5
Es konnte passieren, daß Joel eine Tasse oder einen Teller beim Abwaschen zerschlug. Aber das war gar nichts gegen das, was Ludde zerschlug.
Ihm gehörte die Bierstube. Er ging aber nicht von Tisch zu Tisch und sprach mit den Gästen, er stand in der Küche über die Abwaschwannen gebeugt. Ein kleiner, dicker Mann mit Händen, die rot und geschwollen vom Abwaschwasser waren.
Am Hintereingang, der in die Küche führte, hing ein Schild mit der Aufschrift »Zutritt für Unbefugte verboten«. Aber das galt nicht für Joel, da Sara in der Bierstube arbeitete. Er benutzte die Tür nur selten.
In der Küche klapperte und klirrte es laut, und es war so unaufgeräumt. Außerdem mochte er es nicht, daß Sara und die anderen Kellnerinnen ihm über die Haare streichelten. Ihn fast so behandelten, als sei er Saras Sohn. Ihm gefiel es nicht, ein Fast-Sohn zu sein. Und obwohl Sara nett war und Papa Samuel gute Laune kriegte, wenn er mit ihr zusammen war, weigerte sich Joel, so zu tun, als ob Sara seine Mama wäre. Seine Mama hieß Jenny und würde immer Jenny heißen. Auch wenn er sie in seinem ganzen Leben nicht zu Gesicht bekäme, würde er nie eine andere Mama haben.
Manchmal ging er also durch die verbotene Tür. Und jetzt hatte er etwas Wichtiges zu erledigen. Er mußte einen Mann für Gertrud finden.
Als er die Küche betrat, war es noch lauter als sonst. Ludde stand über die Abwaschwannen gebeugt und spülte wie ein Verrückter. In dem schäumenden Spülwasser klapperten und klirrten Gläser und Tassen, Teller und Bestecke.
In der Hauptsache waren es Gläser, weil es ja eine Bierstube war, und alle tranken Pilsner. Aber manchmal bekamen die Männer Hunger und wollten etwas zu essen haben. Ludde kümmerte sich gleichzeitig um den Herd und den Abwasch. In der Bierstube gab es nur ein einziges Gericht, und das wurde »Luddes Gulasch« genannt. Sara hatte Joel erzählt, daß Ludde seine Bierstube schon seit zwanzig Jahren besaß. In all diesen Jahren servierte er immer das gleiche Gulasch. Joel hatte den großen Topf, der auf dem Herd stand, betrachtet und überlegt, daß er schon seit zwanzig Jahren in ihm kochte. Hin und wieder kippte Ludde neue Fleischbrocken hinein und rührte die dicke braune Soße um. Aber eigentlich war es das gleiche Essen, das seit zwanzig Jahren auf dem Herd stand. Einmal war Joel hungrig gewesen, und Sara hatte ihm einen Teller voll hingestellt. Beim Essen hatte Joel sich vorgestellt, daß er jetzt etwas aß, das schon auf dem Herd gestanden und gekocht hatte, bevor er überhaupt geboren wurde.
»Joel«, rief Ludde, »du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie froh wir sind, daß du nicht verletzt bist.« »Es war wohl ein Mirakel«, sagte Joel ausweichend. In dem Augenblick kam Sara mit einem Tablett durch die Schwingtür. Das Tablett war voller leerer Flaschen und Gläser, überquellender Aschenbecher und klebriger Teller. Joel überlegte rasch, ob er das Tablett überhaupt anheben konnte.
Sara war stark. Joel hatte einmal gesehen, wie sie sich einen Sack voll Kohlen über die Schulter warf. Obwohl Papa Samuel auch stark war, hatte Joel überlegt, ob Sara nicht noch mehr tragen konnte.
Alle Kellnerinnen in der Bierstube waren stark, und sie sahen alle gleich aus. Groß und dick und verschwitzt. Außerdem waren sie alle gleich gekleidet, schwarze Röcke und weiße Blusen. Einmal, als Joel in der Küche gewesen war, waren sie alle in einer Reihe zur Schwingtür hereingekommen, und sie waren ihm wie Tiere erschienen. Schwarzweiße Kellner-Elefanten, die aus dem Pilsner-Dschungel getrampelt kamen.
Mit einem Knall setzte Sara das Tablett ab, und Ludde tauchte sofort mehr Teller und Gläser in sein Abwaschwasser. Ein Teller und ein Glas rutschten vom Tablett und zersprangen auf dem Fußboden.
Joel traute sich nicht hinunterzuschauen, aus Furcht, er würde in Lachen ausbrechen. Um Luddes Füße herum lag immer ein Haufen von zerbrochenem Geschirr. Damit er sich nicht an den Scherben schnitt, trug Ludde schwarze Galoschen an den Füßen. Aber in den Galoschen trug er keine Schuhe, sondern Pantoffeln. Da Joel nicht sicher war, ob es Ludde gefiel, wenn man über ihn lachte, vermied er es, auf den Fußboden zu gucken. Er blinzelte nur. Und dann mußte er nicht lachen.
Sara hatte ihm erzählt, daß alles Geld, das Ludde mit dem Verkauf von Pilsner und Gulasch verdiente, für den Kauf von neuem Geschirr draufging. Wenn Sara und die anderen Kellnerinnen ihren Lohn bekommen hatten, genau wie der Rausschmeißer Nyberg, wenn Bier und alle Gulaschportionen bezahlt waren, hatte Ludde gerade noch genug Geld übrig, um neue Teller und Gläser zu kaufen. So ging das nun Jahr für Jahr. Und der Topf mit dem Gulasch stand auf dem Herd und blubberte und kochte vor sich hin.
»Joel«, sagte Sara fröhlich und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Wenn sie mich nur nicht umarmt, dachte Joel. Das will ich nicht.
»Nett, daß du mich besuchen kommst«, fuhr Sara fort und zog ihn an sich und umarmte ihn. Joel versuchte, sich dagegenzustemmen. Aber das half nichts. Sara war stark wie ein Schwergewichtsheber. Sie hätte herumreisen und auf Jahrmärkten als die Starke Sara auftreten können. »Hast du Hunger?« fragte sie. »Möchtest du etwas essen?«
»Nein«, antwortete Joel. »Ich wollte dich nur besuchen. «
Noch wußte er nicht, wie er es anfangen sollte, einen Mann für Gertrud zu finden. Er wußte auch nicht, ob Sara ihm helfen konnte. Darum sagte er noch nichts weiter. Während er den Hügel von Simon Urväders Haus hinuntergelaufen war, hatte er darüber nachgedacht, was er eigentlich darüber wußte, wie sich Erwachsene kennenlernten. Alles, was mit Liebe zu tun hatte, war schwer verständlich für ihn. An und für sich wußte er sehr genau, wie man das eine oder andere machte. Hinter der Schule, dort, wo die Mülltonnen standen, hatte Otto sich einmal dazu herabgelassen, Joel und ein paar anderen Jungen zu erklären, wie Kinder entstehen. Joel hatte aufmerksam zugehört, um kein Wort zu verpassen. Zuerst hatte er gedacht, Otto sei verrückt. Sollte es wirklich so zugehen, wie Otto sagte? Und was passierte in Wirklichkeit? Joel war klug genug gewesen, keine Fragen zu stellen. Lange hatte er daran gezweifelt, ob Otto die Wahrheit gesagt hatte. Aber als er dieselbe Geschichte später noch einmal von anderen hörte, war ihm klargeworden, daß es vermutlich keine Lüge war, wie merkwürdig das alles auch klang. Merkwürdig und anstrengend. Er hatte häufig darüber nachgedacht, wieso es eigentlich so viele Kinder gab, wo das Ganze so kompliziert wirkte.
Joel wußte also eine Menge. Und er wußte auch, wie Küssen ging, wenngleich er es noch an keinem Mädchen ausprobiert hatte, nur an seinem eigenen Spiegelbild. Die große Frage war also, wie sich Erwachsene kennenlernten. Einen Teil der Antwort wußte er. Man konnte samstags abends ins Gemeindehaus zum Tanzen gehen, wenn Kringströms Orchester spielte. Außerdem hatte er in Büchern gelesen, wie man sich auch auf andere Art und Weise kennenlernen konnte. In den Märchen kletterten Prinzen an langen Zöpfen zu Prinzessinnen hinauf, die in hohen Türmen eingesperrt waren.
Aber im Ort gab es keine anderen Türme außer dem Kirchturm und dem roten Turm der Feuerwehr, wo die Feuerwehrleute ihre Wasserschläuche aufhängten. Joel hatte Schwierigkeiten sich vorzustellen, wie Gertrud ohne Nase oben im Feuerwehrturm saß.
Es gab noch mehr Arten, wie Erwachsene sich kennenlernten. Joel hatte viele Bücher gelesen, in denen beschrieben wurde, wie sich Leute kennenlernten und dann heirateten.
Aber nie wurde beschrieben, was Otto ihnen zwischen den Mülltonnen erzählt hatte. Wahrscheinlich war es zu langweilig, davon zu erzählen, vermutete Joel.
Man konnte sich in den Überresten eines Zuges kennenlernen, der in einen Hohlweg gestürzt war. Man konnte ein Mädchen aus einem Wasserloch im Eis ziehen und es dann heiraten. Man konnte sich eine schwarze Maske umbinden und ein Mädchen rauben.
Es gab viele Arten. Aber als Joel am Fuß des Hügels angekommen war und stehenblieb, um Atem zu holen, bevor er durch die Hintertür der Bierstube ging, hatte er gedacht, daß Gertrud den Mann, den sie bisher noch nicht gefunden hatte, wohl im Gemeindehaus treffen mußte. Joel setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke, wo er am wenigsten im Weg war. Sara war wieder mit einem Tablett voller Bierflaschen durch eine der Schwingtüren verschwunden. Er versuchte sich auszudenken, wie er Sara dazu bringen konnte, ihm zu helfen, ohne daß sie es merkte. Wenn er es schaffte, daß sie von den Männern draußen in der Bierstube erzählte, welche verheiratet waren und welche nett waren, dann könnte er hinterher den aussuchen, der am besten zu Gertrud paßte.
Aber was paßte eigentlich am besten zu Gertrud? Welcher Mann würde ihr gefallen?
In der Küche, wo Ludde die ganze Zeit solchen Krach an den Abwaschwannen machte, war Nachdenken schwer. Sara und die anderen Kellnerinnen liefen rein und raus, leerten Tabletts und beluden sie mit neuen Flaschen und Gläsern.
»Bald muß ich mich setzen«, sagte Sara und verschwand mit ihrem Tablett.
Die beiden anderen Kellnerinnen, die Karin und Hilda hießen, sagten dasselbe. »Bald müssen wir uns setzen und uns ausruhen.«
Joel sagte nichts. Er ärgerte sich, daß er mit dem Besuch in der Bierstube nicht gewartet hatte. Zuerst hätte er überlegen müssen, welche Art Mann Gertrud haben sollte. Dann hätte er sich ausdenken müssen, wie er Sara dazu bringen könnte, ihm zu helfen.
So war das oft bei Joel. Er vergaß nachzudenken, bevor er etwas anfing. Dann kam so etwas wie jetzt heraus. Und Ludde ließ ein Glas fallen, das auf dem gewürfelten Kachelfußboden zersprang…
»Jetzt«, rief Sara, warf das Tablett von sich und sank auf einen Stuhl. »Jetzt werd ich mich erholen!«
Sie goß sich Kaffee ein, steckte ein Stück Zucker in den Mund und begann zu schlürfen. Dann sah sie Joel an und lächelte.
»Ich bin so froh«, sagte sie. »Ich bin so froh, daß dir nichts passiert ist. Und wie die Kerle da draußen über den Unfall reden! Jetzt haben sie was, worüber sie sich die Köpfe heiß reden können. Jeder kennt Joel Gustafson.«
Joel wußte nicht, ob das gut oder schlecht war. Vielleicht würden sich die Leute auf der Straße nach ihm umdrehen und denken: Da geht Joel Gustafson, der vom Ljusdalbus überfahren worden ist, ohne eine Schramme abzukriegen.
Vielleicht würde er sogar einen Spitznamen bekommen. Wie Pferdehändler Under, der nur Wieher-Harry genannt wurde. Oder Hugo, der Elektriker und beste Eishockey-Spieler des Ortes. Wer wußte eigentlich, daß er Hugo hieß, wo jeder ihn nur den Schläger nannte.
Die Welt ist voller Spitznamen, dachte Joel. Schläger und Läuse-Franz und Pinsel-Karlson, der Maler war. Es gab einen Schornsteinfeger, der wurde Olle gerufen, obwohl er Anders hieß. Und der Bäcker wurde Fliege genannt, weil es so surrte, wenn er redete, denn ihm fehlte ein Schneidezahn. Ein Maurer wurde Pfui Spinne genannt, weil es das einzige war, was er sagte. Und der Propst, der Nikodemus hieß, wurde von den Leuten, die ihn kannten, Nicke genannt. Sonst sagte man nur der Propst. Dann gab es einen Skifahrer, der Schlittschuh-Nisse genannt wurde, und einen Bierfahrer, der Die Tonne genannt wurde. Aber am merkwürdigsten war die Sache mit dem Tischler, der Johanson hieß und der Schweißer genannt wurde. Was für einen Spitznamen würde Joel bekommen? Joel Ljusdal Gustafson? Glücks-Joel? Mirakel-Joel?
Joel runzelte die Stirn und zog eine Grimasse bei dem Gedanken. Das schlimmste mit dem Spitznamen war, daß ihn immer die anderen erfanden. Man müßte seinen Spitznamen selbst bestimmen dürfen.
»Warum machst du so ein Gesicht?« fragte Sara und lachte.
»Ach, nur so«, antwortete Joel.
»Nett, daß du mich besuchen kommst.«
»Ich wollte dich was fragen«, sagte Joel, ohne daß er wußte, was er fragen wollte.
Sara nickte und sah ihn an.
Im selben Augenblick flog die Schwingtür auf, und die Kellnerin Karin kam in die Küche. Sie war ganz rot vor Wut.
»Ich weiß nicht mehr weiter mit den Kerlen«, sagte sie. »Da haben zwei angefangen sich zu prügeln.« Ludde hörte auf abzuwaschen und sah sie an. »Was macht Nyberg?« fragte er. »Warum schmeißt er sie nicht raus?« »Er hat's versucht«, sagte Karin. »Aber jetzt liegt er zuunterst. «
Plötzlich waren alle auf dem Weg zur Tür. Joel war aufgestanden und folgte Sara. Aber an der Schwingtür drehte sie sich um und sagte sehr energisch: »Du bleibst hier.« Joel war wütend, daß er nicht mitdurfte. Gleichzeitig merkte er, daß er auch ein bißchen Angst hatte. Vorsichtig spähte er durch die Tür.
Tische und Stühle lagen umgeworfen auf dem Fußboden. Rausschmeißer Nyberg kroch gerade aus einem Durcheinander von Armen und Beinen hervor. Er hielt sich die Nase und sah böse aus. Sara hatte einen betrunkenen alten Mann gepackt und schüttelte ihn, als ob es ein kleiner Junge wäre. Ludde fuchtelte mit seinen roten Händen und rief etwas, das Joel nicht verstand.
Wer sich da eigentlich prügelte, konnte er auch nicht erkennen.
Aber er entdeckte zwei Männer an einem Tisch, die ganz unberührt zu sein schienen von all dem, was da vor sich ging. Sie tranken Bier und steckten die Köpfe dicht zusammen und unterhielten sich. Der eine war blond. Er sah einem blonden Jungen aus der Käsewerbung sehr ähnlich, fand Joel, obwohl er bestimmt dreimal so alt war wie der Junge aus der Werbung. Der andere war dunkel und trug sein Haar wie Elvis Presley.
Die, dachte Joel. Einer von denen könnte Gertruds Mann werden!
Er hätte die beiden gern weiter durch den Türspalt beobachtet. Aber jetzt kamen Ludde und Sara zurück in die Küche. Rausschmeißer Nyberg beförderte zwei Personen zur Vordertür hinaus. Karin und Hilda räumten nach der Schlägerei auf. Joel lief wieder zu seinem Stuhl.
Ludde kehrte zu seinen Abwaschwannen zurück und ließ als erstes einen Teller fallen. Sara sank auf ihren Stuhl, holte ein Taschentuch zwischen ihren Brüsten hervor und wischte sich das Gesicht ab.
»Was ist passiert?« fragte Joel und versuchte so zu tun, als ob er die ganze Zeit auf dem Stuhl gesessen hätte. Sara beugte sich vor und flüsterte: »Ich hab wohl gesehen, daß du geguckt hast.«
Joel wurde rot. Er hatte ein Gefühl, als ob er vom Bauch bis zur Stirn hinauf rot wurde. Zuerst wollte er ableugnen, daß er geguckt hatte. Aber dann überlegte er es sich sofort anders. Sonst würde er noch mehr erröten. »Es war nicht so schlimm«, sagte Sara. »Sobald sie sich ein bißchen abgekühlt haben, sind sie wieder lammfromm.«
»Warum haben sie sich geprügelt?« fragte Joel. Ihm gefiel nicht, daß Sara ihn gesehen hatte.
»Weiß ich auch nicht«, sagte Sara und zuckte mit den Schultern. »Weißt du das?«
Die letzte Frage hatte sie Karin gestellt, die gerade mit einer Besenschaufel in der Hand durch die Schwingtür kam.
»Was soll ich wissen?« fragte Karin.
»Warum sie sich geprügelt haben.«
Karin leerte die Schaufel in einen Eimer, der zwischen dem Herd und der Abwaschwanne stand, wo Ludde mit Tellern und Gläsern klapperte.
»Es ging wohl um ein Mädchen«, sagte Karin. »Männer prügeln sich doch nur, wenn es um ein Mädchen geht.« Joel hörte mit großen Augen zu.
»Ich glaub, die sind in dasselbe Mädchen verknallt«, fuhr Karin fort. »In Anneli aus dem Schuhladen.«
»Ist das eine, um die man sich prügelt?« fragte Hilda, die auch in die Küche gekommen war. Dann sah sie Joel an. »Oder was sagt Joel dazu?« fragte sie. »Man braucht sich doch nicht um eine Schuhverkäuferin zu prügeln, oder?«
Die Kellnerinnen lachten, und Ludde ließ erneut ein Glas fallen.
Joel merkte, daß er wieder rot wurde. Deswegen meinte er, etwas sagen zu müssen, was ihnen zeigte, daß er verstanden hatte, wovon die Rede war.
»Ich werd mich nie um eine prügeln, die Schuhe verkauft«, sagte er. »Nie.«
Da lachten sie noch mehr, und Hilda streichelte ihm über den Kopf. Joel versuchte, sich zu entziehen, aber sie ließ die Hand auf seinem Kopf liegen und zauste sein Haar. »Er ist genauso nett wie Rolf und David«, sagte sie. »Die Mädchen, die die mal kriegen, können von Glück sagen.«
Dann setzte sie sich zusammen mit Sara und Karin an den Tisch. Joel hörte zu, was sie so redeten. Er hatte gelernt, daß es manchmal wichtig war, Erwachsenen zuzuhören. Manchmal sagten sie Sachen, von denen man etwas lernen konnte. Das passierte nicht oft. Nur manchmal. Wie jetzt.
Denn plötzlich begriff Joel, daß sie über die beiden redeten, die am Tisch sitzen geblieben waren und sich überhaupt nicht um die Schlägerei gekümmert hatten. »Wenn man doch jünger wäre«, sagte Hilda seufzend und massierte ihre müden Füße.
»Wenn man wenigstens Söhne hätte wie sie«, sagte Karin.
Sara sagte nichts. Aber sie nickte und war derselben Meinung. Und die ganze Zeit klapperte Ludde in seiner Abwaschwanne.
Joel stand auf und wollte sich durch die Tür davonschleichen, ohne daß ihn jemand bemerkte. Er sah nicht den Scheuereimer, der neben seinem Stuhl stand. Er stolperte und fiel mit dem Kopf voran mitten zwischen die drei Kellnerinnen.
»Da kommt ein Junge geflogen«, sagte Hilda und lachte.
Joel merkte, daß er wieder rot wurde.
So oft wie heute war er noch nie rot geworden. Karin erhob sich, nahm ihr Tablett und ging wieder durch die Schwingtür hinaus.
Hilda verschwand im Lager und begann, neue Bierkisten hereinzuschleppen. »Was wolltest du mich fragen?« fragte Sara.
»Sieht einer von den beiden aus wie der Junge aus der Käsewerbung?« fragte Joel zurück.
Sara sah ihn erstaunt an. »Wie meinst du das? Käsewerbung? Wer von denen sieht aus wie Käsewerbung?« »David oder Rolf? Du kennst doch die Käsewerbung.« Da verstand sie, was er meinte. Sie lachte und schlug sich auf die Knie. »Du meinst David«, sagte sie lachend. »Er sieht wirklich aus wie dieser Blondschopf aus der Werbung. «
»Das wollte ich nur wissen«, sagte Joel. »Tschüs!« Dann lief er zur Tür hinaus, ehe Sara ihn mehr fragen konnte.
Draußen dämmerte es. Joel stellte den Jackenkragen auf und rannte zur Ecke, um auf die Kirchturmuhr zu sehen. Schon fünf!
Jetzt mußte er aber schnell nach Hause und die Kartoffeln aufsetzen. Papa Samuel kam nie später als sechs. Dann mußten die Kartoffeln fertig sein.
David und Rolf mußten warten. Jetzt hatte er es eilig…
Der Abend kam. Durch die Wand hörte Joel Papa Samuels Radio. Joel saß im Schneidersitz auf seinem Bett und schrieb in seinem Tagebuch, das er aus »Celestines« Glasvitrine genommen hatte.
Eigentlich schrieb er nicht. Er hatte schon wieder aufgehört.
»Heute hat es Krach gegeben in der Bierstube…« Mehr hatte er nicht geschrieben. Plötzlich fand er es albern, Tagebuch zu schreiben. Oder Logbuch, wie er das kleine Buch mit den schwarzen Deckeln früher genannt hatte. Er hatte angefangen zu lesen. Einige Seiten hatte er an den Rändern zusammengeklebt und einen roten Stempel darauf gemalt. Das bedeutete, daß sie für ein Jahr geheim waren. Aber er hatte sich nie darum gekümmert. Sein eigenes Tagebuch mit einem Geheimstempel zu versehen, das war eine Kinderei, die er sich jetzt, wo er bald zwölf wurde, nicht mehr erlauben konnte. SNEHDUZESI stand auf dem Umschlag.
Suche nach einem Hund, der unterwegs zu einem Stern ist. Sein geheimer Freund.
Er las hier und da im Buch, und er hatte ein Gefühl, als ob es schon lange her war, seit das alles passiert war, was er hier aufgeschrieben hatte. Dennoch war es kaum mehr als ein gutes halbes Jahr her. Nicht mal so lange.
Ihm gefiel nicht, daß die Zeit so schnell verging. Daß sich alles so rasch veränderte. Nicht zuletzt er selbst. Eigentlich wünschte er, alles bliebe immer so, wie es war. Man müßte einen Tag, der richtig gut gewesen war, selbst aussuchen und dann sagen dürfen: So soll es immer sein! Aber das ging ja nicht! Warum ging das nicht?
Joel seufzte und warf das Tagebuch vor sich aufs Bett. War es das vielleicht, wie man erwachsen wurde? Wenn man erkannte, daß es einen solchen Tag nicht gab, wonach sich nichts mehr ändern würde?
Sahen deswegen so viele Erwachsene so müde und schlecht gelaunt aus? Weil sie wußten, daß es so war?
Ungeduldig sprang er aus dem Bett und legte sich der Länge nach auf den Fußboden und betrachtete die zerschnittenen Karten. Er versuchte, sich das Geographiespiel weiter auszudenken. Aber das machte auch keinen Spaß. Da legte er sich auf den Rücken und guckte zur Decke hinauf. Er folgte den Rändern der Feuchtigkeitsflecken mit den Augen.
Plötzlich hatte er ein Gefühl, als läge er wieder unter dem Bus.
Wenn er nun gestorben wäre!
Dann hätte er nie gemerkt, wie schlecht es in Simon Urväders Haus roch. Oder hätte nie wieder mit Papa Samuel am Küchentisch gesessen und wäre mit ihm über die Weltmeere gereist.
Er wäre nie mehr eingeschlafen und nie mehr aufgewacht.
Die Gedanken gefielen ihm nicht. Sie waren wie Ameisen in seinem Kopf. Er richtete sich auf und dachte, daß es Zeit sei, ins Bett zu gehen.
Eigentlich hatte er die größte Lust, alle Gedanken an die gute Tat aufzugeben. Gertrud sollte sich doch selbst einen Mann suchen, wenn sie einen wollte. Sie konnte sich im Kirchturm einmauern und auf einen warten, der zu ihr heraufkletterte …
Das verflixte Mirakel, dachte er.
Eigentlich wäre es wohl Eklund, der die gute Tat ausführen müßte.
Der hatte doch alles angerichtet und Glück gehabt, daß er keinen Menschen totgefahren hatte.
Aber im tiefsten Inneren wußte Joel, daß er es war, der die gute Tat tun mußte. Und dann war es am besten, gleich damit anzufangen.
Er setzte sich wieder aufs Bett und begann, in seinem Tagebuch zu schreiben:
»Heute habe ich, Joel Gustafson, der noch keinen Spitznamen hat, beschlossen, daß Gertrud einen Mann haben muß. Das soll meine gute Tat zum Dank für das Mirakel sein. Ich habe David oder Rolf dazu ausersehen, ihr Mann zu werden. Nun muß ich nur entscheiden, wer von ihnen beiden besser zu ihr paßt…«
Er las durch, was er geschrieben hatte. Es war gut. Es war mehr als genug.
»Willst du nicht ins Bett gehen, Joel?« rief Papa Samuel aus seinem Zimmer. Joel hörte, daß er das Radio einfach rauschen ließ. Das machte er, wenn er dem Meer lauschen wollte.
»Sofort!« antwortete Joel. »Bin schon dabei.« Obwohl der Ort so klein war, hatte er David und Rolf noch nie gesehen. Er wußte nicht, wie sie mit Nachnamen hießen, wo sie wohnten und arbeiteten. Was sollte er tun, wenn sie hundert Kilometer entfernt wohnten?
Morgen muß ich anfangen, dachte er. Ich werde Otto fragen. Der weiß von allen, wie sie heißen.
Joel ging in die Küche und legte das Tagebuch zurück in »Celestines« Glasvitrine. Dann zog er sich aus, putzte die Zähne und kroch ins Bett.
Im ersten Augenblick war es so kalt, daß er alle Muskeln seines Körpers anspannte. Dann wurde es langsam wärmer unter der Decke.
»Ich bin im Bett!« rief er.
Samuel kam in seinen Pantoffeln angeschlurft.
»Papa«, sagte Joel, »hast du jemals einen Spitznamen gehabt?«
Samuel sah ihn erstaunt an.
»Warum fragst du danach?«
»Ich möchte es bloß wissen.«
Samuel schüttelte den Kopf.
»Als ich zur See fuhr, haben mich einige Sam genannt«, antwortete er. »Aber das ist ja wohl kaum ein Spitzname, oder?«
»Hat Mama einen gehabt?«
Er wunderte sich selbst über die Frage. Die hatte er gar nicht vorgesehen. Sie war ganz von allein gekommen.
Samuel sah ernst aus. »Nein«, sagte er, »sie hieß Jenny, sonst nichts.«
Joel richtete sich heftig auf. »Das ist falsch«, sagte er. »Was soll daran falsch sein?« fragte Samuel verwundert.
»Sie hieß nicht Jenny«, antwortete Joel. »Sie heißt Jenny.«
Samuel nickte langsam. »Ja«, sagte er, »sie heißt Jenny. Da hast du recht. Schlaf jetzt.«
Hastig strich er Joel über die Wange und ging in sein Zimmer. Die Tür zur Küche ließ er angelehnt. Ein schmaler Lichtstreifen reichte bis zu Joels Bett.
Diesen Lichtstreifen betrachtete Joel immer eine Weile, bevor er einschlief. Dabei konnte er hören, wie Samuel Wasser in die Schüssel goß.
Das war etwas, das sich nie veränderte. Das war jeden Abend geschehen, solange Joel zurückdenken konnte. Er spürte, wie seine Augenlider schwer wurden. Als letztes vorm Einschlafen dachte er, daß er sich überhaupt nicht darauf freute, Otto danach zu fragen, wie David und Rolf mit Nachnamen hießen. Und wo sie wohnten.
Um Otto sollte man möglichst einen großen Bogen machen. Er ärgerte die anderen und benahm sich blöde. Aber wen sonst sollte er fragen?
Er drehte sich zur Wand und rollte sich unter der Decke zusammen. Am nächsten Tag wollte er mit der Jagd nach dem Käsemann und seinem Freund beginnen…