9
Manche Tage waren schlimmer als andere.
Aber Joel konnte sich nicht daran erinnern, daß ihm sowas schon mal passiert war.
An diesem Tag ging alles schief.
Es hatte schon morgens angefangen, als er seinen einen Gummistiefel nicht finden konnte. Er hatte überall gesucht. Aber der Stiefel war weg. Wie konnte ein einzelner Gummistiefel verschwinden? Er suchte noch einmal, auch in der Vorratskammer. Kein Gummistiefel. Er sah auf der Küchenuhr, daß er zu spät zur Schule kommen würde, wenn er den Stiefel nicht innerhalb einer Minute fand. Aber kein Stiefel. Er war verschwunden.
Da zog Joel seine Halbschuhe an und begann, sie zuzubinden. Mit dem linken Schuh ging alles gut. Aber der Schnürsenkel am rechten Schuh riß ab. Bestimmt hatte eine Maus daran geknabbert. Er fluchte und zerrte am Schnürsenkel herum, schnitt ihn ab und versuchte, ihn durch die Ösen zu ziehen, die natürlich zu klein waren. Die Uhr an der Küchenwand ging schneller als vorher. Die Zeiger rannten förmlich über das Ziffernblatt.
Und natürlich kam er zu spät. Otto grinste ihm aus seiner Bank entgegen. Frau Nederström befahl ihm, zum Katheder zu kommen und zu erklären, warum er zu spät kam. »Der Schnürsenkel ist gerissen«, antwortete Joel.
Die Klasse lachte, und er hörte selbst, wie blöd das klang. So blöd, daß er selbst anfing zu kichern. Alle lachten, außer Frau Nederström. Nichts konnte sie so böse machen wie Lachen. Das hatte Joel auf der Seite in seinem Tagebuch aufgeschrieben, wo er merkwürdige Verhaltensweisen von Erwachsenen sammelte. Wütend auf Menschen zu werden, die lachen…
Joel versuchte, die Situation zu retten, und erzählte, daß der eine Stiefel verschwunden war. Aber das machte Frau Nederström nur noch wütender.
»Setz dich, Joel Gustafson«, sagte sie. »Wenn du weiter zu spät kommst, muß ich mit deinem Vater reden.« Das Mirakel hat sie vergessen, dachte Joel. Hätte ich gesagt, daß ich wegen des Mirakels zu spät gekommen bin, wäre sie bestimmt nicht wütend geworden… Der Tag hatte schlecht angefangen. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Joel hatte ganz vergessen, daß sie eine Hausaufgabe in Geographie aufgehabt hatten. Das war sein Lieblingsfach. In Geographie war er der Beste in der Klasse. Niemand wußte so viel über fremde Länder und Meere wie er. Aber diesmal ging es nicht um fremde Länder, sondern um Schweden. Darüber wußte Joel nicht sehr viel. Er hätte es lernen und im Atlas nachgucken müssen. Aber das hatte er vergessen. Er versuchte, ganz unbekümmert auszusehen, so, als wisse er die Antwort auf alle Fragen, die Frau Nederström stellte. Er nickte, wenn jemand von seinen Klassenkameraden antwortete. Sie sollte glauben, daß er wie immer das meiste wußte. Aber plötzlich stürzte sie sich mit einer Frage auf ihn. Als ob sie ein Habicht und er eine Taube wäre.
»Ich hab die Frage nicht verstanden«, sagte Joel. Er hatte sie verstanden. Wofür ist die Stadt Örebro berühmt? Er wußte es nicht. Er mußte nachdenken. Frau Nederström wiederholte die Frage.
Seine Klassenkameraden sahen ihn neugierig an. Joel spürte richtig im Nacken, wie Otto grinste.
Er dachte angestrengt nach. Örebro? Er konnte sich nicht mal erinnern, wo die Stadt liegt. Örebro, Örebro… Plötzlich fiel ihm eins der Sammelbilder aus den Hustenbonbonschachteln ein. War nicht einer der Ringer aus Örebro gewesen?
»Nun«, sagte Frau Nederström, »weißt du es, oder weißt du es nicht ?«
»Örebro hat einen der besten Ringerklubs von ganz Schweden«, sagte Joel.
Die Klasse brach in Gelächter aus. Frau Nederström wurde weiß vor Wut. »Du bist aufmüpfig, Joel Gustafson«, sagte sie. »Natürlich weißt du, daß Örebro für seine Schuhherstellung berühmt ist. Daran hättest du heute morgen denken sollen, als dein Schnürsenkel gerissen ist. Aber du willst nicht antworten. Du willst, daß ich böse werde, Joel Gustafson.« »Das wollte ich nicht«, sagte Joel.
Frau Nederström war zu seinem Platz gekommen. Plötzlich griff sie nach seinem Ohr und kniff. Sie kniff so fest, daß ihm die Tränen in die Augen schossen.
»Dir werd ich's zeigen«, sagte sie und ging zum Katheder zurück.
Joel starrte auf seinen Tisch. Nichts war so schrecklich, wie ins Ohr gekniffen zu werden. Das war schlimmer, als zu träumen, man stehe in Flammen. Joel wurde zornig. Aber er schämte sich auch. Und es tat weh.
Und hinter ihm saß Otto und grinste. Niemals würde Joel wieder aufsehen können vom Tisch. Er würde darauf niederstarren, bis er alt war und auf den Boden fiel und starb…
So ein Gefühl hatte er. Im tiefsten Innern wußte Joel, daß es vorbeigehen würde, daß er es vergessen würde. Es gab nichts, was nicht vorbeiging. Aber in diesem Augenblick konnte er das nicht fühlen. In diesem Augenblick saß er wie versteinert da. Wie der versteinerte Prinz in einem Märchen, der tausend Jahre lang auf den Tisch starren sollte…
Als es klingelte, verließ er als letzter die Klasse. Die anderen standen auf dem Flur und warteten auf ihn. Alle grinsten. Ganz vorn stand Otto und grinste am breitesten. Joel zwang sich, geradewegs durch die Klassenkameraden hindurchzusehen. Er ist nicht mehr Joel. Er ist auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung. General Custer konnte ihn nicht retten. Joel hat den betrunkenen Leutnant Hickock erschossen. Es war eine Tat der Selbstverteidigung. Aber es gab keine Zeugen. Jetzt sollte Joel gehängt werden. Auf dem Hügel vor den Palisaden ist der Galgen schon errichtet. Die Trommeln dröhnen. Aber Joel ist ganz ruhig. Er sieht durch die Menschen hindurch, die ihn anstarren. Er will in Würde sterben. Nicht er hat Angst. Die, die ihn sehen, haben Angst. Mit energischen Schritten geht er auf den Galgen zu und stellt sich unter den Strick. Der Henker will ihm etwas vor die Augen binden. Doch Joel schüttelt den Kopf. Dann lächelt er. Er ist ruhig. Ruhig und würdevoll will er sterben. Man wird Lieder über seine Ruhe schreiben. Seinen Mut. Und dann werden alle begreifen, daß er unschuldig war. General Custer wird das ganze Regiment versammeln und die schreckliche Wahrheit verkünden, daß Joel Gustafson unschuldig war. Zur Erinnerung an ihn wird man das Fort umbenennen. Noch heißt es Fort Jameson. In Zukunft wird es Fort Joel heißen. Jetzt legt der Henker den Strick um seinen Hals, und Joel blickt ganz ruhig über die versammelte Volksmenge. Jetzt fällt er und ist tot. Aber er sieht sie immer noch. Schreiende Menschen, die seinen Körper baumeln sehen. Er kann immer noch sehen.
Es klingelt, und die Pause ist zu Ende. Immer noch sieht Joel geradewegs durch seine Klassenkameraden hindurch. Den ganzen Tag wird er durch sie hindurchsehen… Schließlich ist der Schultag vorbei. Joel macht einen Umweg nach Hause, damit er nicht mit den Klassenkameraden gehen muß. Er geht an der Mauer hinter dem Friedhof entlang. Plötzlich bemerkt er, daß eine der hohen Kirchtüren angelehnt ist. Ohne richtig zu wissen, was er tut, geht er hin und guckt hinein. Drinnen ist es dunkel. Vorsichtig betritt er die Kirche. Er lauscht. Es ist sehr still. Lautlos bewegt er sich zwischen den Bänken. Dort vorn ist das hohe Altargemälde, das er immer betrachtet, wenn er in der Kirche ist. Er mag das Gemälde nicht. Als er kleiner war, hat er sich davor gefürchtet. Es stellt Jesus dar, wie er aufsteigt in den Himmel. Er hängt einen Meter über der Erde in der Luft. Dort unten kniet ein römischer Soldat. Er hat einen Helm auf dem Kopf, aber sein Schwert hat er verloren. Im Gegensatz zu Jesus, der ganz weiß ist, ist der römische Soldat dunkel. Hinter den Figuren zieht sich ein Gewitter zusammen. Die Wolken sind ganz schwarz. Joel geht zum Altar. So nah ist er dem Gemälde noch nie gewesen. Jetzt wird es noch größer. Es wächst. Und das Gewitter nähert sich. Die dunklen Wolken wachsen und wachsen.
Der Donnerknall dröhnt furchtbar. Joel zuckt zusammen, als ob er vom Blitz getroffen wäre. Es dröhnt zwischen den Wänden der dunklen Kirche.
Dann wird ihm klar, daß es kein Donnerkrachen war, sondern daß jemand oben auf der Galerie angefangen hat, auf der Orgel zu spielen. Er hört, daß jemand übt. Das muß Orgel-Nisse sein. Der bucklige Organist, der so kurzsichtig ist, daß er dreifache Brillengläser tragen muß. Still setzt sich Joel ans äußerste Ende einer Bank und lauscht. Immer wieder fängt Orgel-Nisse von vorn an. Es klingt mächtig und schön und erschreckend. Joel guckt auf den Fußboden und denkt daran, daß er in der Unterwelt gewesen ist. Die ganze Kirche hat er auf seinen Schultern getragen. So tief unten ist er gewesen, daß die dröhnende Orgel nicht mehr durchdrang…
Seine Gedanken springen. Verdammte Stadt Örebro. Und der Käsemann, der Gertrud traurig gemacht hat, weil er sich nicht gezeigt hat.
Ich muß was anderes tun, denkt Joel. So darf es nicht enden.
Der Käsemann muß einsehen, daß Gertrud die beste Frau ist, die er kriegen kann. Wer behauptet eigentlich, daß jeder Mensch eine Nase haben muß? Man kann auch ohne atmen. Orgel-Nisse hat einen Buckel. Aber Orgel spielt er besser als alle anderen. Der Käsemann muß kapieren, daß die Nase, die Gertrud nicht hat, sie zu etwas ganz Besonderem macht…
Joel lauscht der Orgel. Jetzt spielt Orgel-Nisse ein ganzes Stück, ohne Unterbrechung.
Musik, denkt Joel. Kringströms Orchester, das samstags zum Tanz im Gemeindehaus aufspielt. Dort müssen der Käsemann und Gertrud sich begegnen. Ich muß neue Briefe schreiben. Ich lasse Gertrud ein Geschenk an den Käsemann schicken. Es war falsch, daß ich ihre Verabredung beim Vogelbad im Garten des Pferdehändlers getroffen habe.
Es ist gut, an Gertrud und den Käsemann zu denken. Dann fühlt er nicht mehr Frau Nederströms Krallen in seinem Ohr. Es ist gut, an etwas ganz anderes zu denken. Er geht zurück zur Schule und holt sein Fahrrad, das er da vergessen hat. Wie kann man eigentlich sein Fahrrad vergessen? Das ist genauso merkwürdig, wie daß ein Gummistiefel verschwinden kann.
Als er nach Hause kommt, findet er den Stiefel sofort. Er ist unter ein paar Holzscheite geraten, die Samuel gestern abend heraufgeholt hat. Joel nimmt den Stiefel und schmeißt ihn gegen die Wand. Eigentlich schmeißt er ihn Frau Nederström an den Hintern.
Wenn sie mich nächstesmal ins Ohr kneift, kneif ich sie auch, denkt er. Ich werde einen Geheimbund gründen, der zum Ziel hat, alle auszurotten, die kneifen. Weg mit den Kneifern!
Er holt sich neues Briefpapier aus Samuels Zimmer. Als er sich auf seinem Bett zurechtgesetzt hat, weiß er plötzlich nicht mehr, ob er an Gertrud oder an den Käsemann mit links geschrieben hatte. Er muß lange nachdenken, ehe es ihm einfällt.
Jetzt schreibt er Briefe, ohne in den Gedichtbänden aus der Bibliothek zu blättern.
»Komm zum Tanzen Samstag im Gemeindehaus«, läßt er den Käsemann an Gertrud schreiben. » War das letztemal verhindert«, fügt er nach einigem Zögern hinzu. Er weiß auch nicht, wie er den Brief unterschreiben soll. Schließlich entscheidet er sich für »Dein Geliebter«.
Er klebt den Umschlag zu und schreibt »Gertrud« drauf.
Mit Nachnamen heißt sie Häkanson. Aber das schreibt er nicht. Der Vorname reicht.
Bevor er Gertruds Brief an den Käsemann schreibt, braucht er eine Stärkung. Er trinkt Milch und schmiert sich zwei große Butterbrote. Die Marmelade ist in den vergangenen Tagen besorgniserregend weniger geworden. Er begnügt sich lieber mit ein paar Scheiben Wurst. Dann geht er in Samuels Zimmer und sucht im Schrank nach einem Geschenk, das Gertrud dem Käsemann schikken kann. In Samuels Schrank muß es irgendwas geben, das er nie benutzt und auch nicht vermissen wird. Dort hängt Mama Jennys Kleid.
Komm wieder, denkt Joel. Komm wieder und hol dir dein Kleid. Komm wieder und erzähl mir, warum du weggegangen bist. Warum wir nicht gut genug waren, Samuel und ich…
Er läßt das Kleid los. Heute löst es keine guten Gedanken in ihm aus, wie sonst, wenn er es in Samuels Schrank hängen sieht. Es anzufassen, zu fühlen.
Er sucht weiter. Schließlich findet er einen Schlips, den Samuel noch nie getragen hat. Er ist grün. Den kann der Käsemann kriegen. Samuel wird nicht mal merken, daß der Schlips weg ist.
Joel setzt sich an den Küchentisch und bereitet einen Umschlag vor, der groß genug ist, daß Brief und Schlips hineinpassen. Er nimmt einen kleinen Umschlag auseinander, um zu sehen, wie er zusammengesetzt ist. Dann schneidet und klebt er einen größeren Umschlag aus einem Stück braunem Einwickelpapier zusammen. Der weiße Kleister schmiert, und an den Rändern wird der Umschlag nicht ganz gleichmäßig. Aber es muß genügen. Er hat auch kein Einwickelpapier mehr.
Dann schreibt er den Brief von Gertrud an den Käsemann.
»Ich komme Samstag zum Gemeindehaus. Hoffentlich gefällt Dir der Schlips. Ich hab ihn in Hull gekauft. Die Deine…«
Joel guckt auf Samuels Seekarte nach, wie sich die Stadt Hüll schreibt. Er weiß bestimmt, daß Samuel dort einmal einen Hut gekauft hat. Dann muß man dort auch einen Schlips kaufen können. Es kann keine Schlips- und keine Hutstädte geben, denkt er. Wie soll der Käsemann wissen, ob Gertrud in Hull gewesen ist oder nicht? Sollte es Probleme geben, wenn sie erst mal verheiratet sind, müssen sie allein damit fertig werden.
»Ich kann doch nicht alles machen!« brüllt Joel laut heraus. Etwas müssen sie schon selber machen! Er steckt Brief und Schlips in den Umschlag.
Als er den Namen auf den Umschlag schreiben will, hätte er fast denselben Fehler gemacht. Fast hätte er Käsemann statt David geschrieben.
»Herrn David Lundberg«, schreibt er.
Jetzt ist er fertig. Heute abend wird er die Briefe in die Briefkästen werfen.
Er schrubbt Kartoffeln, gießt Wasser in einen Topf und setzt sich an den Küchentisch, um aufzupassen, daß die Kartoffeln nicht überkochen. Vor Samstag muß er noch ein großes Problem lösen. Wie schafft er es, selbst ins Gemeindehaus zu gelangen, um zu überwachen, ob sich Gertrud und der Käsemann wirklich treffen? Er muß sich was einfallen lassen, wie er sich einschleichen und verstecken kann. Aber wie soll er das anstellen?
Am nächsten Tag ist alles wie immer in der Schule. Frau Nederström ist guter Laune und scheint vergessen zu haben, daß sie Joel am Tag zuvor ins Ohr gekniffen hat. Außerdem ist Otto krank, und Joel bleibt sein Grinsen erspart.
Nach der Schule fährt Joel mit dem Rad zum Gemeindehaus. Er fährt fünfmal um das Haus herum und versucht, eine Lösung für sein Problem zu finden.
Was hätte Geronimo getan, denkt er. Wie hätte er sich verhalten, um sich ins Fort einzuschleichen?
Jetzt denkt Joel lieber Geronimos Gedanken. Wäre es um die Verteidigung des Forts gegangen, hätte er General Custers Gedanken gedacht. Die Indianer waren am besten darin, Forts einzunehmen, während die weißen Soldaten am besten darin waren, Forts zu verteidigen. Was hätte Geronimo getan?
Joel stieg ab und betrachtete das Fort. Das Fort Gemeindehaus. In den Schaukästen hingen Kinoplakate. Im Augenblick lief ein Liebesfilm mit Vivien Leigh und Clark Gable. Joel stellte sich vor, Vivien Leigh hätte keine Nase und Clark Gable hätte genauso blonde Haare wie der Käsemann. Dann hätte der Film von Gertrud handeln können.
Im Schaukasten daneben stand, daß Kringströms Orchester Samstagabend spielen würde. In dem Augenblick hatte Joel die Idee.
Kringström mußte ihm helfen, sich ins Gemeindehaus einzuschleichen!
Joel wußte, daß Kringström im selben Haus wohnte wie Windhund Eva-Lisa. Sie hatte erzählt, daß Kringström dauernd Schallplatten hörte, wenn er nicht gerade selber mit seinem Orchester unterwegs war. Er ließ seine Schallplatten so laut spielen, daß sich die Leute im Haus beklagten. Da hatte er sich ein Zimmer in ein Zimmer gebaut, so daß kein Laut durch die Wände dringen konnte. Kringström spielte Klarinette und Saxophon. Aber wenn jemand im Orchester krank war, konnte er einspringen und jedes Instrument spielen.
Plötzlich wußte Joel, was er machen würde. Geronimo hätte sich keinen besseren Plan ausdenken können!
Joel strampelte den Hügel hinauf, auf dem Kringström wohnte. Da er nicht wollte, daß der Windhund ihn entdeckte und Fragen stellte, betrat er das Haus auf der Rückseite durch die Hintertür, so schnell er konnte. Kringström wohnte im Erdgeschoß. Joel klingelte. Aber vielleicht saß Kringström in seinem schalldichten Raum und hörte Schallplatten? Wenn keine Laute herausdrangen, drangen vielleicht auch keine Laute hinein? Laute wie die Klingel? Joel drückte noch einmal auf den Klingelknopf. Sollte er gegen die Tür hämmern? Vielleicht würden dann die Nachbarn ihre Türen öffnen, um nachzuschauen, was los war. Da ging die Tür auf, und Kringström stand da, im Morgenrock und in Pantoffeln, obwohl es schon später Nachmittag war.
»Guten Tag«, sagte Joel. »Ich wollte mit Herrn Kringströmsprechen.«
Kringström schob seine Brille herunter, die oben auf seiner Stirn saß, und sah ihn an.
»Ich kauf nichts«, sagte er.
»Ich verkaufe nichts«, antwortete Joel. »Ich möchte gern Saxophon spielen lernen.«
»Wirklich?« sagte Kringström. »Saxophon? Nicht Gitarre wie alle anderen?«
»Nein«, sagte Joel. »Ich möchte gern Saxophon spielen. «
»Ist das denn möglich«, sagte Kringström. »Komm rein und laß dich ansehen!«
Er trat zur Seite und ließ Joel hinein.
Joel wußte, daß Kringström allein lebte. Er war viele Male verheiratet gewesen und hatte sich wieder scheiden lassen. Ihn umgab das Gerücht, er sei verrückt nach Mädchen, obwohl er schon über fünfzig war und fast eine Glatze hatte. Man munkelte sogar darüber, er hätte etwas mit der gefürchteten Eulalia Mörker gehabt.
Aber jetzt lebte er wieder allein. Joel betrat die Wohnung und dachte, er sei in ein Musikgeschäft geraten. Überall lagen Schallplatten herum. In der Mehrzahl waren es alte Schellack-Platten in braunen Tüten. Aber es gab auch Langspielplatten und kleine Singles. Die Wände waren mit Regalen bedeckt. Wo sich keine Schallplatten drängten, lagen Instrumentenfutterale. Joel folgte Kringström durch die Wohnung. Da war das Zimmer im Zimmer. Mittendrin, wie ein Fahrkartenschalter, ohne Fenster. Nur eine Tür. Kringström schob einen Stapel Schallplatten auf einem Stuhl beiseite und sagte, Joel solle sich setzen.
Joel sagte, wie er hieß. Er versuchte, so höflich wie möglich zu sein.
»Saxophon«, sagte Kringström und kratzte sich an der Nase. »Warum willst du nicht Gitarre spielen lernen wie alle anderen ?«
»Ich finde, das Saxophon klingt am schönsten«, sagte Joel.
»Fast wie eine Orgel.«
Kringström nickte.
»Und du willst, daß ich es dir beibringe?« fragte er. »Ja«, sagte Joel.
Kringström seufzte. »Ich hab doch keine Zeit«, sagte er. »Aber in diesem Kaff bin ich wahrscheinlich der einzige, der Saxophon spielen kann.«
»Wir brauchen ja nicht sofort anzufangen«, sagte Joel. »Ich hab noch gar nicht genug Geld, um mir ein Saxophon zu kaufen.«
Kringström breitete die Arme aus. »Ein Saxophon kannst du von mir leihen«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob ich es dir beibringen kann, obwohl ich es selbst spiele.« Er beugte sich über das goldschimmernde Saxophon, das auf dem Fußboden lag, und reichte es Joel.
»Blas mal rein«, sagte er. »Versuch, ob du es zum Klingen bringen kannst!«
Joel nahm das Mundstück in den Mund und blies. Es zischte nur. Er versuchte es wieder, blies, was er konnte. Nun piepste es ein bißchen, als ob jemand einer Katze auf den Schwanz getreten hätte.
Kringström schüttelte den Kopf. »Gib mir mal«, sagte er. Und er spielte. Er blies, daß es im Zimmer dröhnte. Die Fensterscheiben bebten. Die Töne hüpften auf und ab, als ob sie auf Treppen herumrasten.
Mitten in der Melodie klopfte jemand gegen die Wand. Kringström hörte sofort auf.
»Die verstehen nichts von meiner Musik«, sagte er düster.
»Wir könnten bei mir zu Hause üben«, sagte Joel. »Unter uns wohnt eine Frau, die ist fast taub.«
»Ich werd drüber nachdenken«, sagte Kringström. »Wir legen uns nicht sofort fest.«
Jetzt war es soweit. Jetzt mußte Joel die wichtigste Frage stellen.
»Darf ich hinter euch sitzen und zuhören?« fragte er. »Wenn das Orchester spielt?«
»Klar darfst du das«, sagte Kringström. »Aber wir spielen erst Samstag.«
»Im Gemeindehaus«, sagte Joel. »Darf ich hinten sitzen und zuhören ?«
Kringström lächelte. »Wenn du uns hilfst, die Instrumente reinzutragen«, sagte er.
»Wann soll ich da sein?« fragte Joel. Er spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Der Plan war geglückt!
»Komm um halb acht zum Hintereingang«, sagte Kringström. »Aber jetzt mußt du gehen. Ich muß wieder ins Paradies.«
Paradies? Erst als Kringström auf den kleinen schalldichten Raum zeigte, begriff Joel.
»Das ist mein Paradies«, sagte Kringström. »Dort gibt es nur die Musik. Und mich.«
Joel fuhr nach Hause. Geronimo Gustafson hatte den ersten Schritt zum großen Plan ausgeführt. Samstag würde er das Fort einnehmen. Er dachte an Kringström und sein Paradies.
Er stellte sich vor, wie er selbst die Plakate im Schaukasten vom Gemeindehaus anklebte. Joel Gustafsons Orchester spielt zum Tanz auf…
Jetzt trägt er nicht mehr seine schäbige Jacke. Jetzt trägt er etwas Silberglänzendes. Weiße Schuhe. Er gibt stampfend den Einsatz. Auf der großen Baßtrommel steht in kunstvoll verschnörkelten Buchstaben »JGO«. Joel Gustafsons Orchester …
Den ganzen Abend denkt er daran, was Samstag passieren wird. Er geht zu Papa Samuel, der die Zeitung liest und dem Meeresrauschen aus dem Radio lauscht. »Kannst du tanzen ?« fragt er.
Samuel läßt die Zeitung fallen. »Natürlich kann ich tanzen«, sagt er erstaunt. »Das kann doch jeder!« »Ich nicht«, sagt Joel.
»Das lernst du in ein paar Jahren«, sagt Samuel. »Kann Eva-Lisa es dir nicht beibringen?«
»Du tanzt nie«, sagt Joel.
»Soll ich hier in der Küche tanzen?« fragt Samuel lachend.
Die nächste Frage hüpft Joel aus dem Mund, ohne daß er vorher darüber nachgedacht hat. »Mama Jenny«, sagt er, »hast du mit ihr getanzt? Habt ihr getanzt?«
»Das haben wir wohl«, antwortet Samuel. Joel sieht, wie ein Schatten von Trauer über sein Gesicht gleitet. Er bereut die Frage. Wo ist sie hergekommen? Sie ist aus seinem Mund geschossen, als ob sie irgendwo auf der Lauer gelegen und darauf gewartet hätte, daß er den Mund öffnet.
Die Traurigkeit verfliegt. Samuel ist wieder wie immer. »Vielleicht sollte man es tun«, sagt er. »Vielleicht sollte ich Sara überreden, mit mir tanzen zu gehen? Es heißt, Kringströms Orchester soll ganz gut sein.« Joel wird starr.
Warum lernt er nie, nicht zuviel zu reden? Wenn Samuel sich nun einmal in den Kopf setzt, Samstag mit Sara ins Gemeindehaus zu gehen?
»Kringströms Orchester ist schlecht«, sagt er. »Hast du es mal gehört?« fragt Samuel verwundert. »Das sagen alle«, fährt Joel fort. »Es soll Schwedens schlechtestes Orchester sein.«
»Ich hab das Gegenteil gehört«, sagt Samuel. »Vielleicht sollte ich hingehen, um rauszukriegen, wer recht hat.« »Das wird dir aber leid tun«, beharrt Joel.
Samuel legt die Zeitung weg und sieht ihn forschend an. »Erstaunlich, was du alles über Kringströms Orchester weißt«, sagt er. »Ist es nicht noch ein bißchen zu früh für dich, ans Tanzengehen zu denken ?«
Dann zerstrubbelt er Joel die Haare und liest wieder die Zeitung.
Joel geht in sein Zimmer und atmet auf.
Das war nah dran, denkt er. Nah dran, daß Geronimo Gustafsons großer Plan vernichtet wurde. Nah dran, daß Samuel allen Ernstes mit Sara ins Gemeindehaus gehen wollte.
Jetzt kann er aufatmen. Nichts steht mehr im Weg. Aber Joel Gustafson täuscht sich. Denn als es Samstag ist und sie über ihrer Frühstücksgrütze sitzen, legt Samuel plötzlich den Löffel beiseite und guckt Joel an. »Du hast mich auf eine gute Idee gebracht«, sagt er. Joel versteht nicht, was er meint. Er hat doch keine Idee gehabt?
»Sara und ich gucken heute abend mal im Gemeindehaus vorbei«, fährt Samuel fort.
Joel denkt, er hört nicht recht.
Aber es stimmt. Und merkwürdigerweise ist es wirklich seine Idee gewesen.
Joel starrt in seine Grütze, wie er vor ein paar Tagen auf seinen Tisch in der Schule gestarrt hat.
Was soll er jetzt machen?
Soll er denn niemals seine gute Tat zu Ende führen dürfen? Muß er das Mirakel sein ganzes Leben lang wie eine Last schleppen ?
Als er mit essen fertig ist, geht er in sein Zimmer. Samuel summt beim Abwaschen vor sich hin.
Wie soll er dieses Problem lösen?
Geronimo Gustafson. Was um alles in der Welt wirst du dir jetzt einfallen lassen?