11
Joel konnte sein Unglücklichsein nicht verbergen. Natürlich merkte Papa Samuel sofort, daß mit ihm etwas nicht stimmte.
Auch daran waren der Ljusdalbus und Eklund schuld. Vor dem Unfall war Papa Samuel wie andere Erwachsene gewesen. Man konnte ihn leicht an der Nase herumführen. Wenn Joel nicht erzählen wollte, daß ihm in Wirklichkeit gar nicht schlecht war oder daß er nicht in der Schule gewesen war, merkte Samuel nichts. Und da er nichts merkte, fragte er auch nicht. Aber das war vor dem Unfall gewesen. Jetzt schien Samuel ihn anders zu sehen. Es verging kein Tag, an dem er nicht fragte, wie Joel sich fühlte. Es war schwerer geworden, Samuel zu beschwindeln. Joel war wach, als Samuel nach Hause kam. Da war es schon Mitternacht.
»Bist du immer noch wach?« fragte Samuel. »Warum schläfst du nicht ?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Joel. »Aber ich mach jetzt das Licht aus.«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für einen Spaß wir beim Tanzen hatten«, sagte Samuel. »Das war wirklich eine gute Idee von dir.«
Er knipste das Licht aus und ging hinaus. Joel merkte, daß er ein bißchen Magenschmerzen hatte. Gertruds Ohrfeige spürte er nicht mehr im Gesicht. Sie war in den Magen gekrochen. Aber das war kein gewöhnliches Bauchgrimmen. Es war ein Gefühl, als ob Finger in seinem Magen kratzten.
So einen Schmerz hatte Joel schon einmal gespürt. Das war damals, als er geglaubt hatte, Samuel hätte ihn verlassen und wäre genau wie Mama Jenny verschwunden. Damals hatte Joel einen Stein gegen Saras Fenster geworfen.
Wenn er Samuel doch erzählen könnte, was passiert war! Die ganze lange Geschichte, die damit begonnen hatte, daß er nicht aufgepaßt hatte und unter den Ljusdalbus geraten war. Er hatte eine gute Tat tun wollen, und das war schiefgegangen. Aber er konnte es nicht erzählen. Samuel würde nichts verstehen. Außerdem war das Risiko zu groß, daß er böse wurde.
Am nächsten Morgen wurde Joel früh wach. Er hatte einen Alptraum gehabt. Als er die Augen im Dunkeln aufschlug, konnte er sich nicht erinnern, was er geträumt hatte. Vielleicht hatte er wieder gebrannt? Er sah auf den Wecker, der auf dem Hocker neben seinem Bett stand. Viertel nach sechs. Weil es Sonntag war, brauchte er nicht aufzustehen. Er konnte den ganzen Tag im Bett bleiben, wenn er wollte. Durch die Wand hörte er Samuel schnarchen. In der Wand neben seinem Ohr knackte es. Da knabberte eine Maus an etwas. Joel versuchte wieder einzuschlafen. Er schloß die Augen, und jetzt war er wieder im Wald. Immer noch hatte er den geheimnisvollen Baum nicht gefunden. Aber jetzt wußte er, daß er ganz nah war. Auf einem Ast saß ein Eichhörnchen und sah ihn an. Es war ein merkwürdiges Eichhörnchen. Da sah Joel, daß es ein Affe war.
Er schlug die Augen wieder auf. Er konnte sich nicht auf die Suche nach dem geheimnisvollen Baum konzentrieren. Plötzlich stand Gertrud vor ihm, mitten in der Erzählung, und gab ihm eine heftige Ohrfeige.
Joel stand auf und zog sich an. Dann tappte er in die Küche und trank ein Glas Milch. Bald würde es hell werden. Dann konnte er hinausgehen. Er fuhr sonntags morgens gern auf seinem Fahrrad durch den Ort. Kein Mensch war unterwegs. Er konnte sich einbilden, er sei das einzige Lebewesen, das übriggeblieben war. Da war er Herrscher über die Leere.
Draußen war es kühl. Der Fahrradsattel war feucht. In der Ferne hörte er Simon Urväders Laster. Jetzt ist es wieder soweit, dachte Joel. Jetzt kann Simon nachts nicht mehr schlafen. Das Geräusch des Lasters machte ihn wütend. Er wollte Simon Urväder jetzt nicht treffen. Er wollte seine Ruhe haben.
Er überlegte, woher das kommen mochte, daß er beim Fahrradfahren so gut denken konnte. Was hatten die Räder mit seinem Kopf zu tun? Waren sie wie ein Dynamo, der seine Gedanken antrieb?
Joel zischte vor sich hin. Vor Wut über sich selbst. Warum dachte er so viele dumme Gedanken? Hatte er das von Mama Jenny geerbt? Dann war es ja ein Glück, daß sie abgehauen war.
Er hielt vor der Bierstube an und stieg vom Fahrrad. Auf dem heruntergezogenen Rollo stand, daß geschlossen war. Die Bierstube öffnete sonntags nicht vor eins. Aber schon gegen zwölf versammelten sich die alten Biertrinker draußen. Manchmal hatten sie Flaschen in den Innentaschen ihrer Jacken. Die Flaschen ließen sie kreisen, bis Ludde das Rollo hochzog und die Tür öffnete.
Wahrscheinlich wäre es gut gewesen, wenn gar kein Mirakel passiert wäre, dachte Joel niedergeschlagen. Dann hätte Gertrud ihn jedenfalls nicht geohrfeigt. Er fuhr weiter. Jetzt trat er in die Pedale, so fest er konnte. Er wurde verfolgt von einer schrecklichen Mörderbande. Er spürte ihr Keuchen in seinem Nacken. Schneller mußte er treten, schneller, schneller…
Vor der Post kriegte er einen Platten. Es zischte, und aus dem Vorderreifen war die Luft raus. Als er sich vorbeugte, sah er, daß sich ein Nagel in den Reifen gebohrt hatte. Ein großer, rostiger Nagel.
Ich schmeiß das Fahrrad weg, dachte er wütend. Ich schieb es zur Brücke und schmeiß es in den Fluß.
Da hörte er jemanden rufen. Er sah sich um. Niemand war zu sehen. Kein Mensch. Wieder rief jemand. Jemand winkte ihm aus dem Obergeschoß der Post, wo das Telegrafenamt war. Joel erkannte Asta. Asta Bagge, die Leiterin des Telegrafenamtes. Rief sie nach ihm? Er schob sein Fahrrad über die Straße. Asta hatte feuerrote Haare. Sie war so dünn, daß man glauben konnte, sie drehte sich jeden Morgen nach dem Aufstehen durch die Mangel. Joel kannte niemanden, der so platt wie Asta Bagge war. »Kannst du mir einen Gefallen tun?« rief sie ihm zu. »Ja«, antwortete Joel.
»Komm mal nach hinten«, rief Asta. »Komm die Treppe rauf. Die Tür ist offen.«
Joel lehnte das Fahrrad gegen die Wand und ging um die Ecke. Im Telegrafenamt war er noch nie gewesen. Als er die Tür öffnete und eintrat, saß Asta vor der großen Telefonanlage und vermittelte ein Ferngespräch.
»Ihr Gespräch nach Karlskrona«, sagte sie in das Mikrophon, das vor ihrem Gesicht hing. Dann drückte sie auf einen kleinen schwarzen Schalter und stand auf. »Wie gut, daß ich dich gesehen hab«, sagte sie. »Wie heißt du?« »Joel Gustafson«, sagte Joel.
»Du mußt mir einen Gefallen tun«, sagte Asta. »Und du sollst es auch nicht umsonst tun. Weißt du, wo ich wohne?«
»Nein«, antwortete Joel.
»In dem Haus hinter der Bäckerei«, sagte Asta, »das rote Haus.«
Joel wußte, welches sie meinte.
»Ich glaub, ich hab vergessen, die Herdplatte auszustellen, als ich wegging«, sagte Asta. »Nimm die Schlüssel und lauf hin. Vergiß nicht, hinter dir abzuschließen, wenn du gehst.«
Joel stürzte los. Jetzt war es allein er, der den mächtigen Präriebrand daran hindern konnte, auf die Lager der Neusiedler überzugreifen. Alles wäre verloren, wenn er nicht rechtzeitig ankam.
Er schloß die Tür auf und betrat Astas Wohnung. Es riecht nach Parfüm, dachte er. Parfüm und Honig. Er trat sich ordentlich die Stiefel ab und sah sich nach der Küche um. Durch eine angelehnte Tür sah er die Ecke einer Spüle. Er schob die Tür auf. Die Herdplatte war eingeschaltet. Eine der Platten glühte rot. Er stellte den Schalter aus. Dann ging er in der kleinen Wohnung herum. Überall roch es nach Parfüm. Joel stellte sich vor, er sei ein Einbrecher.
Jetzt suchte er nach dem Geld, das irgendwo versteckt sein mußte. Und den Juwelen. Er vermied es, irgendwas in die Hand zu nehmen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Auf einer Kommode standen Fotos in braunen Rahmen. Kinder mit aufgerissenen Augen starrten ihn an. An einer Hauswand saß eine alte Frau auf einer Bank. Ein Pudel wedelte mit dem Schwanz. Joel öffnete die Tür zu Astas Schlafzimmer. Das Bett war nicht gemacht. Im Schlafzimmer duftete es noch stärker nach Parfüm.
Irgend etwas war merkwürdig an der Wohnung, aber Joel kam nicht darauf, was es war. Er sah sich um. Jetzt war er der Detektiv, der nach Spuren des Einbrechers suchte. Sein Verdacht richtete sich gegen den unbekannten Joel Gustafson. Der Dieb, der sich nie schnappen ließ.
Da wußte er, was so merkwürdig war. In der Wohnung gab es kein Telefon. Asta, die Leiterin des Telegrafenamtes, hatte kein Telefon! Das war ein Rätsel. Er ging noch einmal durch die Zimmer. Die Herdplatte war nicht mehr rot. Nirgends gab es ein Telefon.
Noch einmal betrachtete er das Foto mit dem Pudel. Dann ging er und schloß hinter sich ab. Dreimal überzeugte er sich, daß er wirklich abgeschlossen hatte.
Als er zum Telegrafenamt zurückkam, saß Asta vor der Anlage und strickte. Die Kopfhörer hingen ihr um den Hals.
»Der Herd war an«, sagte Joel.
»Wie schrecklich«, sagte Asta. »Das ist mir noch nie passiert. Es hätte anfangen können zu brennen.« Sie holte zwei Ein-Kronen-Münzen aus ihrem Portemonnaie. Zwei Kronen dafür, nur weil er den Herd abgeschaltet hatte? Joel machte einen Diener und bekam das Geld.
Vielleicht war das eine Arbeit für ihn, wenn er groß war. Herdabschalter. Kriegte er jedesmal zwei Kronen dafür, würde er so reich werden, daß er sich den Pontiac kaufen konnte, der bei Krage ausgestellt war.
Neugierig musterte er die große Telefonanlage. Es klingelte wieder, und Asta stellte eine Verbindung her. Er fragte, und sie erklärte ihm, wie es funktionierte. Bald dachte Joel, könnte er selbst Gespräche verbinden. Dann wurde es wieder ruhig, und Asta hängte sich die Kopfhörer um den Hals. »Ist hier auch nachts geöffnet?« fragte Joel.
»Hier ist immer geöffnet«, antwortete Asta. »Nächste Woche habe ich Nachtdienst. Wir sind drei Leute, die sich abwechseln. Im Hinterzimmer gibt es ein Bett, da können wir schlafen. Aber es muß immer jemand hier sein, wenn es klingelt. Jemand kann krank geworden sein. Jemand kriegt vielleicht ein Kind und braucht ein Taxi.« Dann klingelte es wieder. Asta meldete sich und verband weiter. Es kamen drei Gespräche gleichzeitig. Asta verband. Jemand wollte mit Stockholm reden. Asta verband. Und verband.
Joel sah ein Telefonverzeichnis auf dem Tisch liegen. Er blätterte darin. Zufällig schlug er beim Buchstaben L auf. David Lundberg, sah er. Telefonnummer 135. Der Käsemann hatte Telefon!
Joel ließ das Telefonverzeichnis los, als ob er sich verbrannt hätte.
Asta hatte nichts gemerkt. »Ihr Gespräch nach Stockholm«, sagte sie ins Mikrophon.
»Rufen nachts viele an?« fragte Joel, als sie die Kopfhörer wieder abgenommen hatte.
»Nach Mitternacht ruft fast nie jemand an«, antwortete sie und fing wieder an zu stricken. Joel sah, daß es ein Kinderjäckchen werden sollte.
»Ich muß wohl gehen«, sagte Joel.
»Vielen Dank, daß du mir geholfen hast«, sagte Asta. Dann klingelte es wieder.
Joel schob sein Fahrrad nach Hause. Im Keller gab es Gummiflicken und Klebstoff, womit er den Schlauch reparieren konnte. Aber er dachte nicht an das Fahrrad. Der Käsemann hatte Telefon! Der verdammte Hohlkopf, der Gertrud nachspioniert und sich dann gedrückt, sich weggeschlichen hatte wie ein feiger Hund.
Joel hatte beschlossen, daß der Käsemann an allem schuld war.
Plötzlich blieb er stehen.
Er würde sich am Käsemann rächen. Das sollte die gute Tat werden, und dann brauchte er nie mehr an das Mirakel zu denken. Er würde es rächen, daß der Käsemann Gertrud nachspioniert hatte. Das war eine gute Tat, doch würde nie jemand erfahren, daß Joel sie getan hatte. Aber das machte bestimmt nichts. Die Hauptsache war doch, daß die gute Tat überhaupt ausgeführt wurde. Eine gute Tat mußte doch wohl so unsichtbar sein wie Gott. Alle redeten über Gott, aber niemand hatte ihn gesehen. Joel ging weiter.
Er dachte an Asta und ihre Telefonvermittlung. Als er nach Hause kam und das Gartentor öffnete, hatte er sich entschieden. Jetzt wußte er, wie er sich am Käsemann rächen konnte. Dann würde Gertrud begreifen, daß er es mit den geheimen Briefen nur gutgemeint hatte. Alles würde wie immer werden.
Zwei Tage später, am Dienstag, verreiste Papa Samuel. Er wollte auf Elchjagd gehen und würde zwei Tage nicht nach Hause kommen. Joel könnte während dieser Zeit bei Sara wohnen, hatte er vorgeschlagen. Aber Joel wollte nicht. Er kam allein zurecht. Schließlich hatte Samuel nachgegeben, und Joel hatte versprochen, wenigstens zum Essen zu Sara zu gehen.
»Aber was machst du, wenn du Alpträume hast?« hatte Samuel gefragt.
»Dann geh ich auch zu Sara«, antwortete Joel. Samuel sah ihn an. »Du bist tüchtig«, sagte er. »Darüber hab ich noch nie nachgedacht. Du wirst allein fertig wie ein erwachsener Mann.«
Joel merkte, wie stolz er war. Wie ein erwachsener Mann, hatte Samuel gesagt.
Vielleicht wurde man das, wenn man seine eigene Mutter sein mußte?
Dienstagnachmittag kam Samuel eher als sonst aus dem Wald nach Hause. Seinen Rucksack hatte er schon morgens gepackt. Das große Gewehr lag in seiner Hülle auf der Küchenbank. Joel kam es vor, als ob er wie ein kleines Kind am Heiligabend aufgeregt herumschwirrte. War das denn so aufregend, draußen im Wald herumzustehen und darauf zu hoffen, daß ein Elch kam? Jedes Jahr fuhr Samuel zur Elchjagd. Immer kam er nach Hause, ohne einen Elch geschossen zu haben. Er hatte nicht mal einen Elch gesehen. Immer war es ein anderer in der Jagdmannschaft, der schoß. Draußen hupte es.
»Bist du wirklich sicher, daß du allein zurechtkommst?« fragte Samuel.
»Ja«, sagte Joel. »Geh jetzt. Schieß einen Elch!« Unten auf der Straße drehte Samuel sich um und winkte zu Joel am Fenster hinauf. Dann stieg er in das wartende Auto und fuhr davon.
Joel hatte seinen Plan genau durchdacht. Unter seinem Bett lag der fertig gepackte Rucksack. Als es Zeit wurde, zu Sara zu gehen, zog er Stiefel und Jacke an und ging los. Es war wieder wärmer geworden. Er merkte, daß es nieselte.
Sara hatte Fleischbällchen gemacht. Joel dachte, es sei wichtig, daß er nicht zuviel aß. Sonst würde er müde werden. Obwohl die Fleischbällchen sehr gut schmeckten, versuchte er, nicht allzu viele zu essen.
»Haben sie nicht geschmeckt?« fragte Sara. Sie sah ganz unglücklich aus.
»Doch«, sagte Joel. »Aber ich hab schon so viele gegessen.«
Hinterher gab es Eis. Da war es schwer, nicht zuviel zu essen.
Sara sah immer noch ganz bekümmert aus.
»Geht's dir nicht gut?« fragte sie.
»Ich bin nur ein bißchen müde«, sagte Joel. »Ich geh nach Hause und leg mich früh schlafen.«
»Und du willst wirklich nicht hier schlafen heute nacht?« fragte Sara.
»Ich schlaf in meinem eigenen Bett am besten«, sagte Joel.
»Du bist ein komischer kleiner Mann«, sagte Sara und schüttelte den Kopf. »Manchmal sollte man meinen, du bist schon erwachsen.«
Um acht war Joel wieder zu Hause. Er holte sich aus Samuels Zimmer eine Decke. Dann rollte er sich auf seinem Bett zusammen und deckte sich mit Samuels Decke zu. Um Mitternacht würde der Wecker klingeln, und der Hocker mit dem Wecker darauf stand so, daß Joel aufstehen mußte, um ihn abzustellen. Er wälzte sich lange im Bett herum, bevor er endlich einschlief.
Als der Wecker klingelte, wurde er mit einem Ruck wach. In seinem Kopf rauschte es vor Schlaf, und er konnte sich nicht erinnern, warum er aufwachte. Dann fiel es ihm ein. Sofort war er hellwach. Um sich für die nächtliche Expedition zu stärken, aß er einige Löffel voll Marmelade in der Vorratskammer. Dann schlich er vorsichtig die Treppe hinunter auf die Straße.
Am Himmel hingen schwere Wolken. Es regnete. Er machte sich auf den Weg zum Telegrafenamt. Plötzlich hörte er Simon Urväders Laster. Er versteckte sich im Schatten eines Baumes, als der Laster vorbeifuhr. Wenn dies alles erst mal vorbei war, würde er Simon wieder besuchen. Wenn er nur seine gute Tat erledigt hatte und vergessen konnte, daß er ein Mirakel erlebt hatte.
Die Fenster im Telegrafenamt waren erleuchtet. Vorsichtig tastete er sich durch den Schatten auf die Rückseite des Hauses zur Tür. Sie war offen. Langsam ging er die Treppe hinauf. Er zählte die Stufen. Auf der neunten Stufe blieb er stehen und schwang sich auf die zwölfte, indem er sich am Geländer abstützte. Er lauschte im Dunkeln vor der Tür. Ein schwacher Lichtstreifen sickerte unter der Ritze an der Schwelle hervor. Er guckte durchs Schlüsselloch. Der Stuhl vor der Telefonvermittlungsanlage war leer. Vorsichtig schob er die Tür auf. Aus dem Hinterzimmer war Schnarchen zu hören. Er schloß die Tür und ließ sich den Rucksack von der Schulter gleiten. Dann ging er auf Zehenspitzen zum Hinterzimmer. Asta Bagge lag auf dem Bett und schlief. Das blaue Kinderjäckchen war auf den Fußboden gefallen. Joel zog die Tür zu. Dann ging er zur Telefonvermittlung. Leitungen und Schalter wurden von einer Schreibtischlampe hell erleuchtet.
Jetzt kam's drauf an. Erinnerte er sich, wie Asta es gemacht hatte? Auf einen roten Schalter drücken, wenn ein Gespräch hereinkam, den Mikrophonschalter herunterdrükken, sich melden und die Leitung in das richtige Loch an der Vermittlungswand stecken. Doch, er erinnerte sich. Aber er wollte keine eingehenden Gespräche entgegennehmen. Er wollte selbst anrufen.
Er wiederholte es im Kopf. Eine Leitung mit der Nummer verbinden, mit der er sprechen wollte, den Schalter herumdrehen, der das Klingeln beim Angerufenen auslöste, den Mikrophonschalter drücken und sprechen, wenn der Teilnehmer seinen Hörer abhob.
Aber es würde noch eine Weile dauern, bevor er sein Gespräch führte. Er hatte viel zu erledigen, ehe er bereit war. Er holte sein Tagebuch und einen Bleistift hervor. Dann zog er das Telefonverzeichnis zu sich heran. Er ging die Namen dem Alphabet nach durch. Hin und wieder schrieb er auf die innere Umschlagseite seines Tagebuchs eine Telefonnummer. Es war die einzige Stelle, wo noch Platz war.
Als er beim Buchstaben F angekommen war, summte es in der Vermittlung. Das hatte er erwartet. Trotzdem fand er, daß er viel zu langsam reagierte. Er schlug das Telefonverzeichnis zu, nahm sein Tagebuch und den Bleistift und versteckte sich hinter einem Schrank, der im Raum stand. Er hatte sich gerade dahinter geduckt, als Asta Bagge aus ihrem Schlafzimmer geschlurft kam.
Da sah er den Rucksack.
Den hatte er vergessen. Er lag an der Eingangstür. Hohlkopf, dachte er, blöder, blöder Hohlkopf… Asta Bagga hatte sich auf den Telefonstuhl gesetzt und die Kopfhörer übergestülpt. Joel wußte, jetzt mußte er den Rucksack holen. Sie konnte ihn nicht übersehen, wenn sie ins Hinterzimmer zurückging. Asta nahm den Anruf entgegen.
Vorsichtig schlich Joel über den Fußboden, packte den Rucksack und stürzte zurück hinter den Schrank. »Was für ein Unsinn«, sagte Asta Bagge.
Joel dachte, er wäre entdeckt. Jetzt war alles aus! Dann begriff er, daß sie böse auf den Anrufer war. »Das Telefon ist kein Spielzeug«, sagte Asta Bagge. Ihre Stimme klang wirklich wütend. »Sie sind betrunken und sollten sich hinlegen, statt hier anzurufen und dummes Zeug zu reden. Gute Nacht!« Asta schaltete ab und ging in ihr Schlafzimmer.
Joel wartete, bis er sie wieder schnarchen hörte. Dann kehrte er zurück und blätterte weiter im Telefonverzeichnis. Als er fertig war, hatte er zwölf Telefonnummern beisammen. Bevor er mit dem Anrufen anfangen konnte, mußte er sich hinter dem Schrank hinsetzen und ein bißchen ausruhen. Er hatte sich ein paar Marmeladenbrote in den Rucksack gesteckt und aß sie auf. Dann fühlte er, daß er bereit war.
Asta schnarchte. Pustete und zischte. Joel setzte sich an die Vermittlung. Die Telefonnummern hatte er vor sich. Er begann, die verschiedenen Leitungen einzustöpseln. Da war die Nummer von Pastor Nyblom. Staatsanwalt Malm, Oberstleutnant Ceder, Direktor Gottfried, Redakteur Waltin… Zwölf Telefonnummern. Die Leitungen führten kreuz und quer über den Tisch der Vermittlung. Joel merkte, daß sein Herz hämmerte. Er schwitzte. Langsam zwang er seine rechte Hand zu dem Schalter, der die angewählten Telefonnummern alle gleichzeitig zum Klingeln bringen würde.
Herrscher der Nacht, dachte Joel. Jetzt wecke ich euch alle.
Dann kippte er den Schalter, der das Klingeln auslöste, und starrte angespannt auf die Vermittlungstafel. Wenn jemand abhob, würde es anfangen zu blinken. Er drehte an dem Schalter, so daß das Klingeln nicht zu hören war.
Warum meldete sich niemand? Hatte er etwas falsch gemacht? Hebt ab, meldet euch…
Jetzt blinkte das erste Lämpchen. Es war Oberstleutnant Ceder. Gleich darauf blinkte die Nummer von Redakteur Waltin. Bald blinkte die ganze Wand. Joel drückte auf den Schalter und sprach ins Mikrophon. Er fauchte und verstellte die Stimme, damit ihn niemand erkannte und damit Asta Bagge nicht wach wurde.
»Der Käsemann ist ein Schurke«, zischte er. »Er spioniert unschuldigen Leuten nach. Er versteckt sich im Schatten. In der Dämmerung wachsen alle Schatten. Ich wiederhole: Der Käsemann ist ein Schurke. Sein Schatten ist lang, wenn es dämmert.«
Ein ums andere Mal wiederholte Joel seine Botschaft. Er hörte erregte, verschlafene, erstaunte Stimmen fragen, wer da anrief und um was es eigentlich ging.
Viermal wiederholte er seine Botschaft. Dann brach er das Gespräch ab, riß die Leitungen heraus, nahm seinen Rucksack und schlich hinaus. Als er die Tür gerade hinter sich zumachen wollte, begann die ganze Vermittlung zu blinken und zu klingeln. Es sah aus, als wäre sie kurz vorm Explodieren.
»Was ist denn los«, hörte er Asta aus ihrem Hinterzimmer sagen.
Da zog er die Tür zu und tappte die Treppe hinunter. Er lief den ganzen Weg nach Hause. In ihm war ein einziges riesiges Lachen. Aber erst als er in der Küche ankam, ließ er es raus.
Jetzt hatte seine unsichtbare Rache den Käsemann getroffen. Gertrud war Gerechtigkeit widerfahren.
Er setzte sich an den Küchentisch und radierte die Telefonnummern weg, die er auf die innere Umschlagseite seines Tagebuchs geschrieben hatte. Dann legte er es zurück in die Glasvitrine von »Celestine«.
Er merkte, wie müde er war. Vielleicht war es auch Erleichterung. Wie wenn Magenschmerzen aufhören.
Jetzt hatte er es richtig gemacht.
Endlich war es vorbei.
Jetzt konnte er sich allem anderen widmen, was wichtig war. Das Geographiespiel zu Ende führen. Einen guten Freund finden. Einen besten Freund. Mit Simon Urväder an den See der Vier Winde fahren. Gertrud würde wie immer sein. Das Mirakel würde ihn nicht mehr stören.
Wenn er zwölf wurde, hatte er vielleicht schon alles vergessen. Den Ljusdalbus aus seinem Kopf verjagt…
Er aß noch ein paar Löffel Marmelade. Der Topf war bald leer.
Aber er hatte es sich verdient.
Nur Asta Bagge tat ihm ein bißchen leid.
Aber nur ein bißchen. Immerhin war sie dabeigewesen, als jemand eine gute Tat vollbrachte.
Und vielleicht würde sie glauben, es sei ein Mirakel? Daß es wirklich der Herrscher der Nacht gewesen war, der die zwölf Telefongespräche geführt hatte und dann unbemerkt verschwunden war…