4
Als die Schule aus war, ging Joel zu Simon Urväder. Es regnete, und er war unzufrieden, weil ihm immer noch keine gute Tat eingefallen war. Warum war das so schwer? Am Morgen, als Papa Samuel ihn an der Schulter geschüttelt und gesagt hatte, er müsse sich mit dem Aufstehen beeilen, wenn er nicht zu spät zur Schule kommen wollte, hatte er mit dem Nachdenken über die gute Tat angefangen. Gestern abend war nicht mehr viel Zeit zum Denken gewesen. Als er von Gertrud nach Hause kam, hatte Papa Samuel eine seiner alten Seekarten auf dem Küchentisch ausgebreitet. Mit seinem dicken Zeigefinger war er den Wegen gefolgt, die er früher übers Meer gefahren war. Joel hatte sich gefreut. Wenn Papa Samuel eine Seekarte hervorholte, war er guter Laune. Dann würde er aus der Zeit erzählen, als er Seemann gewesen war. Zusammen würden sie sich über die Seekarten beugen und die Reisen aufs neue unternehmen.
Außerdem fragte Samuel nicht danach, was er den ganzen Abend bei Eva-Lisa gemacht hatte. Das war auch gut. »Das Schiff legt in einer Minute ab«, sagte Samuel, als Joel in die Küche kam.
Joel mußte sich schnell Stiefel und Jacke ausziehen. Dann setzte er sich auf den Küchenstuhl, Samuel gegenüber, der auf der Küchenbank saß.
»Fast hättest du dein Schiff verpaßt«, sagte Samuel mit gespielter Strenge. Das Spiel hatte begonnen. Das ernste Spiel.
»Bist du Joel Gustafson?« fragte Samuel. »Der neue Küchenjunge?«
»Ja«, antwortete Joel.
»Ja, Käptn, heißt das«, sagte Samuel.
»Ja, Käptn!«
Dann legten sie ab. Die Trossen wurden losgemacht, die Schraube begann zu arbeiten, Matrosen und Jungmänner liefen an Deck hin und her, die Steuermänner gaben Befehle weiter, und Käptn Gustafson stand auf der Brücke und überwachte das Ganze.
Samuel war nie etwas anderes als Matrose gewesen. Aber wenn er zusammen mit Joel fuhr, dann war er der Kapitän.
»Wie heißt das Schiff?« fragte Joel.
Samuel blinzelte ihn über die Brille an.
»Heute fahren wir mit der ›Celestine‹«, sagte er. »Das schönste Schiff der Welt. Aber ich hab einen Motor eingebaut, damit es schneller geht.«
Joel schaute zu dem Schiff, das in seiner Glasvitrine neben dem Herdregal stand. Dabei schien ihm, als ob es in den Wänden der Küche knarrte. Als ob das Haus ein Schiff wäre, das sich langsam im Hafenbecken drehte und den Bug dem offenen Meer zuwandte. Samuel legte den Zeigefinger auf die Seekarte.
»Scarborough Fair«, sagte er. »Jetzt verlassen wir das Kaff.«
»Was haben wir geladen?« fragte Joel.
»Wilde Pferde«, antwortete Samuel. »Und Eisenerz. Und ein paar geheimnisvolle Kisten. Nur der Kapitän weiß, was drin ist.«
Es würde eine gute Reise werden. Das wußte Joel jetzt. Geheimnisvolle Kisten waren das Spannendste, was ein Schiff laden konnte. Erst wenn man über das Meer gesegelt war und wieder einen Hafen erreicht hatte, erfuhr man, was die Kisten enthielten.
»Wir gehen nördlich an den Orkneyinseln vorbei«, sagte Samuel, mit dem Zeigefinger auf der Seekarte. »Wir müssen darauf achten, daß wir den Eisbergen nicht zu nah kommen. Wenn es schweren Weststurm gibt, können wir bis nach Island getrieben werden. Aber jetzt braucht die Besatzung einen Teller Suppe, um sich aufzuwärmen.« Joel sah, daß ein Topf auf dem Herd stand. Er deckte den Tisch mit zwei Tellern und füllte Suppe auf.
Samuel hatte eine Suppe aus Knochen gekocht. »Schildkrötensuppe«, sagte Samuel.
Dann aßen sie, und das Haus schlingerte wie ein Schiff im Sturm. Der schwere Sturm trieb sie an Islands Küste, die sich mit ihren hohen Felsen hinter den gischtenden Wogen abzeichnete. Ein Mann ging über Bord, aber sie schafften es, ihn lebendig zurückzuholen. Schweigende mächtige Eisberge trieben vorbei, die wilden Pferde wieherten und schlugen mit den Hufen aus in ihren Boxen unter Deck. Und Samuel erzählte. Vom Brüllen des Sturmes und der Stille danach. Vom Meeresleuchten, das nachts flammte. Von Schiffen, denen sie begegneten, und riesigen Walen, die in weiter Ferne Wasser spritzten. Schließlich, am frühen Morgen, sahen sie die Küste von Neufundland und nahmen Kurs auf Philadelphia. Ein Lotsenschiff kam ihnen entgegen, und bald hatten sie im Hafen festgemacht.
Samuel lehnte sich zurück und reckte seinen Rücken. »Eine gute Reise«, sagte er. »Aber für den Jungmann, der über Bord gefallen ist, hätte es schlecht ausgehen können.«
»Es war ein Wunder, daß er gerettet wurde«, sagte Joel. »Er hat Glück gehabt«, antwortete Samuel. »Glück und nichts anderes.«
»Und die geheimnisvollen Kisten?« fragte Joel vorsichtig.
»Die hätte ich fast vergessen«, sagte Samuel. Er stand auf und ging in sein Zimmer.
Joel blieb gespannt auf dem Stuhl sitzen. Geheimnisvolle Kisten bedeuteten immer, daß er etwas von Samuel bekommen würde.
Samuel kam wieder in die Küche.
»Die Kisten, die wir befördert haben, enthielten alte Erinnerungen«, sagte er. Dann reichte er Joel ein verblaßtes Foto.
Das Bild war schmutzig, und eine Ecke war abgerissen. Aber Joel konnte ein Schiff in einem Hafen erkennen. Auf der Gangway standen ein paar Mann der Besatzung und guckten gerade in die Kamera. Einer von ihnen trug eine Uniform, während die anderen normale Arbeitskleidung anhatten.
Einer der Männer hatte den Kopf bewegt, als der Fotograf abdrückte. Deswegen war das Gesicht verschwommen. »Das bin ich«, sagte Samuel und zeigte auf den verschwommenen Mann. »Als der Fotograf knipste, ist mir eine Fliege in die Nase geflogen. Auf dem Bild ist also auch eine Fliege. Aber die ist nicht zu sehen. Ich hab das Foto gefunden, als ich nach einem anderen gesucht habe. So ist das manchmal. Man findet nicht, was man sucht, aber man findet etwas anderes. Ich dachte, das Foto schenk ich dir. Das Schiff hieß ›Pilgrimme‹ und kam von Bristol.« »Danke«, sagte Joel und legte das Bild vorsichtig auf die Wachstuchdecke.
Das war eine Kostbarkeit. Über dieses Foto konnte er eine Menge zusammenphantasieren.
Samuel setzte sich wieder auf die Küchenbank, gähnte und begann, eine Wollsocke zu stopfen. Joel deckte den Tisch ab, und plötzlich spürte er, daß er müde war. Heute abend hatte er keine Kraft mehr, über die gute Tat nachzudenken. Er wußte, daß er einschlafen würde, sobald er im Bett lag.
Er zog sich aus, putzte die Zähne und zog das Nachthemd an, das ihm bis zu den Füßen reichte. Nachdem er ins Bett gekrochen war und sich gemütlich zusammengerollt hatte, rief er. Samuel kam herein, die Wollsocke in der Hand, und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Das Bett knackte unter seinem Gewicht. »Denkst du oft an den Unfall?« fragte er.
»Nein«, antwortete Joel, »ich denke nicht an den Bus.« Aber ganz stimmte das nicht. Denn der Bus war die ganze Zeit da, hinter allen anderen Gedanken in seinem Kopf. Manchmal drängte er sich vor, und dann war er wie ein Raubtier, das sich auf ihn zu stürzen drohte.
Joel versuchte, den Gedanken wegzudenken. Aber das war schwer. Gedanken ließen sich nicht einfach so wegdenken. Und das galt besonders bei den unheimlichen Gedanken. Der allerschlimmste Gedanke von allen war, daß draußen im Wald ein Baum auf Samuel fallen könnte. Nichts war schlimmer. Manchmal, wenn Joel dieser Gedanke kam, überfiel ihn die Angst, daß er fast zitterte. Es war, als ob der Baum schon gefallen wäre. Und Joel konnte nichts dagegen tun. Er hatte gelernt, daß man vor den schrecklichen Gedanken, die man im Kopf hatte, nicht davonlaufen konnte.
Vielleicht würde der Bus so ein Gedanke werden? Der niemals verschwand?
Samuel streichelte ihm über die Wange und ging wieder in die Küche. Joel versuchte, an die gute Tat zu denken, die er tun wollte. Aber er war zu müde. Die Gedanken hüpften und schossen durcheinander, er kriegte sie nicht zu fassen.
Es war, als ob er versuchte, eine Spatzenschar einzufangen, die in einer Pfütze auf der Straße herumhüpfte.
Am nächsten Tag fiel ihm auch keine gute Tat ein. Obwohl er nachdachte, so sehr er konnte. Zweimal dachte er so sehr nach, daß er vergaß, Frau Nederström zuzuhören. Aber sie merkte nicht, daß er nicht aufgepaßt hatte. Oder ließ sie ihn vielleicht in Ruhe, weil er ein Mirakel erlebt hatte?
In den Pausen war es fast wie immer. Nur fast. Immer noch sahen ihn seine Klassenkameraden etwas merkwürdig an. Und Joel spürte, wie die unangenehme Feierlichkeit zurückkehrte.
Als die Schule aus war, beschloß er, Simon Urväder zu besuchen. Vielleicht konnte der ihm eine gute Tat vorschlagen? Simon, der auch der alte Maurer genannt wurde, wohnte in einem verfallenen Haus hinter dem Krankenhaus. Im Gegensatz zu Gertrud, die nur ein wenig seltsam war, war Simon wirklich nicht ganz normal. Ihn hatte man viele Jahre in einer Anstalt eingesperrt, weil er verrückt war. Dann war er gesund geworden und entlassen worden. Aber viele glaubten, er sei immer noch verrückt, und manche hatten Angst vor ihm. Joel aber hatte keine Angst.
Nicht seit jenem Tag, als Simon ihn in seinem alten Laster mitgenommen hatte zum See der Vier Winde… Joel bog von der Hauptstraße ab und folgte einem kleinen Pfad, der sich zwischen dichtem Tannendickicht dahinschlängelte. Man konnte sich leicht verlaufen, wenn man den Weg nicht genau kannte. Simon hatte ein Durcheinander von Wegen angelegt. Es war wie ein Labyrinth. Wenn man den richtigen Weg nicht kannte, kam man zur Hauptstraße zurück. Das Labyrinth hatte Simon angelegt, um seine Ruhe zu haben. Er wohnte in einer alten Schmiede, und es gab Leute im Ort, die waren der Meinung, er dürfe dort nicht mehr wohnen. Manchmal kamen schwarzgekleidete Damen mit flachen Hüten und ebenso schwarzgekleidete alte Männer, und die versuchten Simon zu überreden, in ein Altersheim zu ziehen. Sie kamen immer zu mehreren, weil sie sich vor Simon fürchteten. Es konnte passieren, daß er furchtbar böse wurde. Einmal hatte er einer Dame mit einem flachen Hut ein Huhn an den Kopf geworfen. Das hatte ein mächtiges Gegacker im Haus gegeben, und das Ganze endete damit, daß Simon seine Ruhe hatte. Aber nur eine Weile. Bald kamen sie wieder. Joel wußte nicht genau, ob die Flachhüte ein Recht hatten, darüber zu bestimmen, wo Simon wohnte. Aber daß sie einem feindlichen Stamm angehörten, daran zweifelte er nicht.
Vor den Flachhüten mußte man sich in acht nehmen.
Während Joel unter den hohen Tannen voranschritt und den Weg im Auge behielt, dachte er daran, daß er einen richtigen Freund finden mußte. Er konnte nicht dauernd mit Erwachsenen zusammen sein, die außerdem nicht ganz normal waren.
Das hieß nicht, daß er Gertrud und Simon im Stich lassen wollte. Er wollte nur einen Freund haben, der genauso alt wie er selber war.
Plötzlich lichteten sich die Tannen. Da lag Simons Hütte, mitten in einem Garten voller Schrott und alter Maschinen. Dort stand auch der alte Laster, mit dem Simon herumfuhr, wenn er nachts nicht schlafen konnte. Aus dem Schornstein stieg Rauch, und auf der Vortreppe trippelte ein Huhn herum und pickte.
Joel blieb stehen und betrachtete Simons Schweinestall. Es war ein altes umgebautes Taxi. Dort, wo einmal die Frontscheibe gewesen war, ragte ein kleiner rosa Schweinerüssel heraus.
Joel klopfte an die Tür und ging hinein. Es dauerte immer eine Weile, ehe er sich an den Geruch in Simons Haus gewöhnt hatte. Das war kein angenehmer Geruch. Joel mußte durch den Mund atmen, damit ihm nicht schlecht wurde.
Er wußte, daß Simon sich nicht allzuoft wusch. Und dann waren da noch die Hühner, die drinnen herumliefen. Und der Lappenhund, der am Herd lag und an Knochen nagte.
Simon saß an seinem großen Tisch und las in einem Buch, als Joel hereinkam. Das machte er immer. Er las mit einem Stift in der Hand, und wenn ihm etwas nicht gefiel, schrieb er es um. Überall im Haus lagen Stapel von Büchern. Die Hühner legten Eier zwischen die Bücher, und manchmal half Joel Simon, die Eier zu suchen.
Simon trug einen dicken Pelz. Den trug er Winter und Sommer. Er hatte einen struppigen Bart, der nach allen Seiten abstand, genau wie die Haare.
Als Joel den Raum betrat, änderte Simon gerade das Ende eines Buches. Joel wußte, daß er nicht gestört werden wollte, wenn er schrieb. Er strich die gedruckten Worte durch und schrieb etwas zwischen die Zeilen. Joel kauerte sich hin und streichelte den Lappenhund, während Simon schrieb. Schließlich warf er den Stift von sich, sah Joel an und lächelte.
»Jetzt ist es besser«, sagte er, »jetzt endet das Buch, wie es enden muß.«
»Darf man Bücher denn einfach so ändern?« fragte Joel.
»Mir doch egal«, antwortete Simon und kratzte sich am Bart. »Ich tu es einfach.«
Joel setzte sich auf einen Hocker am Tisch. Simon sah ihn aus halbgeschlossenen Augen an. Vielleicht hatte er noch nichts von dem Unfall gehört? Simon redete mit keinem anderen Menschen, nur mit Joel.
Wahrscheinlich war Simon der einzige im Ort, der noch nichts von dem Unfall gehört hatte.
Joel erzählte, was passiert war. Simon runzelte die Stirn und hörte zu. Vorsichtig zog Joel sich noch weiter zurück auf dem Hocker, weil Simon heute ganz besonders unangenehm roch.
Vielleicht wäre das eine gute Tat? dachte er flüchtig. Dafür zu sorgen, daß Simon ein Bad nahm?
Aber er schob den Gedanken beiseite. Es war nicht ganz ungefährlich, das vorzuschlagen. Vielleicht würde Simon mit Hühnern um sich werfen.
»Ich brauch eine gute Tat«, sagte Joel. »Wenn man ein Mirakel erlebt hat, muß man eine gute Tat tun.« »Das muß man wohl«, sagte Simon langsam. »Schreckliche Sache, die du mir da erzählt hast!«
»Mir tut nichts weh«, sagte Joel. »Ich hab mir nicht mal in die Zunge gebissen.«
Plötzlich bemerkte er, daß Simon Tränen in den Augen hatte. Das war noch nie passiert. Sofort hatte Joel selbst einen Kloß im Hals.
»Schrecklich«, murmelte Simon, »schrecklich, schrecklich.«
»Ich bin wahrscheinlich selbst schuld«, sagte Joel. »Ich hab nicht aufgepaßt.«
Ein Huhn flatterte auf den Tisch und ließ einen großen Klacks mitten in das Buch fallen, in dem Simon eben geschrieben hatte. Joel mußte kichern.
Simon wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte auch.
»Jetzt hat es einen Stempel unter das Ganze gesetzt«, sagte er.
»Eine gute Tat«, sagte Joel und kicherte immer noch. »Wie findet man eine gute Tat ?«
»Wir müssen nachdenken«, sagte Simon. »Am besten, wir setzen unsere Brillen auf.«
Die hatte Joel ganz vergessen. Simons Nachdenkbrillen. Sie sahen aus wie gewöhnliche Brillen. Der Unterschied bestand nur darin, daß die Gläser schwarz gemalt waren. Wenn man die Brille trug, konnte man nichts sehen. Simon erhob sich und sah sich um.
»Möchte mal wissen, wo ich sie hingelegt habe«, murmelte er. Dann sah er Joel an. »Wohin legt man seine Brille?« fragte er.
»In ein Regal«, schlug Joel vor. Er dachte daran, wohin Papa Samuel seine Brille legte.
Simon nickte.
»Ein Regal«, sagte er. »Wo gibt es Regale?«
Joel sah sich um. Im Zimmer gab es keine Regale. »In der Vorratskammer«, sagte er. »Da gibt es Regale.« »Genau«, sagte Simon. »In der Vorratskammer gibt's Regale.«
Er verschwand im Vorratsraum. Joel hörte ihn mit Wannen und Töpfen klappern. Leere Flaschen klirrten, Tüten raschelten. Dann ertönte ein triumphierender Ausruf, und Simon kam mit zwei Brillen zurück.
»Jetzt wollen wir nachdenken«, sagte er. »Hilft das nichts, müssen wir mit der Staatskutsche raus zum See der Vier Winde fahren.«
Die Staatskutsche war der alte Laster. Simon hatte erzählt, daß er das Auto nach dem feinsten Gefährt des Königs getauft hatte.
Sie setzten die Brillen auf. Es waren alte Motorradbrillen, die an den Seiten dicht schlossen. Alles war schwarz, ob wohl man die Augen nicht schloß.
»Jetzt wollen wir denken«, sagte Simon.
Es war still. Der Lappenhund schnüffelte unter dem Tisch. In einer Ecke pickte ein Huhn.
Joel versuchte sich zu konzentrieren, damit ihm eine gute Tat einfiel. Aber er mußte sich sehr zusammenreißen, damit er nicht wieder anfing zu kichern.
Irgend etwas hatte sich in der letzten Zeit verändert. Wenn etwas ernst war, kriegte er wahnsinnige Lust zu kichern. Es war, als ob ihn eine unsichtbare Hand unter den Füßen kitzelte.
Wenn er nur daran dachte, fing er schon an zu kichern. Ich darf nicht kichern, dachte er wütend.
Da fing er erst recht an zu kichern. Es war, als ob es in seinem Mund brodelte, als ob er förmlich überlief von all dem Kichern, das in ihm war.
Jetzt wird Simon böse, dachte er.
Aber Simon wurde nicht böse. Joel hatte ein Gefühl, als ob Simon zu den seltenen Erwachsenen zählte, die nicht vergessen hatten, wie es war, wenn man bald zwölf wurde. Einige wenige Erwachsene gab es, die hatten es nicht vergessen.
Papa Samuel hatte es vergessen, aber Gertrud nicht. Frau Nederström hatte es vergessen, aber Simon Urväder nicht.
»Es geht nicht«, sagte Simon. »Wir können die Brille wieder abnehmen.«
Joel löste das Band im Nacken.
»Wir müssen rausfahren zum See der Vier Winde«, sagte Simon.
Normalerweise hätte Joel gejubelt, wenn er mit Simon zu dem geheimnisvollen See tief drinnen im großen Wald fahren durfte. Er saß gern auf dem Beifahrersitz neben Simon.
Heute jedoch nicht.
Heute sperrte sich etwas dagegen.
Es war, als ob Joel Angst vor großen Autos hätte. Wenn er im Laster saß, konnte er kaum überfahren werden.
Aber vielleicht fuhren sie jemand anders an?
Nein, heute wollte er nicht mit dem Laster fahren. »Ich hab keine Zeit«, murmelte er. »Ich bin mit Papa verabredet. «
Simon nickte. »Schade, daß ich dir nicht helfen kann«, sagte er. »Aber vielleicht müssen einem die guten Taten selbst einfallen.«
Joel ging. Es hatte aufgehört zu regnen. Zerfetzte Wolken jagten einander über den Himmel.
Er verlief sich im Labyrinth der Pfade und kam zu Simons Haus zurück.
Wütend ging er von vorn los. Diesmal erwischte er den richtigen Weg, die Tannen lichteten sich, und er war wieder an der Landstraße.
Plötzlich hatte er genug von all den Gedanken an gute Taten. Er wünschte, er könnte sie wegscheuchen, so wie man einen Mückenschwarm verscheucht, indem man um sich schlägt.
Wäre der verdammte Eklund nicht so rücksichtslos gefahren, dachte er, dann wäre mir dieses Mirakel erspart geblieben.
Ich hab keine Zeit für gute Taten, dachte Joel. Ich muß einen richtigen Freund suchen. Und ich will ein besserer Fußballspieler werden.
Ich hab keine Zeit.
Er trabte nach Hause und kickte im Gehen Steine vor sich her, daß ihm die Zehen weh taten.
Joel bemitleidete sich selbst.
Er hatte keine Mama. Außerdem hatte er keinen richtigen Freund. Er hatte nur Simon Urväder, und der roch schlecht, und Gertrud, die keine Nase hatte.
Es fehlte so viel.
Ich bin wie Gertrud, dachte er. Sie hat keine Nase, und ich hab keine Mutter… Plötzlich blieb er mitten auf dem Weg stehen.
Vielleicht hatte er jetzt doch eine Idee, wie er seine gute Tat ausführen wollte.
Eine neue Nase konnte er Gertrud nicht verschaffen. Aber natürlich brauchte sie einen Mann!
Sie war dreißig Jahre alt und unverheiratet. Sie hatte keine Kinder.
Dazu konnte er ihr vielleicht verhelfen!
Jetzt wußte er es!
Seine gute Tat sollte darin bestehen, daß er einen Mann für Gertrud suchte. Damit sie abends nicht mehr allein war. Einen, den sie heiraten konnte.
Aber wo fand er diesen Mann?
Er brauchte nicht lange nachzudenken, da fiel ihm die Antwort ein.
Die Bierstube! Wo Sara arbeitete! Dort saßen den ganzen Tag lang Männer und tranken Pilsner. Joel hatte selbst gehört, wie Sara sich bei Samuel beklagte, daß es so viele unverheiratete Männer gab, die ihre ganze Freizeit mit Biertrinken verbrachten.
Plötzlich hatte er es eilig. Er lief den Hügel hinunter, der zur Ortsmitte führte. Dort war das Farbengeschäft und dort der Schuhladen. Und an der Ecke war die Bierstube.
Er war so schnell gerannt, daß er stehenbleiben mußte, um nach Luft zu schnappen.
Plötzlich bemerkte er, daß er genau an der Stelle stand, wo er ohne aufzupassen über die Straße gelaufen war.
Genau an derselben Stelle, wo der Unfall in ein Mirakel verwandelt worden war.
Das muß bedeuten, daß es richtig ist, dachte er. Daß ich meine gute Tat an derselben Stelle beginne. Die Tür zur Bierstube flog auf, und Rausschmeißer Nyberg kam auf die Treppe hinaus, um sich mit den Fingern zu schneuzen. Joel verzog sich rasch hinter ein parkendes Auto. Er wollte nicht, daß Nyberg ihn entdeckte und Fragen stellte.
Nyberg räusperte sich und spuckte auf den Gehweg. Dann ging er wieder hinein. Joel sah genau nach beiden Seiten, ehe er die Straße überquerte. Es gab einen Hintereingang zur Bierstube, den er benutzen durfte, wenn er Sara besuchen wollte. Einen Moment zögerte er.
Dann öffnete er die Tür und ging hinein, um einen Mann für Gertrud zu suchen.