3

In einem Punkt konnte Joel sicher sein, was Gertrud anging. Daß sie keine Nase hatte.

Aber das war auch alles. Aus Gertrud, die vor langer Zeit ihre Nase bei einer mißlungenen Operation im Krankenhaus verloren hatte, wurde Joel nie richtig klug. Fast alles, was sie tat, war Das Gegenteil. Obwohl sie der Freikirche angehörte, wo Hurra-Pelle Pastor war, sah sie nicht aus wie die anderen Kirchentanten. Die gingen schwarz gekleidet und trugen flache Hüte mit einem kleinen schwarzen Netz über der Stirn. Sie liefen in Galoschen herum und hatten immer braune Handtaschen bei sich. Gertrud aber nie. Sie nähte ihre Kleidung selbst. Joel hatte mehrere Abende in ihrer Küche gesessen und zugesehen, wie sie die Nähmaschine trat. Aus alten Kleidern nähte sie neue. Sie konnte zwei Mäntel zerschneiden und einen neuen daraus nähen. Dann probierte sie ihn an, und Joel durfte ihr helfen, die Säume zu stecken. Nie trug sie einen Hut. Statt dessen zog sie sich häufig eine alte Militärpelzmütze über den Kopf. Eine war weißgelb gewesen. Gertrud, die kräftige Farben liebte, hatte sie rot angemalt.

Joel fand, Gertrud war ein anstrengender Mensch. Nie wußte man im voraus, was sie sich einfallen lassen oder was sie sagen würde. Es war gleichzeitig aufregend und kompliziert. Gewisse Streiche, die sie anstellte und an denen er sich beteiligen sollte, machten ihn verlegen. Dann wieder fand er, daß sie der aufregendste Mensch der Welt sei.

Gertrud war erwachsen. Fast dreißig Jahre alt. Sie war fast dreimal so alt wie Joel. Trotzdem konnte sie sich wie ein Kind aufführen. Ein Kind, das sogar noch jünger als Joel war.

Sie war ein erwachsener Kindmensch. Und das war anstrengend.

Joel blieb vor der Küchentür stehen und lauschte. Es kam vor, daß Gertrud traurig war. Dann saß sie auf einem Küchenstuhl und weinte. Sie hatte einen besonderen Weinstuhl, der in der Ecke neben dem Herd stand. Es war, als ob sie eine Schämecke für sich selbst eingerichtet hätte. Joel mochte es nicht, wenn Gertrud weinte. Sie weinte viel zu laut. Obwohl sie keine Bauchschmerzen hatte oder hingefallen war und sich weh getan hatte, klang es, als ob sie Schmerzen hätte.

Wenn man traurig ist, muß man leise weinen, dachte Joel. Man muß so leise weinen, daß einen niemand hört. Nicht heulen, daß die ganze Welt stehenblieb. Das durfte man nur, wenn einem was weh tat. Aber nicht, wenn man traurig war.

Es war einige Male so gewesen, daß Gertrud in der Küche gesessen und geweint hatte, wenn Joel sie besuchen wollte. Dann war Joel umgekehrt und wieder nach Hause gegangen. Aber jetzt war es still in der Küche.

Joel lauschte, das Ohr gegen die kalte Tür gepreßt. Dann zog er an einer Schnur, die an der Wand hing. Sofort begann es hinter der Tür zu läuten.

Das gefiel Joel am besten an Gertrud. In ihrem Haus war nichts wie bei anderen Leuten. Sie hatte nicht mal eine normale Klingel, auf die man drücken konnte. Sie hatte eine Schnur, an der man ziehen mußte. Und dann begann hinter der Tür ein Glockenspiel zu spielen.

Das hatte Gertrud selbst erfunden. Sie hatte einen alten Wecker zerlegt und die Teile mit ein paar Schellen zusammengebaut, die sie sich vom Pferdehändler Under erbettelt hatte. Und das Ganze funktionierte. Der Rest des Hauses war genauso.

Einmal hatte Joel sie besucht, und sie hatten am Küchentisch ein langweiliges Puzzle gelegt. Als sie fast fertig waren, war sie plötzlich vom Stuhl aufgesprungen und hatte alle Puzzleteile auf den Fußboden gefegt. Nur einige wenige Teile hatten noch nicht ihren Platz gefunden. »Jetzt weiß ich es!« hatte Gertrud gerufen.

»Wollen wir das Puzzle nicht fertig legen?« hatte Joel gefragt.

Im selben Augenblick hatte er eingesehen, daß es eine dumme Frage war. Alle Teile lagen ja auf dem Linoleumfußboden. Wenn sie das Puzzle fertig legen wollten, mußten sie wieder von vorn anfangen.

Gertrud hatte sich die rote Clownsnase über das Loch unter den Augen gesetzt. Sonst trug sie dort, wo einmal die Nase gewesen war, ein Taschentuch. Aber wenn sie denken wollte oder guter Laune war, setzte sie sich die rote Nase auf. Die Denkernase, nannte sie sie.

»Pfeif aufs Puzzle!« rief Gertrud. »Jetzt machen wir was anderes.«

»Was denn?« fragte Joel.

Gertrud antwortete nicht. Sie sah nur geheimnisvoll aus.

Dann steckte sie den Kopf in den Kleiderschrank und warf einen Haufen Kleider auf den Fußboden.

»Wir machen alles anders«, sagte sie.

Joel verstand nicht, was sie meinte.

»Was anders machen ?« fragte er.

»Alles, was normal ist«, rief Gertrud, »alles, was gewöhnlich und langweilig ist.«

Joel verstand immer noch nicht, was sie meinte. Deswegen wußte er auch nicht, ob er verlegen sein oder ob er es aufregend finden würde.

»Jetzt verkleiden wir uns«, sagte Gertrud und begann, in dem Haufen Kleider herumzuwühlen. »Wir fangen damit an, daß wir uns verändern.«

Da konnte Joel mitmachen.

Ihm machte es Spaß, sich zu verkleiden. Oft, wenn er aus der Schule nach Hause kam und darauf wartete, daß die Kartoffeln kochten, verkleidete er sich mit Papa Samuels Sachen. Vor ein paar Jahren war es nur ein Spiel gewesen. Aber im letzten Jahr hatte Joel Papa Samuels Sachen angezogen, um auszuprobieren, wie es wäre, erwachsen zu sein. Und er hatte entdeckt, daß Kleider für Erwachsene nicht nur größer sind als Kinderkleider. Es gab da noch mehr Unterschiede. Kleider für Erwachsene hatten besondere Taschen, die Kinder nicht brauchten. Taschen, in die man seine Uhr stecken konnte. Oder eine kleine Tasche in einer anderen Tasche, in der man Kleingeld verwahren konnte.

Joel war aufgefallen, daß er auch anders dachte, wenn er Papa Samuels Sachen trug. Er sah sich im Spiegel und sprach mit seinem Spiegelbild, als ob er sein eigener Papa wäre. Er fragte das Spiegelbild, wie es in der Schule gewesen war und ob er auch nicht vergessen hatte, Brot beim Bäcker zu kaufen. Das Spiegelbild antwortete nicht. Aber Joel zog eine unsichtbare Uhr aus der Tasche und seufzte und ermahnte das Spiegelbild, es wenigstens am nächsten Tag nicht zu vergessen.

Tief drinnen in Papa Samuels Kleiderschrank hatte er einmal ein Kleid gefunden. Es hing in einem Beutel, der nach Mottenkugeln roch. Joel dachte, daß es wahrscheinlich ein Kleid war, das seine Mama Jenny vergessen hatte, als sie wegging. Wem sollte es sonst gehören? Sara aus der Bierstube war viel zu dick für dieses Kleid. Außerdem blieb sie nie über Nacht, wenn sie zu Besuch kam. Das hatte Joel verboten.

Er hatte nichts gesagt. Aber er hatte es trotzdem verboten.

Er hatte so sehr daran gedacht, daß Sara wahrscheinlich seine Gedanken gelesen hatte.

Also mußte es Mama Jennys Kleid sein.

Und war es ganz sicher, daß sie es vergessen hatte, als sie ihren Koffer packte und wegging?

Hatte sie es vielleicht mit Absicht zurückgelassen? Damit es da war, wenn sie eines Tages zurückkam? Joel hatte es vorsichtig aus dem Beutel hervorgeholt. Es war blau und hatte einen Gürtel, der um die Taille festgenäht war.

Lange hatte er es vor sich auf dem Küchentisch betrachtet. So lange, daß die Kartoffeln im Topf festgebrannt waren. Erst als es schon roch und räucherte in der Küche, hatte er aufgehört, das Kleid anzusehen. Er hatte es zurückgehängt in den Schrank.

Aber ein paar Tage später hatte er es wieder vorgeholt. Und da hatte er es angezogen.

Ihm war, als sei er Mama Jenny noch nie so nah gewesen.

Er stellte einen Stuhl vor den gesprungenen Rasierspiegel, damit er den Gürtel um die Taille sah.

Dann hängte er das Kleid wieder in den Schrank. Er konnte sich nicht entscheiden, ob Mama Jenny es vergessen oder mit Absicht hatte hängen lassen.

Aber daran konnte er jetzt nicht denken. Gertrud watete in den Kleidern herum, die auf dem Fußboden lagen. »Zieh die an«, sagte sie und reichte ihm eine gelbe Hose. »Beeil dich! Nach acht Uhr am Abend kann man nichts mehr verändern, was normal ist.« »Warum nicht?« fragte Joel.

»Das ist nun mal so«, antwortete Gertrud. »Beeil dich.«

Joel zog die Hose an. Sie war viel zu lang. Er erinnerte sich, daß Gertrud sie einmal aus alten Vorhängen genäht hatte. Dann zog er ein kariertes Hemd an, und Gertrud band ihm einen Schlips um, genau wie er das sonst bei Papa Samuel machte. Gertrud hatte einen alten Overall angezogen, der früher einem Feuerwehrmann gehört hatte. Joel hatte sie einmal gefragt, woher sie all die alten Sachen hatte.

»Das ist mein Geheimnis«, hatte sie geantwortet. »Du weißt doch, was ein Geheimnis ist?«

Das wußte Joel.

Ein Geheimnis war etwas, das man für sich selbst behielt.

Das Haus, in dem Gertrud wohnte, hatte drei Zimmer.

Ein normales Haus, ohne Besonderheiten. Anders war nur, daß es zwei Küchen hatte. Joel kannte niemanden außer Gertrud, der zwei Küchen besaß.

Die zweite Küche, die kleine, war an der einen Wand in Gertruds Schlafzimmer. Dort gab es eine elektrische Kochplatte und ein kleines Spülbecken mit warmem und kaltem Wasser.

»Warum hast du zwei Küchen?« hatte Joel gefragt, als er das zum erstenmal gesehen hatte.

»Ich bin so faul«, hatte Gertrud geantwortet. »Morgens schaff ich es noch nicht, in die große Küche zu gehen. Dann koch ich hier drinnen Kaffee.«

Damals hatte Joel für sich entschieden, daß Gertrud wohl ein bißchen verrückt war. Aber da an ihrer Art, anders zu sein, nichts Gefährliches oder Erschreckendes war, hatte er beschlossen, daß es nur spannend war. Spannend und merkwürdig.

Er hatte sogar ein Wort erfunden, mit dem er Gertrud beschreiben konnte. Keins der Wörter, die er kannte, war wirklich gut. Deswegen hatte er spannend und merkwürdig zu einem neuen Wort zusammengezogen. Gertrud war sperkwürdig.

Aber das hatte er ihr nie erzählt. Vielleicht war es verboten, neue Wörter zu erfinden? Vielleicht saßen irgendwo in einem Büro ernste, alte Männer und bestimmten darüber, welche Wörter es geben durfte und welche verboten waren?

Joel hatte sogar ein Geheimwort für verbotene Wörter. Un-Wort, nannte er sie.

Gertrud zog ihn vor den großen Spiegel, der im mittleren Zimmer des Hauses war. Es war das größte der drei Zimmer. Es war auch das aufregendste Zimmer. Darin gab es so viele Sachen, daß man kaum hineinkam. An der Decke hing ein großer Vogelkäfig. Gertrud hatte einen ausgestopften Hasen hineingesetzt. Auf einem Tisch an der einen Wand stand ein Aquarium. Eine Lampe, die an den Aquariumrand geklemmt war, beleuchtete den Sandboden. Aber in dem warmen Wasser schwammen keine Fische herum. Auf dem Boden stand eine Spielzeuglokomotive. Ein großes Sofa mitten im Zimmer war voller Bücher. An den Wänden hingen Teppiche. Joel war es gewohnt, daß sie auf dem Fußboden lagen. Aber Gertruds Fußboden war mit Sand und Steinen bedeckt, und manchmal holte sie im Winter Tannenreisig aus dem Wald.

In einer Ecke des Zimmers stand ein großer Spiegel. Und dort sahen sie einander an und lachten.

»Gut«, sagte Gertrud. »Jetzt sehen wir nicht mehr wie immer aus. Jetzt können wir anfangen.«

Joel sah sie fragend an. Eigentlich fühlte er sich albern in der gelben Hose und dem karierten Hemd. Aber gleichzeitig war er sehr neugierig darauf, was sie sich einfallen lassen würde.

Gertrud setzte sich auf den Fußboden, und Joel machte es ihr nach.

»Jetzt guck mal«, sagte sie.

»Wohin soll ich gucken?« fragte Joel.

Gertrud zeigte auf die Lampe, die an einem Kabel von der Decke baumelte.

»Guck dir die Lampe an«, sagte sie. »Sie sieht ganz normal aus. Eine normale Lampe, die an einem normalen Kabel von einer normalen Decke hängt. Das müssen wir doch ändern können. Zu was wollen wir sie machen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Joel zögernd. »Eine Lampe ist ja wohl eine Lampe, oder?«

»Aber sie braucht doch nicht so normal auszusehen«, sagte Gertrud. »Stell dir vor, sie sähe wie ein Pilz aus.« »Ein Pilz?«

»Du weißt doch wohl, was ein Pilz ist. Jetzt zeig ich dir, wie eine Pilzlampe aussieht.«

Joel sah, wie sie vorsichtig den Stecker aus der Wand zog, während sie über Bücherberge auf dem Sofa balancierte. Dann holte sie einen kaputten Besenstiel aus der Besenkammer und schraubte ihn in einem alten Tannenbaumständer fest. Sie wickelte die Glühlampe am Besenstiel fest und stülpte einen kaputten Lampenschirm darüber. Unter den Kleidern auf dem Fußboden fand sie einen gelben Stoffetzen, und den legte sie vorsichtig über den Schirm. Dann steckte sie den Stecker wieder ein.

Zu seinem Erstaunen sah Joel, daß die Lampe tatsächlich einem Pilz glich. Jetzt verstand er, was sie meinte. Und jetzt war er dabei. Die Heizung unter einem der Fenster verwandelten sie in einen Tiger. Er malte ihr Streifen und fügte ihr einen Schwanz an. Einen Papierkorb verwandelten sie in ein Auto, indem Joel ein Steuer aus gebogenem Stahldraht am Griff befestigte. Währenddessen zerrte Gertrud an einer schweren Kommode herum, die sie in ein Segelschiff verwandeln wollte.

Dann saßen sie auf dem Fußboden und schnappten nach Luft.

»Sehr viel besser«, sagte Gertrud zufrieden. »Aber dies Zimmer muß unbedingt gestrichen werden. Vielleicht sollte man die Fenster zunageln und Fenster auf die Wände malen.«

»Dann kann man ja nicht lüften«, sagte Joel. »Vielleicht nicht«, sagte Gertrud. »Aber nur vielleicht. Vielleicht geht es trotzdem ?«

Joel überlegte, daß das Durcheinander bei Gertrud kaum größer war als manchmal bei ihm zu Hause. Der Unterschied war nur, daß Gertrud niemals aufräumte. Bei ihr gab es nichts, was Unordnung hieß…

An all dies dachte Joel, während die Glocken hinter Gertruds Tür läuteten.

In wenigen Sekunden konnte er durchdenken, was in Wirklichkeit mehrere Stunden gedauert hatte. Das gehörte zu den unbeantworteten Fragen auf der letzten Seite in seinem Logbuch.

Woher kam es, daß man sich so schnell erinnern konnte?

Er zog wieder an der Schnur.

Vielleicht war Gertrud nicht zu Hause? Manchmal ging sie abends zur Versammlung in ihrer Kirche. Ab und zu verkaufte sie eine religiöse Zeitung an den Haustüren. Davon lebte sie, hatte sie erzählt. Und er hatte andere Leute sagen hören, daß die arme Gertrud, die keine Nase hatte, sehr arm war. Aber sie ist nicht arm, dachte Joel.

Bestimmt konnte sie sich Geld zusammenphantasieren, wenn sie keins hatte.

Endlich hörte er sie hinter der Tür in ihren Pantoffeln heranschlurfen.

Er strengte sich an, den Gesichtsausdruck zu ändern, damit er aussah wie ein Mensch, der gerade ein Mirakel erlebt hatte. Die Tür öffnete sich, und da stand Gertrud.

Sie war ganz blau im Gesicht. Blau wie der blaueste Sommerhimmel.

»Joel!« rief sie. Dann zog sie ihn in den Vorraum und nahm ihn in die Arme.

Joel merkte, daß er auch blau im Gesicht wurde. Jetzt ist alles kaputt, dachte er wütend. Es gibt keine blauen Menschen, die ein Mirakel erlebt haben. Es gibt überhaupt keine blauen Menschen. Gertrud sah ihn ernst an.

»Ich hab gehört, was passiert ist«, sagte sie. »Gott sei Dank, daß es gutgegangen ist.«

Sie schob ihn in die Küche. Dort war es warm. In dem alten Holzherd knisterte es. Auf dem Küchentisch stand eine große Schüssel voller blauer Farbe.

»Was machst du ?« fragte Joel.

»Ich wollte dieses weiße Porzellan anmalen«, antwortete Gertrud. »Aber das wurde mir langweilig, und da hab ich angefangen, mein Gesicht anzumalen.«

Joel nahm seine Mütze ab und knöpfte seine Jacke auf. In dem kleinen Spiegel, der auf dem Küchentisch stand, sah er, daß er auf der Nase und auf der einen Wange blau geworden war. Er sah Gertrud an, ihr blaues Gesicht. Sogar das Taschentuch, das in dem Loch steckte, wo ihre Nase gewesen war, war blau.

Plötzlich wurde er wütend. Sie war ja verrückt. Sie hätte doch wissen müssen, daß er sie besuchen würde, wo er gerade ein Mirakel erlebt hatte.

Mußte sie sich jetzt ganz blau anmalen?

Sie hatte sich ihm gegenüber gesetzt und sah ihn ernst an.

»Ich hab solche Angst gekriegt, als ich hörte, was passiert ist«, sagte sie. »Ich hab Herzschmerzen gekriegt. Stell dir vor, du wärst gestorben, Joel, hättest mich einfach allein gelassen.«

Joel spürte einen Kloß im Hals. Er mußte sich auf die Lippen beißen, damit er nicht in Tränen ausbrach. Er versuchte, an etwas anderes zu denken. An den Rucksack, den er an einen Ast draußen im Wald gehängt hatte. An den Sonntagnachmittag, als er, statt das GeronimoPuzzle fertig zu legen, hinausgegangen war in den Wald, um sich mit Absicht zu verlaufen.

Wie lange war das schon her! So unbegreiflich lange! Gertrud sah immer noch ernst aus. Joel schoß es hastig durch den Kopf, wie merkwürdig es war, daß ein Mensch, der ganz blau im Gesicht war, ernst sein konnte. Und besonders Gertrud. Die verrückte Gertrud! »Es ist wahrscheinlich ein Mirakel gewesen«, sagte Joel. »Was hätte es sonst sein sollen?«

»Gott macht Mirakel«, antwortete Gertrud. »Bei mir hat er es auch gemacht.«

Joel wußte, was sie meinte. Gertrud hatte einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Das war gleich nach der mißglückten Operation gewesen, bei der sie ihre Nase verloren hatte. Sie dachte, sie könnte nicht ohne Nase leben. Sie war zu häßlich, um leben zu können. Da hatte sie sich ein paar alte Bügeleisen in die Taschen gesteckt und sich in das kalte Flußwasser gestürzt. Aber sie war nicht ertrunken. Sie war an einem Wurzelstrunk, der am Boden lag, hängengeblieben, und zwar so, daß ihr Kopf an der Wasseroberfläche blieb. Sie war auch nicht erfroren. Pferdehändler Under war auf der Suche nach einem Pferd, das von seiner Weide ausgebrochen war, am Fluß entlanggegangen. Er hatte sie gesehen und geglaubt, es sei das Pferd, das in den Fluß gefallen war. Er war losgelaufen, um ein Ruderboot zu holen, und hatte sie herausgezogen. Und so hatte sie überlebt.

All das wußte Joel von ihr selbst. Es war noch gar nicht lange her. Eines Abends hatten sie sich aus weißen Laken eine Schneehöhle im mittleren Zimmer gebaut und einander WAHRHEITEN erzählt. Joel hatte von Mama Jenny erzählt, die ihn und Papa Samuel eines Tages verlassen hatte. Gertrud hatte erzählt, wie sie sich in den Fluß gestürzt hatte.

Das ist gut, dachte Joel. Sie weiß, was ein Mirakel ist.

»Was macht man?« fragte er.

»Wie meinst du das ?«

»Wenn man ein Mirakel erlebt hat. Muß man sich nicht dafür bedanken?«

Gertrud lächelte.

»Man muß sich nicht bedanken«, sagte sie, »aber man kann dankbar sein.«

Mit der Antwort war Joel unzufrieden.

»Ich will nicht, daß sich das Mirakel wiederholt«, sagte er, »ich will nicht noch mal vom Ljusdalbus überfahren werden.«

Gertrud sah ihn nachdenklich an.

»Glaubst du an Gott? So wie ich?«

Joel zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich bin ich wie Samuel.«

»Wie ist er denn ?«

»Er ist eine verlorene Seele.«

Gertrud begann zu lachen. Sie lachte so sehr, daß ihr die blaue Farbe übers Gesicht auf die weiße Bluse lief.

»Wer hat das denn gesagt?« fragte sie. »Wer hat gesagt, daß dein Papa eine verlorene Seele ist.«

Wieder zuckte Joel mit den Schultern. Das machte er immer, wenn er nicht wußte, was er antworten sollte. »Frau Nederström hat uns von verlorenen Seelen erzählt«, murmelte er. Gertrud schüttelte den Kopf.

»So ist Gott nicht«, sagte sie. »Aber wenn du dich für das Mirakel bedanken willst, kannst du eine gute Tat tun.« Das war es! Natürlich! Eine gute Tat wollte er tun. Daß er nicht selbst darauf gekommen war! Darüber hatte er in Büchern gelesen. Menschen, die eine große Gefahr überlebt hatten, bedankten sich, indem sie eine gute Tat taten. Jetzt wußte er es. Er nickte Gertrud zu.

»Ich laß mir was einfallen«, sagte er. »Ich werde eine gute Tat tun.«

Plötzlich sah Gertrud traurig aus.

Das war eigentlich am anstrengendsten mit ihr. Sie wechselte so oft die Laune. Joel konnte auch sehr schnell böse oder traurig werden. Aber dann war vorher auch etwas passiert. Bei Gertrud war alles anders. Sie konnte dasitzen und lachen und mitten im Lachen anfangen zu weinen. Für Joel war es unbegreiflich, daß es Lachen und Weinen gleichzeitig in einer Kehle gab.

Außerdem verunsicherte es ihn immer, wenn Gertrud die Laune wechselte. Dann konnte man nicht mit ihr reden, und er überlegte, ob er etwas falsch gemacht hatte. Aber meistens ging es genausoschnell vorüber. Jetzt sah er sie heimlich an. Ein trauriges, blaues Gesicht.

Die blaue Gertrud. Die Nasenlose Blaubertrud.

Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und dachte, daß er eigentlich nach Hause gehen müßte. Vorm Einschlafen könnte er sich vielleicht eine gute Tat ausdenken, die er schon morgen ausführen würde.

Aber er wollte nicht gehen, bevor Gertrud wieder froh aussah. Heute abend nicht.

Er versuchte, sich etwas auszudenken, was sie froh machen würde.

Sollte er ihr einen Tee kochen?

Nein, das würde wahrscheinlich nicht reichen. Sollte er ihr etwas Lustiges erzählen? Gertrud hörte gern zu, wenn er ihr von Sachen erzählte, die er erlebt hatte. Es machte nichts, wenn er sie nur erfunden hatte, Hauptsache, es war spannend. Aber jetzt fiel ihm nichts ein. Sein Kopf war leer.

Da fiel sein Blick auf die Schüssel, die voller blauer Farbe war. Er tauchte den Zeigefinger hinein und begann, seine Stirn zu bemalen. Das war schwer, weil er im Spiegel alles seitenverkehrt sah. Mit großer Mühe gelang es ihm, sich ein paar Wörter auf die Stirn zu schreiben. Gertrud sah ihn nicht an. Sie saß da und starrte zum Küchenfenster hinaus.

Schließlich war Joel fertig. Er sah, daß er ein Wort falsch geschrieben hatte. Aber das war nun nicht mehr zu ändern. Es mußte auch so gehen.

Gertrud starrte zum Fenster hinaus. Joel konnte an ihrem Nacken sehen, daß sie immer noch traurig war. Auch ein Nacken kann traurig aussehen, nicht nur ein Gesicht.

»Gertrud«, sagte er vorsichtig, als ob er befürchtete, sie könnte allzuschnell wieder fröhlich werden. Sie hörte ihn nicht.

»Gertrud«, sagte er noch einmal, jetzt etwas lauter. Langsam drehte sie den Kopf und sah ihn an. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie entziffert hatte, was auf seiner Stirn stand.

»GERTRUD FROH«, hatte er geschrieben. Aber er hatte sich verschrieben.

»GERRUD FROH«, stand da.

»Es ist nicht ganz richtig«, sagte er. »Aber es ist schwer, rückwärts zu schreiben.«

Gertrud sah immer noch ernst aus. Hastig schoß es Joel durch den Kopf, daß er es nicht geschafft hatte. Er wollte die Worte eben mit der flachen Hand aus der Stirn wischen, als das düstere blaue Gesicht vor ihm aufleuchtete und die weißen Zähne aus all dem Blau schimmerten. »Ich hab bloß nachgedacht«, sagte sie. »Jetzt bin ich wieder froh.«

Ohne daß Joel etwas dagegen machen konnte, verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Lächeln. Es kam von innen. Selbst wenn er die Zähne zusammengebissen hätte, er hätte gelächelt.

Manchmal kommt Freude von innen. Selbst zusammengebissene Zähne können ihr nicht widerstehen. »Ich muß jetzt wohl nach Hause«, sagte er.

Gertrud befeuchtete ein Handtuch und wischte ihm die blaue Farbe aus dem Gesicht.

Joel schloß die Augen und dachte an Mama Jennys Kleid, das tief in Papa Samuels Schrank hing.

Manchmal hatte Gertrud richtige Mamahände.

Dann ging er durch den Abend nach Hause. An dem Mirakel trug er jetzt nicht mehr so schwer. Jetzt wußte er, was er tun wollte. Er mußte sich nur noch eine gute Tat ausdenken, für deren Erfüllung er nicht allzu lange Zeit brauchte. Dann würde er den verdammten Bus vielleicht vergessen. Und Eklund, der Bären schießen konnte, aber nicht aufpaßte, wenn er den Bus chauffierte.

Joel stürmte über die Eisenbahnbrücke. Er fragte sich, warum Gertrud manchmal traurig wurde.

Aber eigentlich war das nicht verwunderlich. Wer würde nicht traurig sein, wenn er keine Nase hätte?

Vielleicht war Gertrud auch traurig, weil sie nicht verheiratet war und keine Kinder hatte?

Joel steckte die Hände in die Taschen und trabte nach Hause.

An Gertrud mit ihrem blauen Gesicht konnte er morgen denken. Jetzt mußte ihm eine gute Tat einfallen, die er ausführen würde.

Und darüber nachdenken, was er antworten sollte, falls Samuel fragte, was er und Eva-Lisa den ganzen Abend gemacht hatten…