichzeitig gucken. Man müßte mehr Augen haben, denkt er. Mindestens zehn dazu.

Als das Orchester eine Pause macht, ist Joel bedrückt. Warum kommt Gertrud nicht, denkt er. Sie muß sich doch gefreut haben über den neuen Brief vom Käsemann. »Was machst du hier?« fragt plötzlich eine Stimme hinter ihm.

Joel ist erschrocken und springt fast auf die Bühne. Es ist Direktor Engman. Er sieht wütend aus.

»Was hat ein Kind hier zu suchen?« sagt er und guckt noch wütender. »Das hier ist nur für Erwachsene. Hast du dich reingemogelt?«

Nichts kann Direktor Engman wütender machen, als wenn sich jemand in den Tanzsaal oder ins Kino mogelt. Joel hat schon viele Geschichten über Engmans Wut gehört.

»Ich gehör zum Orchester«, sagt er. Er kann nichts dagegen machen, daß seine Stimme zittert.

Direktor Engman starrt ihn an.

»Bist du Kringströms Sohn?« fragt er.

»Ja«, antwortet Joel, »das ist mein Papa.«

»Na ja«, sagt Engman. »Dann darfst du bleiben.« Er verschwindet hinter den Kulissen. Was wohl passiert, wenn er mit Kringström redet, denkt Joel. Aber er beruhigt sich damit, daß die beiden wahrscheinlich nicht mehr als nötig miteinander reden. Gute Freunde sind sie nicht. Jetzt ist der Käsemann weg. Vor der Tribüne ist es ganz leer. Joel beugt sich vor und späht hinaus in den Saal. Er sieht Gedränge an der Tür, die zum Cafe führt. Nirgends kann er den Käsemann entdecken. Auch Samuel und Sara sind nicht zu sehen. Rasch beschließt er, sein Guckloch in der Birke zurückzuerobern. Wenn er den Hocker bei den Schlagzeugen etwas beiseite schiebt, sitzt ihm der fetteste Schlagzeuger der Welt nicht mehr im Weg. Wieder guckt er in den Saal. Da unten sind Leute. Aber niemand schaut zur Tribüne. Er macht einen Satz auf den Hocker zu. Natürlich stolpert er über einen Notenständer. Als er einen Arm hebt, um sich abzufangen, trifft er eins der Becken. Es kracht und hallt wider im Saal. Als er zwischen den Schlagzeugen hinfällt, verliert er Hut und Brille. Den Hut setzt er sich sofort wieder auf. Aber die Brille muß er unter der Baßtrommel hervorangeln. Dann stürzt er wieder hinter die Kulissen. Auf der anderen Seite der Bühne entdeckt er den fettesten Schlagzeuger der Welt, der mißtrauisch seine Instrumente beäugt. Joel zieht sich in den Schatten zurück. Der große Mann auf der anderen Seite zuckt mit den Schultern und verschwindet wieder. Joel kann aufatmen. Er geht wieder zu seinem Platz hinter dem Vorhang zurück. Unten auf dem Tanzboden steht Sara und guckt ihn an. Geradewegs in die Augen.

Also ist er entdeckt! Joel weiß, daß es sinnlos ist, wieder in den Schatten zu tauchen. Sara muß irgendwo da unten im Saal gewesen sein, den Krach der Instrumente gehört haben, und da hat sie ihn erkannt.

Aber wo ist Samuel? Hat er ihn auch schon bemerkt? Er sieht Sara an. Sie starrt zurück, als ob sie ihren Augen nicht traute. Dann lächelt sie plötzlich. Lächelt und schüttelt den Kopf. Gleichzeitig entdeckt Joel Samuel. Er kommt aus dem Café.

Joel legt einen Zeigefinger auf die Lippen. Versteht Sara ihn?

Doch, sie versteht. Sie nickt und legt auch einen Zeigefinger auf die Lippen.

Joel zieht sich zurück. Jetzt ist er nicht mehr zu sehen. Aber er kann Samuels Stimme hören.

»Warum stehst du hier herum und guckst ?« fragt er. »Da war eine Katze in den Kulissen«, antwortet Sara. »Eine Katze?« fragt Samuel erstaunt.

»Vielleicht hab ich mich auch getäuscht«, sagt Sara. »Es war wohl doch nichts.«

Joel steht bewegungslos im Schatten. Es ist eine große Sache, wenn man beginnt, einen Menschen zu lieben. Jetzt liebt er Sara. Sie hat nichts verraten. Sie hat ihn in eine Katze verwandelt. Sie hat verstanden, daß sie ein Geheimnis bewahren muß.

Sie muß sich ja wundern, denkt Joel und beschließt, ihr zu erzählen, warum er hier ist. Irgendwann mal wird er es ihr erzählen. Später.

Das Orchester kommt zurück, und das Stimmengewirr im Saal wird wieder lauter. Sara und Samuel verschwinden im Gewimmel. Joel späht zu der Wand, wo die Mädchen stehen. Keine Gertrud. Aber der Käsemann ist wieder da. Er steht mitten im Kreis von anderen jungen Männern vor der Bühne. Sie stecken die Köpfe zusammen. Anscheinend sehen sie sich irgendwas an. Aber wie er auch den Hals reckt, Joel kann nicht erkennen, was es ist. Kringström beginnt zu stampfen. Er stampft und stampft, die rotgelben Lämpchen gehen an, und er setzt das Saxophon an den Mund. Aber die Gruppe vor der Bühne dreht dem Orchester den Rücken zu. Sie lachen über etwas, was sie da sehen. Das Saxophon spielt, aber die Männer lachen. Der Käsemann lacht lauter als die anderen. Da erkennt Joel, worüber sie lachen.

Der Käsemann hat ein Stück Papier in der Hand. Ein Papier, das Joel wiedererkennt.

Der Brief von Gertrud. Der Brief, den er selbst geschrieben hat. Auf Papa Samuels Briefpapier.

Joel erstarrt. Der Käsemann zeigt den Brief von Gertrud herum. Er zeigt seinen Freunden den geheimen Brief. Und sie lachen. Sie lachen so laut, daß das Saxophon fast nicht mehr zu hören ist.

Eben hat er angefangen, einen Menschen zu lieben. Sara. Jetzt fängt er an zu hassen. Den Käsemann. Und als er merkt, daß sie aufhören zu lachen und der Käsemann den Brief zerreißt und die Papierschnipsel zu Boden flattern läßt, wo ihn tausend Absätze in den Dreck treten werden, da haßt Joel ihn mehr, als er je einen Menschen gehaßt hat. Es ist, als ob der Käsemann auf Gertrud herumgetrampelt wäre.

Joel geht. Er geht die Treppe zum Hinterausgang hinunter, wo sie die Instrumente abgeladen haben. Er öffnet die Tür und geht hinaus. Es ist Herbst geworden. Kalt und sternklar. Das Saxophon ist fast nicht mehr zu hören. Aber in seinem Kopf hallt das Lachen des Käsemanns wider. Vor dem Gemeindehaus ist es laut. Da sind alle, die Engman nicht eingelassen hat. Jemand steht gegen ein Fallrohr gelehnt und übergibt sich. Aus einem Auto tönt Musik von einem mit Batterie betriebenen Grammophon. Plötzlich entdeckt er Gertrud.

Sie steht im Schatten auf der anderen Straßenseite. Sie steht da und schaut zu dem erleuchteten Eingang herüber. Geh nicht hin, denkt Joel. Geh nach Hause. Der Käsemann ist nichts wert. Ich hab mich geirrt…

Da macht Gertrud einen Schritt nach vorn. Jetzt steht sie im Licht einer Straßenlaterne. Joel sieht, daß sie ihren besten Mantel trägt. Den sie aus Vorhangstoffen und Kleidern genäht und mit einer Borte aus Fuchsfell besetzt hat. Dort, wo ihre Nase gewesen wäre, steckt ihr feinstes Taschentuch aus chinesischer Seide.

Jetzt überquert sie die Straße in Richtung Eingang. Joel läuft auf sie zu. Mitten auf der Straße bleibt er vor ihr stehen.

»Joel«, sagt sie erstaunt, »was hast du denn für einen Hut auf?«

»Geh nicht rein«, sagt Joel. »Tu's nicht.«

»Ich hab Lust zu tanzen«, sagt sie.

»Geh nicht rein«, wiederholt Joel.

Sie sieht ihn verwundert an. »Was ist mit dir los?« fragt sie. »Ich bin da drinnen mit jemandem verabredet.« »Ich weiß«, sagt Joel. »Geh nicht rein.«

Verständnislos sieht Gertrud ihn an. Dann wird sie ernst. Sehr ernst. Ihre Stimme klingt scharf. Wie ein Messer, denkt Joel. Jetzt schneidet sie mich.

»Was weißt du?« fragt sie. Sie redet so laut, daß ein paar Jugendliche, die um ein Auto herumlungern, aufmerksam werden und zuhören.

»Was weißt du? «Sie brüllt fast. »WAS WEISST DU?«

»Ich hab die Briefe geschrieben!« schreit Joel. »Aber ich hab nichts Böses gewollt!«

Gertrud sieht ihn mit starren Augen an.

»Ich hab nichts Böses gewollt«, wiederholt Joel. »Ich dachte, du und der Käsemann, ihr könntet heiraten.« »Käsemann!« ruft sie. »Wovon redest du eigentlich?« Sie packt ihn am Arm. Schüttelt ihn. Neugierige kommen näher, bilden einen Kreis um sie. Ein Auto, das nicht vorbeikann, hupt schrill.

»Wovon redest du eigentlich?« brüllt sie wieder. »Ich hab die Briefe geschrieben!« schreit Joel. Sie sieht ihn an. Langsam begreift sie.

Dann gibt sie ihm eine Ohrfeige. Hut und Brille fallen herunter und rollen gegen den Bordstein. Sie hat so hart zugeschlagen, daß es in Joels Kopf brummt. Er ist fast umgekippt. Wie durch einen Nebel sieht er Gertrud weglaufen. Ihr Mantel flattert wie ein zerschossener Flügel. Um Joel herum wird gelacht und gekichert. »Was ist das für ein Krach?« fragt jemand.

»Die nasenlose Gertrud prügelt sich«, antwortet eine Stimme.

Joel wünschte, vor seinen Füßen wäre ein Gullydeckel. Einen Deckel, den er abheben könnte. Dann würde er in die Unterwelt kriechen. Vielleicht gab es da unten ja einen Gang, der bis zum Meer führt. Oder einen Tunnel, der von allem weg zu Mama Jenny führt. Er hebt Hut und Brille auf und läuft davon. Hinter seinem Rücken hallt Gelächter. Gertrud ist nicht mehr da.

Seine Wange brennt. Jetzt hab ich Feuer gefangen, denkt Joel. Jetzt wird mein Traum wahr. Jetzt verbrenne ich. Bald schlagen Flammen aus meinen Wangen.

Er läuft den ganzen Weg nach Hause. Als er ankommt, ist er so müde, daß er meint, sich übergeben zu müssen. Das Leben ist plötzlich so schwer. Es gibt zu viele Fragen.

Vielleicht unterscheidet das Kinder von Erwachsenen, denkt er. Man muß begreifen, daß es so viele Fragen gibt, auf die man keine Antwort bekommt.

Langsam geht er die Treppe hinauf.

Vor sich, in sich, sieht er die ganze Zeit Gertrud. Der Mantel, der wie ein zerschossener Flügel flatterte. Man kann sich in sich selbst verirren, denkt Joel. Man muß gar nicht in den Wald gehen, um sich zu verirren.

Man trägt Tag und Nacht in sich. Und wenn es tief drinnen in einem dämmert, dann werden die Schatten lang.