8

An dem Abend erkannte Joel, daß keine Wut größer ist als die, die man gegen sich selbst richtet.

So böse auf sich selbst wie jetzt war er noch nie in seinem Leben gewesen. Selbst Papa Samuel wunderte sich über ihn.

»Was murmelst du da dauernd vor dich hin?« fragte er.

»Ich fluche«, antwortete Joel.

Papa sah ihn erstaunt an. »Warum?«

»Warum nicht«, antwortete Joel.

»Man hat doch einen Grund, wenn man flucht«, sagte Samuel. »Ich fluche, wenn ich im Wald stolpere. Oder mit dem Fuß umknicke. Oder mir auf den Daumen haue.« »Ich hab mir den Kopf gestoßen«, sagte Joel. Sofort sah Papa Samuel besorgt aus.

»Bist du mit dem Fahrrad umgefallen?« fragte er. »Ich hab mir innen drin den Kopf gestoßen«, sagte Joel. Dann ging er in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Papa Samuel begriff, daß er Joel am besten in Ruhe ließ. Er setzte sich wieder in seinen Sessel und las weiter die Zeitung.

Joel nahm Rache an sich selbst, indem er alle Bonbons aufaß, die noch übrig waren. Alle zweiundsiebzig. Kriegte er jetzt Bauchschmerzen, dann war es genau die richtige Strafe, weil er Käsemann auf den Brief an David geschrieben hatte.

Gedankenlosigkeit nannte man so was. Das hatte er bei Frau Nederström gelernt. Wenn man etwas Dummes machte, war man gedankenlos.

Das war ein gutes Wort. Leere im Kopf, bedeutete es. Der Schädel war nichts weiter als eine Blechdose, in der zufällig ein Paar blaue Augen, eine Nase und ein Mund saßen. Und zottliges Haar obendrauf. Eine verrostete Blechdose, die Joel Gustafson hieß. Eine verrostete, gedankenlose Blechbüchse …

Natürlich würde David Samstagabend nicht zum Vogelbad kommen. Er würde den Brief zwanzigmal lesen, ohne irgend etwas zu begreifen. Dann würde er ihn zerreißen und in den Papierkorb werfen. Schlimmstenfalls würde er anfangen nachzudenken. Natürlich hatte ihm der Barfußmann vom Besuch des seltsamen kleinen Bruders in der Unterwelt erzählt. Er würde sofort kapieren, daß es ein Betrüger gewesen war. Und dann würde er anfangen, auf den Straßen nach ihm zu suchen…

Joel erkannte, daß er sein Aussehen ändern mußte. Sich als ein anderer verkleiden. Aber was sollte er antworten, wenn Frau Nederström ihn fragte, warum er sich so verändert hatte. Was würde Samuel sagen? Und die Klassenkameraden?

Und Otto! Otto würde sich bestimmt so manches zusammenreimen. Niemand konnte so schnüffeln wie Otto. Er würde beim Käsemann petzen. Joel würde gefangengenommen und in den Rachen des Raubtiers geworfen werden. Er würde ein Menschenopfer im Maul vom Herrscher des Feuers werden…

Joel ging in die Küche und versuchte, sein Aussehen vor dem gesprungenen Rasierspiegel zu verändern. Er machte das Haar naß und zog sich einen Scheitel. Aber das Haar stand ihm zu Berge, wieviel Wasser er auch daraufspritzte. Das Wasser lief ihm in den Hemdkragen, und auf dem Fußboden bildeten sich kleine Pfützen. Er setzte Papa Samuels Reservebrille auf, die in einem Regal lag. Was er auch tat, sie rutschte ihm auf die Nase, sobald er sich bewegte.

Man müßte wechseln können, dachte er. Einen Tag lang Joel sein. Am nächsten Tag Joella.

Er ging zu Samuels Zimmer und blieb in der Tür stehen. »Wann fängt der Bart an zu wachsen?« fragte er. Samuel ließ die Zeitung sinken und sah ihn erstaunt an. »Warum fragst du das ?« »Ich frag bloß.«

»Da mußt du wohl noch ein paar Jahre warten«, antwortete Samuel und las weiter in der Zeitung. »Sei froh, du. Dann brauchst du dich noch nicht zu rasieren.« »Ich laß den Bart wachsen«, sagte Joel. »Ich werd mich nie rasieren.«

Er ging wieder in sein Zimmer. Da war nichts zu machen. Sein großer Plan hatte sich zerschlagen…

Nicht mal General Custer konnte ihm helfen. Wenn er vor dem strengen General stand und erklären sollte, wie er den Brief mit der wichtigen Botschaft verloren hatte, hatte er nichts zu sagen.

Der General verkündete das Urteil auf der Stelle. In der Dämmerung, wenn die ersten Strahlen der Sonne die Prärie rot färbten, sollte Joel erschossen werden… Und das alles kam nur daher, weil er nicht aufgepaßt hatte, als er über die Straße vor der Bierstube lief. Wäre Eklund nur zehn Sekunden eher oder zehn Sekunden später gekommen, wäre nichts passiert.

Früher hatte Joel immer geglaubt, die Tage würden dadurch aufregend, daß etwas Unerwartetes passierte. Jetzt war er nicht mehr so sicher. Manche Ereignisse müßte man erfahren, bevor sie eintraten. Man müßte auch die Möglichkeit haben, das Eintreten gewisser Sachen zu verbieten.

Er überlegte eine Weile, ob er ein Gebet sprechen sollte. Nicht, daß er glaubte, es würde helfen. Aber ein Versuch schadete ja nicht. Vielleicht hatten Mirakelmenschen Rechte, die andere Menschen nicht hatten?

Er faltete die Hände und murmelte ein Gebet, so schnell er konnte.

»Lieber Gott, laß den Käsemann Samstag zum Vogelbad kommen. Amen.«

Hinterher bereute er es sofort.

Vielleicht mochte Gott Menschen nicht, die nicht richtig an ihn glaubten und trotzdem beteten. Vielleicht war das so was ähnliches, wie wenn man mit falschen Karten spielte?

Er konnte nichts mehr tun. Er ging zu Papa Samuel, der die Socken ausgezogen hatte und seine Zehennägel schnitt. »Fluchst du immer noch?« fragte Samuel.

»Nein«, antwortete Joel, »aber ich möchte mir was zum zwölften Geburtstag wünschen.«

»Wirst du wirklich zwölf?« fragte Samuel. »Himmel, wie die Zeit vergeht!«

»Darf ich?«

»Wünsch dir, was du möchtest. Wenn es nur nicht zu teuer ist.« »Es kostet nichts«, sagte Joel.

»Das ist gut«, sagte Samuel. »Was wünschst du dir?« »Ich möchte, daß wir hier wegziehen«, sagte Joel. »Jetzt.« Samuel hörte mit dem Nägelschneiden auf und sah ihn lange an.

»Ans Meer«, fuhr Joel fort. »Ich möchte, daß du wieder Seemann wirst und mich mitnimmst. Ich möchte, daß wir jetzt wegziehen.«

»Nicht, bevor du mit der Schule fertig bist«, sagte Samuel. »Dann erst, vielleicht. Aber eher nicht.«

»Ich hab genug gelernt«, sagte Joel. »Ich will, daß wir jetzt wegziehen.«

Samuel sah ihn forschend an. »Ist was passiert, daß du unbedingt jetzt weg willst?«

Fast hätte Joel alles erzählt, was passiert war. Aber etwas in ihm sperrte sich dagegen. Er hatte keine Lust zuzugeben, was für eine gedankenlose, verrostete Blechdose er eigentlich war. Vielleicht würde Samuel sagen, daß er so einen Hohlkopf nicht mit auf See nehmen konnte. Das Risiko wollte Joel nicht eingehen.

»Nichts ist passiert«, sagte er. »Hier passiert doch nie was anderes, außer daß ich vom Ljusdalbus überfahren werde.«

»Darüber macht mal keine Witze«, sagte Samuel. Seine Stimme klang plötzlich genauso scharf wie die von Frau Nederström.

Diese Stimme mochte Joel nicht. Sie machte ihm angst. »Es ist nichts«, sagte er. » Klar warten wir mit dem Umzug, bis ich mit der Schule fertig bin.«

»Genau«, sagte Samuel, »und dann werden wir sehen.«

Jetzt war seine Stimme wie immer. Ein bißchen rauh und heiser. Genau, wie Joel es gewohnt war.

Joel zog sich aus und kroch ins Bett.

Damit er nicht an den Käsemann und den Brief denken mußte, beschloß er, sich eine Geschichte auszudenken. Er suchte in seinem Kopf nach Geschichten, die er sich schon früher ausgedacht hatte, ohne zu einem Ende zu kommen.

Da gab es eine, die handelte davon, wie er nach einem geheimen Baum tief drinnen im Wald, irgendwo in der Nähe vom See der Vier Winde, suchte. Zu Füßen des Baumes lag eine Karte vergraben. Fand er sie, konnte er zur Vergessenen Insel segeln. Eine große Insel, die irgendwo im Indischen Ozean lag. Eine Insel, die nur der fand, der die Karte besaß.

Das war eine gute Geschichte. Die konnte viele verschiedene Schlüsse haben.

Nachdem Samuel bei ihm gewesen war und ihm gute Nacht gesagt hatte, rollte Joel sich zusammen und machte die Augen zu. Jetzt liegt er nicht mehr im Bett. Es ist ein Sommermorgen, kurz nach Schulabschluß. Er sitzt vorn neben Simon Urväder, und sie sind auf dem Weg zum See der Vier Winde. Simon riecht nicht mehr schlecht. Er ist frisch gebadet und sauber. Bald hält er den Laster an und läßt Joel aussteigen. Nach dem geheimen Baum muß Joel allein suchen. Simon ist nur sein Chauffeur. Er gehorcht Joel und befolgt den kleinsten Wink. Ein Fenster im Laster ist geöffnet, und ein Schmetterling fliegt herein und umkreist Joels Gesicht. Das ist kein gewöhnlicher Schmetterling. Bald wird Joel entdecken, daß sich das Muster auf seinen Flügeln nicht aus zufälligen Farben zusammensetzt. Auf den Flügeln steht etwas geschrieben. Eine rätselhafte Botschaft, in welche Richtung er gehen muß, um den geheimnisvollen Baum zu finden. Joel verfolgt die Bewegungen der Schmetterlingsflügel. Bald wird er verstehen, was diese Flügel erzählen… Joel schläft.

Der Käsemann kann ihn in seinen Träumen nicht erreichen. Große Schmetterlingsschwärme behüten Joels Schlaf. Samuel kommt in das dunkle Zimmer getappt und deckt Joel gut zu.

Dann läßt er die Küchentür einen Spalt offenstehen, so daß ein schmaler Lichtstreifen über den Fußboden fließt, bis hin zu Joels Gesicht…

Zwei Tage später ist Samstag. Joel ist früh aufgewacht. Obwohl ihn niemand geweckt hat.

Er weiß sofort, daß Samstag ist und daß er frei hat. Er zieht die Decke über den Kopf und versucht sich vorzustellen, es sei Sonntag. Daß Samstag ein Tag ist, den es nie gegeben hat. Ein übersprungener Tag, den niemand vermissen würde. Aber als Samuel anfängt, in der Küche mit der Kaffeekanne zu klappern, ist es immer noch Samstag. Joel richtet sich im Bett auf.

Was soll ich bloß tun, denkt er. Soll ich heute abend hingehen und mich hinterm Holzschuppen verstecken? Oder soll ich alles vergessen?

Er steht auf und zieht sich an. In der Unterhose und in einem der Strümpfe ist ein Loch. Als er das Rollo hochzieht, sieht er, daß wieder Rauhreif liegt. Rotes Laub leuchtet gegen all das Weiß.

Draußen in der Küche murmelt und brummt es. Samuel versucht, einen Hemdenknopf zuzuknöpfen. Er und Sara wollen eine Autotour machen. Sie wollen einen Freund von Samuel besuchen, der heute vierzig wird. Das Auto hat Samuel sich vom Rausschmeißer Nyberg geliehen. Sara hat dafür gesorgt, daß es auch klappt. Eigentlich hätte Joel mitfahren sollen. Aber er hat gesagt, daß er zu Hause bleiben will. Er weiß immer noch nicht, ob er sich hinter Pferdehändler Unders Holzschuppen verstecken soll oder nicht. Auf alle mögliche Weise hat er versucht, sich zu entscheiden. Er hat versucht, ob er den kürzeren gegen sich selbst zieht. Er hat Strohhalme vorbereitet, dreimal hintereinander den kürzeren bedeutete Holzschuppen. Sonst pfeift er drauf hinzugehen. Aber er hat kein richtiges Vertrauen in dies Spiel. Er hat sich Samuels Kartenspiel geliehen und versucht, die Karten auf verschiedene Weise abzuheben, um sich entscheiden zu können. Von zehn Karten müssen mindestens vier Buben sein. Dann wird er sich hinterm Holzschuppen verstecken. Aber auch das gelang nicht. Er hat Pflastersteine gezählt und ist über Pflasterfugen gehüpft. Trotzdem kann er sich nicht entscheiden. Deswegen hat er Samuel gesagt, er möchte lieber zu Hause bleiben, statt mit dem Auto wegzufahren. »Ich arbeite gerade ein Spiel aus«, hat er gesagt. »Ich wollte es Montag mit in die Schule nehmen und Frau Nederström zeigen.«

Sara hat ihm Pfannkuchen gebacken. Sie stehen auf einem Teller in der Vorratskammer. Damit soll er sich trösten, weil er keine Torte auf der Geburtstagsfeier kriegt. »Komm mal her und binde mir den Schlips!« ruft Samuel aus der Küche.

Es ist der blaue Schlips. Der Seemannsschlips. Den Samuel in Glasgow gekauft hat. Der Seidenschlips. Joel kniet auf einem Stuhl und bindet den vertrackten Knoten. Samuel riecht nach Rasierwasser. Er summt vor sich hin, während er den Kopf zurückbeugt, damit Joel den Schlips knoten kann. »Danke«, sagt Samuel, als Joel fertig ist. »Das Taschengeld«, sagt Joel.

»Hast du's noch nicht gekriegt?« fragt Samuel mit gerunzelter Stirn.

Das sagt er jeden Samstag. Hast du's noch nicht gekriegt? Dann lächelt er, holt sein Portemonnaie hervor und gibt Joel eine Krone.

Joel geht mit hinunter, um zu sehen, wie Samuel in Nybergs Auto davonfährt. Es ist kein besonderes Auto. Nicht wie der Pontiac, den Joel in Krages Schaufenster gesehen hat. Es ist ein DKW, der wie ein Motorrad tuckert und knattert. Er ist grün und hat ein weißes Dach. »Ein gutes Auto«, sagt Samuel.

»Man müßte einen Pontiac haben«, antwortet Joel. Samuel sieht ihn an und bricht in Gelächter aus. »Du bist ja verrückt«, sagt er. »Wer kann sich denn einen Pontiac leisten? Das können nur die Reichen.« Wir sind so arm, daß wir uns nicht mal einen DKW leisten können, denkt Joel. Aber dann tut es ihm leid. Er sieht ja, wie Samuel sich freut, daß er mit Sara einen Ausflug machen kann, wenn es auch nur ein geliehenes Auto ist. »Mach keine Dummheiten«, sagt Samuel, als er hinterm Steuer sitzt.

Die Dummheiten hab ich schon gemacht, denkt Joel. »Keine Angst«, antwortet er.

»Ich komme spät«, sagt Samuel. »Aber warte nicht auf mich.«

Dann legt er den Gang ein und fährt los. Joel winkt. Als das Auto verschwunden ist, geht er in die Küche und ißt einen der Pfannkuchen. Er stellt Preiselbeer- und Blaubeermarmelade auf den Tisch, Sahne und Zucker. Von allem streicht er eine doppelte Schicht auf den Pfannkuchen und rollt ihn auf. Wenn Samuel das gesehen hätte, wäre er böse geworden. Aber Joel hat kein schlechtes Gewissen. Samuel kann ja den ganzen Tag lang Torte essen.

Joel hat die Pfannkuchen gezählt. Es sind acht Stück. Einen hat er schon gegessen. Zwei kann er mittags essen. Den Rest bewahrt er auf bis zum Abend.

Die Frage ist nur, ob er es bis zum Mittag aushält, ehe er den nächsten ißt.

Zur Belohnung, daß er nicht gleich noch einen Pfannkuchen ißt, nimmt er zwei Löffel Marmelade. Als er die Gläser zurück in den Vorratsschrank gestellt hat, schraubt er hastig den Deckel von der Blaubeermarmelade noch einmal ab und ißt noch einen Löffel voll.

Dann holt er eine von Samuels aufgerollten Seekarten hervor, die, auf der Afrikas Ostküste und die Inseln im Indischen Ozean sind. Er versucht sich zu entscheiden, wo denn eigentlich die geheime Insel liegt. Er sucht auf der Seekarte, sucht nach einer bestimmten Tiefe und einem Ort, der von Indien und Afrika gleich weit entfernt ist. Plötzlich fällt eine tote Fliege aus dem Lampenschirm auf die Karte. Sie landet in einer Tiefe von dreitausend Metern. Joel verfolgt ihren Fall gedankenversunken bis zum Grund. Dann rollt er die Seekarte wieder auf.

Der Tag vergeht sehr langsam.

Und immer noch hat er sich nicht entschieden, ob er sich hinterm Holzschuppen verstecken soll oder nicht. Vor ihm liegt die Geldmünze. Mit ihr könnte er Kopf oder Zahl werfen.

Aber es wird drei und vier und fünf, und immer noch hat er sich nicht entschieden. Er ißt Pfannkuchen, die vor Marmelade und Sahne fast platzen. Er baut sein Zimmer um und stellt sein Bett so hin, daß er mit den Füßen zum Rollo und Fenster liegt. Eine halbe Stunde lang versucht er, ob er es schafft, das Rollo mit einem Fuß hochzuziehen. Draußen ist es schon dunkel.

Ich pfeif auf alles, denkt er. Ich vergeß die Briefe. Aber als es sieben ist, geht er dennoch nach draußen. Da hat er den letzten Pfannkuchen aufgegessen, und die Blaubeermarmelade ist alle.

Auf der Straße fährt ein Auto mit grölenden Halbstarken an ihm vorbei. Auf dem Rücksitz leuchtet ein rotes Lämpchen. An der Antenne flattert ein Fuchsschwanz. Joel sieht, daß es ein Chevrolet ist. Schwarz mit glänzendem Chrom. Aus einem Lautsprecher im Rückfenster plärrt Musik. Elvis.

Vor dem Hotel lärmt eine Gruppe Menschen. Joel erkennt Redakteur Walting, der einmal eine richtige Safari in Afrika mitgemacht hat. Jetzt leitet er die Lokalzeitung, die einmal in der Woche herauskommt. Er schreibt über langweilige Sitzungen und Flößholz, das im Fluß hängengeblieben ist. Aber einmal ist er in Afrika gewesen. Einmal hat er unter demselben warmen Himmel gestanden wie Samuel…

Beim Konsum liegt ein grünes Mietshaus. Durch ein offenes Fenster hört Joel streitende Stimmen. Sie heben und senken sich und schnattern wie Affen in den Baumkronen.

Joel schaut auf das goldschimmernde Ziffernblatt der Kirchturmuhr. Bald halb acht.

Er folgt dem Pfad, der sich zwischen Fluß und Pfarrhof entlangschlängelt. Angekommen auf der Rückseite von Pferdehändler Unders Haus, bleibt er stehen und lauscht. Irgendwo hinter ihm raschelt es. Eine Katze? Nein, nur eine Waldmaus. Dann ist es wieder still. Der Sternenhimmel ist klar. Joel klettert über den Zaun und tastet sich an den Johannisbeerbüschen entlang. Jetzt sieht er das Vogelbad, das von einer Laterne schwach beleuchtet wird. Noch ist niemand da. Auf dem trüben Wasser des Vogelbades schwimmen rote Blätter.

Joel läuft zum Holzschuppen und schlüpft in seinen Schatten. Dabei stößt er gegen einen Schlitten, der dort steht, und zuckt zusammen. Wieder raschelt es zu seinen Füßen. Die Mäuse sind auf dem Weg in die Wohnhäuser. Das passiert jeden Herbst. Und jetzt ist Herbst. Joel spürt, wie kühl die Luft ist, die er einatmet.

In der Ferne schlägt die Kirchturmuhr dreimal. Noch eine Viertelstunde.

Niemand kommt, denkt er. Weder der Käsemann noch Gertrud.

Plötzlich überfällt ihn Angst. Wenn sie nun einmal erkannt haben, daß er die Briefe geschrieben hat! Vielleicht läßt Gertrud ihn nie wieder in ihr Haus.

Können gute Taten in böse verwandelt werden? Plötzlich hört er es von der Straße auf dem Kies knirschen.

Das sind keine Mäuse. Das sind Füße. Da kommt jemand.

Ein schwarzer Schatten gleitet am Vogelbad vorbei. Joel traut seinen Augen nicht. Es ist Frau Nederström! Was macht sie hier?

Eine neue Angst kriecht heran. Haben der Käsemann und Gertrud gepetzt? Sind sie so gemein, daß sie Frau Nederström an ihrer Stelle schicken?

Joel ist fluchtbereit.

Aber Frau Nederström bleibt nicht beim Vogelbad stehen. Sie geht weiter und verschwindet im Dunkeln. Die Schritte verklingen auf dem Kiesweg. Joel fällt ein, daß sie eine Schwester auf der anderen Seite des Flusses hat. Vielleicht ist sie auf dem Weg dorthin und nimmt die Abkürzung durch den Garten des Pferdehändlers.

Joel kichert innerlich. Frau Nederström nimmt eine Abkürzung. Vielleicht klettert sie auch über Zäune? Die Uhr schlägt achtmal. Joel zählt mit, um ganz sicher zu sein… Sieben, acht.

Die roten Blätter schwimmen im Vogelbad herum. Niemand. Keine Menschenseele. Niemand außer Joel ist gekommen.

Es ist kalt hinterm Holzschuppen. Die Mäuse rascheln im Laub. Eine Maus raschelt besonders an der anderen Seite des Schuppens. Raschelt und raschelt. Plötzlich hustet sie. Räuspert sich. Joel erstarrt.

Das ist keine Waldmaus. Da ist jemand auf der anderen Seite des Schuppens. Jemand, der sich genau wie Joel versteckt hat.

Joel schließt die Augen und bildet sich ein, daß er jetzt unsichtbar ist. Am liebsten wäre er weggelaufen. Aber die Angst nagelt ihn fest. Jetzt knastert es wieder auf dem Kiesweg. Die Schritte kommen von der Flußseite.

Dann sind sie weg. Das Husten auf der anderen Seite des Schuppens ist auch weg. Joel wagt kaum zu atmen. Wer versteckt sich hinterm Holzschuppen?

Jetzt kommen die Schritte näher. Es ist Gertrud. Sie bewegt sich vorsichtig, als ob sie eigentlich nicht dort sein wollte, wo sie ist. Joel will rufen und zu ihr hinlaufen. Da ist jemand hinterm Holzschuppen, möchte er rufen. Dann laufen sie am Fluß entlang, über die Eisenbahnbrücke, und sie bleiben nicht eher stehen, bis sie in Gertruds Küche sind. Dort ist es warm und hell. Vielleicht holt Gertrud ihre Posaune hervor und spielt für ihn ?

Joel schaut Gertrud an, die am Rand des Laternenlichts steht. Er sieht, daß sie ihre schönsten Kleider angezogen hat. Das Loch in der Nase hat sie mit einem Seidentaschentuch bedeckt. Joel weiß, daß sie dieses Tuch sonst kaum benutzt.

Die Kirchturmuhr schlägt einmal. Viertel nach. Gertrud sieht sich um.

Der Käsemann kommt nicht, denkt Joel.

Dann bricht er seinen Gedanken ab.

Natürlich ist es der Käsemann, der hinter dem Holzschuppen steht. Der Gertrud nachspioniert.

Joel wird wütend. Obwohl er es ist, der das Ganze angerichtet hat, tut ihm Gertrud leid. Sie ist nicht so ein Mensch, dem man einfach nachspioniert…

Jetzt prasselt es wieder. Das Prasseln kommt näher. Es wächst, bewegt sich auf Joel zu. Er drückt sich gegen den Schlitten. Er wagt kaum zu atmen.

Ein Schatten gleitet an ihm vorbei.

Aber wie kann man einen Schatten erkennen, wenn alles schwarz ist ?

Dann hört er ein Flüstern.

»Die blöde nasenlose Person.«

Das ist alles. Der Schatten verschwindet lautlos hinter den Johannisbeerbüschen.

Gertrud steht unbeweglich da, wartend.

Die Uhr schlägt zweimal. Halb neun.

Dann geht sie. Joel sieht, daß sie mit gesenktem Kopf geht. Sie ist traurig. Ihre Schritte klingen traurig. Sie verklingen, verstummen.

Wütend rennt Joel durch den Garten. Er muß weg. Den halben Weg nach Hause läuft er. Als er nach dem Schlüssel unter Samuels alten Schuhen im Treppenhaus sucht, zittern ihm die Beine.

Er knipst alles Licht in der Wohnung an, das es gibt. Die Dunkelheit will er verjagen.

Ich hab Gertrud weh getan, denkt er. Wie konnte das kommen?

Er geht zum Vorratsschrank und ißt Marmelade. Er schlürft sie in sich hinein, Löffel um Löffel.

Dann geht er in die Küche und mustert sich in dem gesprungenen Rasierspiegel.

Mirakelmann Joel Gustafson.

»Was soll ich machen?« fragt er das Spiegelbild. Was soll ich jetzt machen?

Dann meint er, Gertruds Gesicht im Spiegel zu sehen. Sie ist sehr traurig.

Allein in ihrer Küche. Auf der anderen Seite des Flusses…