6

Es kam, wie Joel sich das vorgestellt hatte. Natürlich machte Otto einen Haufen Ärger.

In der zweiten Pause nahm Joel allen Mut zusammen und ging auf dem Schulhof zu Otto. Der war gerade dabei, ein rostiges Fahrtenmesser gegen ein Paar alte Motorradhandschuhe zu tauschen. Joel hielt sich im Hintergrund, bis der Tauschhandel abgeschlossen war. Er sah, wie Otto die Handschuhe zufrieden in seine Jackentasche steckte. Da ging Joel auf ihn zu. »Ich will mit dir reden«, sagte er. Otto sah ihn mißtrauisch an.

»Kannst du denn reden?« fragte er höhnisch. »Ich dachte, Knirpse wie du können nur flennen.«

Fast hätte Joel sich auf ihn gestürzt. Aber er hielt sich gewaltsam zurück. Genau das wollte Otto ja, daß die, die kleiner waren als er, eine Prügelei anfingen. Dann konnte er sie verhauen und sich hinterher damit verteidigen, daß er ja nicht angefangen hatte.

»Ich wollte dich was fragen«, sagte Joel. »Wenn du mir antwortest, kriegst du zwei Sammelbilder.«

Joel wußte, daß Otto auch Fußballerbilder sammelte. Er hatte beschlossen, die beiden Bilder zu opfern, die in den Hustenbonbonschachteln von Sara gewesen waren. Otto sah ihn immer noch mißtrauisch an.

»Bestimmt«, sagte Joel. »Ich leg dich nicht rein.« »Wenn du mich reinlegst, kriegst du Prügel«, sagte Otto und begann, in Richtung Mülltonnen hinter der Schule zu gehen.

Die Mülltonnen waren der Ort auf dem Schulhof, wo man sich beratschlagte. Dorthin durften nur die großen Jungen gehen. Niemals Mädchen. Und kleine Jungen nur in Begleitung von großen.

»Ich will die Bilder sehen«, sagte Otto und baute sich vor Joel auf.

Jetzt war die Situation gefährlich, das wußte Joel. Wenn er nicht aufpaßte, riß Otto die Bilder einfach an sich und ging weg, ohne auf irgendwelche Fragen zu antworten. Aus dem Grund holte Joel nur ein Bild hervor und zog sich gleichzeitig zurück. »Das ist nur eins«, sagte Otto.

»Ich hab noch eins«, antwortete Joel. »Aber erst will ich Antwort auf meine Fragen haben.«

»Welche Fragen ?«

Joel schüttelte den Kopf und bog um die Ecke. Er lehnte sich gegen eine der Mülltonnen und zwang sich, Otto gerade in die Augen zu sehen.

»Es gibt da zwei, die heißen Rolf und David«, sagte Joel. »Die sitzen oft in der Bierstube. Einer von denen sieht aus wie der aus der Käsewerbung. Wie heißen die mit Nachnamen? Wo wohnen sie? Was machen sie?«

»Das waren drei Fragen«, sagte Otto und grinste. »Ich muß drei Bilder kriegen.«

Joel fiel keine gute Antwort ein. »Wenn man drei Fragen stellt, muß man auf eine Frage eine Antwort umsonst bekommen«, sagte er etwas zögernd.

Otto grinste immer noch. »Wer hat das gesagt?« »So ist das nun mal draußen in der Welt«, sagte Joel. »Aber du weißt vielleicht nicht, wie es draußen in der Welt zugeht ?«

Das war eine gefährliche Antwort. Otto konnte wütend werden und eine Prügelei anfangen. Schnell zog Joel die Hände aus den Taschen, bereit, sich zu verteidigen. Aber Otto grinste nur. »Ich weiß schon, wie es draußen in der Welt zugeht«, sagte er. »Glaub bloß nicht, daß du mir was beibringen kannst.«

Jetzt hab ich ihn reingelegt, dachte Joel triumphierend. Das schaffen nicht viele!

»Warum willst du was über die wissen ?« fragte Otto.

»Das geht dich nichts an.«

»Dann antworte ich dir nicht.«

»Dann kriegst du keine Bilder.«

Otto zuckte mit den Schultern.

»Rolf heißt Person«, sagte er. »Der wohnt in der Nähe der Straßenbauverwaltung bei seiner Mutter. Er arbeitet alles mögliche.«

»Was alles mögliche?«

»Alles mögliche. Alles mögliche heißt alles mögliche!«

Joel begriff, daß Otto es nicht wußte.

»Und der andere?« fragte er.

»Ich glaub, der heißt Lundberg«, sagte Otto. »Er arbeitet bei der Gemeinde und jagt Ratten.«

Joel wurde sofort mißtrauisch. Er hatte noch nie davon gehört, daß jemand fürs Rattenjagen bezahlt bekam. »Das gibt's doch gar nicht, daß jemand Ratten jagt!« sagte er. »Das gibt's wohl! Glaubst du, ich lüge?«

Otto machte einen drohenden Schritt auf Joel zu. »Ich glaube nicht, daß du lügst«, antwortete Joel. Er konnte nichts dagegen tun, daß seine Stimme zitterte. »Er hält die Kloaken sauber. Er wohnt in einem Nebengebäude auf dem Hof von Taxi-Lasse. Wenn du weißt, wo der wohnt?« »Ich weiß, wo Taxi-Lasse wohnt!«

Otto streckte seine große Hand vor. »Die Bilder!« sagte er.

Joel holte sie aus der Jackentasche und legte sie in Ottos Hand. Otto steckte sie in die Innentasche seiner Jacke. Dann packte er Joel plötzlich an seiner Jacke. »Jetzt kriegst du eine Abreibung«, sagte er.

In dem Augenblick klingelte es. Die Pause war zu Ende. Otto ließ die Jacke los. »Ein andermal«, sagte er. »Ein andermal kriegst du Prügel, weil du soviel fragst.« Für den Rest des Schultages hatte Joel keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, was Otto gesagt hatte. Frau Nederström war schlechter Laune, und Joel war nicht sicher, ob sein Mirakel ihn vor ihrem Zorn schützte. Als die Schule aus war, ging Joel zusammen mit ein paar Klassenkameraden zu Krages Autohandel, um ein neues Auto anzusehen, das dort ausgestellt war. Es war ein blitzblanker Pontiac. Sie standen lange davor und starrten durch die Schaufensterscheibe und überlegten, wer es sich leisten konnte, das Auto zu kaufen.

Es war schon spät, als Joel nach Hause kam und anfing, Kartoffeln zu waschen. In dem Augenblick fiel ihm auch ein, daß es der Tag war, an dem er sein Fahrrad abholen sollte, das zur Reparatur war. Wie konnte er das Fahrrad vergessen?

Er sah auf die Küchenuhr. Wenn er lief, konnte er es schaffen, bevor der Fahrradladen schloß. Aber dann fiel ihm ein, daß er heute morgen vergessen hatte, Samuel um Geld zu bitten. Und der Fahrradhändler räumte nie Kredit ein, das wußte Joel. Das Fahrrad mußte bis morgen warten.

Er setzte sich auf die Küchenbank und dachte über das nach, was Otto gesagt hatte. Mit wem sollte er anfangen? Rolf oder David? Ehe er wußte, welcher besser zu Gertrud paßte, mußte er sie ausspionieren.

Er sprang von der Bank, ging in den Vorraum und durchsuchte Samuels Taschen. In der einen fand er ein Fünf-ÖreStück. Er nahm es mit in die Küche und entschied, daß die große Krone Rolf und die Rückseite David bedeutete. Dann ließ er das Geldstück auf dem Küchentisch tanzen und herumtrudeln.

Die Krone lag zuoberst. Er mußte mit Rolf anfangen…

»Du bist abends aber verflixt oft unterwegs«, sagte Samuel nach dem Essen, als Joel anfing, seine Gummistiefel anzuziehen.

»Nur eine Weile«, sagte Joel.

»Wohin willst du ?«

Joel dachte rasch nach. »Eva-Lisa«, sagte er. Eine bessere Antwort fiel ihm nicht ein.

Samuel ließ die Zeitung fallen und blinzelte ihn über seine Lesebrille hinweg an. »Du bist aber oft bei ihr. Fängst du schon an, dich für Mädchen zu interessieren?« Joel wurde sofort rot. Er wandte Samuel den Rücken zu, als er seine Jacke anzog.

»Ja«, sagte er. »Vielleicht heirate ich sie in ein paar Jahren.« Dann ging er.

Aus den Augenwinkeln sah er, daß Samuel vor Überraschung die Kinnlade herunterfiel.

Das hat er davon, wenn er so eine überflüssige Frage stellt, dachte Joel zufrieden.

Draußen war es kühl. Der Himmel war klar, und die Sterne funkelten. Joel wußte nicht genau, wie er es anfangen sollte, Rolf nachzuspionieren, um herauszukriegen, ob er der geeignete Mann für Gertrud war.

Sollte er an der Tür klingeln, sich vorstellen und erklären, um was es ging? Daß er nach einem passenden Mann für Gertrud suchte? Daß es seine gute Tat sein sollte, mit der er das Mirakel ausgleichen wollte, das er erlebt hatte? Nein, so würde er es natürlich nicht machen. Rolf würde glauben, er sei verrückt.

Joel kroch durch ein Loch im Apothekenzaun, das er selbsteinmal mit einer alten Gartenschere hineingeschnitten hatte. Dann ging er an den Johannisbeerbüschen entlang, die den Hof des Möbelgeschäfts abgrenzten. Dort gab es einen kleinen Schuppen, auf den er klettern konnte. Vom Schuppendach konnte er das Haus hinter der Straßenbauverwaltung sehen, in dem Rolf mit seiner Mutter wohnte. Vorsichtig schlich er an den Johannisbeerbüschen entlang. Der Möbelhändler wurde leicht wütend. Joel hatte gelernt, sich vor ihm in acht zu nehmen. Er lauschte in die Dunkelheit. Dann zog er sich auf das Dach. Er hatte sich ausgerechnet, daß Rolf im Erdgeschoß wohnen mußte, da im ersten Stock eine alte Lehrerin wohnte. Mehr Wohnungen gab es nicht in dem kleinen Haus. Er spähte zu den Fenstern im Erdgeschoß. Jetzt wurde es spannend…

Langsam hob er den Kopf und sah zu den Feuern, die weit entfernt leuchteten. General Custer persönlich hatte ihm den Auftrag erteilt. Er durfte nicht zurückkehren, ehe er nicht jede Einzelheit im Lager der Indianer ausspioniert hatte. Wenn er erwischt wurde, das wußte er auch, gab es keine Rückkehr. Dann mußte er sterben…

Er konnte geradewegs durch die Fenster sehen. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Auf einem Stuhl saß eine Frau und strickte. Eine kleine Katze spielte mit dem Garnknäuel neben ihren Füßen. Alles war so nah, daß Joel sogar erkennen konnte, daß es ein Paar Fausthandschuhe werden sollten. Rote Fäustlinge.

Aber wo war Rolf? Joels Blick wanderte zum nächsten Fenster.

Da war er!

Er stand in der Küche und wusch ab. Um die Taille trug er eine Schürze. Joel zog eine Grimasse.

Einen Mann, der abwusch, hatte er sich nicht gerade für Gertrud vorgestellt. Dann könnte es genausogut… Der Feind ist schwach, dachte er. Im Indianerlager waren im Augenblick nur alte Weiber. Er konnte zum General zurückkehren und ihm vorschlagen, zum Angriff überzugehen, bevor die Männer von ihrer Jagd von weit entfernten Prärien zurückkamen.

Eine Weile blieb er auf dem Dach sitzen. Aber nichts passierte. Die Frau auf dem Stuhl strickte. Das Kätzchen spielte. Und Rolf wusch ab. Als er damit fertig war, brachte er seiner Mutter eine Tasse Kaffee. Dann legte er sich aufs Sofa und las die Zeitung. Die gleiche Zeitung, die Samuel las. Nichts Spannendes. Nichts über Motoren oder Sport. Nur die normale Zeitung, die voller Bilder von Leuten war, die winkten oder sich die Hand gaben.

Joel begann zu frieren, und er sprang vom Dach. Rolf würde es nicht werden. Joel hatte fast Lust, ihm eine Geheimbotschaft zu schicken, in der stand, daß er nicht bestanden hatte. Eine Botschaft, die er mit seinem eigenen Blut unterzeichnen würde…

Langsam ging er zurück zur Straße und trottete nach Hause.

Was sollte er machen, wenn David, der Käsemann, genauso langweilig war?

Wie sollte er dann einen Mann für Gertrud finden? Er wußte es nicht…

Als er am nächsten Morgen erwachte, war die Erde weiß von Rauhreif.

Joel sah mißmutig aus dem Fenster. Auch wenn es noch kein richtiger Schnee und Winter waren, es war zu früh. Früher hatte Joel den ersten Schnee mit Spannung erwartet. Es war immer etwas Besonderes, wenn er an jenem Morgen das Rollo hochzog und den ersten Schnee sah. Aber nicht so früh im Jahr. Es war doch erst September. Auch Samuel seufzte.

»Jaja«, sagte er. »Bald stapft man wieder durch den Schnee.«

Joel dachte, er könnte ihm sagen, was er dachte. Daß, wenn Samuel nicht so dumm gewesen wäre und den Seemannsjob an den Nagel gehängt hätte, er jetzt auf einem schwankenden Deck unter dem Himmel der Karibik stehen könnte. Nicht nur er, auch Joel…

Aber er sagte nichts. Nicht, wenn er um das Geld bitten mußte, mit dem er die Fahrradreparatur bezahlen wollte.

Samuel holte sein Portemonnaie hervor und gab Joel fünf Kronen.

»Ich glaub, das reicht nicht«, sagte Joel. »Wahrscheinlich kostet es neun Kronen.«

Samuel seufzte und tauschte den Fünf-Kronen-Schein gegen einen Zehner aus.

Samuel seufzte immer, wenn Joel ihn um Geld bat. Joel hatte beschlossen, er würde nie seufzen, wenn die Kinder, die er vielleicht bekam, ihn um Geld baten…

Samuel verschwand im Treppenhaus, und Joel saß über seiner Kakaotasse. Er dachte an Rolf mit der Schürze. Hoffentlich war der Käsemann nicht genauso.

Er sah auf die Uhr und schoß hoch. Er hatte wieder zu lange getrödelt. Jetzt mußte er so schnell rennen, wie er nur konnte, um rechtzeitig in die Schule zu kommen. Er fluchte, als er die Jacke an sich riß. Warum lernte er es nie ?

Obwohl er lief, was er konnte, kam er zu spät. Die Tür zum Klassenzimmer war geschlossen, und er hörte das Harmonium. Er hängte seine Jacke an den Haken und setzte sich auf ein Fensterbrett im Korridor. Jetzt mußte er warten. Es war unmöglich, das Klassenzimmer zu betreten, während die anderen den Morgenpsalm sangen. Dann konnte er ganz sicher sein, daß Frau Nederström ihn an den Haaren zog.

Joel sah auf den Schulhof hinaus, der weiß von Rauhreif war.

Würde ihm eine gute Entschuldigung einfallen, warum er zu spät gekommen war? Sollte er dem Mirakel die Schuld geben? Daß er so schwer daran zu tragen hatte, daß er sich nur sehr langsam bewegen konnte?

Er schüttelte den Kopf über seine eigene Gedanken. Frau Nederström würde sich nicht täuschen lassen. Wenn sie richtig wütend wurde, konnte sie ihm befehlen, im Klassenzimmer herumzumarschieren, damit alle seine müden Beine sahen. Und Otto würde dasitzen und grinsen… Die Orgelmusik war verstummt. Joel sprang von der Fensterbank. Er hob die Hand, um an die Tür zu klopfen.

Da drinnen waren die Raubtiere, die nur darauf warteten, sich auf ihn zu stürzen.

Er ließ die Hand sinken.

Ich bin krank, dachte er. Die gute Tat, die ich ausführen muß, macht mich krank.

Plötzlich hatte er sich entschieden. Er würde heute nicht in die Schule gehen. Er nahm die Jacke vom Haken und schlich vorsichtig zur Tür hinaus.

Damit ihn niemand sah, duckte er sich unter den Fenstern, bis er um die Ecke bog.

Als er hinaus auf die Straße kam, fühlte er sich sehr erleichtert. Er hatte eine gute Entscheidung getroffen. Einen Tag konnte er ruhig wegbleiben. Bauchschmerzen bekam man schnell. Die konnte er gekriegt haben, nachdem Samuel in den Wald gegangen war. Plötzliche Bauchschmerzen, während er am Küchentisch saß. Nichts Ernstes. Aber doch so schlimm, daß er nicht in die Schule gehen konnte.

Jetzt hatte er einen ganzen Tag für sich. Als erstes würde er sein Fahrrad abholen. Bis zwei konnte er machen, was er wollte. Dann war die Schule aus, und es bestand die Gefahr, daß er Frau Nederström auf der Straße traf. Doch bis dahin war er frei.

Er tastete nach dem Zehn-Kronen-Schein in seiner Tasche.

Plötzlich hatte er eine Idee. Es war nicht sicher, daß es ging. Aber einen Versuch war sie wert…

Der alte Johanson öffnete gerade den Kiosk. Joel sah zu, wie er die Klappen vor dem Schaufenster entfernte. Auf dem Gehweg lag ein Packen Zeitungen.

Der alte Johanson bemerkte ihn und zeigte auf die Zeitungen.

»Die Schlagzeilenplakate«, sagte er. »Häng sie auf.« Joel hockte sich hin und begann, die Schnur um den Packen zu lösen. Es war ein Doppelknoten, den er nicht aufkriegte. Er entdeckte einen verrosteten Nagel, der zwischen zwei Steinen eingeklemmt war. Den schob er in den Knoten und zog und zerrte daran herum. Schließlich hatte er ihn gelöst und konnte die gelben Schlagzeilenblätter auspacken. Während er sie mit Heftzwecken feststeckte, las er, was auf den Blättern stand. In großen schwarzen Buchstaben stand da, daß man sich geeinigt habe. Wer hatte sich geeinigt?

Man mußte die Zeitung lesen, um das zu erfahren. »Joel Gustafsons Mirakel« hätte da stehen können. »Joel Gustafsons Kampf mit der anstrengenden guten Tat.«

»Rolf taugt nicht, entschied Joel Gustafson.« »Was wird aus dem Käsemann ?«

»Wer wird Gertruds Mann? Lesen Sie den spannenden Fortsetzungsroman!«

Joel hob den schweren Zeitungspacken an und hievte ihn durch die Kioskluke. Der alte Johanson nahm die Zeitungen entgegen.

Für seine Mühe bekam Joel einen Bonbon.

»Kannst du das hier wechseln?« fragte Joel und streckte seinen Geldschein vor. »In einen Fünfer und Ein-Kronen-Stücke.«

Der alte Johanson zog die Kasse auf und zählte das Geld vor.

»Warum bist du heute nicht in der Schule?« fragte er. »Unsere Lehrerin ist krank«, antwortete Joel. Das war eine gute Antwort. Einmal könnte sie stimmen, zum anderen war es schwer zu kontrollieren. Aber der alte Johanson hatte es sicher schon wieder vergessen. Er beugte sich über seine Zeitungen im Kiosk und sortierte sie.

Joel lief zum Fahrradgeschäft. Er war gespannt, ob er es schaffen würde. Die Türglocke schellte, als Joel eintrat. Der Fahrradhändler kam vom Lager.

»Ich wollte mein Fahrrad abholen«, sagte Joel. »Das rote. Die Kette war kaputt.«

Der Fahrradhändler verschwand in der Werkstatt und kam mit Joels Fahrrad zurück. Auf dem Sattel klebte ein Zettel.

»Genau zehn Kronen«, sagte der Fahrradhändler. »Ich hab nur acht«, sagte Joel mit jämmerlicher, piepsiger Stimme.

»Es kostet zehn Kronen«, sagte der Fahrradhändler. »Das steht hier auf dem Zettel. Ich hab ihn selbst geschrieben.«

Joel versuchte auszusehen, als ob er gleich weinen würde.

Es gelang.

»Dann gib mir acht Kronen«, sagte der Fahrradhändler.

»Aber es kostet zehn. Ich hab's selbst auf den Zettel geschrieben.«

Joel gab ihm acht Kronen und schob das Fahrrad aus dem Laden.

Zwei Kronen waren nicht schlecht.

Der Tag hatte gut angefangen. Er hatte ein gutes Geschäft gemacht, und er hatte kein schlechtes Gewissen, weil er nicht zur Schule gegangen war.

Er fuhr davon und machte ein paar Schleuderproben auf dem Schotterweg zum Fluß hinunter. Die Kette war in Ordnung. Jetzt konnte er nach dem Käsemann suchen. Er bremste vor einer runden Eisenplatte, die in den Asphalt auf der Straße eingegossen war. Vielleicht war der Käsemann da im Untergrund bei seinen Ratten? Joel hätte den Deckel hochheben und nach ihm rufen können. Plötzlich wurde es spannend. Noch nie hatte er daran gedacht, daß es auch eine Unterwelt in diesem Kaff gab. Unterirdische Tunnel mit Rohrleitungen und riesigen Ratten, die durch ihre Schnurrhaare fauchten.

Er könnte in ein Loch hinuntersteigen und verschwinden. Häuser und Straßen und Menschen wären über ihm. Vielleicht gab es sogar einen Tunnel unter der Schule? Unter Frau Nederströms Füßen?

Er sah sich um. Traute er sich, den Deckel anzuheben und hinunterzuklettern? Es waren zu viele Menschen da, die ihn sehen konnten. Die Unterwelt besuchte man nur, wenn niemand sah, was man tat.

Er fuhr weiter zum Rathaus, das oberhalb des Pfarrhofs lag, an einem Abhang zum Fluß. Er stellte sein Rad in dem Gestell mit dem Schild »Für Rathausbesucher« ab. Dann öffnete er die Tür und ging hinein.

Er stand in einer großen Halle mit Steinfußboden. Eine breite Treppe führte zum ersten Stock hinauf. An den Wänden hingen Bilder mit strengen Männern, die ihn mit gerunzelter Stirn ansahen. Er lauschte. Es war still. In einem kleinen Raum mit einer Glasscheibe davor hing ein Telefonhörer an einer Schnur und schaukelte langsam hin und her. Joel ging näher und sah, daß es die Telefonzentrale war.

Langsam bekam er ein Gefühl, als befände er sich auf einem Geisterschiff. Jemand hatte den Telefonhörer losgelassen und sich über Bord gestürzt.

Er lauschte wieder. Immer noch war es ganz still. Wenn er sich über den Steinfußboden bewegte, war nur das leise Quietschen seiner Gummistiefel zu hören. Er kam in einen Korridor. An einer angelehnten Tür hing ein Schild, auf dem »Bürovorsteher« stand. Joel guckte hinein. Aber das Zimmer war leer. Er ging weiter. Die nächste Tür war geschlossen. Und die nächste auch. Dann kam eine weit offene Tür. »Gemeindeingenieur« stand auf dem Schild. Joel betrat das Zimmer. Die Wände waren mit Bücherregalen und Kartenständern bedeckt. Auf dem Schreibtisch lag eine große Karte, die wie eine Seekarte aussah. Joel ging näher und guckte. Es war die Zeichnung von einem Haus. Joel drehte sich um und wollte gehen. Da stand plötzlich ein Mann in der Tür. Joel zuckte zusammen.

Der Mann trug einen dunkelblauen Arbeitsanzug. Joel bemerkte, daß der Mann barfuß war.

»Ist der Ingenieur nicht da?« fragte der Mann. »Nur ich«, sagte Joel, »ich hab mich verlaufen.«

Plötzlich schlug sich der Mann im blauen Arbeitsanzug gegen die Stirn.

Wieder zuckte Joel zusammen.

»Die haben ja eine Besprechung«, sagte der Mann. »Die ganze Gemeindeverwaltung. Das hab ich ganz vergessen.«

Der Barfußmann sah Joel an. Er wirkte keineswegs unfreundlich.

»Du hast dich verlaufen?« fragte er. »Wen suchst du denn?«

»David«, sagte Joel.

»David«, sagte der Barfußmann. »Da hast du dich wahrhaftig verlaufen. Komm mal mit mir. Was willst du übrigens von ihm?«

Was sollte Joel antworten?

Jetzt saß er ordentlich in der Klemme. Der Barfußmann versperrte die Türöffnung. Er konnte sich nicht an ihm vorbeidrücken.

Plötzlich leuchtete das Gesicht des Barfußmannes auf. Joel sah, daß ihm mehrere Zähne fehlten.

»Jetzt weiß ich«, sagte der Barfußmann. »Du bist Davids kleiner Bruder.«

»Nein«, sagte Joel.

Der Barfußmann hörte seine Antwort nicht. »Davids kleiner Bruder«, sagte er. »Komm mit.«

Er nahm Joel am Arm und schob ihn vor sich her. Er hatte nicht zu fest und nicht unfreundlich zugepackt. Aber Joel konnte sich trotzdem nicht befreien.

Er bekam es mit der Angst zu tun. Dem Käsemann würde es vielleicht gar nicht gefallen, wenn da einer kam, der so tat, als wäre er sein kleiner Bruder.

»Ich glaub, hier drinnen ist er«, sagte der Barfußmann. Sie waren in einem dunklen Keller angekommen und vor einer großen Stahltür stehengeblieben. Joel hörte Getöse hinter der Tür.

Der Barfußmann kurbelte an einem Rad, und langsam glitt die Tür auf. Das Getöse nahm zu.

Jetzt hatte Joel wirklich Angst. Er hätte davonlaufen können in diesem Augenblick. Aber er tat es nicht. Er war gefangen in seiner eigenen Angst.

Der Barfußmann stieß die große Stahltür auf. Das Getöse wurde ohrenbetäubend.

»Ich glaub, hier drinnen ist dein Bruder!« rief er, um den Lärm zu übertönen.

Gleichzeitig wurde es warm. Die Luft, die ihnen entgegenschlug, war heiß wie ein Sommertag.

»Komm«, sagte der Barfußmann und schob Joel vor sich her.

Joel blieb auf der Schwelle stehen.

Der Raum vor ihm stand in Flammen. Riesige Flammen heulten und tosten.

Der Barfußmann schob ihn vor sich her, geradewegs auf das Feuer zu.

Plötzlich fiel Joel sein Traum ein.

Der Traum, in dem er verbrannt war.

Vor ihm wuchsen die Flammen.

Bald würde ihn die Unterwelt verschlingen…