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Ich hab noch eine Geschichte zu erzählen.
Die Geschichte, was passiert ist, als der Sommer vorbei war. Als die Mücken aufhörten zu sirren und die Nächte kalt wurden.
Da kam der Herbst, und Joel Gustafson mußte über andere Sachen nachdenken. Fast nie mehr ging er zu seinem Felsblock an den Fluß, um in den Himmel hinaufzuspähen.
Es war, als ob es den Hund, der unterwegs zu einem Stern war, nicht mehr gäbe.
Oder hatte es ihn nie gegeben? War alles nur ein Traum gewesen?
Joel wußte es nicht. Doch dann beschloß er zu glauben, daß alles nur daher kam, weil er bald zwölf wurde. Dann war er zu groß, um auf einem Stein zu sitzen und von einem einsamen Hund zu träumen, den es in Wirklichkeit vielleicht nie gegeben hatte.
Zwölf Jahre alt zu werden, das war ein großes Ereignis. Dann waren es nur noch drei Jahre, bis er fünfzehn wurde. Dann konnte er sich ein Moped kaufen und im Gemeindehaus Filme ansehen, die für Kinder verboten waren. Mit fünfzehn ist man fast erwachsen.
Diese Gedanken wirbelten Joel an einem Nachmittag im September 1957 im Kopf herum. Es war Sonntag, und er hatte sich zu einer Expedition in den großen Wald aufgemacht, der den Ort umgab, in dem Joel wohnte. Er wollte untersuchen, ob man sich mit Absicht verlaufen konnte. Außerdem gab es da noch zwei andere wichtige Fragen, über die er nachdenken mußte. Die eine Frage war, ob es vielleicht von Vorteil gewesen wäre, wenn er ein Mädchen wäre und statt Joel Joella geheißen hätte. Die andere war, was er eigentlich machen wollte, wenn er erwachsen war.
Von all dem hatte er Papa Samuel natürlich nichts erzählt. Er hatte zusammengekauert im Küchenfenster gesessen und zugeguckt, wie Samuel sich rasierte. Da er sich beim Rasieren immer schnitt, hatte Joel schon vor langer Zeit beschlossen, sich einen Bart stehen zu lassen, wenn er groß war. Als er einmal allein zu Hause gewesen war, hatte er sich mit dem schwarzverbrannten Ende eines Holzstücks sorgfältig einen Bart ins Gesicht gemalt. Um zu fühlen, wie es war, Haare im Gesicht zu haben, hatte er sich außerdem ein Fuchsfell umgebunden. Er hatte festgestellt, daß ein Bart besser war, als sich mit dem Rasiermesser zu schneiden. Allerdings hoffte er, daß der Bart nicht nach Fuchs roch.
Als Samuel fertig war, hatte er seinen besten Anzug angezogen. Dann hatte Joel ihm den Schlips gebunden. Jetzt war Samuel bereit, Sara zu besuchen. Sie arbeitete als Kellnerin in der Bierstube und hatte heute frei. Gleich sagt er, daß er nicht spät nach Hause kommt, dachte Joel.
»Ich komme nicht spät«, sagte Samuel. »Was machst du heute nachmittag?«
Joel hatte sich die Antwort schon vorher zurechtgelegt.
»Puzzle legen«, sagte er. »Das große Puzzle mit Indianerhäuptling Geronimo. Das mit den 954 Teilen.« Samuel sah ihn nachdenklich an.
»Warum gehst du nicht draußen spielen?« fragte er. »Das Wetter ist doch so schön.«
»Ich wollte das Puzzle auf Zeit legen«, sagte Joel. »Ich will nämlich einen neuen Rekord aufstellen. Letztesmal hat es vier Stunden gedauert. Jetzt will ich es in drei schaffen.« Samuel nickte und ging. Joel winkte ihm vom Fenster nach. Dann zog er einen alten Rucksack unterm Bett hervor und steckte ein paar Butterbrote hinein. Währenddessen setzte er Teewasser auf den Herd. Als es kochte, goß er es in Samuels rote Thermoskanne.
Sich Samuels Thermoskanne auszuleihen, barg eine gewisse Gefahr. Wenn die Kanne kaputtging oder wenn er sie verlor, dann würde Samuel böse werden. Joel müßte sich einen Haufen anstrengender Erklärungen einfallen lassen. Aber das Risiko mußte er auf sich nehmen. Eine Expedition ohne Thermoskanne war undenkbar. Zuletzt nahm er sein Logbuch, das in der Glasvitrine lag, in der auch »Celestine«, das Schiffsmodell, stand und verstaubte. Er schnürte den Rucksack zu, stieg in die Gummistiefel und zog seine Jacke an. Die Treppe zum Erdgeschoß schaffte er in drei Sprüngen. Vor nur einem halben Jahr hatte er noch vier gebraucht.
Die Sonne schien, aber es war zu spüren, daß Herbst in der Luft lag. Um so schnell wie möglich den Wald zu erreichen, beschloß er, daß Indianerhäuptling Geronimo hinter dem Lager der Handelsvereinigung ihm auflauerte. Also mußte Joel schnell reiten. Er schnalzte mit der Zunge und stellte sich vor, daß seine Stiefel die frisch beschlagenen Hufe eines gefleckten Ponys waren. Er raste über die Straße davon. Die rotbraunen Güterwaggons auf dem Abstellgleis waren Felsen, hinter denen er Schutz suchen konnte. Wenn er es bis dahin schaffte, würden Geronimo und seine Krieger ihn nie einholen. Und dahinter war der Wald…
Als er den Waldrand erreichte, stellte er das Spiel ab. So dachte er: Die Phantasie war für ihn etwas, das man anstellen und abstellen konnte wie den Wasserhahn. Er ging in den Wald hinein.
Da die Sonne tief am Himmel stand, herrschte Dämmerung zwischen den Bäumen. Die Schatten zwischen den groben Stämmen wuchsen, wuchsen und wurden lang. Plötzlich war der Weg verschwunden. Um Joel herum war nur Wald.
Ein einziger Schritt, dachte er, ein einziger Schritt, und die ganze Welt verschwindet.
Er lauschte auf den Wind, der in den Bäumen rauschte. Jetzt konnte er üben, sich zu verlaufen. Er würde etwas tun, was noch nie ein Mensch vor ihm getan hatte. Er würde beweisen, daß nicht nur die vom Weg abkommen können, die sich verirren.
Von einem Baumwipfel hoch oben flog eine Krähe auf. Joel zuckte zusammen, als ob die Krähe dicht neben ihm gesessen hätte. Dann war es wieder still.
Die Krähe machte ihm angst. Hastig trat er einen Schritt zurück und vergewisserte sich, daß die Welt noch da war. Er hängte den Rucksack an einen herausragenden Ast und machte zehn Schritte geradewegs in den Wald. Dann ging er noch zehn Schritte. Als er sich umdrehte, konnte er den Rucksack nicht mehr sehen. Da schloß er die Augen und wirbelte herum, damit ihm schwindlig wurde und er die Richtung verlor. Als er die Augen wieder öffnete, wußte er nicht, in welche Richtung er gehen sollte. Jetzt hatte er sich verirrt.
Rund um ihn herum war es still. Nur der Wind rauschte. Plötzlich hatte er Lust, den Plan aufzugeben. So zu tun, daß man sich mit Absicht verirrte, war ein unmögliches Spiel. Das war nur eine Art von Kindischsein. Das konnte sich jemand, der bald zwölf wurde, nicht mehr erlauben.
Joel dachte, das sei vielleicht der große Unterschied. Mit zwölf konnte man nicht mehr so tun als ob. Es dämmerte schon, als er seinen Rucksack wiederfand und zum Weg zurückkehrte. Er überlegte, ob es besser gewesen wäre, wenn er als Mädchen geboren worden wäre. Joel oder Joella zu sein, was war am besten?
Jungen waren stärker. Außerdem spielten sie schönere Spiele als Mädchen. Wenn sie erwachsen waren, hatten sie aufregendere Berufe. Aber ganz sicher war er nicht. Was war eigentlich wirklich am besten? Einen Bart zu haben, der nach Fuchsfell roch? Oder Brüste, die im Pullover wippten? Kinder zu bekommen oder selbst Kinder zu gebären? Gekitzelt zu werden oder selbst zu kitzeln? Er trabte nach Hause, ohne sich entscheiden zu können. Wütend trat er nach einem Stein auf dem Kiesweg. Das war ein schlechter Sonntag gewesen. Wenn er nach Hause kam, würde er in das Logbuch schreiben, daß es ein richtig schlechter Tag gewesen sei. Er hatte auch keine Lust, das Geronimopuzzle zu legen. Er hatte zu überhaupt nichts Lust. Und am nächsten Tag war es soweit. Dann mußte er wieder zur Schule.
Er biß sich ganz fest in die Zunge, damit der Tag noch schlimmer wurde. Nichts mißfiel ihm so sehr wie nicht zu wissen, was er dann machen sollte.
Das Leben war eine Aneinanderreihung von »dann«. Das hatte er schon herausbekommen. Es kam darauf an, daß das nächste »dann« besser war als das vorherige. Aber heute war alles schiefgelaufen.
Er schob die Pforte zu dem verwilderten Garten auf, wo er wohnte.
Die Eberesche leuchtete rot. Die Sonne war hinterm Horizont jenseits des Flusses verschwunden.
Nichts passiert, dachte Joel.
In diesem Kaff passiert nie was.
Aber er irrte sich.
Am Tag danach, der ein Montag war mit Nebel und Nieselregen, an diesem Tag passierte etwas, was Joel sich niemals hätte träumen lassen.
Er würde ein Wunder erleben, ein richtiges Mirakel!