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Der Tag hätte nicht besser für Joel beginnen können. Als Papa Samuel ihn kurz nach sieben an der Schulter rüttelte, erwachte er aus einem Alptraum. Er hatte geträumt, daß er brannte. Aus seinen Nasenlöchern waren zischende Flammen geschlagen, als ob er ein feuerspuckender Drache wäre. Seine Finger waren blau gewesen, ähnlich wie die Schweißflammen, in der Werkstatt der Straßenbauverwaltung, wo er im Winter seine Schlittschuhe schleifen ließ. Das Brennen hatte nicht weh getan. Trotzdem war er schreckensstarr im Traum gewesen und hatte aufwachen wollen. Erst als Samuel ihn berührte, war das Feuer erloschen. Er zuckte zusammen und richtete sich auf. »Was ist los ?« fragte Samuel.

»Ich weiß nicht«, antwortete Joel. »Ich hab geträumt, ich verbrenne.«

Samuel runzelte die Stirn. Joel wußte, daß Samuel es nicht mochte, wenn er Alpträume hatte. Vielleicht kam das daher, weil Samuel selbst manchmal unheimliche Träume hatte? Mehrere Male war es geschehen, daß Joel wach wurde, weil Samuel im Schlaf rief und schrie. Irgendwann einmal wollte Joel ihn nach seinen Träumen fragen. Das hatte er auf die letzte Seite seines Logbuchs geschrieben, wo er alle Fragen niedergeschrieben hatte, auf die er immer noch Antwort haben wollte.

Aber an diesem Morgen war alles gutgegangen. Joel war sehr erleichtert, als er begriff, daß er nur geträumt hatte. Der Brand war keine Wirklichkeit. Gewöhnlich war er schlecht gelaunt, wenn er aufwachte und aufstehen mußte. Das Linoleum unter seinen nackten Füßen war viel zu kalt. Außerdem fand er nie seine Sachen. Die Strümpfe waren verkehrt herum, und die Hemdenknöpfe paßten nicht in ihre Löcher. Joel war der Meinung, daß es bösartige Menschen sein mußten, die Kleider für Kinder nähten. Wie konnte es sonst sein, daß nichts paßte, wenn man es eilig hatte und es kalt im Zimmer war? Aber an diesem Morgen ging alles viel leichter. Und als er in die Küche kam, lagen zwei Schachteln mit Hustenbonbons neben seiner Kakaotasse.

»Die sind von Sara«, sagte Samuel, der gerade sein struppiges Haar vor dem gesprungenen Rasierspiegel kämmte.

Zwei Schachteln Hustenbonbons, nachdem man geträumt hatte, man verbrenne! An einem Montagmorgen!

Joel dachte, das könne nur ein guter Tag werden. Und noch besser wurde es, als er den Deckel geöffnet und die beiden Sammelbilder herausgenommen hatte. Es waren Fußballspieler, die ihm noch fehlten. Joel sammelte Fußballspieler. Sonst nichts. Er konnte furchtbar wütend werden, wenn er sich eine Schachtel Bonbons gekauft hatte und statt eines Fußballspielers einen Ringkämpfer fand. Das war das allerschlimmste für ihn. Fette Ringkämpfer, die immer Svensson hießen. Und fast immer Rune mit Vornamen.

Aber diesmal kriegte er zwei Fußballspieler auf einmal.

»Geh auf einen Sprung in die Bierstube, wenn die Schule aus ist«, sagte Samuel, während er seine Jacke anzog. »Dann freut Sara sich.«

»Wofür hab ich die Bonbons gekriegt?« fragte Joel. »Sie mag dich«, sagte Samuel. »Das weißt du doch?« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Vergiß nicht, Kartoffeln zu kaufen«, sagte er, »und Milch.« »Mach ich«, antwortete Joel.

Er hörte es gern, daß Sara ihn mochte. Obwohl sie nicht seine Mama war und zu große Brüste hatte und nach Schweiß roch. Das war natürlich nicht genauso gut, wie wenn seine richtige Mama, die Jenny hieß, das gesagt hätte. Aber Jenny war nicht da. Sie war verschwunden. Und solange sie nicht da war, solange Samuel und er sie nicht gefunden hatten, durfte Sara ruhig sagen, daß sie ihn mochte.

Wie üblich döste er so lange über der Kakaotasse, bis er rennen mußte, um noch rechtzeitig zur Schule zu kommen. Frau Nederström hatte es nicht gern, wenn man zu spät kam. War sie richtig böse oder war man zu oft zu spät gekommen, konnte sie einen ins Ohr kneifen, und man mußte mit den Tränen kämpfen. Aber das machte sie nur mit Jungen. Um Mädchen, die zu spät kamen, kümmerte sie sich nicht. Deshalb hatte Joel überlegt, ob es wohl besser gewesen wäre, wenn er ein Mädchen mit Namen Joella Gustafson gewesen wäre.

Er zog seine Jacke an, hängte sich den Ranzen über die Schultern, schloß die Tür ab und legte den Schlüssel unter Samuels Stiefel, die im Treppenhaus standen. Die Treppe schaffte er fast in zweieinhalb Sprüngen, und dann lief er los zur Schule. Er konnte zwischen drei Schulwegen wählen. Jetzt entschied er sich für Blixtens Straße. Die benutzte er nur, wenn er schon sehr spät dran war. Sie war langweilig und grade, und es gab nur eine Abkürzung über den Apothekerhof. Aber sie war am kürzesten.

Er lief, so schnell er konnte, und er schaffte es gerade noch. Frau Nederström wollte eben die Tür schließen, als er angestürzt kam.

»Sehr gut, Joel«, sagte sie, »es ist gut, daß du dich bemühst, pünktlich zu sein.«

Um zwei war die Schule aus. Joel hatte ein zufriedenes Gefühl. Er war nichts gefragt worden, was er nicht beantworten konnte. Außerdem hatten sie Geographie gehabt, und das war sein Lieblingsfach. Er mochte es genauso sehr, wie er Mathematik nicht mochte. Zahlen kapierte er überhaupt nicht.

Es war wie mit den Kleidern. Nur bösartige Menschen konnten Zahlen erfunden haben.

Aber das beste vom ganzen Tag war doch gewesen, daß Frau Nederström auf Otto böse geworden war, weil er nicht aufgepaßt hatte. Joel mochte Otto nicht. Er war sein Todfeind. Er stand ganz zuoberst auf Joels Liste mit den Menschen, denen er Schlechtes wünschte. Otto war Sitzenbleiber und ärgerte die anderen, sooft er konnte. Außerdem war er so stark, daß Joel ihn bei den Schneeballschlachten im Winter nie besiegen konnte.

In der Geographiestunde war Joel plötzlich eine Idee gekommen.

Er wollte ein Geographiespiel erfinden. Wie es richtig gehen sollte, wußte er noch nicht. Er wußte nur, daß es ein Würfelspiel sein und darauf ankommen sollte, wer am schnellsten um die Erde reiste. Jetzt wollte er schnell nach Hause, damit er anfangen konnte, das Spiel zu entwerfen. Er hatte alte Karten gesammelt. Die wollte er zerschneiden und darauf zeichnen.

Fast vergaß er, daß er Kartoffeln und Milch kaufen sollte. Aber er hatte wieder Glück. In Ljunggrens Feinkostladen war es leer, und er wurde bedient, ohne daß er warten mußte. Dann vergaß er, daß er versprochen hatte, in die Bierstube zu gehen und sich bei Sara zu bedanken. Er war schon fast zu Hause, als es ihm wieder einfiel. Zuerst wollte er drauf pfeifen. Er konnte sich auch noch morgen bei ihr bedanken. Aber dann überlegte er es sich anders. Immerhin hatte sie ihm zwei Schachteln mit Hustenbonbons geschenkt. Er drehte um und lief denselben Weg zurück, den er gekommen war.

Das war der Augenblick, in dem das Wunder geschah. Joel erlebte ein Mirakel.

Er paßte nicht auf, als er über die Straße lief. Vor dem Eisenwarenladen stand ein Zementmischer und dröhnte. Irgendwo in der Nähe der Buchhandlung hupte ein Laster.

Plötzlich war der große Bus vor ihm. Vielleicht hat er die verzweifelten Bremsversuche des Fahrers gehört? Vielleicht hat er nichts gehört ? Aber kurz bevor er unter den großen Rädern zermalmt wurde, stolperte er und fiel rücklings hin. Der Bus rollte geradewegs über ihn hinweg, fuhr gegen einen Laternenpfahl vor der Bierstube und stand.

Joel lag ganz still. Er roch Öl und die Wärme vom Auspuff, der sich nur wenige Zentimeter über seinem Gesicht wie eine schmutzige Stahlschlange ringelte.

Alles war so schnell gegangen, daß er nicht einmal Angst bekommen hatte. Als er unter dem Bus lag, wußte er nicht, was passiert war. Warum lag er da? Und was war das da über seinem Gesicht?

Er drehte den Kopf und sah Füße hin- und herlaufen. Ein Tropfen Öl traf ihn knapp unter dem einen Auge. Von irgendwoher hörte er rufende und schreiende Stimmen. Er hörte, wie jemand rief, ein Kind sei vom Bus überfahren worden. War er das Kind? Wenn er es war, dann war er also tot?

Aber er war doch gar nicht tot? Alles war wie immer, abgesehen davon, daß er auf dem Rücken auf der nassen Straße lag und Öl in sein Gesicht tropfte.

Es mußte doch einen Unterschied geben, wenn man tot oder lebendig war?

Dann spürte er eine Hand, die ihn packte. Ein Gesicht näherte sich. Er kannte das Gesicht. Es gehörte Nyberg. Nyberg, der Rausschmeißer der Bierstube. Nyberg robbte sich heran.

»Lebst du noch, Junge?« fragte das Gesicht. »Du lieber Gott, du lebst, Junge!«

»Ja«, sagte Joel, »ich glaub schon.«

Und in dem Augenblick bekam er Angst, und langsam begriff er, daß er ein Mirakel erlebt hatte.

Ein Bus hatte ihn überfahren. Aber er war genau im richtigen Moment gestolpert und hingefallen, so daß er zwischen die Räder geraten war. Außerdem war der Ranzen mit den Schulbüchern, der Milch und den Kartoffeln zur Seite gerutscht. Wenn der auf seinem Rücken geblieben wäre, wäre er mit dem Gesicht gegen das Chassis des Busses geschlagen.

Der Bus nach Ljusdal, dachte er. Der muß es sein. Der Bus nach Ljusdal hatte ihm sein Mirakel geschenkt. Er schloß die Augen. Hände begannen, ihn hervorzuziehen, vorsichtig, so, als ob er vielleicht doch tot wäre. Stimmen flüsterten und riefen rund um ihn herum. Er spürte, wie er über den nassen Asphalt gezogen wurde. Dann hob ihn jemand auf ein Bett, das auf und ab wippte. Türen aus Blech schlugen zu, und ein Motor begann zu brummen. Jemand saß neben ihm und hielt seine Hand.

Er guckte vorsichtig, ohne die Augen ganz zu öffnen. Das hatte er vor Samuels Rasierspiegel geübt. Zu sehen, ohne daß jemand merkte, daß er guckte.

Seine Hand hielt Eulalia Mörker. Ihr gehörte der Frisiersalon neben dem Eisenwarenladen. Eulalia, die einen ausländischen Akzent hatte und Kinder verjagte, die vor ihrem Laden Krach machten. Dann kam sie mit der Lockenzange aus der Tür gestürzt und schrie und drohte, und alle fürchteten sich ein wenig vor ihr, weil man nie ganz sicher sein konnte, was sie eigentlich sagte in ihrer komischen Sprache. Jetzt saß sie da und hielt Joels Hand.

Joel guckte noch einmal, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht getäuscht hatte.

Vorsichtig drehte er den Kopf, um zu sehen, in was für einem Auto er lag.

Ein Krankenwagen. Das einzige Auto, in dem es ein Bett gab.

Als er im Krankenhaus auf eine andere Trage hinübergehoben wurde, dachte er, es sei das beste, ein bißchen zu stöhnen. Nicht sehr, aber ein bißchen jedenfalls. Vielleicht war es besser, die Menschen nicht allzu schnell wissen zu lassen, daß er ein Mirakel erlebt hatte.

Oberarzt Stenström untersuchte ihn. Joel gefiel es nicht, daß die Krankenschwester ihm alle Sachen auszog. Am allerwenigsten gefiel ihm, daß sie das große Loch in seiner Unterhose sehen würde. Und er war auch nicht ganz sicher, ob seine Füße sauber waren. Ein Mensch, der ein Mirakel erlebt, sollte vielleicht frisch gebadet sein?

Plötzlich hörte er Stenströms dröhnende Stimme. »Dieser Junge hat ein unglaubliches Glück gehabt«, sagte er. »Landet unter einem Bus und kriegt nicht eine einzige Schramme ab. Das kann man ein Mirakel nennen.« Mirakel!

Das stimmte. Oberarzt Stenström hatte es verstanden. Joel schlug die Augen auf.

Starkes Licht strahlte ihm mitten ins Gesicht. Ein Geruch stach ihm in die Nase. Die Lampe brannte wie eine Sonne. Wie weiße Schatten ahnte er die Gesichter, die ihn anschauten.

Plötzlich fiel ihm Jesus ein, der übers Wasser gegangen war. Das war Frau Nederströms Lieblingsgeschichte aus der Bibel. Wie viele Male sie die schon erzählt hatte, wußte Joel nicht. Aber oft genug, daß er sie fast auswendig konnte.

Was hatten die Menschen, die am Ufer gestanden hatten, Jesus zugerufen, als er über die Wellen ging?

Das lange und schwere und unbegreifliche Wort. »Halleluja!« rief Joel, als es ihm einfiel.

»Das kann man wahrhaftig sagen«, sagte Oberarzt Stenström. »Laß mal sehen, ob du dich aufrichten kannst.« Eine Krankenschwester half ihm. Er saß auf dem Untersuchungstisch und baumelte mit den Beinen. Auf einem Stuhl lag die Unterhose mit dem großen Loch.

Dann sprang er auf den Fußboden.

»Nicht eine Schramme«, sagte Oberarzt Stenström. »Rat mal, wer sich freuen wird.«

»Papa Samuel«, sagte Joel, weil er dachte, das sei als Frage gemeint gewesen.

»Da bin ich sicher«, antwortete Oberarzt Stenström.

»Aber der Chauffeur, der den Bus gefahren hat, wird sich mindestens genauso freuen.«

Joel wollte sich anziehen.

»Wir behalten dich lieber über Nacht hier«, sagte der Oberarzt, »damit wir ganz sicher sein können.« »Ich muß nach Hause, Kartoffeln kochen«, sagte Joel. »Sonst macht sich Papa Sorgen.«

»Er ist schon auf dem Weg hierher«, sagte eine der Krankenschwestern. Plötzlich erkannte Joel ihre Stimme. Sie war die Mutter einer seiner Klassenkameradinnen. EvaLisa, die schneller laufen konnte als alle anderen in der Klasse. Sie war wie ein Windhund.

Joel legte sich wieder auf den Untersuchungstisch. In diesem Augenblick wollte er am liebsten in Frieden gelassen werden. Immer noch wußte er ja kaum, was passiert war. Als ob alle im Zimmer seine Gedanken gelesen hätten, ließ man ihn allein. Schnell sprang er vom Tisch und legte die Unterhose unter das Hemd, so daß das Loch nicht mehr zu sehen war. Dann guckte er nach, ob seine Füße sauber waren.

Das waren sie nicht. Er nahm ein paar Wattebäusche aus einer Glasschale und goß aus einer braunen Flasche etwas darauf, das stark roch. Dann rieb er die Füße sauber. Er war gerade wieder unter das Laken auf dem Tisch gekrochen, als die Tür geöffnet wurde.

Und da stand der Busfahrer.

Joel erkannte ihn. Er hieß Eklund und hatte mal einen Bären geschossen. Er fuhr immer den Bus nach Ljusdal. »Junge«, sagte er, »wenn du nur wüßtest. Wenn du wüßtest, wie froh ich bin.«

»Ich hab nicht aufgepaßt«, sagte Joel. »Hoffentlich ist der Bus nicht kaputtgegangen.«

»Was kümmert mich der Bus«, sagte Eklund und wischte sich mit seiner großen roten Hand Rotz von der Nase. Joel sah, daß er rote Augen hatte.

»Ich konnte nicht rechtzeitig bremsen«, sagte Eklund.

»Plötzlich warst du genau vor dem Bus. Ich hätte nie geglaubt, daß du das überlebst. Nie.«

»Es war wohl ein Mirakel«, sagte Joel.

Eklund nickte.

»Ich muß mal wieder in die Kirche gehen«, sagte er. »Zum Teufel, ich muß wieder in die Kirche.«

Erneut wurde die Tür geöffnet. Die Mutter vom Windhund kam wieder.

»Der Vater des Jungen ist da«, sagte sie. »Sie müssen jetzt gehen. Sie sehen ja, daß dem Jungen nichts fehlt.« »Gott sei Dank«, sagte Eklund.

»Dann passsen Sie also in Zukunft besser auf«, sagte die Mutter vom Windhund. »Ihr Busfahrer bildet euch ein, ihr könntet wer weiß wie drauflosfahren.« »Ich fahre nie zu schnell«, sagte Eklund. Joel merkte, daß seine Stimme böse klang.

»Wir wissen doch, wie es ist«, sagte die Mutter vom Windhund und scheuchte ihn hinaus, wie man eine Katze, die nicht drinnen sein darf, hinausscheucht.

Dann kam Samuel ins Zimmer.

Joel dachte, es sei das beste, so jämmerlich wie möglich auszusehen.

Samuels Gesicht war ganz weiß. Er atmete heftig, als ob er den ganzen Weg vom Wald zum Krankenhaus gelaufen wäre.

Er setzte sich auf die Tischkante und sah Joel an.

Joel beschloß, die Augen zuzumachen.

Es war ganz still im Zimmer.

Noch eine Art Stille, dachte Joel, nicht wie gestern im Wald. Nicht wie nachts, wenn ich aufwache. Oder wenn Frau Nederström jemanden am Haar zaust. Eine ganz neue Stille. Die Stille des Mirakels.

»Die Kartoffeln sind im Ranzen«, sagte Joel. »Aber die Milchflasche ist wohl kaputtgegangen.«

Da bekam er plötzlich Angst. Ganz plötzlich kam sie. Als er an die Milchflasche dachte, die kaputtgegangen war. Die Glassplitter und die weiße Milch, die ausgelaufen war. Das hätte er sein können.

Die Milchflasche hätte sein Körper sein können, der in tausend Stücke zersprang. Aber jetzt lag er hier auf dem Tisch, zugedeckt mit zwei Laken, und hatte nicht eine Schramme abbekommen.

Doch obwohl er nicht verletzt war, fühlte er plötzlich Schmerzen.

Es war ein ganz stiller Schmerz.

Er schloß die Augen und hörte, wie die Mutter vom Windhund ins Zimmer kam. »Der Junge ist müde«, sagte sie leise.

»Ist er wirklich nicht verletzt?« fragte Papa Samuel.

»Der Doktor ist ganz sicher«, sagte die Mutter vom Windhund. »Aber er hat natürlich einen Schreck gekriegt. Deswegen behalten wir ihn heute nacht hier.«

Joel fühlte, wie er vom Untersuchungstisch zu einem Bett hinübergehoben wurde.

Er guckte vorsichtig und sah, daß er einen Korridor entlanggerollt wurde. Eine Tür wurde geöffnet, und er wurde in ein anderes Bett gehoben.

»Kann ich hierbleiben?« hörte er Papa Samuel fragen.

»Natürlich«, antwortete die Mutter vom Windhund.

»Klingeln Sie, falls etwas ist.«

Ein Mirakel, dachte Joel.

Jesus wandelte über das Wasser. Und ich werde vom Bus nach Ljusdal überfahren, ohne eine Schramme abzukriegen.

Wieder guckte er vorsichtig.

Samuel saß auf einem Stuhl am Fenster.

Joel wußte, woran er dachte.

An Jenny. Mama Jenny, die eines Tages mit einem Koffer verschwunden ist; und seitdem mußten sie zusehen, wie sie allein zurechtkamen.

Joel wußte, daß Samuel jedesmal an sie dachte, wenn etwas Ungewöhnliches oder Unerwartetes geschah. Dann saß er auf der Küchenbank oder der Bettkante und starrte vor sich hin. Joel versuchte, die gleichen Gedanken wie Samuel zu denken. Manchmal hatte er ein Gefühl, als ob es ihm gelang. Aber nicht immer.

Und jetzt war er viel zu müde, obwohl es doch erst Nachmittag war. Durchs Fenster sah er die Sonne. Im Zimmer wuchsen die Schatten, und er wußte, es war die Dämmerung.

Joel schlief ein und schlief durch bis zum nächsten Morgen.

Samuel war die ganze Nacht im Krankenhaus geblieben. Er ging auch nicht zu seiner Arbeit im Wald. In einem schwarzen Taxi fuhren sie nach Hause. »Muß ich nicht zur Schule ?« fragte Joel. »Heute nicht. Morgen«, antwortete Samuel.

»Und mußt du nicht in den Wald, Bäume fällen?« »Heute nicht. Morgen. Jetzt bleiben wir zu Hause.« Joel ging in sein Zimmer.

Hier wohnte er. Hier würde er weiter wohnen, obwohl er ein Mirakel erlebt hatte.

Samuel machte Speckpfannkuchen. Sie brannten an, aber Joel beschwerte sich nicht.

»Was ist ein Mirakel?« fragte er.

Samuel schien erstaunt über die Frage.

»Das mußt du den Pastor fragen.«

»Aber als ich vom Bus überfahren wurde? Und nicht eine einzige Schramme kriegte ?«

»Du hattest Glück«, sagte Samuel. »Ein unglaubliches Glück. Nur Leute, die an höhere Mächte glauben, reden von Mirakel.«

Joel fragte nicht weiter. Samuels Stimme war anzuhören, daß er nicht mehr über das Mirakel reden wollte. Joel wußte, daß er nicht an Gott glaubte. Einmal, als Samuel betrunken war, hatte er einen Eimer an die Wand geworfen und gebrüllt und geschrien, daß es keine Götter gebe. Wenn Frau Nederström recht hatte, dann bedeutete das, daß Samuel eine verlorene Seele war.

Was eine verlorene Seele war, wußte Joel nicht. Aber er begriff, daß er darüber nachdenken mußte, was er eigentlich von Gott hielt, nachdem der Ljusdalbus ihn ein Mirakel hatte erleben lassen.

Nach dem Mittagessen, als Samuel auf der Küchenbank eingeschlafen war, nahm Joel das Logbuch aus der Glasvitrine der »Celestine«. Auf der letzten Seite, auf der er all seine Fragen aufschrieb, war fast kein Platz mehr. Nur ein einziges Wort und ein Fragezeichen paßten noch dorthin. » Gott ?«

Wurde man einem Mirakel ausgesetzt, sollte man ihm danken.

Aber wenn nun Joel wie Samuel war, eine verlorene Seele, wie sollte er sich dann verhalten ?

Wie dankt man einem Gott, an den man vielleicht gar nicht glaubt?

Und was passiert, wenn man sich nicht bedankt? Wird das Mirakel zurückgezogen, und man wird noch einmal vom Ljusdalbus überfahren?

Joel seufzte. Das waren zu viele Fragen. Zu große Fragen. Er wünschte, es gäbe einen Tag in der Woche, an dem alle Fragen verboten wären.

Dann legte er das Logbuch zurück und ging in sein Zimmer. Er begann, eine alte Karte zu zerschneiden. Jetzt wollte er das Rund-um-die-Erde-Spiel erfinden. Plötzlich war Samuel wach geworden und stand in der Tür. »Was tust du ?« fragte er. »Ich mach ein Spiel«, antwortete Joel.

»Du denkst hoffentlich nicht mehr an das Unglück?«

»Das war doch kein Unglück.«

»Was war es denn ?«

»Ich hab keine Schramme abgekriegt. Dann kann es doch kein Unglück gewesen sein ?«

Samuel sah aus, als ob er nicht wüßte, was er antworten sollte. »Du mußt versuchen, nicht mehr dran zu denken«, sagte er. »Und wenn du Alpträume hast, weck mich.« Samuel ging in sein Zimmer und drehte das Radio an. Er wollte die Abendnachrichten hören. Joel stellte sich an die Tür. Würden sie etwas über das Mirakel sagen, das sich ereignet hatte? Aber es kam nichts. Das Mirakel war wahrscheinlich zu klein.

Am nächsten Tag ging er wie immer in die Schule. Er vermied es, an der Bierstube vorbeizugehen, damit er den eingebeulten Laternenpfahl nicht sehen mußte. Außerdem fürchtete er auch ein bißchen, der Bus könnte ihn noch einmal überfahren.

Er mußte sich etwas ausdenken, wie er sich für das Mirakel bedanken konnte. Und ihm mußte schnell was einfallen. Als er in die Schule kam, umarmte Frau Nederström ihn. Das war noch nie passiert.

Sie drückte ihn so fest an sich, daß er kaum Luft kriegte. Sie benutzte ein Parfüm, das sehr stark roch, und Joel gefiel es überhaupt nicht, umarmt zu werden. Seine Klassenkameraden sahen feierlich aus, und Joel hatte ein Gefühl, als ob sie Angst vor ihm hätten, als ob er ein Gespenst wäre. Ein wandelnder Schatten. Das wäre gleichzeitig gut und schlecht.

Jemand zu sein, den alle beachteten, das war gut. Aber es war schlecht, wenn man erst ein Geist werden mußte, damit sie einen beachteten.

Das Ganze wurde auch dadurch nicht besser, daß Frau Nederström sagte, Joel möge Gott danken, daß er überlebt hatte.

Hoffentlich fordert sie mich nicht auf, es hier vor der Klasse zu tun, dachte Joel. Das tu ich nicht.

Aber sie ließ ihn in Frieden. Er konnte aufatmen. Es war schwer, sich im Unterricht zu konzentrieren. Und in den Pausen schienen ihm die Klassenkameraden aus dem Weg zu gehen. Sogar Otto machte einen Bogen um ihn. Das alles gefiel Joel gar nicht.

Wenn die Leute glaubten, man hätte eine ansteckende Krankheit, nur weil man ein Mirakel erlebt hatte, dann konnte er gut darauf verzichten.

Es war natürlich dieser verdammte Eklund mit seinen großen roten Händen. Der hatte nicht aufgepaßt. Wenn man einen Bus fuhr, konnte es leicht passieren, daß jemand angerannt kam, der es eilig hatte, weil er sich für zwei Schachteln Hustenbonbons bedanken mußte. Lernten die Busfahrer denn gar nichts, ehe sie ihren Führerschein bekamen?

Nach der Schule schlenderte Joel nach Hause. Er mußte sich etwas Gutes ausdenken, um sich für das Mirakel zu bedanken. Und es mußte schnell gehen. Vielleicht war ihm schon anzusehen, daß er sich noch nicht bei Gott bedankt hatte.

Mißmutig ging er zum Fluß hinunter und setzte sich auf seinen Stein. Er mußte mit jemandem über dieses Mirakel reden.

Nicht mit Papa Samuel. Das würde nicht gehen. Er mochte nicht über Gott reden. Aber mit wem sollte er reden?

Mit dem alten Maurer Simon Urväder?

Oder mit Gertrud, die auf der anderen Seite des Flusses wohnte? Und die keine Nase hatte.

Mir fehlt ein Freund, dachte Joel, ein bester Freund. So einen mußte er sich suchen. Das war das wichtigste aller Probleme, die er in diesem Herbst lösen mußte. Man konnte nicht zwölf werden und immer noch keinen richtigen Freund haben.

Er beschloß, noch am selben Abend die nasenlose Gertrud zu besuchen.

Er verließ den Stein, ging nach Hause und setzte die Kartoffeln auf.

Nachdem Samuel und er gegessen hatten, mußte er sagen, daß er weggehen wollte. Er hatte sich gut vorbereitet. »Ich geh für eine Weile zu Eva-Lisa«, sagte er. Samuel ließ die Zeitung sinken, in der er gerade las. »Zu wem?« fragte er. »Eva-Lisa.« »Wer ist das ?«

»Das weißt du doch. Sie geht in meine Klasse. Sie ist die Tochter von der Krankenschwester im Krankenhaus. Die hast du doch getroffen?«

»Ach so, die«, sagte Samuel. »Solltest du nicht lieber zu Hause bleiben?«

»Ich hab doch nicht mal eine Schramme abgekriegt!« Samuel nickte. Dann lächelte er.

»Bleib nicht so lange«, sagte er. »Und geh immer schön auf dem Fußweg.«

»Mach ich«, sagte Joel. »Ich bleib nicht lange. Zwei Stunden höchstens.«

Dann lief er über den Fluß. Die hohen Brückenbogen wölbten sich über seinem Kopf. Er erinnerte sich daran, wie er einmal dort oben gesessen hatte, und Samuel hatte ihn runterholen müssen. Er rannte, so schnell er konnte, über die Brücke.

Vor Gertruds Gartentor mußte er erst mal nach Luft schnappen. Der kalte Herbstwind kratzte in der Brust. In Gertruds Küche brannte Licht. Und er sah, wie sich ihr Schatten auf der Gardine abzeichnete.

Sie war zu Hause. Vielleicht konnte sie ihm helfen, sich etwas Gutes auszudenken, wie er für das Mirakel danken und dadurch quitt mit Gott werden konnte, oder wer das nun gemacht hatte, daß der Ljusdalbus ihn nicht totgefahren hatte. Er öffnete die knarrende Pforte.

Hastig warf er einen Blick hinauf zum sternklaren Himmel.

Aber der Hund war weg.