Philip José Farmer
Die Reiter der Purpurnen Sozialhilfe oder Das große Ding
R1DERS OF THE PURPLE WAGE or
THE GREAT GAVAGE

 

Wenn Jules Verne wirklich in die Zukunft hätte schauen können, sagen wir bis ins Jahr 1966, dann hätte er wahrscheinlich in die Hosen geschissen. Und erst 2166 – oh Mann!

 

Aus Großpapa Winnegans unveröffentlichtem Manuskript Wie ich Onkel Sam beschissen habe und andere private Ergüsse.

 

DER HAHN, DER RÜCKWÄRTS KRÄHTE

 

Un und Unter, die beiden Riesen, betteln ihn um Brot an.

Bruchstücke schweben durch den Wein des Schlafes nach oben. Riesige Füße zertreten unergründliche Trauben für das Sakrament des Inkubus.

Er, als Einfaltspinsel, angelt in seiner Seele als Köder für den Leviathan.

Er stöhnt, erwacht halb, dreht sich um, schwitzt dunkle Ozeane, stöhnt erneut. Un und Unter kehren ihrer Arbeit den Rücken und werden zu Mühlsteinen der versunkenen Mühle, murmeln pfui, fui, fu, fumm. Augen glitzern orangerot wie die einer Katze im Kämmerchen, Zähne als trübe weiße Finger in der dunklen Arithmetik.

Un und Unter, auch sie Einfaltspinsel, mischen emsig unselbstbewußt Metaphern.

Misthaufen und Hahneier: Der Basilisk richtet sich auf und gibt ein erstes Krähen von sich, zwei weitere folgen im Flauschrausch des Blutes in der Dämmerung und Ich-bin-die-Erektion-und-der-Hader.

Es wächst und wächst, bis Gewicht und Länge sich zusammentun und es herabbiegen wie eine noch nicht trauernde Weide oder eine abgebrochene Gerte. Der einäugige Rotkopf blinzelt über die Bettkante. Er legt den kinnlosen Kiefer auf und gleitet dann, während der Körper anschwillt, hinüber und hinaus. Er schaut einäugig hierhin und dorthin, schnüffelt archaisch über den Fußboden und macht sich auf zur Tür, die durch einen Lapsus linguae von simulierenden Wächtern offengelassen wurde.

Ein gellender Schrei aus der Mitte des Raumes veranlaßt ihn zur Umkehr. Der dreibeinige Esel, Baalims Staffelei, iiaht lauthals. Auf der Staffelei befindet sich die „Leinwand“, eine speziell behandelte flache Mulde aus beleuchtetem Plastik. Die Leinwand ist über zwei Meter hoch und achtzehn Zoll tief. Das Gemälde beinhaltet eine Szene, die bis morgen fertig sein muß.

Es ist ebenso Gemälde wie Skulptur, und die Figuren sind reliefartig herausgearbeitet, manche sind dem Zentrum näher als andere. Sie schimmern im Licht von außerhalb, aber auch die Plastikfläche der „Leinwand“ glüht von innen heraus. Das Licht scheint von der Skulptur angesogen zu werden, zu verweilen, dann loszubrechen. Das Licht ist hellrot, das Rot der Dämmerung, von mit Tränen verwässertem Blut, von Zorn, von Tinte auf der Soll-Seite des Kontos.

Dieses entstammt seiner Hundeserie: Dogmas einer Dogge, Hundekampf, Hundstage, Der Himmelhund, Der verkehrte Hund, Der Hund der Flinder, Hundsbeeren, Der Hundefänger, Liegende Dogge, Der Hund im rechten Winkel und Improvisationen über einen Hund.

Sokrates, Ben Jonson, Cellini, Swedenborg, Li Po und Hiawatha zechen in der Taverne ‚Zur Meerjungfrau’. Vor dem Fenster kann man Dädalus auf dem Gipfel der Schlacht um Knossos sehen, wie er seinem Sohn Ikarus eine Rakete den Arsch raufschiebt, um ihn zu einem düsengetriebenen Start beim Jungfernflug zu verhelfen. In einer Ecke kauert sich Og, der Sohn des Feuers, zusammen. Er nagt an einem Säbelzahntigerknochen und malt Bisons und Mammuts an die schimmligen Wände. Die Bardame Athena beugt sich über den Tisch, wo sie ihren würdigen Kunden Nektar und Brezeln serviert. Aristoteles, der Ziegenhörner trägt, steht hinter ihr. Er hat ihren Rock hochgehoben und pimpert sie von hinten. Asche von der in seinem Mundwinkel hängenden Zigarette ist auf ihr Kleid gefallen, das zu rauchen beginnt. Unter der Tür zur Herrentoilette gibt sich ein betrunkener Batman einem lange unterdrückten Wunsch hin und versucht, den Wunderboy in den Arsch zu ficken. Durch ein anderes Fenster kann man einen See erkennen, über den ein Mann schreitet, um dessen Kopf ein grünlicher Heiligenschein flimmert. Hinter ihm ragt ein Periskop aus dem Wasser.

Prehensil, die Penisschlange, windet sich um den Pinsel und beginnt zu malen. Der Pinsel ist ein kleiner Zylinder, an dem ein Schlauch angebracht ist, der zu einer kuppelförmigen Maschine führt. Am anderen Ende des Zylinders befindet sich ein Ventil. Die Öffnung dessen kann durch Drehen einer Daumen-Skala am Zylinder geöffnet oder geschlossen werden. Die Farbe, die das Ventil als dünne Spray wölke oder dicken Strahl in jeder gewünschten Farbe abgibt, kann durch mehrere Knöpfe am Zylinder eingestellt werden.

Heftig und rüsselartig bildet er Schicht um Schicht eine neue Figur. Dann riecht er schnuppernd ein stickiges Aroma des Müssens und läßt den Pinsel fallen und schlüpft zur Tür hinaus, den ovalen Wölbungen des Flurs nach, wobei er das Kriechen beinloser Geschöpfe beschreibt, eine Schrift im Sand, die alle lesen, aber nur die wenigsten verstehen können. Blut walltwallt im Rhythmus der Mühlsteine von Un und Unter, um das heißblütige Reptil anzuschwellen und zu nähren. Doch die Wände entdecken die eindringende Masse und das herausdrängende Verlangen und glühen.

Er stöhnt, worauf die Kobra Erekta sich steil erhebt und zu den Flötentönen seines Wunsches nach Erficklung tanzt. Es werde kein Licht. Im Schmutz der Nacht muß er verweilen, sie sei sein Mantel. Rasch an Mutters Zimmer vorbei, dem Ausgang am nächsten. Ah! Seufzt leise voller Erleichterung, doch Luft pfeift durch den vertikalen und zusammengepreßten Mund und gibt das Entweichen des Verlangens nach Ermösung bekannt.

Die Tür ist archaisch geworden. Sie hat ein Schlüsselloch. Rasch! Die Rampe hoch, durch das Schlüsselloch aus dem Haus und hinaus auf die Straße. Eine Person geht weg auf dem Gehweg, eine junge Frau mit phosphoreszierendem Silberhaar, eine Gelegenheit, die es am Schopf zu packen gilt.

Raus und die Straße hinab und um ihren Knöchel geschlungen. Sie schaut mit Überraschung herunter, dann mit Furcht. Das gefällt ihm. Zu willig sind zu viele. Er hat einen Diamanten im Basalt gefunden.

Um ihr kätzchenohrweiches Bein herum und hoch bis zur Gabelung der Lenden. Liebkosen der winzigen Korkenzieherlöckchen, und dann, sich selbst kasteiend, weiter über die Wölbung des Bauches, im Vorübergehen ein Hallo zum Nabel, leichter Druck darauf, dann um die schlanke Taille und weiter hoch, ein scheuer Kuß auf jeden Nippel. Dann wieder hinunter und fertigmachen zum Besteigen des Schamhügels, auf dem eine Flagge aufgepflanzt werden soll.

Oh, ergötzliches Tabu und lüsternes Hochheiligstes! Dort drinnen ist ein Baby, Ektoplasma beginnt sich in eifriger Vorerwartung der Aktualität zu formen. Tropfen, Ei, und dann machen sich dunkeltunnelige und feuchte Fleischfalten daran, den glücklichen kleinen Moby Fick zu verschlingen. Millionen Brüder begeben sich auf die Reise, nur einer kommt ans Ziel, Überleben des kräftficksten.

Ausgedehntes Krächzen erfüllt die Halle. Der heiße Atem läßt die Haut gefrieren. Er schwitzt. Eiszapfen überziehen den lüsternen Rumpf, der unter dem Gewicht des Eises zusammensackt, dann kräuselt sich der Nebel darum, kriecht die Streben entlang, und die Querruder und Höhensteuer sitzen im Eis fest. Er verliert rasch an Geschwindigkeit. Höher, höher! Der Venusberg ist irgendwo dort vorn im Nebel. Tannhäuser, stoß in deine Poposaune und laß Blitze zucken, ich bin im Sturzflug.

Mutters Tür ist aufgegangen. Eine Kröte macht sich in der ovalen Türöffnung breit. Ihr tauiger Schoß hebt und senkt sich blasebalgartig. Der zahnlose Mund klafft. Ginungagap. Gespaltene Zunge schießt hervor und windet sich um die Boa conficktor. Er schreit mit beiden Mündern auf und windet sich hierhin und dorthin. Wogen der Ablehnung durchlaufen ihn. Zwei pelzige Pfoten greifen herab und binden die schlappe Form zu einem Knoten.

Die Frau schlendert weiter. Warte auf mich! Die Flut brandet heran, tost gegen den Knoten, weicht wieder zurück, Ebbe nach Sturm und drängender Flut. Zu viele und nur ein gangbarer Weg. Er drehsprintet, das Firmament des Wassers fällt herab, weder Noahs Arche noch Asche. Er novat, ein Regen von Millionen von glühenden, funkelnden Meteoren, Blitze in der Pfanne der Existenz.

Dein Königseich komme, dein Nille geschehe. Lenden und Unterleib in muffigem Panzer gefangen und er kalt, naß und zitternd.

 

GOTTES PATENT AUF AUSDÜNSTUNGEN DER DÄMMERUNG

 

… das Folgende wird gesprochen von Alfred Melophon Voxpopper von der Aurora Aufputsch- und Kaffeestunde, Kanal 69 B. Gedichte aufgenommen während der fünfzigsten Jährlichen Ausstellung von Volkskunst im Wettstreit’, Beverly Hills, Ebene 14. Gesprochen von Omar Bacchylides Runic ohne Verwendung eines Manuskripts oder vorheriger Probe, wenn man von einigen Aussprachen absieht, die am Vorabend in einer der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Taverne stattfanden, die ‚Das Private Universum’ genannt wird – und davon kann man absehen, denn Runic konnte sich überhaupt nicht mehr an diesen Abend erinnern. Ungeachtet der Tatsache, daß er den ‚Ersten Laurel Wreath Preis’ gewann, gab es weder einen ‚Zweiten’ noch einen ‚Dritten’ usw. Die Preise wurden mit A bis Z gekennzeichnet, Gott segne unsere Demokratie.

 

Ein grau-rosa Lachs springt die Fälle der Nacht empor

In den stillen Teich eines neuen Tages

 

Dämmerung – das rote Röhren des heliakischen Bullen,

Der über den Horizont emporsteigt.

 

Das fototonische Blut der verblutenden Nacht,

Vergossen von der meuchelnden Sonne.

 

Und so weiter, fünfzig Strophen lang, die allesamt von Rufen, Händeklatschen, Buhs, Zischen und Kreischen begleitet wurden.

Chib ist halb wach. Er späht in die sich verjüngende Dunkelheit hinein, während der Traum in einen unterirdischen Tunnel davonröhrt. Durch kaum geöffnete Lider blinzelt er in die andere Realität: Bewußtsein.

„Laß meinen Piller los!“ stöhnt er mit Moses, und da er dabei an lange Bärte und Hörner (unter Berufung auf Michelangelo) denkt, denkt er auch an seinen Ururgroßvater.

Der Wille, ein Stemmeisen, zwingt seine Lider, sich zu öffnen. Er sieht das Fido, das die gegenüberliegende Wand bespannt und sich halb über die Decke krümmt. Die Dämmerung, der Paladin der Sonne, wirft ihren grauen Handschuh herab.

Kanal 69 B, IHR LIEBLINGSKANAL, nur in LA, bringt Ihnen die Dämmerung. (Täuschung mit Tiefenwirkung. Die falsche Dämmerung der Natur, beschattet mit Elektronen, die von Maschinen geformt sind, die von Menschen geformt sind.)

Erwache mit Sonne im Herzen und einem Lied auf den Lippen! Trällert zu den packenden Versen von Omar Runic! Seht die Dämmerung als Vögel in den Bäumen, als Gott, aber seht sie!

Voxpopper singt die Verse leise, während Griegs Anitra gemächlich plätschert. Der alte Norweger hätte nie von einem derartigen Publikum geträumt. Ein junger Mann, Chibiabos Elgreco Winnegan, hat einen feuchten Pimmel, Grund dafür ist ein letzter Ölschwall auf den Ölfeldern des Unterbewußtseins.

„Beweg den Arsch, auf die Beine“, sagt Chib. „Heute läuft Pegasus.“

Er denkt, spricht und lebt in der Gegenwart.

Chib steigt aus dem Bett und schiebt es in die Wand. Das Bett einfach im Raum stehen lassen, würde die Ästhetik des Zimmers zerschmettern und die Krümmung stören, die eine Reflexion des Basisuniversums ist. Zudem würde es ihn bei der Arbeit hindern.

Das Zimmer ist ein großes Oval, in der Ecke befindet sich ein kleineres Oval, Toilette und Dusche. Er kommt daraus hervor wie einer von Homers göttergleichen Achäern, stramme Schenkel, kräftige Arme, goldbraune Haut, blaue Augen, kastanienrotes Haar – wenngleich bartlos. Das Telefon imitiert das Quaken eines südamerikanischen Baumfrosches, das er einmal über Kanal 122 gehört hat.

„Sesam, öffne dich!“

 

INTER CAECOS REGNAT LUSCUS

 

Das Gesicht von Rex Luscus erfüllt das Fido, die Poren des Gesichts wie die Kraterlandschaft eines Schlachtfeldes aus dem Ersten Weltkrieg. Er trägt eine schwarze Augenklappe über dem linken Auge, das man ihm während eines Handgemenges zwischen Kritikern während der Ich-liebe-Rembrandt-Fortbildungsserie auf Kanal 109 ausgeschlagen hat. Er hat genügend Macht, um eine Transplantation zu beantragen, verzichtet aber darauf.

„Inter caecos regnat luscus“, sagt er immer, wenn er danach gefragt wird, und wenn er nicht gefragt wird auch oft genug. „Übersetzung: Unter Blinden ist der Einäugige König. Darum habe ich mich in Rex Luscus umtaufen lassen. Das bedeutet König Einauge.“

Es geht das Gerücht, von Luscus selbst mit verbreitet, daß er den Bioburschen erlauben wird, ein künstliches Proteinauge einzusetzen, wenn er das Bildnis eines Künstlers schauen kann, das großartig genug ist, um den Blick zweier Augen zu rechtfertigen. Es geht weiterhin das Gerücht, daß dies schon bald geschehen kann, und zwar wegen seiner Entdeckung von Chibiabos Elgreco Winnegan.

Luscus betrachtet hungrig (er flucht adverbial) Chibs Lustpfropf und die darum liegenden Regionen. Chib schwillt an, aber nicht mit den Schwellkörpern, sondern vor Zorn.

„Süßer“, sagt Luscus flötend, „ich wollte mich nur vergewissern, ob du schon aufgestanden bist und dich an die immens wichtige Arbeit des Tages gemacht hast. Du mußt bis zur Ausstellung fertig sein, du mußt! Aber nun, da ich dich sehe, fällt mir ein, daß ich noch nichts gegessen habe. Wie wär’s mit einem Frühstück mit mir?“

„Was essen wir denn?“ sagt Chib. Er wartet aber nicht auf die Antwort. „Nein, ich habe heute zuviel zu tun. Sesam, schließe dich!“

Das ziegenähnliche Gesicht von Rex Luscus oder, wie er es lieber nennt, das Gesicht Pans, eines Fauns der Künste, verblaßt auf dem Schirm. Er hat sogar die Ohren manikürt. Echt abgefahren.

„Bää-ää-ää!“ plärrt Chib dem Phantom hinterher. „Bä! Papperlapapp! Ich werde dir niemals in den Arsch kriechen, Luscus, und du in meinen schon gar nicht. Auch wenn ich einen Mäzen verliere!“

Das Telefon klingelt wieder. Das dunkle Gesicht von Rousseau Roter Falke erscheint. Seine Nase gleicht dem Schnabel des Adlers, seine Augen sind schwarze Glasscherben. Ein roter Stoff streifen ist um seine breite Stirn geschlungen, der das schwarze Haar zurückhält, welches ihm auf die Schultern fällt. Sein Hemd ist aus Wildleder, ein Perlendiadem hängt von seinem Nacken herab. Er sieht wie ein edler Indianer aus, obwohl Sitting Bull, Crazy Horse und sogar der edelste von allen, Roman Nose, ihn wahrscheinlich mit Fußtritten aus dem Stamm gejagt hätten. Nicht, daß sie antisemitisch gewesen wären, sie hätten einfach keinen Tapferen respektieren können, der Angstzustände bekam, wenn er sich einem Pferd nähern mußte.

Er wurde als Julius Appelbaum geboren und an seinem Namenstag rechtens zu Rousseau Roter Falke. Gerade gemaßregelt aus den Wäldern zurückgekehrt, suhlt er sich nun wieder in den fleischlichen Genüssen einer dekadenten Zivilisation.

„Wie geht’s dir denn, Chib? Die Bande fragt sich gerade, wann du wohl hier sein wirst?“

„Bei euch? Ich habe noch nicht gefrühstückt, und zudem habe ich tausenderlei Dinge zu erledigen, bis die Ausstellung beginnt. Ich werde gegen Nachmittag dort sein.“

„Den größten Spaß gestern nacht hast du versäumt, ’n paar gottverdammte Ägypter haben versucht, die Mädels anzumachen, aber wir haben sie an die Wand geselamt.“

Rousseau verschwand wie der letzte der roten Männer.

Chib denkt gerade an Frühstück, da meldet sich der Interkom. Sesam, öffne dich! Er sieht das Wohnzimmer. Rauch, zu dicht und wirbelnd, als daß die Klimaanlage ihn noch absaugen könnte, kräuselt sich dort. Am anderen Ende des Ovals schlafen sein Halbbruder und seine Halbschwester auf dem Bett. Während sie Mama-und-Freund spielten, sind sie eingeschlafen, ihre Münder in süßer Unschuld offen, wunderschön, wie nur schlafende Kinder sein können. Gegenüber ihren geschlossenen Lidern befindet sich ein starres Auge, das an einen mongolischen Zyklopen erinnert.

„Sind sie nicht süß?“ fragt Mama. „Die Kindchen waren einfach zu müde, um abzuzockeln.“

Der Tisch ist rund. Die betagten Ritter und Burgfrauen haben sich zur letzten Runde um As, König, Dame und Bube darum versammelt. Ihre Rüstungen bestehen lediglich Wulst für Wulst aus Fett. Mamas Unterkiefer hängen wie Fahnen an einem windstillen Tag herunter. Ihre Brüste zittern und ruckeln auf dem Tisch.

„Eine Horde von Spielern“, sagt er laut und betrachtet die fetten Gesichter, die riesigen Titten, die aufgedunsenen Wänste. Sie ziehen die Brauen in die Höhe. Wovon, zum Teufel, redet das wahnsinnige Genie nun schon wieder?

„Ist dein Kind wirklich retardiert?“ erkundigt sich einer von Mamas Freunden, worauf sie lachen und noch mehr Bier trinken. Angela Ninon, die sich mal wieder keinen Auftritt entgehen lassen will und sich denkt, daß Mama sowieso bald die Wasserspeier einschalten wird, pißt an ihren Beinen hinab. Daraufhin lachen sie alle, und William der Eroberer sagt: „Ich öffne.“

„Ich bin immer offen“, sagt Mama, worauf sie alle vergnügt kreischen.

Chib ist zum Weinen zumute, aber er weint nicht, obwohl er von Kindesbeinen an ermutigt wurde, immer zu weinen, wenn ihm danach ist.

 

… man fühlt sich hinterher besser. Schaut nur die Wikinger an, was das für Kerle waren, und sie alle weinten wie die kleinen Kinder, wenn sie wollten …

 

Mit Genehmigung von Kanal 202, aus dem beliebten Programm Wie verhält sich eine Mutter?

 

Er weint aber nicht, weil er sich wie ein Mann fühlt, der an seine geliebte Mutter denkt, die tot ist, aber schon lange Zeit tot. Seine Mutter ist schon lange unter einem Erdrutsch von Fleisch begraben. Mit sechzehn hatte er eine liebliche Mutter gehabt.

Dann schaltete sie ihn ab.

 

NUR EINE BLASENDE FAMILIE IST EINE
WACHSENDE FAMILIE

aus einem Gedicht von Edgar A. Grist, über Kanal 88.

 

„Mein Sohn, ich verstehe nicht viel davon. Ich tue es nur, weil ich dich liebe.“

Und dann fett, fett, fett. Wohin ist sie verschwunden? Den Fettgewebetunnel hinab. Verschwand, während sie größer wurde.

„Sonny, du könntest wenigstens hin und wieder mit mir ringen.“

„Du hast mich abgeschaltet, Mama. Das war schon recht. Ich bin jetzt ein großer Junge. Aber du hast kein Recht, von mir zu erwarten, daß ich es wieder aufnehmen möchte.“

„Du liebst mich nicht mehr!“

 

„Was gibt’s zum Frühstück, Mama?“ fragt Chib.

„Ich habe ein gutes Blatt auf der Hand, Chibby“, sagt Mama. „Wie du mir schon so oft gesagt hast, du bist jetzt ein großer Junge. Mach dir ausnahmsweise einmal das Frühstück selbst.“

„Weshalb hast du mich gerufen?“

„Ich habe vergessen, wann deine Ausstellung beginnt. Ich wollte noch etwas ausschlafen, ehe ich hingehe.“

„Vierzehn Uhr dreißig, Mama, aber du mußt nicht hin.“

Rotgefärbte grüne Lippen öffnen sich wie eine eiternde Wunde. Sie kratzt sich an einem getönten Nippel. „Oh, ich möchte aber hin! Ich möchte mir den künstlerischen Triumph meines Sohnes nicht entgehen lassen. Glaubst du, du wirst die Unterstützung bekommen?“

„Wenn nicht, dann heißt das Ägypten für uns“, sagt er.

„Diese stinkenden Araber“, sagt William der Eroberer.

„Das Bureau ist verantwortlich, nicht die Araber“, sagt Chib. „Die Araber sind aus denselben Gründen umgezogen, aus denen wir vielleicht umziehen müssen.“

 

Aus Großpapas unveröffentlichtem MS: Wer hätte sich träumen lassen, daß Beverly Hills antisemitisch werden würde?

 

„Ich will aber nicht nach Ägypten!“ winselt Mama. „Du mußt die Unterstützung einfach bekommen, Chibby. Ich will das Gelege hier nicht verlassen. Hier wurde ich geboren und erzogen, allerdings auf der zehnten Ebene. Und als ich dann umgezogen bin, da sind alle meine Freunde mitgekommen. Ich will nicht weg!“

„Weine nicht, Mama“, sagt Chib, der unwillkürlich Abscheu empfindet. „Weine nicht. Die Regierung kann dich nicht zum Gehen zwingen. Du hast deine Rechte.“

„Wenn du auch weiterhin Nachschub haben willst, dann wirst du gehen“, sagt der Eroberer. „Das heißt, wenn Chib die Unterstützung nicht bekommt. Und ich würde ihm keinen Vorwurf machen, wenn er sich gar nicht erst darum bemüht. Ist nicht seine Schuld, daß du zu Onkel Sam nicht nein sagen kannst. Du hast dein Purpur und noch das, was Chib vom Verkauf seiner Bilder bekommt. Und doch reicht das nicht. Du gibst es schneller aus, als du es bekommst.“

Mama schreit William wütend an, dann sind sie weg. Chib schaltet das Fido ab. Zum Teufel mit dem Frühstück, er wird später essen. Das letzte Bild für die Ausstellung mußte bis zum Nachmittag fertig sein. Er drückt einen Knopf, worauf sich der etwa eiförmige Raum hier und dort öffnet und die Zeichenausstattung wie ein Geschenk elektronischer Götter herauskommt. Zeuxis würde ausflippen, und Van Gogh würde den Tatterich bekommen, wenn sie sehen könnten, mit was für Pinseln und welcher Leinwand Chib arbeitet.

Der Prozeß des Malens erfordert auch das einzelne Biegen und Drehen von Tausenden von Drähten in andere Formen von unterschiedlicher Höhe. Die Drähte sind so dünn, daß man sie nur mit einem Vergrößerungsglas einsehen und mit außerordentlich feinen Pinzetten formen kann. Daher trägt er die komische Brille und hält im ersten Stadium der Arbeit ständig ein fast spinnwebfeines Instrument in Händen. Nach Hunderten von Stunden langsamer und geduldiger (liebevoller) Arbeit sind die Drähte dann geformt.

Chib nimmt die Brille ab und begutachtet die allgemeine Erscheinung. Danach benutzt er den Farbsprayer, um den Drähten die gewünschten Farben und Tönungen zu geben. Die Farbe trocknet binnen weniger Minuten und wird hart. Dann verbindet Chib die Fläche des Bildes mit einem elektrischen Stromkreis und drückt einen Knopf, woraufhin ein winziger Stromstoß durch die Drähte fließt. Diese glühen unter der Farbe und, lilliputartige Schmelzprozesse, lösen sich in blauen Dunst auf.

Übrig bleibt ein dreidimensionales Werk, das aus harten Farbschichten besteht, die sich in mehreren Ebenen über der ursprünglichen Schicht erheben. Diese Hüllen sind unterschiedlich dick, aber alle sind dabei so dünn, daß Licht von der obersten zur innersten Schicht durchdringen kann, wenn man das Bild entsprechend dreht. Einzelne Hüllen sind dabei einfach Reflektoren, die das Licht verstärken, damit innere Strukturen deutlicher sichtbar werden.

Bei der Ausstellung wird das Bild auf einem beweglichen Podest angebracht, das das Bild vom Zentrum aus zwölf Grad nach links, dann zwölf Grad nach rechts dreht.

Das Fido quakt. Chib denkt fluchend daran, es ganz abzuschalten. Aber wenigstens ist es nicht der Interkom mit seiner hysterischen Mutter am anderen Ende. Noch nicht. Die wird noch früh genug anrufen, wenn sie genügend beim Pokern verloren hat.

Sesam, öffne dich!

 

SINGT, IHR MÖWEN VON ONKEL SAM

 

Großpapa schreibt in seinen Privaten Ergüssen: Fünfundzwanzig Jahre nachdem ich mit zwanzig Milliarden Dollar geflohen und dann angeblich an einem Herzanfall verstorben bin, ist mir Falco Accipiter wieder auf der Spur. Das ist der IRB-Detektiv, der sich bei Eintritt in seinen Beruf Falcon Falke nannte. Welch ein Egoist! Und doch ist er gnadenlos und gerissen wie ein Raubvogel, und wäre ich nicht zu alt, um vor einem Menschenwesen Furcht zu empfinden, so würde ich zittern. Wer aber löste ihm Fußfessel und Haube? Wie konnte er den alten und längst kalten Geruch erneut wittern?

 

Accipiters Gesicht erinnert an das eines überargwöhnischen Wanderfalken, der sich bemüht, im Fluge alles zu überblicken, und der sogar den eigenen Anus hochschaut, um sich zu vergewissern, daß dort keine Ente Zuflucht gesucht hat. Die Augen verschießen wie aus weiten Ärmeln hervorgeschleuderte Messer ihre Blicke. Sie erfassen alles mit sherlockscher Genauigkeit und nehmen jede Einzelheit auf. Er dreht den Kopf hin und her, die Ohren zucken, die Nasenflügel heben und senken sich, ganz Radar und Sonar und Odoar.

„Mr. Winnegan, tut mir leid, Sie zu so früher Stunde zu stören. Habe ich Sie aus dem Bett geholt?“

„Das haben Sie ganz offensichtlich nicht!“ sagt Chib. „Und machen Sie sich gar nicht erst die Mühe, sich vorzustellen. Ich kenne Sie. Sie beschatten mich schon seit drei Tagen.“

Accipiter errötet nicht. Als Meister der Selbstbeherrschung findet alles Erröten bei ihm tief in den Gedärmen statt, wo es niemand sehen kann. „Wenn Sie mich kennen, dann können Sie mir vielleicht auch sagen, weshalb ich anrufe?“

„Wäre ich blöd genug, Ihnen das zu sagen?“

„Mr. Winnegan, ich hätte mich gerne über Ihren Ururgroßvater mit Ihnen unterhalten.“

„Der ist schon seit fünfundzwanzig Jahren tot!“ schreit Chib. „Vergessen Sie ihn! Und belästigen Sie mich nicht mehr. Versuchen Sie gar nicht erst, einen Hausdurchsuchungsbefehl zu bekommen. Kein Richter würde Ihnen einen ausstellen. Mein Heim ist mein Schoß … ich meine Schloß.“

Er denkt an Mama und wie sich der weitere Tag gestalten wird, wenn er nicht bald hier herauskommt. Aber er muß auch das Bild beenden.

„Verschwinden Sie, Accipiter“, sagt Chib. „Ich glaube, ich werde Sie dem BPHR melden. Ich bin sicher, Sie haben ein Fido in Ihrem ulkig aussehenden Hut.“

Accipiters Gesicht ist so glatt und bewegungslos wie das einer Alabasterstatue des Falkengottes Horus. Vielleicht bläht ein wenig Gas seine Gedärme. Er läßt es jedenfalls unbemerkt entweichen.

„Nun gut, Mr. Winnegan. Aber so einfach werden Sie mich nicht los. Schließlich …“

„Hinfort!“

Der Interkom pfeift dreimal. Und dreimal bedeutet Großpapa. „Ich habe mitgehört“, sagt die hundertzwanzig Jahre alte Stimme, hohl und tief wie das Echo aus einer Pharaonengruft. „Ich möchte dich gerne sehen, ehe du gehst. Das heißt, wenn du einige Augenblicke für die Altvorderen erübrigen kannst.“

„Immer, Großpapa“, verspricht Chib und denkt daran, wie sehr er den alten Mann liebt. „Brauchst du was zu essen?“

„Ja – und auch etwas geistige Nahrung.“

Der Tag. Dies Irae. Götterdämmerung. Armageddon. Die Ereignisse spitzen sich zu. Stich-oder-brich-Tag. Laß-oder-faß-Zeit. All die Anrufe und eine Vorahnung auf weitere. Was wird das Ende des Tages bringen?

 

Omar Runic

DIE TROCHÄISCHE SONNE GLEITET IN DIE ENTZÜNDETE KEHLE DER NACHT

 

Chib geht auf die konvexe Tür zu, die in den Zwischenraum zwischen den Wänden rollt. Der Fokus des Hauses ist das ovale Wohnzimmer. Im, gemäß dem Uhrzeigersinn, ersten Quadranten befindet sich die Küche, von sechs Meter hohen Ziehharmonikawänden vom Wohnzimmer abgeteilt, die von Chib mit Bildern ägyptischer Grabkammern bemalt wurden, sein etwas zu subtiler Kommentar zu den modernen Lebensmitteln. Sieben schlanke Säulen im Wohnzimmer markieren die Grenzen von Zimmer und Flur. Zwischen diesen Säulen befinden sich weitere Ziehharmonikawände, die Chib während seiner indianisch-mythologischen Phase bemalt hat.

Der Flur ist ebenfalls oval geformt, jedes andere Zimmer im Haus öffnet sich zu ihm.

Kleine Eier in größeren Eiern in ganz großen Eiern in einem Megamonolithen auf einer planetaren Frucht in einem ovalen Universum – die jüngste Kosmogonie deutet darauf hin, daß die Unendlichkeit die Form der Leibesfrucht eines Huhnes hat. Gott brütet darüber und gackert alle paar Trillionen Jahre einmal.

Chib durchquert den Flur und geht zwischen zwei Säulen hindurch, die von ihm zu nymphischen Karyatiden modelliert wurden, worauf er das Wohnzimmer betritt. Seine Mutter schaut beiseite und betrachtet ihren Sohn, der ihrer Meinung nach rasch in den Wahnsinn strebt, wenn er die Grenze nicht bereits überschritten hat. Das ist teilweise ihre Schuld. Sie hätte nicht angeekelt sein und Es in einem Augenblick der Schwäche abblasen sollen. Nun ist sie fett und häßlich, o Gott, so fett und häßlich. Sie hat keinerlei berechtigte Hoffnung auf einen Neubeginn mehr.

Das ist nur natürlich, sagt sie sich immer wieder, seufzend, reuig und tränenschwer, daß er die Liebe seiner Mutter aufgegeben hat für seltsame, knackige und vollbusige Freuden jüngerer Frauen. Aber daß er die auch aufgegeben hat? Er ist nicht schwul. Das hat er mit dreizehn hinter sich gebracht. Welches sind dann aber die Gründe für seine Abstinenz? Nicht einmal die Huren besucht er, was sie verstanden, wenn auch nicht gebilligt hätte.

O Gott, was habe ich nur falsch gemacht? Überhaupt, mit mir ist doch alles in Ordnung. Er wird verrückt, wie sein Vater – ich glaube, dessen Name lautete Raleigh Renaissance – und seine Tante und sein Ururgroßvater. Das liegt nur am Malen und an den jungen Radikalen, den Jungen Rettichen, mit denen er immer herumzieht. Er ist zu künstlerisch, zu sensibel. O Gott, wenn meinem kleinen Jungen etwas zustößt, dann muß ich nach Ägypten.

Chib kennt ihre Gedanken, die sie so oft ausgesprochen hat, da sie außerstande ist, neue zu haben. Er geht wortlos an der Tafelrunde vorbei. Die Ritter und Ladys dieses getürkten Camelot sehen ihn durch Bier dunst an.

In der Küche öffnet er eine ovale Tür in der Wand. Er entfernt ein Tablett mit Essen in zugedeckten Schüsseln und Tassen, die ausnahmslos aus Plastik bestehen.

„Möchtest du denn nicht mit uns essen?“

„Heul nicht, Mama“, sagt er und geht in sein Zimmer zurück, um noch einige Zigarren für Großpapa zu holen. Die Tür, die die veränderlichen, aber immer kenntlichen elektrischen Felder der Epidermis wahrnimmt, verstärkt und umwandelt, reagiert auf ihn. Chib ist zu aufgeregt. Magnetische Mahlströme rasen über seine Haut und zerstören die spektrale Konfiguration. Die Tür rollt halb zurück, rollt wieder vor, ändert ihre Meinung, rollt zurück und wieder vor.

Chib kickt gegen die Tür, worauf sie vollends blockiert. Er beschließt, ein Video- oder Audiosesam einbauen zu lassen. Der Ärger ist nur, daß er knapp an Einheiten ist und die entsprechenden Materialien nicht kaufen kann. Schulterzuckend begibt er sich in dem einwandigen Flur bis zu Großpapas Tür, die hinter den Ziehharmonikawänden vor den Blicken derer im Wohnzimmer verborgen ist.

 

„Denn er sang von Frieden und Freiheit,

Sang von Schönheit, Liebe und Verlangen;

Sang von Tod und unsterblichem Leben

Auf den Inseln der Gesegneten,

Im Königreich von Ponemah,

Im Lande des Jenseits.

Sehr nahe bei Hiawatha

War der sanfte Chibiabos.“

 

Chib singt das Kodewort. Die Tür rollt zurück.

Licht strahlt heraus, ein gelbliches, rötlich angehauchtes Licht, das Großpapas eigene Erfindung ist. Schaut man ins konvexe Oval der Tür, so ist das, als würde man in die Iris im Auge eines wahnsinnigen Riesen schauen.

Großpapa, in der Mitte des Raumes, hat einen weißen Bart bis zu den Oberschenkeln und Kopfhaar bis fast an die Kniekehlen. Obwohl Haar und Bart seine Nacktheit verbergen würden und er überdies nicht mehr unter die Leute geht, trägt Großpapa eine kurze Hose. Großpapa ist ein wenig altmodisch, was aber bei einem Mann von einhundertundzwanzig Lenzen auch verständlich ist.

Er ist einäugig, wie Rex Luscus. Aber er lächelt mit eigenen Zähnen, die aus vor dreißig Jahren eingepflanzten Stummeln gewachsen sind. Eine große, grüne Zigarre sticht aus einem Mundwinkel hervor. Seine Nase ist breit und platt, als wäre die Zeit schweren Fußes über sie hinweggeschritten. Stirn und Wangen sind ebenfalls breit, was wahrscheinlich auf einen Schuß Ojibwayblut zurückzuführen ist, der in seinen Adern fließt, obwohl er ein geborener Finnegan ist und sogar keltisch riecht, sieht man vom Whiskeyaroma ab. Er hält den Kopf aufrecht, und die blauen Augen sind wie Tümpel am Fuß einer urzeitlichen Schlucht, die Überbleibsel eines geschmolzenen Gletschers.

Alles in allem ist Großpapas Gesicht das Odins, der gerade vom Brunnen von Mimir zurückkommt und sich fragt, ob er einen zu hohen Preis gezahlt hat. Oder ist es das Gesicht der windumtosten und sandgeschmirgelten Sphinx von Gizeh?

„Vierzig Jahrhunderte der Hysterie sehen auf euch herab, um Napoleon zu verballhornen“, sagt Großpapa. „Der Felskopf der Jahrhunderte. Was also ist der Mensch? sagte die neue Sphinx, nachdem Ödipus die Frage der alten Sphinx beantworten konnte und nichts gewann, weil Sie bereits eine andere ihrer Art hervorgebracht hatte, ein klugscheißerisches Kind mit einer Frage, die bislang noch keiner zu beantworten wußte. Und vielleicht läßt sie sich auch gar nicht beantworten.“

„Du redest immer so komisch“, sagt Chib. „Aber das gefällt mir so.“

Er grinst Großpapa an und hat ihn gern.

„Du kommst schließlich jeden Tag hierher, nicht so sehr wegen meiner Liebe, sondern um Wissen und Einsicht zu gewinnen. Ich habe alles gesehen, alles gehört und viel nachgedacht. Ich bin viel gereist, ehe ich vor einem Viertel Jahrhundert in diesem Räume Zuflucht suchte. Doch die Einzelhaft hier war die größte Odyssee von allen.

 

DER ALTE MARINATOR

 

So nenne ich mich selbst. Eine Marinade der Weisheit, eingelegt in die Lake eines versalzenen Zynismus und eines zu langen Lebens.“

„Du lächelst so. Du scheinst gerade eine Frau gehabt zu haben“, sagte Chib.

„Nein, mein Junge, die Spannungen in meinem Rammbock habe ich schon vor dreißig Jahren verloren. Und ich danke Gott dafür, denn es entbindet mich dem Zwang, zum Fickomat zu gehen, ganz zu schweigen von der Masturbation. Ich habe allerdings noch andere verbleibende Energien und Möglichkeiten zur Sünde, und die sind ernst genug.

Aber abgesehen von der Sünde der sexuellen Vereinnahmung, die paradoxerweise eine sexuelle Verausgabung erfordert, hatte ich auch noch andere Gründe, den Alten Schwarzen Magier Wissenschaft nicht um Schüsse zu bitten, die mich wieder aufrappeln. Ich war zu alt für junge Mädchen, die nur noch an mein Geld wollten. Und ich war zu sehr Poet und Liebhaber der Schönheit, als daß ich mit den runzligen Schrullen meiner Generation vorliebgenommen hätte.

Du siehst also, mein Sohn, mein Klöppel schwingt schlaff in der Glocke meines Geschlechts. Ding, dong, ding, dong. Viel Dong, aber nicht viel Ding.“

Großpapa lacht tief, ein Löwenbrüllen mit der zierlichen Sanftheit eines Schwans.

„Jedoch bin ich das Sprachrohr der Altvorderen, ein Winkeladvokat, der lange toten Klienten nachjammert. Gekommen, nicht zu begraben, sondern zu beten, und von meinem Gerechtigkeitssinn gezwungen, auch die Fehler der Vergangenheit einzugestehen. Ich bin ein verschrobener und wunderlicher alter Kauz, gleich Merlin in seinem Baumstumpf. Samolxis, der thrakische Bärengott, der in seiner Höhle überwintert. Der letzte der Sieben Schläfer.“

Großpapa geht zu der schlanken Plastikröhre, die von der Decke herabragt, und blickt ins Okular.

„Accipiter lungert vor unserem Haus herum. Er riecht was Verrottetes in Beverly Hills, Ebene 14. Könnte es sein, daß Win-again Winnegan gar nicht tot ist? Onkel Sam ist wie ein Diplodokus, dem man in den Arsch getreten hat. Es dauert fünfundzwanzig Jahre, bis die Botschaft sein Gehirn erreicht.“

Chib treten Tränen in die Augen. Er sagt: „O Gott, Großpapa, ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt.“

„Was kann einem hundertzwanzig Jahre alten Mann schon passieren, abgesehen vom Versagen der Hirn- oder Nierenfunktion?“

„Mit allem gebührlichen Respekt, Großpapa“, sagt Chib, „aber du schleppst dich ganz munter voran.“

„Nenne mich Mühle des Ich“, sagt Großpapa. „Das Mehl, das sie mahlt, wird im seltsamen Ofen meines Ego gebacken – oder halb gebacken, wenn dir das lieber ist.“

Chib grinst durch seine Tränen und sagt: „Man hat mir in der Schule beigebracht, daß Wortspiele billig und vulgär sind.“

„Was für Homer, Aristophanes, Rabelais und Shakespeare gut genug war, das ist auch gut genug für mich. Und da wir gerade von billig und vulgär sprechen – letzte Nacht, bevor die Pokerpartie begann, habe ich deine Mutter im Flur getroffen. Ich hatte die Küche gerade mit einer Flasche Fusel verlassen. Sie kreischte fast. Aber sie erholte sich rasch wieder und gab vor, mich nicht zu sehen. Vielleicht glaubte sie, sie hätte einen Geist gesehen. Bezweifle ich aber. Vielleicht hat sie es schon überall in der Stadt rumgetratscht.“

„Vielleicht hat sie es dem Doktor erzählt“, sagt Chib. „Sie hat dich vor einigen Wochen schon einmal gesehen, erinnerst du dich noch? Sie könnte es erwähnt haben, während sie von ihren sogenannten Zaubersprüchen und Halluzinationen laberte.“

„Und die alten Knochenbrecher, die die Familiengeschichte kennen, haben sofort das IRB verständigt. Vielleicht.“

Chib schaut durch das Okular des Periskops. Er dreht es rundum und betätigt die Griffe, um das Einauge am anderen Ende höher und tiefer zu stellen. Accipiter stolziert um das Aggregat der sieben Eier herum, jedes am Ende eines dünnen, zweigähnlichen Wegs, der vom zentralen Pfad abweicht. Accipiter entscheidet sich für den Weg, der zu Mrs. Applebaums Tür führt. Die Tür geht auf.

„Er muß sie ja direkt von ihrem Fickomaten weggeholt haben“, sagt Chib. „Und sie muß ganz schön einsam sein, da sie sich nicht über Fido mit ihm unterhält. Mein Gott, sie ist ja noch fetter als Mama!“

„Warum nicht?“ antwortet Großpapa. „Mr. und Mrs. Jedermann sitzen schließlich den ganzen Tag lang auf den Ärschen, trinken und essen und sehen Fido, und dabei werden ihre Gehirne zu Matsch und ihre Körper zu Fett. Cäsar hätte heute keine Schwierigkeiten mehr, sich mit dicken Männern zu umgeben. Hast du aufgegessen, Brutus?“

Großpapas Kommentar sollte eigentlich nicht für Mrs. Applebaum gelten. Sie hat ein Loch im Kopf, und Menschen, die nach dem Fickomaten süchtig sind, werden selten fett. Sie liegen den ganzen Tag auf dem Bett und haben die Nadel im Lustzentrum des Gehirns, in das sie winzige elektrische Ströme abgibt. Unsagbare Ekstase durchflutet ihren Körper, ein Gefühl, das Essen, Trinken und Sex bei weitem übertrifft. Im Grunde genommen ist es illegal, aber die Regierung kümmert sich nur dann darum, wenn sie einen Süchtigen noch wegen etwas anderem kaschen möchte, da ein Süchtiger selten Kinder hat. Zwanzig Prozent der Bevölkerung von LA haben winzige Löcher mit Schäften im Kopf, um die Nadel einzuführen. Fünf Prozent sind süchtig, sie werfen ihr Leben weg, essen selten etwas, ihre verkümmerten Harnblasen schütten Gift in den Körper aus.

Chib sagt: „Mein Bruder und meine Schwester könnten dich manchmal gesehen haben, wenn du kurzzeitig draußen warst. Könnte es sein, daß sie …?“

„Sie halten mich auch für einen Geist. In diesem Zeitalter! Und doch ist es vielleicht ein gutes Zeichen, daß sie noch an etwas glauben können – und wenn es nur ein Spuk ist.“

„Du gehst wohl besser nicht mehr in die Kirche.“

„Die Kirche und du, das sind die beiden Dinge, die mich am Leben halten. Es war ein trauriger Tag für mich, als du mir sagtest, daß du nicht glauben kannst. Du hättest einen prächtigen Priester abgegeben – selbstverständlich mit gewissen Fehlern –, und ich hätte Privatmessen und Beichten hier im Zimmer haben können.“

Chib sagt nichts. Er war nur zur Weihe und Kommunion gegangen, um Großpapa eine Freude zu machen. Die Kirche war eine eiförmige Muschel, die, hielt man sie ans Ohr, nur das ferne Dröhnen Gottes von sich gab, der wie die herantosende Flut klang.

 

GANZE UNIVERSEN FLEHEN NACH GÖTTERN

 

und trotzdem hängt er in dem hier herum und sucht Arbeit.

aus Großpapas Ms.

 

Großpapa nimmt das Okular und schaut hindurch. Er lacht. „Das Internal Revenue Bureau! Ich dachte, das wäre schon längst abgeschafft! Wer hat denn ein Einkommen, das groß genug ist, daß man es weitermelden müßte? Glaubst du, daß es einzig meinetwegen noch aktiv ist? Könnte das sein?“

Er ruft Chib wieder an das auf Beverly Hills gerichtete Skop zurück. Chibs Sehbereich liegt zwischen den siebeneierigen Klauen der verzweigten Fußwege. Er kann einen Teil der zentralen Plaza ausmachen, die gigantischen Ovale der Stadthalle, der Bundesämter und des Volkskunstzentrums, einen Teil der riesigen Spirale, auf der das Haus der Verehrung erbaut ist, und dann noch die Dora (von Pandora), wo die Bezieher der Purpurnen Sozialhilfe ihre Pakete und die mit geringen Nebeneinkünften ihre Päckchen abholen können. Ein Ende des großen künstlichen Sees ist zu sehen, Boote und Kanus treiben darauf, Menschen angeln.

Die erleuchtete Plastikkuppel, die die Gebäude von Beverly Hills umschließt, ist himmelblau. Die elektronische Sonne nähert sich dem Zenit. Einige echt aussehende weiße Wolkenbilder sind zu erkennen und sogar ein Gänse-V, das nach Süden zieht. Ihr Schnattern ist leise hier unten zu hören. Für diejenigen, die noch niemals außerhalb der Wand von LA waren, ist das gewiß recht hübsch. Aber Chib hat zwei Jahre beim Welt-Naturaufforstungs- und Konservierungskorps gedient – dem WNAKK –, und er kennt den Unterschied. Er hatte mit Rousseau Roter Falke beinahe den Entschluß gefaßt, zu desertieren und sich den Neoindianern anzuschließen. Doch dann wurde er zum Wildhüter. Dies hätte allerdings bedeuten können, daß er einmal gezwungen sein würde, den Roten Falken niederzuschießen. Und außerdem wünschte er sich mehr als alles auf der Welt, Maler zu sein.

„Dort ist Rex Luscus“, vermeldet Chib. „Er wird vor dem Volkskunstzentrum interviewt. Sind ’ne ganze Menge Leute versammelt.“

 

DER PELLUCIDAR-DURCHBRUCH

 

Luscus’ Mittelname hätte Aufsteigertyp sein sollen. Er ist ein Mann von großer Gelehrsamkeit mit privilegiertem Zugang zur Computerbücherei von Groß-LA und darüber hinaus von einer Odysseus ebenbürtigen Verschlagenheit, wodurch er seinen Konkurrenten immer eine Nasenlänge voraus ist.

Er war es, der die Go-Go-Schule der Kritik begründete.

Primalux Ruskinson, sein großer Kontrahent, stellte ausgedehnte Nachforschungen an, als Luscus die Bezeichnung seiner Philosophie bekanntgab. Ruskinson verkündete triumphierend, Luscus habe den Ausdruck aus einem im zwanzigsten Jahrhundert gängigen umgangssprachlichen Ausdruck abgeleitet.

Luscus verkündete daraufhin am nächsten Tag während eines Fido-Interviews, daß Ruskinson ein eher oberflächlicher Scholar sei, wie man es auch nicht anders erwartet habe.

Go-Go war der Hottentottensprache entnommen. Auf Hottentottisch bedeutete Go-Go zu examinieren und das hieß nachzuschauen, bis man zu einem Ergebnis gelangt war – in diesem Fall über den Künstler und sein Werk.

Die Kritiker standen Schlange, um sich der neuen Schule anzuschließen. Ruskinson dachte zunächst an Selbstmord, statt dessen beschuldigte er Luscus aber dann, sich den Weg zum Erfolg erblasen zu haben.

Daraufhin erwiderte Luscus, daß sein Privatleben seine Sache sei und daß Ruskinson sich in Gefahr befände, wegen Verletzung seiner Intimsphäre verklagt zu werden. Allerdings verdiene er nicht mehr Aufmerksamkeit als die eines Mannes, der nach einer Mücke schlägt.

„Was, zum Teufel, sind Mücken?“ fragten sich daraufhin Millionen von Zuschauern. „Wenn der Fettsack doch nur eine Sprache sprechen könnte, die wir alle verstehen.“

Luscus’ Stimme wird einige Augenblicke ausgeblendet, während der Sprecher erklärt, er habe gerade eine Erklärung via Monitor aus den Archiven der Bibliothek erhalten.

Luscus ritt zwei Jahre lang auf der Welle der neuen Go-Go-Schule.

Dann polierte er sein Prestige, das doch erheblich gelitten hatte, mit der ‚Philosophie des totipotenten Mannes’ wieder neu auf.

Diese wurde so populär, daß das Büro für Kulturelle Neuschöpfung und Entwicklung sogar soweit ging, täglich eine einstündige Sendung zum Programm der Totipotentialisierung auszustrahlen.

 

Großpapa Winnegans Kommentar in seinen Privaten Ergüssen:

Was ist mit dem totipotenten Mann, jener Apotheose der Individualität und totalen psychosomatischen Entwicklung, dem demokratischen Übermensch, der von Rex Luscus, dem sexuell Einseitigen, propagiert wird? Armer alter Onkel Sam! Er versucht, den Proteus seiner Bürger in eine schablonenhafte Form zu pressen, damit er sie alle besser kontrollieren kann. Und gleichzeitig versucht er, alle und jeden dazu zu ermutigen, die eigenen schlafenden Fähigkeiten – falls vorhanden! – zum Leben zu erwecken. Der arme, alte, langbeinige, doppelkinnige, milchherzige, feuersteinhirnige Schizophrene! Offensichtlich weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut. Schlimmer noch, die rechte Hand selbst weiß nicht, was die rechte tut.

 

„Was ist mit dem totipotenten Mann?“ antwortete Luscus dem Vorsitzenden während der vierten Folge der Luscanischen Lehrserie. „In welchem Konflikt steht er mit dem gegenwärtigen Zeitgeist? In gar keinem. Der totipotente Mann ist der Imperativ unserer Zeit. Er muß erst ins Leben gerufen werden, ehe die Goldene Welt Wirklichkeit werden kann. Wie soll man ein Utopia ohne Utopier haben, eine goldene Welt mit Menschen aus Messing?“

An diesem bemerkenswerten Tag lenkte Luscus das Gespräch auf den Pellucidar-Durchbruch und machte damit Chibiabos Winnegan berühmt. Und verschaffte sich selbst unwissentlich den größten Vorsprung vor seinen Konkurrenten.

„Pellucidar? Pellucidar?“ murmelte Ruskinson. „O Gott, was hat Bimmelschwänzchen denn nun wieder vor?“

„Es wird einige Zeit erfordern, bis ich erläutert habe, warum ich ausgerechnet diesen Ausdruck verwende, um Winnegans Genie zu beschreiben“, sagt Luscus. „Zunächst einmal muß ich weiter ausholen.

 

VON DER ARKTIS NACH ILLINOIS

 

Nun, Konfuzius hat einst gesagt, daß ein Bär am Nordpol nicht furzen könnte, ohne in Chikago einen Sturm zu verursachen.

Damit wollte er ausdrücken, daß alle Ereignisse – und damit auch alle Menschen – in einem unzerreißbaren Netz miteinander verbunden sind. Was ein Mann tut, so unbedeutend es auch erscheinen mag, vibriert durch die Stränge und hat Auswirkungen auf alle anderen Menschen.“

 

Ho Chung Ko, auf der dreißigsten Ebene von Lhasa, Tibet, vor dem Fido, sagt zu seiner Frau: „Der weiße Schwanz bringt alles durcheinander. Das hat Konfuzius nie gesagt. Lenin beschütze uns! Ich werde ihn anrufen und ihm die Hölle heiß machen!“

Seine Frau aber sagt: „Schalten wir auf einen anderen Kanal um. Pai Ting ist jetzt dran, und …“

 

Ngombe, zehnte Ebene, Nairobi: „Die Kritiker hier sind ein Haufen schwarzer Scheißkerle! Schau dir dagegen Luscus an, der könnte mein Genie innerhalb einer Sekunde erkennen. Ich werde gleich morgen früh die Auswanderung beantragen.“

Frau: „Wenigstens könntest du mich fragen, ob ich mitkommen möchte! Was wird aus den Kindern … Mutter … dem Hund …?“ und so weiter in der löwenlosen Nacht des selbstleuchtenden Afrika.

 

„… Ex-Präsident Radinoff sagte einst“, fährt Luscus fort, „es ist das Zeitalter des Eingestöpselten Menschen. Über diesen, für mich einsichtigen Spruch, wurden vielerlei vulgäre Verballhornungen verbreitet. Aber Radinoff wollte damit nicht sagen, daß die menschliche Gesellschaft ein Kettchen aus Gänseblümchen ist. Er wollte damit ausdrücken, daß der Strom der modernen Gesellschaft durch einen Kreis fließt, mit dem wir alle verbunden sind. Dies ist das Zeitalter der Vollkommenen Verbindung. Kein Draht darf lose hängen, denn sonst würde es für uns alle einen Kurzschluß geben. Doch es ist nicht abzuleugnen, daß ein Leben ohne Individualität nicht lebenswert ist. Jeder Mensch muß ein hapax legomenon sein …“

Ruskinson springt aus seinem Stuhl auf und kreischt: „Diesen Satz kenne ich, Luscus! Dieses Mal habe ich Sie!“

Er ist so entzückt, daß er in Ohnmacht fällt, Symptom einer weitverbreiteten Erbkrankheit. Er hat sich erst wieder erholt, als die Sendung zu Ende ist. Er hechelt an den Rekorder, um anzusehen, was ihm entgangen ist, doch Luscus hat es sorgfältig vermieden, den Pellucidar-Durchbruch näher zu definieren. Das hat er sich für eine spätere Folge aufgehoben.

 

Großpapa pfeift am Skop. „Komme mir vor wie ein Astronom. Die Planeten befinden sich im Orbit um unser Haus, die Sonne. Da haben wir Accipiter als nächsten, Merkur, obwohl er nicht der Gott der Diebe ist, sondern ihre Nemesis. Als nächstes Benedictine, deine Venus von der traurigen Gestalt. Traurig, traurig, traurig! An der ihren versteinerten Eiern würden Spermien sich wahrscheinlich die Schädel einschlagen. Bist du ganz sicher, daß die schwanger ist? Deine Mama ist da draußen, für ein Blutbad gekleidet, und ich wünschte mir, jemand würde es anrichten. Mutter Erde strebt dem Perigäum des Saufladens zu, um deine Kohle auszugeben.“

Großpapa stemmt sich ab, als befände er sich auf den Planken eines schillernden Decks, die blauschwarzen Venen seiner Beine sind so dick wie die Weinreben an einem uralten Stock. „Kurzer Abschied von der Rolle des Herrn Doktor Sternscheißdreckschnuppe, dem großen Astronom, und hin zu der des Unterseebootkommandanten Kapitän Graf von und zu Schooten. Ach! Ich zehe tschon dien schtoarkn Schteamer, deine Mama, auf dem Meer des Alkohols schlingern und schippern. Kompaß verloren, rumms-dumms. Drei Segel vorm Wind. Ruderbalken ragen in die Luft. Die schwarze Bande schwitzt sich die Eier ab und schürt die Öfen der Frustration. Die Schrauben sind im Netz der Neurose gefangen. Und der Große Weiße Wal nur ein Schimmern in der Tiefe, das aber rasch näher kommt und beabsichtigt, ihren Bug zu rammen, der zu groß ist, um ihn zu verfehlen. Arme, abgetakelte Fregatte, ich weine um sie. Aber ich kotze auch voller Abscheu.

Eins, Feuer! Zwei, Feuer! Kawumm! Mama rollt und schlingert, ein gezacktes Loch in der Hülle, aber nicht das, an das du jetzt denkst! Hinab mit ihr, Maul zuerst, wie es einer hingebungsvollen Fellatrice zukommt, ihr riesiges Heck ragt in die Luft. Blubb, blubb! Volle fünf Faden tief!

Und nun wieder von Unterwasser nach Oberweltraum. Dein Waldgott Mars, Roter Falke, hat soeben die Taverne verlassen. Und Luscus, Jupiter, der Einäugige Allvater der Künste, wenn du mir das Verschmelzen von nordischer und lateinischer Mythologie hochhuldvollst vergeben möchtest, ist von seinem Satellitenschwarm umgeben.“

 

AUSSCHEIDUNG IST DER BITTERE TEIL

VOM HELDENTUM

 

Luscus sagt zu seinen Fido-Interviewern: „Damit meine ich, daß Winnegan, wie jeder Künstler, groß oder nicht, eine Kunst hervorbringt, die zuerst Absonderung und einzigartig für ihn ist und dann Ausscheidung. Ausscheidung heißt soviel wie ‚Wegschaffen’ im ursprünglichen Sinn. Kreative Ausscheidung oder diskrete Ausscheidung. Ich weiß, daß meine würdigen Kollegen mit diesem Vergleich wieder allerhand Schindluder treiben werden, daher möchte ich sie hier gleich zu einer Fido-Diskussion herausfordern, wenn sich dies einrichten läßt.

Heldentum erwächst aus dem Mut des Künstlers, seine innersten Produkte der Öffentlichkeit zu zeigen. Der bittere Teil besteht darin, daß der Künstler in seiner Zeit mißverstanden oder abgelehnt werden könnte. Gleichermaßen aus dem schrecklichen Krieg, der zwischen den losgelösten oder chaotischen Elementen im Innern des Künstlers stattfindet, die einander oftmals entgegengesetzt sind und die er einen und dann zu einer homogenen Einheit formen muß. Daher mein Ausspruch von der ‚diskreten Ausscheidung’.“

Fido-Interviewer: „Sollen wir das so verstehen, daß alles ein großer Scheißhaufen ist, die Kunst aber einen seltsamen Wechsel bewirkt und etwas Strahlendes und Goldenes daraus macht?“

„Nicht exakt. Aber Sie sind nahe dran. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt eingehender und ausführlicher darauf eingehen. Augenblicklich möchte ich gerne über Winnegan sprechen. Ähem. Die unbedeutenderen Künstler vermitteln nur die Oberfläche der Dinge, sie sind Fotografen. Aber die wirklich Großen vermitteln das Innere von Wesen und Objekten. Winnegan allerdings ist der erste, der bei einem Kunstwerk mehr als nur ein Inneres vermitteln kann. Seine Erfindung der Alto-Relief-Multi-Ebenen-Technik ermöglicht es ihm, unterirdische Ebenen Schicht für Schicht zu enthüllen und verständlich zu machen.“

Primalux Ruskinson lauthals: „Der große Zwiebelschäler der Malerei!“

Luscus, ruhig, nachdem das Gelächter sich gelegt hat: „In einer Hinsicht ist das nicht schlecht ausgedrückt: Große Kunst bringt die Augen zum Tränen, wie eine Zwiebel. Aber das Licht auf Winnegans Bildern ist nicht nur eine Spiegelung, es wird eingesogen, absorbiert und dann gebrochen wieder abgegeben. Jeder gebrochene Strahl macht dabei nicht nur verschiedene Aspekte der darunter liegenden Skulptur deutlich, sondern ganze Skulpturen. Welten, möchte ich sagen.

Das bezeichne ich als den Pellucidar-Durchbruch. Pellucidar ist das hohle Innere unseres Planeten, das in einem heute vergessenen Fantasy-Roman des Schriftstellers Edgar Rice Burroughs, der im zwanzigsten Jahrhundert lebte, geschildert wird. Er ist auch der Erfinder des unsterblichen Tarzan.“

Ruskinson stöhnt und fühlt bereits wieder eine Ohnmacht nahen.

„Pellucid! Pellucidar! Luscus, Sie wortspielender, leichenfleddernder Scheißkerl!“

„Burroughs’ Held durchbrach die Erdoberfläche und entdeckte im Inneren eine andere Welt. Diese war in mancher Hinsicht das genaue Gegenteil der äußeren Welt, Kontinente, wo an der Oberfläche Meere sind, und vice versa. Ebenso hat Winnegan eine innere Welt entdeckt, das Gegenteil der öffentlichen Botschaft, die jedermann abstrahlt. Und wie Burroughs’ Held auch ist er mit einer erstaunlichen Erzählung von psychischen Gefahren und Erkundungen zurückgekehrt.

Und ebenso wie der literarische Held sein Pellucidar von Steinzeitmenschen und Dinosauriern bevölkert fand, ist auch die Welt Winnegans, obwohl in einem Sinne völlig modern, im anderen doch auch wieder archaisch. Unergründlich und ursprünglich. Und doch existiert auch in der erleuchteten Welt Winnegans ein böser und unauslöschlicher schwarzer Fleck, und der hat in Pellucidar seine Entsprechung in dem winzigen, unveränderlichen Mond, der kalte und unbewegliche Schatten wirft.

Nun hatte ich indessen die Absicht, daß das ursprüngliche ‚pellucid’ Teil von Pellucidar sein sollte. ‚Pellucid’ bedeutet gleichmäßige Lichtreflexion von allen Oberflächen’ oder ‚maximaler Lichtdurchlaß ohne Brechung oder Absorption’. Winnegans Bilder machen genau das Gegenteil. Doch der aufmerksame Beobachter kann in dem gebrochenen und diffusen Licht einen klaren und ungebrochenen Schein erkennen. Dies ist das Licht, das alle gebrochenen und vielfältigen Ebenen vereint, das Licht, an das ich in meiner früheren Diskussion vom ‚Zeitalter des eingestöpselten Menschen’ und dem Polarbären dachte.

Bei ganz genauem Beobachten mag der Beschauer dies entdecken und es fühlen, als wäre es der Herzschlag von Winnegans Welt.“

Ruskinson fällt beinahe in Ohnmacht. Luscus’ Lächeln und die schwarze Augenklappe erwecken den Eindruck, als sei er ein Pirat, der gerade eine spanische Galeere voller Gold geentert hat.

 

Großpapa, immer noch am Skop, sagt: „Und dort ist Mary am bint Jussuf, die ägyptische Hinterwäldlerin, von der du mir erzählt hast. Dein Saturn – fern, königlich, kalt und trägt einen dieser freischwebenden, wirbelnden und vielfarbigen Hüte, die derzeit der letzte Schrei sind. Die Ringe des Saturn? Oder ein Heiligenschein?“

„Sie ist wunderschön, und sie gäbe eine herrliche Mutter für meine Kinder ab“, sagt Chib.

„Der Schock für Arabien. Dein Saturn hat zwei Monde, Mutter und Tante. Anstandsdamen! Du sagst, sie würde eine gute Mutter abgeben. Was für eine prächtige Frau. Ist sie intelligent?“

„Sie ist so schlau wie Benedictine.“

„Also eine blöde Kuh. Du hast echt Auswahltalente. Woher weißt du, daß du sie liebst? In den vergangenen sechs Monaten hast du zwanzig Frauen geliebt.“

„Ich liebe sie. So ist das.“

„Bis zur nächsten. Kannst du denn wirklich außer deinen Bildern noch etwas anderes lieben? Benedictine wird sich einer Abtreibung unterziehen, richtig?“

„Nur dann, wenn ich es ihr nicht ausreden kann“, sagt Chib. „Um die Wahrheit zu sagen, ich kann sie nicht mehr sehen. Aber sie trägt mein Kind in sich.“

„Laß mal deine Lenden sehen. Nein, du bist ein Mann. Einen Augenblick lang war ich nicht sicher, wie du so verrückt sein und ein Kind wollen kannst.“

„Ein Baby ist ein Mittel, Sextillionen von Ungläubigen zu bekehren.“

„Mag schon sein. Aber weißt du denn nicht, daß Onkel Sam sich das Herz aus dem Leib redet, um die Geburtenrate so niedrig wie möglich zu halten? Wo warst du denn dein Leben lang?“

„Ich muß jetzt gehen, Großpapa.“

Chib küßt den alten Mann und kehrt in sein Zimmer zurück, um das letzte Bild zu beenden. Die Tür erkennt ihn immer noch nicht, daher ruft er im Gummint-Reparaturladen an, doch dort teilt man ihm mit, daß alle Angestellten das Folklorefestival besuchen. Er verläßt das Haus berstend vor Wut. Girlanden und Luftballons wehen im künstlichen Wind, der extra für diesen Anlaß etwas stärker eingestellt wurde, und ein Blasorchester spielt am Strand des künstlichen Sees.

Großpapa sieht ihm durch das Skop nach.

„Armer Teufel. Seine Schmerzen bereiten mir Schmerzen. Er möchte ein Kind, und er zerfrißt sich innerlich, weil der arme Teufel Benedictine ihr Kind abtreiben läßt. Teil seines Schmerzes, aber das weiß er nicht, ist seine Identifizierung mit dem todgeweihten Embryo. Seine eigene Mutter hatte zahllose – nun, zumindestens einige – Abtreibungen. Doch durch Gottes Gnade hätte auch er eine davon sein können, ein weiteres Nichts. Er möchte, daß dieses Baby auch eine Chance bekommt, aber er kann nichts dazu tun, gar nichts.

Und dann ist da auch noch ein anderes Gefühl, das er mit dem größten Teil der Menschheit teilt. Er weiß, daß er sein Leben versaut hat oder daß etwas es aus der Bahn geworfen hat. Jeder denkende Mann, jede denkende Frau weiß das. Sogar die Blöden und Hirnverbrannten erkennen es unterbewußt. Doch ein Baby, so ein herrliches Wesen, ein unbesudeltes, sauberes Tablett, ein ungeformter Engel, repräsentiert ein Stück neue Hoffnung. Vielleicht wird es ja nicht versaut. Vielleicht wächst es zu einem gesunden, selbstbewußten, verständigen, humorvollen Mann oder zu einer ebensolchen Frau heran. ‚Es wird jedenfalls nicht wie wir oder unsere Nachbarn werden’, schwören sich die stolzen, aber voreingenommenen Eltern.

Chib denkt das auch und schwört, daß sein Baby anders sein wird. Aber er hält sich selbst zum Narren, wie alle anderen auch. Ein Kind hat einen Vater und eine Mutter, aber es hat Trillionen Tanten und Onkel. Nicht nur unter den Lebenden, auch unter den Toten. Selbst wenn Chib in die Wildnis fliehen und das Kind selbst aufziehen würde, würde er ihm seine eigenen unterbewußten Annahmen geben. Das Kind würde mit Verhaltensnormen und Glauben aufwachsen, von denen sein Vater nicht das geringste wissen würde. Mehr noch, als in der Einsamkeit erzogenes Wesen würde das Kind wirklich ein merkwürdiger Patron werden.

Und wenn Chib das Kind in dieser Gesellschaft erzieht, so wird es wenigstens teilweise die Verhaltensmuster seiner Spielkameraden, Lehrer und so weiter annehmen, ad nauseam.

Vergiß also, aus deinem wunderbaren ungeborenen Kind einen neuen Adam machen zu wollen, Chib. Wenn es aufwächst und nur ein bißchen geistig gesund wird, dann liegt das daran, daß du ihm Liebe und Disziplin gibst, daß es mit seinen gesellschaftlichen Kontakten Glück hat und daß es darüber hinaus bei der Geburt mit der richtigen Genkombination gesegnet ist. Und das bedeutet, dein Sohn oder deine Tochter ist Kämpfer und Liebhaber gleichzeitig.

 

WAS DEM EINEN SEIN ALPTRAUM

IST DEM ANDEREN SEIN FEUCHTER

TRAUM

sagt Großpapa.

„Ich habe mich erst gestern mit Dante Alighieri unterhalten, und er hat mir gesagt, was für ein Inferno an Dummheit, Grausamkeit, Perversion, Gottlosigkeit und brutaler Gewalttätigkeit das sechzehnte Jahrhundert gewesen ist. Über das neunzehnte allerdings zitterte er und suchte vergeblich nach angemessenen Schmäh- und Schimpfworten.

Und was sein eigenes Zeitalter anbelangt, so verursachte ihm das einen derart hohen Blutdruck, daß ich ihm ein Beruhigungsmittel geben und ihn mit Hilfe einer Krankenschwester via Zeitmaschine herausholen mußte. Sie sah aus wie Beatrice und war wahrscheinlich genau die Medizin, die er brauchte – vielleicht.“

Großpapa dachte kichernd daran, daß Chib als Kind diese Zeitreisegeschichten alle ernst genommen hatte, die er ihm beschrieb, und zu seinen Besuchern gehörten unter anderem: Nebukadnezar, der König der Grasfresser, Samson, der Rätselmeister der Bronzezeit, und Quell, der Philister, Moses, der seinem kenitischen Schwiegervater einen Gott stahl und dann sein ganzes Leben lang gegen die Beschneidung kämpfte, Buddha, der originale Beatnik, Sisyphus, der sich ausnahmsweise mal vom Steinerollen erholte, Androkles und sein Kumpel, der feige Löwe aus Oz, Baron von Richthofen, der Rote Baron aus Deutschland, Beowulf, AI Capone, Hiawatha, Iwan der Schreckliche und hundert andere.

Doch es kam der Zeitpunkt, da stellte Großpapa zu seinem Schrecken fest, daß der Junge Erfundenes und Tatsächliches vermischte. Er erzählte dem Jungen ungern, daß er all die schönen Geschichten nur erfunden hatte, um ihm ein wenig Geschichtsunterricht zu verpassen. Es war, als würde man einem Kind erzählen, daß es keinen Nikolaus gibt.

Und dann, während er seinem Urenkel widerwillig die Wahrheit erzählte, fiel ihm Chibs kaum verhohlenes Grinsen auf, und er erkannte, daß es nun an ihm war, einen Rückzieher zu machen. Chib hatte sich niemals zum Narren halten lassen, und er hatte alles ohne Schock überstanden. Beide lachten herzlich darüber, und dann fuhr Großpapa fort, ihm seine Geschichten zu erzählen.

„Es gibt keine Zeitmaschinen“, sagt Großpapa. „Ob es dir gefällt oder nicht, Miniver Cheevy, du mußt in dieser deiner Zeit leben.

Die Maschinen arbeiten auf den Ebenen der Stadtwerkefabriken in völliger Stille, die nur dann und wann vom Schrei eines Elefantentreibers unterbrochen wird. Die großen Röhren am Grund des Meeres saugen Wasser und Grundschlamm ein. Dieses Material wird automatisch zu den zehn Produktionsebenen von LA befördert. Dort werden die anorganischen Chemikalien in Energie umgewandelt, dann in die Materie von Essen, Trinken, Medizin und sonstigen Gegenständen. Außerhalb der Städte existiert nur ganz wenig Ackerbau und Viehzucht, und doch gibt es Überfluß für alle. Künstlich hergestellte exakte Kopien der organischen Materialien, wer sollte den Unterschied erkennen?

Es gibt weder Hunger noch Not irgendwo, mit Ausnahme unter den freiwillig Verbannten, die die Wälder durchstreifen. Die Lebensmittel und Konsumgüter werden dann zu den Pandoras befördert, und an die Empfänger der Purpurnen Sozialhilfe verteilt. Die Purpurne Sozialhilfe. Ein Euphemismus der Madison Avenue mit Beziehungen zu Persönlichkeit und göttlichem Recht. Wird einfach durch Geburt gewährt.

Andere Zeitalter würden unseres als Delirium bezeichnen, doch unseres besitzt Vorzüge, die den anderen abgingen. Um Vergänglichkeit und Entwurzelung vorzubeugen, ist die Stadt als Megalopolis in kleine Gemeinschaften unterteilt. Ein Mensch kann sein Leben lang an einem Ort leben, ohne sich jemals davon entfernen zu müssen, wenn er etwas will. Dies hat einen Provinzialismus mit sich gebracht, einen Kleinstadtpatriotismus und Feindseligkeit gegenüber Außenstehenden. Auch die blutigen Kämpfe zwischen Jugendbanden anderer Städte. Ausführlichen und gehässigen Tratsch. Das Beharren auf Konformität lokaler Moralbegriffe.

Gleichzeitig verfügt der Kleinbürger aber auch über Fido, was ihm ermöglicht, Ereignissen überall in der Welt beizuwohnen. Vermischt mit wertlosem Plunder und Propaganda, die die Regierung dem Volke als zuträglich erachtet, kann er aus vielerlei ausgezeichneten Programmen auswählen. Viele können sich das Äquivalent eines Doktortitels verdienen, ohne jemals einen Fuß vor die Tür zu setzen.

Und es brachte auch noch eine weitere Renaissance mit sich, ein Aufblühen der Kunst, das nur noch mit dem Athen von Perikles oder den Stadtstaaten Italiens zur Zeit Michelangelos oder Shakespeares in England zu vergleichen ist. Paradox. Mehr Analphabeten als sonstwo in der Weltgeschichte. Gleichzeitig aber auch mehr Schriftsteller’. Heute sprechen mehr Menschen klassisches Latein als zu Cäsars Zeiten. Die Welt der Ästhetik birgt eine grandiose Frucht. Und, natürlich, Früchtchen.

Um dem Provinzialismus vorzubeugen und um einen internationalen Krieg noch unwahrscheinlicher zu machen, haben wir das weltpolitische Prinzip der Homogenisierung. Damit ist der willkürliche Austausch eines Teils der Bevölkerung einer Nation mit dem einer anderen gemeint. Geißeln für Frieden und brüderliche Liebe. Diejenigen Bürger, die mit der Purpurnen Sozialhilfe nicht auskommen oder die meinen, sie wären anderswo glücklicher, werden mit Schmiergeldern zum Auswandern veranlaßt.

In einer Weise eine Goldene Welt, in anderer Weise ein Alptraum. Was soll an dieser Welt also Neues sein? Es war immer so, in jedem Zeitalter. Unseres muß mit Überbevölkerung und Automatisierung fertig werden. Wie sonst sollte man die Probleme lösen? Es ist immer wieder das hinreichend bekannte Problem von Buridans Esel (wobei der Esel eigentlich ein Hund war), wie in jeder Zeit. Buridans Esel stirbt vor Hunger, weil er sich nicht zwischen zwei gleich großen Futterhäufchen entscheiden kann.

Geschichte: ein pons asinorum, bei dem die Menschen die Esel auf der Brücke der Zeit sind.

Nein, diese beiden Vergleiche sind weder fair noch richtig. Es ist wie bei Hobsons Pferd. Die einzige andere Möglichkeit ist die Bestie im nächsten Stall. Heute nacht reitet der Zeitgeist, und der Teufel führt die Hinterbeine.

Die Schriftsteller der dreifachen Revolution Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts dokumentieren in mancher Hinsicht Vorhersehungsgabe. Aber sie unterschätzen die Folgen, die der Wegfall der Notwendigkeit zu arbeiten auf jedermann hatte. Sie waren der Meinung, daß alle Menschen gleiche Fähigkeiten und ein gleiches Potential zur Entwicklung künstlerischer Neigungen haben, daß alle sich mit Kunst, Handwerk oder Hobbys beschäftigen können oder einfach um des Lernens willen lernen. Sie wollten sich nicht mit der ‚undemokratischen’ Tatsache abfinden, daß höchstens zehn Prozent der Bevölkerung – wenn überhaupt! – imstande sind, etwas Wertvolles und Lohnendes zu produzieren – oder wenigstens etwas, das auf dem Feld der Künste auch nur einen Pfifferling wert ist. Begabungen, Hobbys und eine lebenslängliche akademische Ausbildung verblassen nach einer Weile, also wieder zurück zu Suff, Fido und Vögeln.

Aufgrund mangelnden Selbstrespekts werden die Väter zu Vogelfreien, zu Nomaden in den Steppen des Sex. Mutter, mit übergroßem M, wird zur beherrschenden Gestalt im Familienleben. Sie bumst wahrscheinlich auch gehörig durcheinander, aber immerhin kümmert sie sich um die Kinder. Sie ist den größten Teil der Zeit anwesend. Da Vater eine unbedeutendere Gestalt, abwesend, schwach oder gleichgültig ist, werden die Kinder häufig homosexuell oder bisexuell. Aus dem Wunderland wird gleichzeitig ein Schwulenland.

Einige Wesenszüge dieses Zeitalters waren vorhersehbar. Sexuelle Schrankenlosigkeit war einer davon, obwohl keiner hatte annehmen können, daß sie so weit gehen würde. Aber schließlich hätte auch keiner die Panamoritensekte vorhersehen können, obwohl Amerika schon immer verrückte Religionskulte so zahlreich wie Froschlaich in einem Tümpel hervorgebracht hat. Der Wahnsinnige von gestern ist der Messias von morgen, und so konnten Sheltey und seine Jünger die Jahre der Verfolgung überstehen, und heute sind ihre Vorstellungen in die Kultur integriert.“

Großpapa richtet die Mündung des Skops wieder auf Chib aus.

„Da geht er hin, mein wunderbarer Urenkel, und bringt den Griechen seine Gaben dar. Bisher hat Herkules den augäischen Stall des Geistes noch nicht ausmisten können. Und doch könnte er vielleicht erfolgreich sein, dieser fehlgetretene Apollo, dieser abgewrackte Ödipus. Er ist glücklicher als die meisten seiner Zeitgenossen. Er hatte einen dauerhaften, wenn auch geheimen Vater, einen zänkischen alten Mann, der sich vor der sogenannten Justiz verbergen mußte. Er hat Liebe, Disziplin und eine hervorragende Ausbildung in dieser verborgenen Kammer erhalten. Außerdem ist er so glücklich, einen Beruf zu haben.

Aber Mama gibt viel zuviel aus und ist außerdem noch spielsüchtig, eine schlechte Gewohnheit, die sie ihres regelmäßigen Einkommens beraubt. Ich bin ja offiziell tot, also bekomme ich die Purpurne Sozialhilfe auch nicht. Chib muß also für alles geradestehen, indem er seine Bilder vermarktet und verkauft. Luscus hat ihm geholfen, indem er ihn bekanntgemacht hat, aber Luscus kann sich auch jeden Augenblick wieder gegen ihn wenden. Doch der Erlös der Bilder reicht immer noch nicht aus. Geld ist keine Grundlage unserer Ökonomie, es ist lediglich ein seltenes Hilfsmittel. Chib braucht die Unterstützung durch den Zuschuß, den wird er aber nur bekommen, wenn er sich von Luscus lieben läßt.

Es ist nicht so, daß Chib homosexuellen Beziehungen ablehnend gegenübersteht. Wie die meisten seiner Zeitgenossen ist auch er bisexuell. Ich glaube, daß er und Omar Runic sich immer noch hin und wieder einen blasen. Und warum auch nicht? Sie lieben einander. Aber Chib weist Luscus aus Prinzip zurück. Er möchte sich nicht zur Hure machen, um seine Karriere erfolgreich zu gestalten. Außerdem trifft Chib darüber hinaus eine Unterscheidung, die tief in dieser Gesellschaft eingebettet ist. Er glaubt, daß freiwillige Homosexualität natürlich ist (was auch immer das bedeutet?), während erzwungene Homosexualität, um einen altmodischen Ausdruck zu verwenden, abartig ist. Zutreffend oder nicht, diese Unterscheidung wird eben getroffen.

Chib mag also nach Ägypten gehen. Aber was wird dann aus mir werden?

Kümmere dich nicht um mich oder deine Mutter, Chib. Was auch geschehen mag: Gib Luscus nicht nach. Erinnere dich an die letzten Worte des sterbenden Singleton, Vorstand des Amtes für Resozialisierung und Rehabilitation, der sich erschossen hat, weil er sich nicht an die neuen Zeiten gewöhnen konnte.

,Was ist, wenn ein Mann eine Welt gewonnen und seinen Arsch verloren hat?’“

In diesem Augenblick sieht Großpapa, wie sein Urenkel, der bisher irgendwie mit hängenden Schultern einhergeschritten ist, diese plötzlich strafft. Dann fängt Chib an zu tanzen, ein kleiner improvisierter Shuffle, gefolgt von einigen Drehungen. Es ist offensichtlich, daß Chib laut brüllt. Die Fußgänger um ihn herum grinsen.

Großpapa stöhnt, dann lacht er. „O Gott, die bocksbeinige Energie der Jugend, die unvorhersehbaren Verlagerungen des Spektrums von tiefschwarzer Sorge zum hellen Orange ausgelassener Freude! Tanze, Chib, tanze den Kummer aus deinem Kopf! Sei glücklich, und wenn es auch nur für einen Augenblick ist! Du bist noch jung, unbändige Hoffnung brodelt tief in deinem Innern. Tanze, Chib, tanze!“

Er lacht und wischt sich eine Träne ab.

 

SEXUELLE HINTERGRÜNDE DER

ANKLAGE GEGEN

DIE HELLE BRIGADE

 

ist ein so faszinierendes Buch, daß Doktor Jespersen Joyce Bathymens, Psycholinguist des Bundesamtes für Gruppenrekonfiguration und Interkommunikabilität, nur ungern zu lesen aufhört, doch die Pflicht ruft.

„Ein Rettich ist nicht notwendigerweise rötlich“, spricht er ins Tonbandgerät. „Die Jungen Rettiche nannten ihre Gruppe so, weil ein Rettich ein Keimwurzler oder Radikel und damit radikal ist. Gleichzeitig besteht ein Wortspiel mit Wurzeln und Rotarsch, und das ist ein bekannter Slangausdruck für Zorn, und möglicherweise mit peppich für aufmuckend und brünstig. Und zweifellos auch mit Retnickel, einem in Beverly Hills gebräuchlichen Wort der Umgangssprache für eine ruppige, unbeliebte und gesellschaftlich geächtete Person.

Und doch sind die Jungen Rettiche nicht das, was ich als links bezeichnen würde. Sie repräsentieren lediglich den derzeitigen Unwillen gegenüber dem Leben im allgemeinen. Sie streben keine radikale Politik der Erneuerung an. Sie heulen gegen die herrschenden Zustände wie die Affen auf den Bäumen, lassen aber niemals konstruktive Kritik verlauten. Sie wollen zerstören, denken aber niemals darüber nach, was sie nach der Zerstörung anfangen wollen.

Kurz gesagt, sie repräsentieren das Klagen und Nörgeln des Durchschnittsbürgers, nur unterscheiden sie sich von diesem dadurch, daß sie sich deutlicher artikulieren. Es gibt Tausende Gruppen ihrer Art in LA und wahrscheinlich Millionen auf der ganzen Welt. Als Kinder verbrachten sie ein normales Leben. Sie wurden sogar im selben Stock geboren und wuchsen zusammen auf, und das ist mit ein Grund, weshalb sie für diese Studie ausgewählt wurden. Welches Phänomen brachte zehn produktive Personen hervor, die alle in den sieben Häusern von Areal 69-14 beheimatet, alle gleichzeitig geboren und praktisch zusammen aufgewachsen sind, da sie immer zusammenkamen, während eine Mutter den Babysitter machte und die anderen das taten, was immer sie zu tun hatten, was … wo war ich stehengeblieben?

O ja, sie führten ein normales Leben, besuchten dieselbe Schule, tollten herum, genossen die üblichen sexuellen Spiele untereinander, gesellten sich zu den Jugendbanden und entfesselten einen recht blutigen Bandenkrieg mit der Westwood- und anderen Banden. Alle jedoch waren mit einer ausgeprägten intellektuellen Neugier gesegnet, und alle wurden in den schöpfenden Künsten aktiv.

Es wurde gemutmaßt – was auch stimmen könnte –, daß der geheimnisvolle Fremde, Raleigh Renaissance, der Vater von allen zehn Personen war. Das ist möglich, läßt sich aber nicht beweisen. Raleigh Renaissance lebte zu jener Zeit im Haus von Mrs. Winnegan, aber er scheint im ganzen Stock und auch allgemein in Beverly Hills ungeheuer aktiv gewesen zu sein. Woher dieser Mann kam, wer er ist und wohin er verschwunden ist, das alles ist noch ungeklärt, obwohl sich verschiedene Agenturen auf die Suche nach ihm gemacht haben. Er hatte weder eine ID- noch sonst eine Karte, und trotzdem blieb er lange Zeit unbehelligt. Er scheint etwas vom Polizeichef von Beverly Hills und auch von zahlreichen in Beverly Hills stationierten Bundesagenten gehabt zu haben.

Er lebte zwei Jahre bei Mrs. Winnegan, dann verschwand er. Es geht das Gerücht, daß er LA verlassen und sich zu einem Stamm weißer Neoindianer gesellt hat, der sich die Spermaindianer nennt.

Doch wieder zurück zu den Jungen (Anspielung auf Jung?) Rettichen. Sie revoltieren gegen das Vaterbild von Onkel Sam, den sie zugleich lieben und hassen. Onkel ist in ihrem Unterbewußtsein selbstverständlich mit unco gekoppelt, einem alten schottischen Wort, das soviel wie seltsam, unheimlich, merkwürdig bedeutet, was wiederum darauf hinweist, daß ihnen ihre Väter fremd waren. Alle entstammen Haushalten, in denen der Vater fehlte oder schwächlich war, ein Phänomen, das in unserer Kultur leider allzu häufig auftritt.

Ich kannte meinen Vater auch nie … Tooney, lösch das wieder, es ist bedeutungslos. Unco bedeutet aber gleichzeitig Neuigkeiten oder Nachrichten, was darauf hinweist, daß die jungen Männer wahrscheinlich gespannt auf die Neuigkeit von der Rückkehr ihrer Väter warten und wahrscheinlich auch insgeheim auf eine Aussöhnung mit Onkel Sam, und damit auch mit ihren Vätern, hoffen.

Onkel Sam. Sam ist die Kurzform von Samuel, was sich vom hebräischen Shemu’el ableitet, und das steht für den Namen Gottes. Alle Rettiche sind Atheisten, wenn auch einige, besonders Omar Runic und Chibiabos Winnegan, in ihrer Kindheit eine religiöse Erziehung genossen haben (panamorisch und römisch-katholisch).

Die Revolte des jungen Winnegan gegen Gott und die katholische Kirche wurde zweifellos mit durch die Tatsache herbeigeführt, daß ihm seine Mutter starke Kathartiks, also Abführmittel, verabreichte, als er an chronischer Verstopfung litt. Wahrscheinlich wollte er auch seinen Katechismus nicht lernen und statt dessen lieber spielen. Und es wird auch von einem traumatischen Erlebnis berichtet, in dem ihm ein Katheter eingeführt wurde. (Diese Weigerung zur Exkrementierung oder Ausscheidung wird in einem späteren Bericht analysiert werden.)

Onkel Sam, die Vaterfigur. Figur ist ein so offensichtliches Wortspiel, daß ich hier nicht näher darauf einzugehen brauche. Eine Analogie zu Finger bietet sich ebenfalls an, im Sinne von ‚keinen Finger für dich krumm machen!’ – schlagen Sie das nach bei Dantes Inferno, ein Italiener oder sonstwer in der Hölle sagt: ‚Für Dich mache ich keinen Finger krumm, Gott!’ und beißt sich dann in der alten Geste von Trotz und Respektlosigkeit in den Daumen. Hmm? In den Daumen beißen – ein kindliches Charakteristikum?

Sam ist auch eine facettenreiche Bezeichnung für phonetisch, orthografisch oder semantisch verbundene Worte. Es ist bezeichnend, daß der junge Winnegan es nicht ertragen kann, wenn er Liebes genannt wird. Er behauptet, seine Mutter hätte ihn so häufig so genannt, daß ihm nun beinahe davon übel wird. Und doch hat das Wort eine tiefere Bedeutung für ihn. Sprachliche Hintergründe: ‚Liebes’ heißt im Amerikanischen dear, wogegen deer ‚Hirsch’ heißt. So ist Sambar beispielsweise ein asiatischer Hirsch mit dreifach gegabeltem Geweih (man beachte auch das Sam). Offensichtlich symbolisieren die drei Gehörne für ihn die Dreifache Revolution, das historische Ereignis, das den Beginn unseres Zeitalters kennzeichnet, das Chib angeblich so haßt. Die drei Enden sind gleichzeitig Archetypen der Heiligen Dreieinigkeit, die die Jungen Rettiche von Zeit zu Zeit lästern.

Ich möchte darauf hinweisen, daß sich die Gruppe darin von anderen unterscheidet, die ich studiert habe. Die anderen brachten eine milde und gelegentliche Blasphemie zum Ausdruck, indem sie sich dem blassen und verblichenen religiösen Geist hingaben, der heutzutage vorherrschend ist. Starke Gotteslästerer werden nur aktiv, wenn starke Glaubensfragen eine Rolle spielen.

Gleichzeitig steht Sam für same, was soviel heißt wie ‚gleich’ und was ausdrückt, daß die Rettiche unterbewußt wünschen, konform zu sein.

Möglicherweise, obwohl diese spezielle Deutung sich als fraglich erweisen könnte, hängt Sam auch mit Samekh, dem fünfzehnten Buchstaben des hebräischen Alphabets, zusammen. (Sam! Ech!?) In der alten Weise des englischen Buchstabierens, in der die Rettiche in ihrer Kindheit unterrichtet wurden, ist der fünfzehnte Buchstabe des römischen Alphabets das O. Im Alphabet meines Wörterbuches, Websters 128th New Collegiate, ist das römische O in derselben horizontalen Spalte wie das arabische Dad und das hebräische Mem.

Wir erhalten auf diese Weise also auch gleich eine Zweierbeziehung zu dem fehlenden und ersehnten Vater (oder Dad) und der überdominanten Mutter (oder Mem).

Mit dem griechischen Omikron, das sich ebenfalls in dieser Spalte befindet, kann ich derzeit noch nichts anfangen, doch lassen Sie mir Zeit. Das wird intensive Studien erfordern.

Omikron. Das kleine O! Das kleine Omikron hat die Form eines Eis. Symbol für das väterliche Spermium? Die Gebärmutter? Die grundlegende Form der modernen Architektur?

Sam Hill, ein archaischer Euphemismus für Hölle. Ist Onkel Sam ein Sam Hill von einem Vater? Nein, das streichen wir lieber, Tooney. Es ist möglich, daß die intellektuellen Jugendlichen von dieser bedeutungslosen Phrase gelesen haben, aber wahrscheinlich ist es nicht. Ich möchte ja keine Querverbindungen ziehen, die mich ins Lächerliche ziehen könnten.

Mal sehen. Samisen. Ein japanisches Musikinstrument mit drei Saiten. Wieder die Dreifache Revolution und die Dreieinigkeit. Dreieinigkeit? Vater, Sohn und Heiliger Geist. Mutter als völlig verabscheute Gestalt, als Rabenmutter? Nun, vielleicht nicht. Streich das, Tooney.

Samisen. Sohn von Sam? Das führt naturgemäß zu Samson, der den Tempel der Philister auf sie und sich herabstürzen ließ. Diese Jungs sprechen dauernd davon, dasselbe zu tun. Kicher. Erinnert mich daran, wie ich noch in ihrem Alter war, bevor ich die nötige Reife erlangte. Streich die letzte Bemerkung, Tooney!

Samowar. Das russische Wort bedeutet buchstabengetreu übersetzt Selbstkocher. Es besteht kein Zweifel daran, daß die Rettiche vor revolutionärer Inbrunst kochen. Und doch wissen ihre gestörten Psychen, daß Onkel Sam ihr ewig liebender Vater-Mutter ist, der nur ihre besten Interessen im Herzen trägt. Aber sie zwingen sich dazu, ihn zu hassen, daher sind sie ständig am Selbstkochen.

Ein Samlet ist ein junger Lachs. Gekochter Lachs ist von gelblichroter Farbe, die der eines Rettichs sehr nahe kommt – jedenfalls in ihrem Unterbewußtsein. Samlet ist also gleich Junger Rettich. Sie fühlen sich, als würden sie im großen Dampfkochtopf der modernen Gesellschaft gekocht.

Na, ist das eine flott fabulierte Fistel – ich meine, eine fein formulierte Floskel, Tooney? Tipp das ab, bearbeite und glätte es etwas – wie abgemacht, du weißt schon wie – und schick’s dem großen Boß. Ich muß jetzt gehen. Sonst komme ich zu spät zum Essen mit Mutter, und die regt sich doch immer so furchtbar auf, wenn ich nicht auf die Minute pünktlich bin.

Oh, Postskriptum. Ich schlage vor, daß die Agenten den jungen Winnegan eingehender betrachten. Seine Freunde lassen beim Reden und Trinken psychischen Dampf ab, aber er hat sein Verhaltensmuster plötzlich geändert. Er entwickelt lange Stilleperioden und hat das Rauchen, Trinken und den Sex aufgegeben.“

 

PROFIT IST NICHT OHNE EHRE

 

nicht einmal in diesen Zeiten. Das Gummint hat nichts gegen Tavernen in Privathand, die von Bürgern geleitet werden, die alle Auflagen erfüllt und den örtlichen Polizeichef nebst den Politikern ordnungsgemäß bestochen haben. Da ihnen keinerlei Vorzüge eingeräumt und keine größeren Räume vermietet werden, befinden sich diese Tavernen meist in den Wohnungen der Besitzer.

Das private Universum ist Chibs Lieblingsbar, was mit daran liegen könnte, daß der Besitzer sie illegal führt. Dionysus Gobrinus, außerstande, den Weg durch die Straßen zurückzuschwabbeln und die Fußangeln, Falltüren und Hindernisse des Dienstwegs zu überwinden, hat es längst aufgegeben, eine rechtmäßige Lizenz zu beantragen.

Er schreibt den Namen seines Etablissements offen über die mathematischen Gleichungen, die einst das Äußere dieses Hauses schmückten. (Math. Prof. in Beverly Hills U. 14, Name Al-Khwarizmi Descartes Lobaschewsky, ist in den Ruhestand gegangen und hat seinen Namen wieder geändert.) Das Atrium und mehrere Schlafzimmer wurden in Räume für Zecherei und Geselligkeit umgewandelt. Ägyptische Kunden sind hier nie zu sehen, wahrscheinlich wegen ihrer Überempfindlichkeit angesichts der blumigen Vorurteile, die Zechkumpane innen an die Wände geschmiert haben.

 

A BAS, ABU

MOHAMMED WAR DER SOHN EINER JUNGFRÄULICHEN HÜNDIN

DIE SPHINX STINKT

VERGESST DAS ROTE MEER NICHT!

DER PROPHET IST EIN KAMELFETISCHIST

Einige von denen, die das geschrieben haben, haben Väter, Großväter und Urgroßväter, die selbst Gegenstand ähnlicher Schmähungen waren. Aber ihre Nachkommen haben sich gründlich angepaßt. Bis ins Mark Bewohner von Beverly Hills. Aus solchen besteht das Königreich der Menschen.

Gobrinus, ein Fettkloß von einem Mann, steht hinter der Bar, die, als Schutz gegen das vorherrschende Oval, rechteckig angelegt ist. Über ihm befindet sich ein großes Schild:

 

ONE MAN’S MEAD IS ANOTHER MAN’S POISSON

 

Gobrinus hat dieses Wortspiel viele Male erläutert, aber nicht immer zur Zufriedenheit der Zuhörer. Fest steht jedenfalls, daß Poisson ein Mathematiker war und daß Poissons Häufigkeitsverteilung eine gute Annäherung an die binomische Verteilung ist, wenn die Zahl der Versuche zunimmt und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs bei einem einzigen Versuch gering ist.

Wenn ein Kunde zu betrunken ist, als daß man ihm noch ein weiteres Getränk geben könnte, dann wird er unter heftigem Einsatz, oft bis zur völligen Erschöpfung, von Gobrinus Kopf voran aus der Taverne hinausgeworfen, der dabei schreit: „Poisson! Poisson!“

Chibs Freunde, die Jungen Rettiche, begrüßen ihn, wobei ihre Rufe unbewußt die jüngste Einschätzung des Psycholinguisten wiedergeben, die dieser in bezug auf sein Verhalten getroffen hat.

„Chib, alter Mönch! Chibber denn je und wahrscheinlich auf der Suche nach einer Chibbie. Triff deine Wahl!“

Madame Trismegista, die an einem kleinen Tisch sitzt, dessen Oberfläche nach dem Siegel Salomos geformt ist, begrüßt ihn. Sie ist schon seit zwei Jahren Gobrinus’ Frau, ein Rekord, denn sie hat gedroht, ihn zu erstechen, wenn er sie verläßt. Zudem glaubt sie, daß sie sein Schicksal mit den Karten beeinflussen kann, die sie legt. In diesem Zeitalter der Verzückung florieren Wahrsagerei und Astrologie. Je weiter die Wissenschaft vordringt, desto rascher galoppieren Unwissenheit und Aberglaube an ihren Flanken und beißen der Wissenschaft mit großen dunklen Zähnen ins Hinterteil.

Gobrinus selbst, ein Doktor und Träger der Fackel des Wissens (wenigstens bis jüngst) glaubt nicht an Gott. Aber er ist sicher, daß die Sterne einer für ihn freudvollen Konstellation zustreben. Mit einer seltsamen Logik glaubt er, daß die Karten seiner Frau die Sterne beherrschen. Er weiß nicht, daß Kartenlesen und Astrologie zwei völlig unterschiedliche Paar Stiefel sind.

Aber was soll man von einem Mann schon erwarten, der behauptet, daß das Universum asymmetrisch ist?

Chib winkt Madame Trismegista mit einer Hand zu und begibt sich an einen anderen Tisch. Dort sitzt

 

EIN TYPISCHER TEENÄTSCHER

 

Benedictine Serinus Melba. Sie ist groß und schlank und hat schmale, lemurenähnliche Hüften und schlanke Beine, aber große Brüste. Ihr Haar, ebenso schwarz wie ihre Pupillen, ist in der Mitte gescheitelt und mit parfümiertem Spray am Kopf festgepappt. Hinten ist es zu zwei langen Geschlechtsorganen geflochten. Diese fallen über ihre breiten Schultern und werden über dem Kehlkopf von einer goldenen Spange zusammengehalten. Von der Brosche, die wie eine Note geformt ist, teilen die Zöpfe sich wieder und verlaufen geschwungen unter den beiden Brüsten, wo sie von einer weiteren Brosche gehalten und geteilt werden. Sie verlaufen weiter bis zum Rücken, wo sich ebenfalls eine Brosche befindet, und von dort kommen sie zurück und treffen sich über dem Bauch wieder. Dort werden sie von einer letzten Brosche gehalten, ehe sich die doppelten schwarzen Wasserfälle frei über das glockenförmige Kleid ergießen.

Ihr Gesicht ist dick geschminkt mit Grün und Aquamarin, trägt ein Schönheitspflästerchen und als Schmucksteine Topas. Sie trägt des weiteren einen gelben Büstenhalter mit künstlichen rosa Nippeln, von dem BH hängen winzige Seidenröllchen herab. Ein hellgrünes Korsett mit schwarzen Rosetten umspannt ihre Hüfte. Über dem Korsett, dieses halb verdeckend, befindet sich eine schimmernde Drahtstruktur, die mit einem gesteppten rosa Stoff überspannt ist. Diese erstreckt sich weit über den Rücken hinaus und bildet eine Art Vogelschwanz, an dem lange, künstliche Vogelfedern befestigt sind.

Darunter bauscht sich ein knöchellanges, halbdurchsichtiges Kleid auf. Es verbirgt nicht die gelb und dunkelgrün gestreiften Seidenunterhöschen, die weißen Schenkel und die schwarzen Netzstrümpfe mit den grünen Stickereien, die wie Noten geformt sind. Ihre Schuhe sind hellblau, die hochhackigen Absätze aus Topas.

Benedictine ist so kostümiert, weil sie beim Folklorefestival singen möchte. Einzig ihr Sängerhut fehlt noch. Unter anderem ist sie deswegen hergekommen, um Chib Vorwürfe zu machen, weil er ihr einen Bauch gemacht und damit ihr Äußeres verunstaltet hat, wodurch er ihre Chancen für eine Karriere verringerte.

Sie ist in Gesellschaft von fünf Mädchen zwischen sechzehn und einundzwanzig, die alle S (für Schädelpuster) trinken.

„Können wir uns denn nicht ungestört unterhalten, Benny?“ fragt Chib.

„Wozu?“ Ihre Stimme ist ein lieblicher Alt mit einer häßlichen Modulation.

„Du hast mich nur hierherkommen lassen, um mir in aller Öffentlichkeit eine Szene zu machen“, sagt Chib.

„Um Himmels willen, was für eine Szene ist denn hier schon?“ kreischt sie jetzt auf. „Seht ihn euch an, er will sich mit mir allein unterhalten!“

Erst nun erkennt er, daß sie Angst davor hat, mit ihm allein zu sein. Mehr noch, sie ist überhaupt nicht imstande, allein zu sein. Jetzt weiß er, warum sie darauf bestand, daß die Schlafzimmertür offen und ihre Freundin Bela in Rufweite bleiben mußte. Und Hörweite.

„Du hast gesagt, du würdest nur deinen Finger nehmen!“ brüllt sie. Sie deutet auf ihren rundlichen Bauch. „Ich bekomme ein Baby! Du verkommener, verlogener Scheißkerl!“

„Das stimmt überhaupt nicht“, widerspricht Chib. „Du hast gesagt, es sei alles in Ordnung. Du liebst mich.“

„,Liebe! Liebe!’ sagt er! Woher, zum Teufel, soll ich wissen, was ich alles gesagt habe, nachdem du mich so auf gegeilt hattest! Jedenfalls habe ich nicht gesagt, daß du ihn reinschieben kannst! Das habe ich niemals gesagt! Und was du dann erst gemacht hast! Was du gemacht hast! Mein Gott, ich konnte fast eine Woche nicht mehr richtig gehen, du Scheißkerl, du!“

Chib schwitzt. Ausschnitte aus Beethovens Pastorale ertönen vom Fido, ansonsten ist es still im Zimmer. Seine Freunde grinsen. Gobrinus hat ihnen den Rücken zugewandt und trinkt Scotch. Madame Trismegista mischt ihre Karten und furzt eine teuflische Mischung von Bier- und Zwiebelausdünstungen. Benedictines Freundinnen betrachten ihre mandarinlangen fluoreszierenden Fingernägel oder funkeln ihn böse an. Ihr Schmerz und Stolz sind auch die ihren und vice versa.

„Ich kann diese Pillen nicht nehmen. Ich verliere den Verstand und bekomme Augenschmerzen, und sie bringen meine Regel durcheinander! Das weißt du! Und einen mechanischen Uterus kann ich nicht ab! Außerdem hast du mich belogen! Du hast gesagt, du würdest die Pille nehmen!“

Chib erkennt, daß sie sich selbst widerspricht, aber es ist zwecklos, logisch sein zu wollen. Sie ist wütend, weil sie schwanger ist. Sie will sich zu diesem Zeitpunkt nicht auf eine Abtreibung einlassen, und sie sinnt auf Rache.

Wie aber, fragt sich Chib, wie konnte sie denn in jener Nacht schwanger werden? Keine Frau, egal wie fruchtbar, hätte das fertigbringen können. Sie muß schon davor oder danach gevögelt worden sein. Und doch schwört sie, daß es in dieser Nacht geschehen ist, in jener Nacht, als er gewesen ist.

 

DER RITTER MIT DEM BRENNENDEN

STÖSSEL ODER

SCHAUM AM RICHTIGEN PLATZ

 

„Nein, nein!“ kreischt Benedictine.

„Warum nicht? Ich liebe dich“, sagt Chib. „Ich möchte dich heiraten.“

Benedictine kreischt, und ihre Freundin Bela, die draußen auf dem Flur wartet, fragt: „Was ist denn los? Was ist geschehen?“

Benedictine antwortet nicht. Wütend und zitternd, als hätte das Fieber sie im Griff, taumelt sie aus dem Bett und stößt Chib weg. Sie hastet zum kleinen Ei des Badezimmers in der Ecke. Er folgt ihr.

„Ich hoffe, du wirst nicht das tun, was ich jetzt denke …?“ fragt er.

Benedictine schreit auf. „Du verschlagener, elender Hurensohn!“

Im Badezimmer zieht sie einen Abschnitt der Wand herunter, der zu einem Regal wird. Auf diesem sind, durch magnetische Knöpfe gehalten, vielerlei Fläschchen zu sehen. Sie wählt eine lange, dünne Kanüle mit Spermatoziden, öffnet sie und führt sie ein. Sie drückt den Knopf am anderen Ende, worauf sich der Schaum zischend daraus ergießt, auch wenn seine fleischliche Hülle nicht verstummen kann.

Chib ist einen Augenblick wie betäubt. Dann brüllt er.

„Bleib mir vom Leibe!“ schreit Benedictine. „Du Retnickel!“

Von der Schlafzimmertür hört man Belas zaghaftes „Alles in Ordnung, Benny?“

„Ich sorge schon dafür, daß alles in Ordnung kommt!“ wütet Chib.

Er hechtet nach vorn und nimmt eine Dose Sprühleim vom Regal. Der Leim wird von Benedictine dazu benützt, ihre Perücken an der Kopfhaut festzukleben, und er hält ewig, wenn er nicht durch ein entsprechendes Gegenmittel gelöst wird.

Benedictine und Bela schreien gleichzeitig, als Chib Benedictine ergreift und dann auf den Boden legt. Sie wehrt sich heftig, doch es gelingt ihm, den Leim auf die Kanüle, ihre Haut und die zugehörigen Haare zu sprühen.

„Was tust du da?“ kreischt sie.

Er drückt den Knopf der Kanüle auf maximale Schaumkraft, dann sprüht er ihn mit Leim fest. Sie wehrt sich immer noch, doch er hält ihre Arme dicht an den Körper gepreßt und verhindert, daß sie sich hin und her rollen kann, damit die Kanüle nicht rein oder raus rutscht. Chib zählt lautlos bis dreißig, dann nochmals bis dreißig, um sicherzustellen, daß der Leim auch wirklich getrocknet ist, dann läßt er sie los.

Der Schaum quillt um ihre Lenden und tropft an ihren Beinen hinunter, wo er sich am Boden ausbreitet. In der unzerstörbaren Kanüle steht die Flüssigkeit unter ungeheurem Druck, und der Schaum quillt rasend schnell auf, wenn er der offenen Luft ausgesetzt wird.

Chib nimmt das Gefäß mit dem Gegenmittel vom Regal und hält es fest, um ihr eindeutig klarzumachen, daß sie es nicht bekommen wird. Benedictine springt auf und schlägt nach ihm. Er lacht wie eine Hyäne, blockt ihre Faust ab und schiebt sie weg. Sie rutscht auf dem mittlerweile knöcheltiefen Schaum aus, fällt, dann gleitet sie auf den Hinterbacken rückwärts ins Schlafzimmer, wobei die Kanüle über den Boden streift.

Sie steht auf, und nun erst erkennt sie völlig, was Chib getan hat. Sie schreit immer lauter. Sie tanzt herum und zieht an der Kanüle, ihre Schreie werden dabei vor Schmerzen immer greller. Dann wendet sie sich um und läuft aus dem Zimmer, besser gesagt, will aus dem Zimmer laufen, rutscht aber wieder aus. Bela steht ihr im Weg, beide klammern sich aneinander und schlittern aus dem Zimmer, wobei sie sich unter der Tür sogar halb drehen. Der Schaum wirbelt auf, so daß die beiden wie Venus und ihre Freundin aussehen, die aus den schaumgekrönten Wogen des zyprischen Meeres emporsteigen.

Benedictine schiebt Bela von sich, verliert dabei aber einige Zentimeter Fleisch an Belas spitze Fingernägel. Bela schießt rückwärts durch die Tür und wieder auf Chib zu. Sie sieht wie eine Eislaufschülerin aus, die sich bemüht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dabei ist sie allerdings nicht erfolgreich und schießt an Chib vorbei. Sie rutscht heulend auf dem Rücken, die Beine starr in die Luft gestreckt.

Chib gleitet mit bloßen Füßen über den Fußboden und kommt unsicher vor dem Bett zu stehen, wo er seine Kleider nimmt, dann aber entscheidet, daß es vielleicht sicherer ist, sie erst draußen anzuziehen. Er kommt gerade noch rechtzeitig in den ringförmigen Flur, um Benedictine zu sehen, die an einer der Säulen vorbeikriecht, welche den Korridor vom Atrium trennen. Ihre Eltern, zwei Behemots mittleren Alters, sitzen immer noch auf dem Flato, Bierdosen in Händen, Augen aufgerissen, Mund sperrangelweit offen, zitternd.

Chib wünscht ihnen nicht einmal eine gute Nacht, während er an ihnen vorbei zum Ausgang geht. Doch dann sieht er das Fido und erkennt, daß ihre Eltern es von EXT nach INT und dann weiter in Benedictines Zimmer geschaltet haben. Vater und Mutter haben Chib und Tochter beobachtet, und es ist offensichtlich, was man an Vaters noch nicht ganz wiederhergestellter innerer Ruhe ermessen kann, daß ihnen dieses kleine Schauspiel sehr gefallen hat, das alles übertraf, was man über externes Fido empfangen kann.

„Ihr voyeuristisches Dreckpack!“ brüllt Chib.

Benedictine ist bei ihnen angelangt, richtet sich auf, weint, zetert, deutet auf die schäumende Kanüle, dann auf Chib. Bei Chibs Schrei fahren die beiden Eltern wie Leviathane aus den Tiefen auf. Benedictine wendet sich um und läuft mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, Finger gekrümmt und gespreizt, die langen Nägel parat, ihr Gesicht das einer Medusa. Hinter ihr ergießt sich der Schaum in einer langen Spur, auf der Vater und Mutter folgen.

Chib stützt sich an einer Säule ab, prallt weg und schlittert hilflos weiter, wobei er sich nach seitwärts dreht, was er nicht verhindern kann. Doch es gelingt ihm, das Gleichgewicht zu halten. Mama und Papa sind mit einem Schlag umgefallen, der das ganze Haus in den Grundfesten erzittern ließ. Sie richten sich mit rollenden Augen wieder auf und brüllen wie zur Oberfläche aufgestiegene Nilpferde. Sie verfolgen ihn nun ihrerseits, Mama kreischend, ihr Gesicht gleicht, trotz des Fetts, dem von Benedictine. Papa umrundet eine Seite der Säule, Mama die andere. Benedictine hat sich ebenfalls eine Säule gesucht, an der sie sich nun festhält, um nicht wieder im Schaum auszugleiten. Sie steht zwischen Chib und der Tür ins Freie.

Chib sinkt in einem schaumfreien Teil des Korridors gegen die Wand. Benedictine eilt auf ihn zu. Er hechtet los, prallt auf dem Fußboden auf und gleitet zwischen zwei Säulen durch ins Atrium.

Mama und Papa schlittern auf Kollisionskurs. Die Titanic prallt gegen den Eisberg, beide sinken rasch. Sie rutschen auf Gesichtern und Bäuchen in Richtung Benedictine. Diese springt in die Luft. Schaum regnet auf die beiden herab, während sie unter ihr hindurchgleiten.

Inzwischen ist die Richtigkeit der Regierungsbehauptung, wonach die Kanüle für 40 000 Schüsse Spermatod beziehungsweise vierzigtausend Nummern ausreicht, hinreichend bewiesen. Das ganze Haus ist voll knöcheltiefem Schaum, der an manchen Stellen sogar kniehoch aufgetürmt ist – und immer noch schäumt mehr hervor.

Bela liegt mittlerweile auf dem Atriumfußboden auf dem Rücken, ihr Gesicht ist in den weichen Falten des Flato vergraben.

Chib bleibt einen Augenblick stehen und schaut sich um. Er hat die Knie gebeugt, um im Angriffsfall rasch springen zu können, hofft aber, daß er es nicht muß, denn er weiß genau, daß seine Füße unweigerlich unter ihm wegrutschen werden.

„Bleib hier, du verkommener Hurensohn!“ tobt Papa. „Ich bring dich um! Das kannst du mit meiner Tochter nicht machen!“

Chib sieht ihm zu, wie er sich wie ein Wal bei schwerem Seegang windet und versucht, auf die Beine zu kommen. Doch er sinkt wieder hinab und grunzt wie von der Harpune getroffen. Mama ist nicht viel erfolgreicher als er.

Als er sieht, daß sein Weg frei ist – Benedictine ist irgendwohin verschwunden –, schlittert Chib über den Boden des Atriums, bis er eine unbeschäumte Stelle nahe bei der Eingangstür erreicht hat. Mit den Kleidern über dem Arm und dem Leimlöser noch in der Hand, geht er auf die Tür zu.

In diesem Augenblick ruft Benedictine seinen Namen. Er dreht sich um und sieht, wie sie von der Küche auf ihn zuschlittert. In der Hand hält sie ein hohes Glas. Er fragt sich, was sie damit vorhat. Gewiß will sie ihm nicht freundlich einen Drink anbieten.

Dann erreicht sie ein trockenes Fußbodenstück und wirft sich mit einem Aufschrei vorwärts. Sie kann den Inhalt des Glases treffsicher nach ihm schleudern.

Chib schreit, als er das kochendheiße Wasser spürt – so schmerzhaft, als wäre er ohne Narkose beschnitten worden.

Benedictine liegt auf dem Fußboden und lacht. Chib hüpft wie ein Wilder kreischend hin und her und hält die gemarterten Teile mit den Händen, Kleider und Spraydose hat er fallen lassen. Aber schließlich erlangt er wieder seine Selbstbeherrschung. Er stoppt sein Gehopse, umklammert Benedictines rechte Hand und zerrt sie auf die Straßen von Beverly Hills hinaus. Es sind noch einige Leute unterwegs, und die folgen den beiden. Er hält erst am See an und springt hinein, um die verbrühten edlen Teile abzukühlen, und Benedictine folgt ihm hinterher.

Die Menge weiß später viel darüber zu erzählen, nachdem Benedictine und Chib aus dem Wasser gekrochen und nach Hause geeilt sind. Die Menge redete und lachte sogar noch eine ganze Weile danach, während sie den Leuten vom Gesundheitsamt zusahen, die den See und den Straßenbelag vom Schaum reinigten.

 

„Ich war so wund, daß ich einen ganzen Monat kaum gehen konnte!“ ereifert sich Benedictine.

„Du hattest es so gewollt“, sagt Chib. „Du hast gar keinen Grund zur Beschwerde. Du hast gesagt, du wolltest mein Baby, und das hat sich so angehört, als wäre es dein Ernst gewesen.“

„Ich muß von Sinnen gewesen sein!“ schreit Benedictine. „Nein, war ich nicht! Ich hab’ so was nie gesagt! Du hast mich angelogen! Du hast mich gezwungen!“

„Ich würde nie jemanden zwingen“, sagt Chib. „Das weißt du. Hör auf herumzuquengeln. Du bist ein freies Wesen, und es war deine freie Entscheidung. Du hast deinen eigenen Willen.“

Omar Runic, der Poet, steht von seinem Stuhl auf. Er ist ein großer, schlanker und bronzehäutiger junger Mann mit einer Adlernase und wulstigen Lippen. Sein Kraushaar ist lang und in der Form der Pequod geschnitten, jenes fabelhaften Schiffs, das den verrückten Kapitän Ahab und seine Mannschaft sowie den einzigen Überlebenden, Ismael, nach dem Angriff des Wals an Bord genommen hat. Die Frisur ist mit einem Bogenspriet und einer Hülle und drei Masten geformt, und sogar die Wanten und Rettungsboote sind zu erkennen.

Omar Runic klatscht in die Hände und ruft: „Bravo! Ein Philosoph! Freier Wille ist es; freier Wille, die ewigen Wahrheiten zu suchen – falls existent – oder ewige Verdammnis! Ich trinke auf den freien Willen! Ein Trinkspruch, meine Herren! Stehet auf, Junge Rettiche, ein Trinkspruch auf unseren Anführer!“

Und damit beginnt

DIE IRRE S-PARTY

 

Madame Trismegista ruft: „Dein Glück, Chib! Schau an, was die Sterne dir durch die Karten vorhersagen!“

Er nimmt bei ihr am Tisch Platz, während seine Freunde sich um sie drängen.

„Okay, Madame. Wie komme ich aus dem ganzen Schlamassel wieder raus?“

Sie mischt und dreht die oberste Karte um.

„Herrgott! Das Pik-As!“

„Du wirst eine lange Reise antreten!“

„Ägypten!“ ruft Rousseau Roter Falke. „Oh nein, Chib, dorthin willst du doch gar nicht. Komm mit mir dahin, wo die Büffel brüllen und …“

Die nächste Karte wird aufgedeckt.

„Du wirst in Bälde eine wunderschöne dunkle Lady treffen.“

„Eine gottverdammte Araberin! Oh nein, Chib, sag, daß das nicht wahr ist!“

„Du wirst bald große Ehren erlangen.“

„Chib wird seine Unterstützung bekommen!“

„Wenn ich die Unterstützung bekomme, dann muß ich nicht nach Ägypten“, sagt Chib. „Mit allem Respekt, Madame Trismegista, aber Sie erzählen Unsinn.“

„Spotte nicht, junger Mann. Ich bin kein Computer. Ich bin auf das Spektrum psychischer Vibrationen eingestellt.“

Flip. „Du wirst physisch und moralisch in große Gefahr geraten.“

„Das kommt bei mir tagtäglich vor“, sagt Chib.

Flip. „Ein dir nahestehender Mann wird zweimal sterben.“

Chib erbleicht, fängt sich wieder, sagt: „Ein Feigling stirbt tausend Tode.“

„Du wirst in der Zeit reisen und in die Vergangenheit zurückkehren.“

„Puh!“ sagt Roter Falke. „Heute übertreffen Sie sich selbst, Madame! Vorsicht! Sie werden einen psychischen Bruch bekommen und ein ektoplasmatisches Bruchband tragen müssen!“

„Laßt das, ihr Dummbeutel, ja!“ sagt Madame. „Es gibt mehr Welten als eine. Die Karten lügen nicht. Nicht wenn ich mich mit ihnen beschäftige.“

„Gobrinus!“ ruft Chib. „Noch einen Krug Bier für Madame!“

Die Jungen Rettiche kehren an ihren Tisch zurück, eine beinlose Platte, die von einem Antigravfeld an Ort und Stelle gehalten wird. Benedictine funkelt sie an und verschwindet mit ihrem Weiberrudel. An einem Tisch in der Nähe sitzt Pinkerton Legrand, ein Gummint-Agent, der sie frontal betrachtet, damit sein Fido unter dem Ein-Weg-Fenster der Jacke direkt auf sie gerichtet ist. Sie wissen, daß er das tut. Er weiß, daß sie es wissen, und hat das seinem Vorgesetzten gemeldet. Er runzelt die Stirn, als er Falco Accipiter zur Tür hereinkommen sieht. Legrand mag es nicht, wenn ein Agent einer anderen Abteilung sich in seine Fälle einmischt. Accipiter würdigt Legrand keines Blickes. Er bestellt ein Kännchen Tee, dann gibt er vor, eine Pille in den Teepott fallen zu lassen, die sich mit Tanninsäure zur Substanz S verbindet.

Rousseau Roter Falke winkt Chib zu und sagt: „Hältst du es wirklich für möglich, ganz LA mit nur einer Bombe lahmzulegen?“

„Drei Bomben“, sagt Chib so laut, daß Legrands Fido die Worte auch aufnehmen kann. „Eine im Kontrollzentrum der Desalinierungsfabrik, die zweite in der Ersatzkonsole, die dritte für den Nexus des großen Rohrs, das das Wasser zum Reservoir auf Ebene zwanzig befördert.“

Pinkerton Legrand erbleicht. Er kippt seinen Whisky hastig hinunter und bestellt einen neuen, obwohl er bereits zu viele intus hat. Er drückt einen Knopf an seinem Fido, um dreifache Top-Priorität zu übermitteln. Im HO blinken rote Lichter auf, ein Gong ertönt, und der Chef wacht so plötzlich auf, daß er vom Stuhl fällt.

Accipiter hört es gleichfalls, aber er bleibt starr, finster und brütend wie der Falke eines Pharaos sitzen. Als Monomane wird er sich nicht von Geschwätz aus der Fassung bringen lassen, ganz LA lahmzulegen, auch wenn es dann in die Tat umgesetzt werden sollte. Er ist auf Großpapas Spur, und er ist nur deshalb hier, weil er Chib als Schlüssel zum Haus benutzen will. Eine „Maus“ – wie er von seinen Kriminellen denkt –, eine „Maus“ wird zum Loch der anderen laufen.

„Wann glaubst du, können wir losschlagen?“ fragt Huga Wells-Erb Heinsturbury, die Science Fiction-Autorin.

„In etwa drei Wochen“, sagt Chib.

Im HO verflucht der Chef Legrand wegen der Störung. Es gibt Tausende junger Männer und Frauen, die mit derlei Verschwörungsplänen Dampf ablassen und die immerzu von Attentaten und Revolution reden. Er versteht gar nicht, weshalb die jungen Punks so reden, schließlich haben sie doch alles, was sie sich wünschen können. Wenn es nach ihm ginge, dann würde er sie ins Gefängnis werfen lassen und dann und wann – oder auch öfter – eine reintreten.

„Wenn wir es hinter uns haben, dann werden wir uns nach draußen absetzen müssen“, sagt Roter Falke mit glitzernden Augen. „Ich kann euch eines sagen, Jungs, als freier Mann in den Wäldern zu leben, das ist das Größte. Dort ist man ein eigenständiges Individuum, nicht ein Angehöriger der gesichtslosen Masse.“

Roter Falke glaubt an die Verschwörung zur Zerstörung LAs. Er ist glücklich, denn am Busen von Mutter Natur hat er sich, wenn er es auch nicht zugibt, nach intellektuellen Gesprächspartnern gesehnt. Die anderen Wilden können einen Hirsch auf hundert Meter hören und eine Klapperschlange im Gebüsch aufspüren, aber gegenüber den Schritten der Philosophie, dem Röhren von Nietzsche, dem Klappern von Rousseau und dem Bellen von Hegel sind sie einfach taub.

„Das unbelesene Schwein!“ sagt er laut. Die anderen sagen: „Was?“

„Nichts. Hört zu, ihr Jungs müßt wissen, wie herrlich es ist. Ihr wart doch beim WNAKK!“

„Ich war 4-F“, sagt Omar Runic. „Ich bekam Heuschnupfen.“

„Ich arbeitete an meinem vierten M. A.“, sagt Gibbon Facitus.

„Ich war bei der WNAKK-Band“, sagt Sibelius Amadeus Yehudi. „Wir kamen nur zum Spielen raus, und das war nicht oft.“

„Chib, aber du warst beim Korps. Und dir hat es doch gefallen, oder?“

Chib nickt, sagt dann aber: „Als Neoindianer braucht man seine ganze Zeit einzig fürs Überleben. Wann könnte ich malen? Und wer würde die Bilder ansehen, wenn ich doch Zeit hätte? Und außerdem ist das kein Leben für eine Frau oder ein Baby.“

Roter Falke schaut verletzt drein und bestellt einen Whisky mit S.

Pinkerton Legrand möchte die Übertragung nicht unterbrechen, aber er kann den Druck auf seiner Blase nicht mehr aushalten. Ergeht in den Raum, der als Gästeklo dient. Roter Falke, wegen der Ablehnung in gehässiger Stimmung, streckt ein Bein aus. Legrand sieht es, macht einen Ausfallschritt, stolpert aber doch. Benedictine stellt ihm ebenfalls ein Bein. Legrand stolpert auch darüber und fällt auf das Gesicht. Er hat nun keinen Grund mehr, aufs Klo zu gehen, es sei denn, um sich dort zu waschen.

Alle lachen, außer Legrand und Accipiter. Legrand springt mit geballten Fäusten auf. Benedictine achtet gar nicht auf ihn, sondern geht zu Chib hinüber. Ihre Freundinnen folgen. Chib erstarrt. Sie sagt: „Du perverser Scheißkerl! Du hast mir gesagt, du würdest nur den Finger nehmen!“

„Du wiederholst dich“, sagt Chib. „Wichtig ist allein, was soll aus dem Baby werden?“

„Was kümmert dich das?“ fragt Benedictine. „Nach allem, was du weißt, kann es überhaupt nicht deines sein!“

„Das ist eine große Erleichterung“, sagt Chib. „Wenn es nur so wäre. Wie auch immer, das Baby sollte selbst entscheiden können. Es möchte vielleicht leben – sogar mit dir als Mutter.“

„In diesem elenden Leben!“ schreit sie. „Ich werde ihm einen Gefallen tun! Ich gehe ins Krankenhaus und lasse es wegmachen! Deinetwegen geht meine große Chance beim Festival flöten! Es werden von überall her Agenten hier sein, und ich werde nicht die geringste Chance haben, für sie zu singen!“

„Du lügst“, sagt Chib. „Du bist ja schon zum Singen angezogen.“

Benedictines Gesicht ist rot, ihre Augen sind aufgerissen, ihre Nasenflügel beben.

„Du hast mir die ganze Freude verdorben!“

Sie brüllt: „He, Leute, wollt ihr mal’n echten Heuler hören? Dieser große Künstler hier, dieser Schrank von einem Mann, der göttliche Chib, der kann keinen Ständer kriegen, wenn er nicht einen abgelutscht bekommt!“

Chibs Freunde sehen einander an. Wovon schreit das Gör? Was ist daran Neues?

 

Aus Großpapas Privaten Ergüssen: Einige Züge der panamoritischen Religion, die im einundzwanzigsten Jahrhundert so verabscheut und abgelehnt wurden, sind heutzutage ins tägliche Leben übergegangen. Liebe, Liebe, Liebe, physisch und geistig! Es genügt nicht mehr, die eigenen Kinder nur zu herzen und zu küssen. Orale Stimulierung der Genitalien von Kindern durch erwachsene Onkel und Tanten oder Eltern hat zu einigen merkwürdigen konditionierten Reflexen geführt. Ich könnte ein Buch darüber schreiben, was ich wahrscheinlich auch tun werde.

 

Legrand kommt aus dem Waschraum. Benedictine schlägt Chib ins Gesicht. Chib schlägt zurück. Gobrinus klappt einen Teil der Bar nach oben und schwabbelt durch die Öffnung. Er ruft: „Poisson! Poisson!“

Er stößt mit Legrand zusammen, der gegen Bela rempelt, die schreit, herumwirbelt und Legrand schlägt, der zurückschlägt. Benedictine schüttet Chib ein Glas S ins Gesicht. Dieser springt heulend auf und schwingt die Fäuste. Benedictine duckt sich, so daß die Faust über ihren Kopf hinweg gegen die Brust einer Freundin prallt.

Roter Falke springt auf den Tisch und brüllt: „Ich bin eine legitime Bärenkatze, halb Alligator, halb …“

Was von einem Gravitationsfeld gehalten wird, kann kein großes Gewicht tragen. Der Tisch kippt und katapultiert ihn in die Mädchen. Alle gehen zu Boden. Sie beißen und kratzen Roter Falke, und Benedictine kneift ihm sogar in die Eier. Er schreit, wirbelt sich frei und schleudert Benedictine auf den Tisch. Dieser hat mittlerweile wieder seine normale Haltung angenommen, doch nun kippt er erneut, und sie fällt zur anderen Seite. Legrand, der sich auf Zehenspitzen zum Ausgang schleichen wollte, wird umgeschlagen. Er verliert einige Vorderzähne. Blut und Zähne spuckend, springt er auf und schlägt einen Danebenstehenden.

Gobrinus feuert mit einem Gewehr, das komprimierte Lichtblitze verschießt. Es soll die Streitenden blenden, damit sie wieder zu Verstand kommen, während sich ihre Sehkraft regeneriert. Es hängt in der Luft und scheint wie

 

DER STERN VON BETHLEHEM

 

Der Polizeichef unterhält sich über Fido mit einem Mann in einer öffentlichen Zelle. Der Mann hat den Bildteil abgestellt und macht seine Stimme unkenntlich.

„Im Privaten Universum vermöbeln sie sich nach allen Regeln der Kunst.“

Der Chef stöhnt. Das Festival hat kaum begonnen, und schon sind Sie wieder dran.

„Danke. Die Jungs sind unterwegs. Wie lautet Ihr Name? Ich würde Sie gerne für den Bürgerorden vorschlagen.“

„Was! Daß die mich auch noch in die Mangel nehmen! Ich bin kein Spitzel, ich tue nur meine Pflicht. Außerdem kann ich Gobrinus und seine Kunden nicht ausstehen. Elendes Snob-Pack!“

Der Chef gibt den Aufruhrtruppen Einsatzbefehl, dann lehnt er sich zurück und trinkt ein Bier, während er die Operation über Fido mitverfolgt. Was ist eigentlich mit diesen Leuten los? Immer regen sie sich über irgend etwas auf.

Die Sirenen heulen. Obwohl die Polizisten inzwischen mit völlig geräuschlosen, elektronisch gesteuerten Dreirädern fahren, müssen sie die Kriminellen traditionsgemäß immer noch vorzeitig über ihr Kommen informieren. Fünf Streifen fahren vor der Tür zum Privaten Universum vor. Die Polizisten steigen aus und unterhalten sich. Ihre zweistöckigen, zylinderförmigen Helme sind schwarz mit roten Verzierungen. Aus unerfindlichen Gründen tragen sie Brillen, obwohl ihre Fahrzeuge nicht schneller als 25 km/h fahren können. Ihre Jacken sind schwarz und zerzaust wie der Pelz eines Teddybären. Riesige goldene Epauletten dekorieren ihre Schultern. Die kurzen Hosen sind elektrisch-blau und fellbesetzt, die hohen Stiefel glänzen schwarz. Sie tragen elektrische Schockstöcke und Gewehre, die Tränengaskapseln verschießen.

Gobrinus versperrt den Eingang. Sergeant O’Hara sagt: „Kommen Sie, lassen Sie uns rein. Nein, ich habe keinen Hausdurchsuchungsbefehl, aber ich werde einen bekommen.“

„Wenn Sie den haben, dann lasse ich Sie rein“, versichert Gobrinus. Er lächelt. So sicher es ist, daß der rote Faden der Regierungsbürokratie zu verwickelt war, um ihn zu ermutigen, weiterhin legal um eine Konzession für seine Taverne nachzusuchen, so sicher ist es auch, daß die Regierung ihn in diesem Fall beschützen wird. Eindringen in die Privatsphäre ist ein hartes Vergehen.

O’Hara schaut ins Innere, wo zwei Gestalten am Boden liegen, wo viele die Köpfe oder Taillen halten und Blut abwischen und wo Accipiter über allem thront und ein Gesicht macht wie ein Geier, der von Aas träumt. Einer der Liegenden erhebt sich auf alle viere und kriecht zwischen Gobrinus’ Beinen hindurch ins Freie.

„Sergeant, verhaften Sie diesen Mann!“ sagt Gobrinus. „Er trägt ein illegales Fido bei sich. Ich klage ihn des Eindringens in meine Privatsphäre an.“

O’Haras Gesicht hellt sich auf. Wenigstens einen wird er verhaften können. Legrand wird in den Panzerwagen gesperrt, der kurz nach dem Krankenwagen ankommt. Roter Falke wird von seinen Freunden bis vor die Tür getragen. Als er auf einer Bahre zum Krankenwagen getragen wird, öffnet er die Augen und murmelt etwas.

O’Hara beugt sich über ihn. „Was?“

„Ich habe einmal nur mit dem Messer bewaffnet gegen einen Bären gekämpft, aber hinterher habe ich besser ausgesehen als mit diesen Fotzen da drinnen. Ich klage sie folgender Vergehen an: Überfall, Körperverletzung, Mordversuch und Verstümmelung.“

O’Haras Versuche, Roter Falke einen Haftbefehl unterschreiben zu lassen, sind zum Scheitern verurteilt, weil dieser schon wieder ohnmächtig geworden ist. Er flucht. Als es Roter Falke wieder bessergeht, weigert er sich zu unterschreiben. Er möchte nicht, daß ihm die Mädels und ihre Typen hinterherkommen, schließlich ist er ja noch bei Verstand.

Legrand schreit und tobt durch das Fenster des Panzerwagens: „Ich bin ein Gummint-Agent! Sie können mich nicht verhaften!“

Die Polizisten erhalten einen dringenden Ruf zur Front des Festivals, wo ein Kampf zwischen hiesigen Jugendlichen und Eindringlingen von Westwood zu einem Aufruhr zu werden droht. Benedictine verläßt die Taverne. Ungeachtet mehrerer Schläge gegen Schultern und Magen, eines Tritts in den Hintern und eines Hiebs auf den Kopf, zeigt sie wenig Anzeichen dafür, daß sie ihren Fötus verlieren wird.

Chib, halb glücklich, halb traurig, sieht ihr nach. Er verspürt einen dumpfen Kummer darüber, daß man dem Baby das Lebensrecht verweigern wird. Mittlerweile hat er erkannt, daß ein Teil seiner Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs mit der Tatsache zusammenhängt, daß er sich teilweise mit dem Fötus identifiziert. Er weiß etwas, von dem Großpapa annimmt, daß er es nicht weiß: daß seine eigene Geburt nämlich auch ein Unfall war – im glücklichen oder im unglücklichen Sinne. Wäre es anders gekommen, dann wäre er nicht geboren worden. Der Gedanke an seine Nichtexistenz – kein Malen, keine Freunde, kein Gelächter, keine Hoffnung, keine Liebe – entsetzt ihn. Seine Mutter – im Suff häufig außerstande, auf empfängnisverhütende Mittel zurückzugreifen – hatte viele Abtreibungen, und er hätte eine davon sein können.

Während er Benedictine nachsieht, wie sie davontorkelt (ungeachtet ihrer zerrissenen Kleider), fragt er sich, was er eigentlich in ihr gesehen hat. Ein Leben mit ihr, auch mit Kind, wäre alles andere als angenehm geworden.

 

Im von Hoffnungsnesten durchzogenen Munde

Fliegt die Liebe erneut und läßt sich nieder,

Gurrt, blitzt mit gefiederter Glorie, plustert sich auf

Und fliegt dann scheißend davon,

Wie es bei den Vögeln üblich ist,

Um dem Start mehr Rückstoß zu verleihen.

 

Omar Runic

 

Chib geht nach Hause, kann aber immer noch nicht in sein Zimmer gehen. Er geht ins Vorratszimmer. Das Bild dort ist zu sieben Achteln fertig, wurde aber nicht ganz beendet, weil er unzufrieden damit ist. Nun nimmt er es und transportiert es zu Runics Haus, das sich im gleichen Stock befindet. Runic ist im Zentrum, er läßt allerdings immer alle Türen offen, wenn er nicht zu Hause ist. Er verfügt über die Ausrüstung, mit der Chib sein Bild vollenden kann, wobei er mit einer Effizienz arbeitet, die ihm anfangs bei diesem Bild fehlte. Dann verläßt er Runics Haus, wobei er die riesige Leinwand über sich hält. Er geht an den Fußwegen und den gewundenen Streben mit den Ovalen am Ende vorbei. Er durchstreift mehrere Grünanlagen mit Bäumen, geht an weiteren Häusern vorbei und nähert sich nach zehn Minuten dem Herzen von Beverly Hills. Hier sieht der merkurische Chib

 

DREI BLEIERNE DAMEN IM GÜLDENEN
NACHMITTAGE

 

die in einem Kanu auf dem Lake Issus rudern. Maryam bint Jussuf, ihre Mutter und ihre Tante halten lustlos Angelgerten, während sie zu den grellen Farben, der Musik und der vor dem Folklorezentrum versammelten Menge hinübersehen. Inzwischen haben die Polizisten die Jugendbanden entfernt und stehen herum, um sicherzustellen, daß keiner mehr Arger macht.

Alle drei Frauen sind in die feierlichen, den ganzen Körper bedeckenden Kleider der mohammedanischen Wahhabi-Fundamentalistensekte gekleidet. Sie tragen allerdings keine Schleier, nicht einmal mehr die Wahhabi bestehen heute noch darauf. Ihre ägyptischen Schwestern am Ufer dagegen sind in moderne Gewänder gehüllt, beschämend und sündig. Trotzdem starren sie sie an.

Ihre Männer stehen an den Ausläufern der Menge. Sie sind wie die Scheichs der Fremdenlegion mit Bärten versehen und kostümiert, und sie zischen Verwünschungen und gurgelnde Proteste angesichts der würdelosen Zurschaustellung von Menschenfleisch. Doch auch sie starren gefesselt hin.

Diese kleine Gruppe wurde in den zoologischen Reservaten von Abbessinien gefaßt, wo man sie beim Zertrampeln von Blumen ertappte. Ihr Gummint ließ ihnen die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Gefangenschaft in einem Rehabilitationszentrum, wo man sie so lange behalten würde, bis anständige Bürger aus ihnen geworden wären, und, sollte es ihr ganzes Leben dauern, Emigration zur Megalopolis von Haifa, Israel. Oder Emigration nach Beverly Hills, LA.

Nun, unter den verfluchten Juden Israels ein karges Dasein fristen? Sie spien aus und entschieden sich für Beverly Hills. Und doch, Allah hatte ihrer gespottet! Nun waren sie umgeben von Finkelsteins, Applebaums, Siegels, Weintraubs und anderen nichtswürdigen Nachkommen des Stammes von Isaak. Schlimmer noch, Beverly Hills hatte nicht einmal eine Moschee. Entweder sie legten jeden Tag vierzig Kilometer zur Ebene sechzehn zurück, wo es eine Moschee gab, oder aber sie machten ihre Privatgemächer zur Moschee.

Chib hastet zum Rand des plastikgesäumten Sees, legt das Bild hin und zieht seinen etwas zerdrückten Hut. Maryam lächelt ihm zu – das Lächeln erlischt allerdings, als ihre beiden Anstandsdamen sie zur Ordnung mahnen.

„Ya kelb! Ya ihn kelb!“ rufen sie ihm zu.

Chib grinst sie an, schwenkt den Hut und sagt: „Gewiß entzückt, meine Damen. Oh, ihr drei Schönen erinnert mich an die Grazien.“

Und dann schreit er: „Ich liebe dich, Maryam! Ich liebe dich! Für mich bist du wie die Rose von Sharon. Wunderschön, klaräugig, jungfräulich! Eine Feste der Unschuld und Stärke, erfüllt von feuriger Mutterschaft und unerschütterlichem Glauben an die große Liebe! Ich liebe dich, du bist das einzige Licht an einem finsteren Firmament voller toter Sterne! Ich flehe dich über die Leere hinweg an!“

Maryam versteht Weltenglisch, aber der Wind verweht seine Worte. Sie lächelt einfältig, und Chib kann ein augenblickliches Gefühl des Zorns nicht unterdrücken, als wäre er verraten worden. Jedoch rappelt er sich noch einmal auf und ruft: „Ich lade dich ein, mit mir zur Ausstellung zu kommen! Du, deine Mutter und deine Tante, ihr werdet meine Gäste sein. Du kannst meine Gemälde ansehen, das Innere meiner Seele, und dann wirst du erkennen, welcher Mann dich auf dem Pegasus mit sich nehmen wird, mein Schwan!“

Es gibt nichts Lächerlicheres als die verbalen Ausflüsse eines jungen und verliebten Poeten. Unglaublich übersteigert. Ich lache. Aber gleichzeitig bin ich gerührt. So alt ich bin, ich erinnere mich doch noch an meine erste Liebe, das Feuer, die Wortströme, die wie Blitze herniederfuhren und aufschwingen entfleuchten. Liebste Gespielinnen, die meisten von euch sind tot, andere runzlig. Ich werfe euch meine Küsse zu.

Großpapa

 

Maryams Mutter steht im Kanu auf, einen Augenblick kann Chib sie im Profil sehen, und er sieht das Abbild des Falken, zu dem Mary am werden wird, wenn sie das Alter ihrer Mutter erreicht hat. Derzeit hat Mary am ein sanftes Habichtsgesicht – „der Hieb des Schwertes der Liebe“ hat Chib diese Nase genannt. Kühn und wunderschön. Aber ihre Mutter sieht wie ein schmutziger alter Adler aus. Und ihre Tante – unadlerhaft, aber etwas Kamelhaftes in den Zügen.

Chib unterdrückt die ungebührlichen, sogar verräterischen Vergleiche. Die drei bärtigen, berobten und ungewaschenen Männer, die ihn umzingelt haben, kann er allerdings nicht unterdrücken.

Chib sagt lächelnd: „Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben.“

Sie sehen ihn verständnislos an, da rasch gesprochenes Englisch mit LA-Akzent ein Kuddelmuddel für sie ist. Abu – allgemeiner Name für alle Ägypter in Beverly Hills – stößt einen Fluch hervor, der so uralt ist, daß er sogar den Bewohnern Mekkas vor Mohammed bekannt war. Er ballt die Faust. Ein anderer Araber geht auf das Bild zu und hebt einen Fuß, als wollte er dagegen treten.

In diesem Augenblick erkennt Maryams Mutter, daß es ebenso gefährlich ist, in einem Kanu zu stehen, wie auf einem Kamel. Noch schlimmer, denn die drei Frauen können nicht schwimmen.

Das kann auch der Araber mittleren Alters nicht, der Chib angreift, doch dessen Opfer zur Seite tritt und ihn dann mit ausholendem Schwung ins Wasser wirft, indem er ihm einen Tritt in den Hintern verpaßt. Einer der jungen Männer eilt auf Chib zu, der andere tritt gegen das Bild. Beide verharren, da die drei Frauen schreien und dann allesamt ins Wasser fallen.

Dann rennen die beiden ans Ufer des Sees, wo sie ebenfalls ins Wasser gehen, da Chibs beide Hände sie kräftig in den Rücken stoßen. Ein Ordnungshüter hört den Lärm, den die sechs verursachen, und eilt auf sie zu. Chib macht sich Sorgen, weil Maryam anscheinend Schwierigkeiten hat, sich über Wasser zu halten.

Chib versteht nicht, warum das allen so zu gehen scheint. Ihre Füße müssen den Grund berühren, das Kinn aller ist über der Wasseroberfläche. Trotzdem sieht Maryam aus, als würde sie untergehen. Die anderen auch, aber die interessieren Chib nicht. Er sollte zu Maryam schwimmen. Tut er das, muß er sich allerdings noch einmal umziehen, ehe er zur Ausstellung gehen kann.

Bei diesem Gedanken lacht er, er lacht laut und dann sogar noch lauter, als der Ordnungshüter ins Wasser springt, um die drei Frauen zu retten. Er nimmt sein Bild und geht lachend weiter. Doch noch bevor er am Zentrum ankommt, wird er wieder ernst.

„Wie kommt es nur, daß Großpapa so recht hatte? Wie kann er mich so treffend durchschauen? Bin ich ein Hitzeblitz und zu oberflächlich? Nein, ich war nur zu oft zu sehr verliebt. Kann ich etwas dafür, wenn ich die Schönheit liebe und die Schönen, die ich liebe, nicht genügend Schönheit haben? Mein Auge ist so kritisch, es verdrängt die Wünsche meines Herzens.“

 

DAS MASSAKER DES UNSCHULDIGEN

 

Die Eingangshalle (eine von zwölf), die Chib betritt, wurde von Großpapa Winnegan entworfen. Der Besucher betritt eine lange, gekrümmte Röhre, die mit Spiegeln in verschiedenen Winkeln gesäumt ist. Am Ende des Korridors sieht er eine dreieckige Tür. Das Tor scheint so klein, daß maximal ein Neunjähriger eintreten kann. Die Illusion erweckt in dem Besucher den Eindruck, an der Wand hochzugehen, während er weiterschreitet. Am Ende der Röhre ist der Besucher überzeugt, auf dem Dach zu stehen.

Doch das Tor wird beim Nähergehen immer größer, bis es schließlich riesig erscheint. Kommentatoren haben schon gemutmaßt, daß es sich hier um eine symbolische Präsentation der Pforte zur Kunst handelt. Man sollte auf dem Kopf stehen, ehe man das Wunderland der Ästhetik betreten darf.

Nach dem Hineingehen denkt der Besucher zunächst, daß der riesige Raum verkehrt, daß sein Inneres nach außen gekehrt ist. Er wird noch benommener. Die gegenüberliegende ferne Wand scheint eigentlich die nahe Wand zu sein, bis der Besucher sich neu orientiert hat. Manche können sich gar nicht daran gewöhnen und müssen wieder hinaus, wenn sie nicht ohnmächtig werden wollen.

Zur Rechten befindet sich ein Hutständer mit der Aufschrift HÄNGEN SIE IHREN KOPF HIER AUF. Ein doppelter Scherz von Großpapa, der seine Scherze für die meisten Menschen immer zu weit treibt. Aber wenn Großpapa die Grenzen des sprachlichen guten Geschmacks überschreitet, so hat sein Urenkel mit seinen Bildern bereits die Mondumlaufbahn hinter sich gelassen. Dreißig seiner letzten sind ausgestellt worden, darunter auch die letzten drei seiner Hundeserie: Hundestern, Der bunte Hund und Ein Kuß auf den Hund. Ruskinson und seine Schüler drohen, die Schau platzen zu lassen. Luscus und seine Herde lobpreisen, aber sie sind zurückhaltend. Luscus hat ihnen befohlen, erst dann voll auszupacken, nachdem er mit dem jungen Winnegan gesprochen hat. Die Fidomänner eilen emsig hin und her und versuchen, einen Streit vom Zaun zu brechen.

Der zentrale Raum des Gebäudes ist eine riesige Halbkugel mit heller Decke, die alle neun Minuten einmal alle Farben des Spektrums durchläuft. Der Boden ist ein übergroßes Schachbrett, im Zentrum eines jeden Feldes befindet sich das Gesicht eines hervorragenden Künstlers. Michelangelo, Mozart, Balzac, Zeuxis, Beethoven, Li Po, Twain, Dostojewski, Farmisto, Mbuzi, Cupel, Krischnagurti usw. Zehn Felder sind gesichtslos, so daß zukünftige Generationen ihre eigenen Anwärter für die Unsterblichkeit hinzufügen können.

Der untere Teil der Wand ist mit Fresken bemalt, die bedeutende Ereignisse im Leben der Künstler darstellen. Neun Bühnen befinden sich an der gekrümmten Wand, für jede der Musen eine. Über jeder Bühne residiert die Statue einer Gottheit. Sie alle sind nackt und haben überreife Figuren: große Brüste, breite Hüften, kräftige Beine, als hätte der Künstler sie für erdverbundene Göttinnen gehalten und nicht für abgeklärte Intellektuelle.

Die Gesichter sind im wesentlichen geformt wie die glatten und anmutigen Gesichter griechischer Göttinnen, aber um Mund und Augen herum haben alle einen rastlosen Ausdruck. Die Lippen lächeln zwar, scheinen aber jederzeit bereit, sich zu höhnischen Fratzen zu verziehen. Die Augen sind tief und drohend.

TREIBT KEINEN AUSVERKAUF MIT UNS, scheinen sie zu sagen. DENN SONST …

Über jeder Bühne befindet sich eine transparente Plastikkuppel, die verhindert, daß alle, die sich nicht unter dieser befinden, einen Laut hören können, was auch umgekehrt gilt.

Chib bahnt sich durch die lärmende Menge einen Weg zur Bühne der Polyhymnia, jener Muse, in deren Einflußbereich auch das Malen fällt. Er geht an der Bühne vorüber, auf der Benedictine steht und ihr bleiernes Herz in einem Strom goldener Noten überfließen läßt. Sie sieht Chib und schafft es irgendwie, ihn zornig anzufunkeln, gleichzeitig aber ihrem Publikum ein freundliches Gesicht zu wahren. Chib achtet nicht weiter auf sie, bemerkt aber, daß sie das in der Taverne zerrissene Kleid gewechselt hat. Er sieht aber auch, daß viele Polizisten in dem Gebäude stationiert sind. Die Menge ist aber kaum explosiver Stimmung. Alle scheinen glücklich bis ausgelassen zu sein. Aber die Polizisten wissen, wie trügerisch das sein kann. Ein Funke …

Chib geht an der Bühne von Calliope vorbei, wo Omar Runic rezitiert. Er steht vor der Polyhymnias, nickt Luscus zu, der ihm winkt, und befördert das Bild auf die Bühne. Es trägt den Titel Das Massaker des Unschuldigen (Untertitel: Der Hund in der Mangel).

Das Bild beschreibt einen Stall.

Der Stall ist eine Grotte mit seltsam geformten Stalaktiten. Das gebrochene Licht in der Höhle ist Chibs Rot. Es dringt in alle Objekte ein, verdoppelt seine Intensität und wird verstärkt wieder abgestrahlt. Der Besucher, der von einer Seite zur anderen geht, um sich ein vollständiges Bild zu machen, kann tatsächlich die vielen Lichtebenen erkennen, während er sich bewegt, und so kann er auch Gestalten unter der externen Gestalt ausmachen.

Die Kühe, Schafe und Pferde befinden sich in Ställen am Ende der Höhle. Einige sehen entsetzt zu Maria und dem Kind. Andere haben den Mund aufgerissen, offensichtlich, um Maria zu warnen. Chib hat sich die Legende zunutze gemacht, der zufolge die Tiere in jener Nacht sprechen konnten, als Christus geboren wurde.

Josef, ein müder alter Mann, der so zusammengekauert ist, daß er kein Rückgrat mehr zu besitzen scheint, sitzt in einer Ecke. Er hat zwei Hörner aufgesetzt bekommen, aber jedes hat einen Heiligenschein, also geht es in Ordnung.

Mary hat dem Strohbündel den Rücken gekehrt, wo eigentlich das Kind liegen müßte, während ein Mann durch eine Falltür von unten emporsteigt und ein großes Ei auf das Stroh legt. Er befindet sich in einer Höhle unter der Höhle und trägt moderne Kleidung, seine Miene ist bösartig, und er ist, wie Josef, so zusammengekauert, als hätte er kein Rückgrat. Hinter ihm hält eine dicke Frau, die Chibs Mutter seltsam ähnelt, das Kind in Händen, das der Mann ihr gegeben hat, ehe er das Findlingsei auf das Stroh legte.

Das Baby hat ein hübsches Gesicht, das vom Glühen des Heiligenscheins erhellt wird. Die Frau hat ihm den Heiligenschein vom Kopf genommen und benützt ihn, um das Kind damit zu schlachten.

Chib verfügt über ein ausgezeichnetes anatomisches Wissen, denn während seiner Studienzeit an der Uni von Beverly Hills hat er eine ganze Menge Leichen seziert, bis er seinen Doktortitel hatte. Der Körper des Kindes ist nicht unnatürlich in die Länge gezogen, wie das bei vielen Figuren von Chib der Fall ist. Er gleicht schon fast der Fotografie eines wirklichen Babys. Durch ein großes, blutiges Loch sind die Eingeweide zu sehen.

Die Zuschauer sind vor Entsetzen starr, als wäre dies nicht ein Gemälde, sondern ein wirkliches Kind, das sie verstümmelt und mit heraushängenden Eingeweiden beim Verlassen des Hauses auf ihrer Schwelle gefunden haben.

Das Ei hat eine halbtransparente Schale. Im gelben Dotter schwebt ein böser kleiner Teufel, Hörner, Hufe, Schwanz. Seine verschwommenen Züge erinnern an die von Henry Ford oder Onkel Sam. Wenn Betrachter sich von einem Bein aufs andere bewegen, dann tauchen die Züge weiterer Persönlichkeiten auf: Prominente der Entwicklung zur modernen Gesellschaft.

Vor dem Fenster drängen sich wilde Tiere, die zum Anbeten gekommen sind, doch nun schreien sie wortlos und entsetzt hinter der Scheibe. Die Tiere im Vordergrund gehören allen Arten an, die von den Menschen ausgerottet wurden oder nur noch in Zoos und Naturschutzgebieten überleben konnten. Die Dronte, der Blauwal, die Wandertaube, der Quagga, der Gorilla, der Orang-Utan, der Polarbär, der Puma, der Löwe, der Tiger, der Grizzlybär, der kalifornische Kondor, Känguruh, Wombat, Rhinozeros, Adler.

Im Hintergrund haben sich auf einem Hügel tasmanische Ureinwohner und haitische Indianer eingefunden.

„Wie lautet Ihre Meinung zu diesem bemerkenswerten Bild, Doktor Luscus?“ fragt ein Fidointerviewer.

Luscus lächelt und sagt: „Ich werde Ihnen in wenigen Minuten ein fachgerechtes Urteil abgeben können. Vielleicht sollten Sie sich zuerst mit Doktor Ruskinson unterhalten. Er ‚scheint sich bereits eine Meinung gebildet zu haben. Sie wissen ja, Kinder und Narren …“

Ruskinsons rotes Gesicht und seine Schreie werden über Fido übertragen.

„Die Scheiße geht um die ganze Welt“, sagt Chib laut.

„BELEIDIGUNG! RAMSCH! PLASTIKMIST! EIN SCHLAG INS ANGESICHT DER KUNST UND EIN TRITT IN DEN UNTERLEIB DER MENSCHHEIT! BELEIDIGUNG! BELEIDIGUNG!“

„Warum ist es denn so eine Beleidigung, Dr. Ruskinson? Weil es sowohl den christlichen wie auch den panamoritischen Glauben verspottet?“ fragt der Fidointerviewer. „Ich habe diesen Eindruck nicht. Mir scheint, daß Winnegan versucht, die Menschheit vor einem pervertierten Christentum zu retten, vielleicht vor allen Religionen und Idealen, die nur auf der Gier der Selbstbereicherung aufgebaut sind. Er will sagen, daß der Mensch im Grunde genommen ein Killer und Perverser ist. Selbstverständlich sehe nur ich das darin, aber ich bin schließlich nur ein biederer Angestellter und …“

„Überlassen Sie die Beurteilung den Kritikern, junger Mann!“ schnappt Ruskinson. „Haben Sie etwa einen zweifachen Doktortitel, einen in Psychiatrie und einen in Kunstgeschichte? Wurden Sie von der Regierung mittels Zertifikat als Kritiker zugelassen?

Winnegan, der überhaupt kein Talent hat, geschweige denn das Genie, das ihm gewisse dickschädelige Tunten bescheinigen, dieser Auswurf von Beverly Hills, stellt hier seinen Schrott aus – einen wertlosen Mischmasch, der einzig und allein wegen einer neuen Technik Aufsehen erregt hat, die jeder Elektronikspezialist hätte erfinden können. Ich bin betroffen darüber, daß eine so billige Neuheit, ein Taschenspielertrick, nicht nur weite Kreise der Öffentlichkeit, sondern auch so gutausgebildete und anerkannte Kritiker wie Dr. Luscus hier narren kann … obwohl es natürlich immer wieder Künstleresel geben wird, die so lauthals, pompös und verschwommen plärren, daß …“

„Ist es denn nicht so“, unterbricht ihn der Fidomann, „daß viele Maler, die wir heute zu den größten rechnen, beispielsweise Van Gogh, von ihren zeitgenössischen Kritikern verurteilt oder völlig mißachtet worden sind? Und …“

Der Fidomann, der darauf spezialisiert ist, um seiner Zuschauer willen Zorn zu erzeugen, verstummt. Ruskinson bläht sich auf, sein Kopf erinnert an ein kurz vor dem Aufplatzen stehendes Blutgefäß.

„Ich bin kein biederer Angestellter!“ schreit er. „Und ich kann nichts dafür, daß es auch schon in der Vergangenheit solche Luscusse gegeben hat! Ich weiß, wovon ich spreche! Winnegan ist nur ein Mikrometeorit am Himmel der Kunst, der es eigentlich nicht wert ist, den Großen der Malerei auch nur die Schuhe zu polieren. Sein Ruf wurde von einer gewissen Clique künstlich aufgebläht, so daß er nun in reflektiertem Glanz erstrahlt, die Hyäne, die die Hand beißt, welche sie füttert, kleine Hunde …“

„Bringen Sie Ihre Metaphern nun nicht ein wenig durcheinander?“ fragt der Fidomann.

Luscus nimmt Chib sanft bei der Hand und zieht ihn beiseite, wo sie außerhalb der Reichweite der Fidokameras sind.

„Liebling, Chib“, flötet er, „nun ist die Zeit gekommen, dich zu artikulieren. Du weißt, wie sehr ich dich liebe, nicht nur als Künstler, sondern um deiner selbst willen. Es muß dir doch mittlerweile unmöglich geworden sein, die tiefen Sympathievibrationen weiterhin zu mißachten, die sich ungehindert zwischen uns ausbreiten. Großer Gott, wenn du doch nur wüßtest, wie ich von dir geträumt habe, mein glorreicher, gottgleicher Chib …“

„Wenn Sie meinen, daß ich nun ja sage, weil Sie die Macht haben, meinen Ruf aufzubauen oder zu zerstören und mir die Unterstützung zu verweigern, dann haben Sie sich getäuscht“, sagt Chib. Er entzieht ihm die Hand.

Luscus’ sehendes Auge starrt ihn an. „Findest du mich denn unattraktiv?“ sagt er fassungslos. „Gewiß nicht aus moralischen Gründen …“

„Es geht ums Prinzip“, sagt Chib. „Selbst wenn ich Sie lieben würde, was nicht der Fall ist, würde ich es nicht zulassen, daß Sie mit mir ins Bett steigen. Ich möchte einzig aufgrund meines künstlerischen Stellenwertes beurteilt werden. Und da wir gerade dabei sind – das Urteil anderer ist mir völlig egal. Ich möchte weder von Ihnen noch von sonstwem Lobhudeleien oder Verwünschungen anhören. Schaut euch meine Bilder an und unterhaltet euch miteinander, ihr Schakale. Aber erwartet nicht, daß ich den Bildern zustimme, die ihr euch von mir macht.“

 

NUR EIN TOTER KRITIKER
IST EIN GUTER KRITIKER

 

Omar Runic hat seine Bühne verlassen und steht nun vor Chibs Bildern. Er legt eine Hand auf seine entblößte linke Brust, auf die ein Bild Herman Melvilles tätowiert ist. Den Ehrenplatz auf der rechten Brust nimmt Homer ein. Er brüllt laut, seine schwarzen Augen erinnern an Ofentüren, die von einer Explosion aufgerissen wurden. Wie schon oft zuvor, überkommt ihn beim Anblick von Chibs Bildern eine Inspiration.

 

„Nennt mich Ahab, nicht Ismael.

Denn ich habe den Leviathan gefangen.

Ich bin das Füllen des wilden Esels, den Menschen geboren.

Ho! Meine Augen haben alles geschaut!

Mein Busen gleicht einem Weinfaß ohne Spundloch.

Ich bin ein Meer mit Türen, die verschlossen sind.

Obacht! Die Haut wird reißen, und die Türen werden bersten!

 

Du bist Nimrod, sage ich zu meinem Freund Chib.

Die Stunde ist gekommen, da Gott zu seinen Engeln spricht:

Wenn er das schon am Anfang vollbringen kann,

So ist ihm nichts unmöglich.

Er wird vor den Pforten des Himmels

In sein Horn stoßen und verlangen nach

Dem Mond als Geißel, der Jungfrau zu seiner Frau,

Und er wird seinen Anteil verlangen vom Profit

Der Großen Hure von Babylon.“

 

„Bringt den Hurensohn zum Schweigen!“ brüllt der Direktor des Festivals. „Er wird einen Aufstand anzetteln so wie letztes Jahr auch!“ Die Ordnungshüter stürmen herein. Chib beobachtet Luscus, der sich mit einem Fidomann unterhält. Chib kann Luscus nicht hören, ist sich aber sicher, daß dieser keine Komplimente über ihn verbreitet.

 

„Schon lange vor meiner Geburt schrieb Melville.

Ich aber bin der Mann, der verstehen will

Das Universum, aber nach meinen Werten verstehen.

Ich bin Ahab, dessen Haß zerschellen und bröckeln muß.

 

Alle Hindernisse von Zeit, Raum und Thema,

Von Sterblichkeit müssen überwunden werden.

Ich bohre meinen Glühstrumpf in den Schoß der Schöpfung

Und schrecke auf in seiner Zuflucht,

Was immer Unbekanntes sich dort verbergen mag,

Fern, unnahbar, unenthüllt.“

 

Der Direktor bedeutet den Polizisten, Runic zu entfernen. Ruskinson brüllt immer noch, die Kameras schwenken aber abwechselnd zu Luscus und Runic. Eine der Jungen Rettiche, Huga Wells-Erb Heinsturbury, die Science Fiction-Autorin, wird von einer durch Runics Stimme verursachten Hysterie geschüttelt, die bald in Rachegelüste umschlägt. Sie wirft sich auf einen Fidomann von Time. Time ist schon lange kein Magazin mehr, weil es gar keine Magazine mehr gibt, sondern wurde zu einem von der Regierung subventionierten Kommunikationsbüro. Time ist ein Beispiel für die Linke-Hand-rechte-Hand-Hände-weg!-Politik von Onkel Sam, der Kommunikationsbüros mit allem bestückt, was sie brauchen, den Büroangestellten aber gleichzeitig erlaubt, die Politik des Büros selbst zu bestimmen. So lassen sich Regierungsunterstützung und Pressefreiheit auf einen Nenner bringen. In der Theorie ist das ausgezeichnet.

Time hat sich vieles von seiner ursprünglichen Politik bewahrt, und die lautete: Wahrheit und Objektivität müssen feinsinnigen Witzeleien geopfert werden, und Science Fiction ist in jedem Falle zu verreißen. Time hat fast alle Romane von Heinsturbury niedergemacht, und nun macht sie sich daran, für den Schmerz der ungerechten Besprechungen Rache zu nehmen.

 

Quid nunc? Cui bono?

Zeit? Raum? Materie? Unfall?

Wenn du stirbst … Hölle? Nirwana?

Nichts heißt, nichts zu denken.

Die Kanonen der Philosophie ballern.

Ihre Geschosse sind Blindgänger.

Die Munitionslager der Theologie werden

Vom Saboteur Vernunft gesprengt.

 

Nennt mich Ephraim, denn ich wurde gehalten,

Und das Ford Gottes konnte nicht die Zischlaute

Erzeugen, um mich durchzulassen.

Nun, ich kann Shibboleth nicht aussprechen,

Aber für Scheiße reicht es noch!“

 

Huga Wells-Erb Heinsturbury tritt den Fidomann von Time in die Eier. Er wirft die Arme in die Höhe und schleudert die footballförmige und footballgroße Kamera fort. Sie trifft einen Jugendlichen am Kopf. Der Jugendliche ist ein Junger Rettich, Ludwig Euterpe Mahlzart. Er ist wütend, weil sein vertontes Gedicht Entzündet den Stoff künftiger Höllen durchgefallen ist, daher ist bei ihm die Kamera der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Er schlägt dem obersten Musikkritiker eine in den fetten Wanst.

Huga, nicht der Mann von Times, schreit vor Schmerz laut auf. Ihre bloßen Zehen sind gegen den Plastikschutz geprallt, den der Mann bei solchen Anlässen immer trägt, weil ihm so etwas nicht zum ersten Mal passiert und er darauf bedacht ist, seine Genitalien zu schützen. Huga hüpft auf einem Fuß herum, während sie den verletzten anderen in den Händen hält.

Sie prallt gegen ein Mädchen, woraufhin es zu einer Kettenreaktion kommt. Ein Mann fällt gegen den Mann von Time, der sich gerade über seine Kamera gebeugt hat.

„Ahaaaa!“ schreit Huga, reißt dem Mann von Time den Helm vom Kopf und schlägt ihm mit der Kameraoptik auf den Schädel. Da die solide verarbeitete Kamera immer noch filmt, bekommen die Zuschauer daheim einige einzigartige, wenngleich auch ein wenig verschwommene Bilder zu sehen. Blut verbirgt einen Teil dieser Bilder, aber es ist nicht soviel, daß den Zuschauern etwas entgehen würde. Und dann bekommen sie noch einige ungeahnte Bilder zu sehen, während die Kamera ein zweites Mal durch die Luft fliegt und sich mehrfach dreht.

Ein Ordnungshüter hat ihr die Mündung seines Schockstabes in den Rücken gebohrt, so daß sie nun erstarrt und die Kamera in hohem Bogen hinter sich schleudert. Hugas derzeitiger Liebhaber ringt mit dem Bullen, sie wälzen sich am Boden. Ein Jugendlicher von Westwood nimmt den Schockstab auf und vertreibt sich die Zeit auf angenehme Weise, indem er die Erwachsenen ringsumher unter Feuer nimmt, doch dann wird er von einem hiesigen Jugendlichen aus den Socken gehoben.

„Aufstände sind das Opium des Volkes!“ ruft der Polizeichef. Er beordert alle Einheiten herein und gibt einen Ruf an den Polizeichef von Westwood durch, der allerdings seine eigenen Probleme hat.

Runic schlägt sich gegen die Brust und heult.

 

„Sir, ich existiere! Und erzählt mir nicht,

Wie Crane, daß dies allein Schöpfung bedeutet.

Keine Schmeicheleien für mich.

Ich bin ein Mann, ich bin einzigartig.

Ich habe das Brot aus dem Fenster geworfen,

In den Wein gepißt und den Stöpsel

Ganz unten in der Arche herausgezogen. Ich habe

Den Baum zu Feuerholz gefällt, und, gäbe es einen

Heiligen Geist, ich würde ihn fertigmachen.

Aber ich weiß, daß dies alles,

Gottverdammich, nichts bedeutet.

Nichts bedeutet nichts,

Ist ist ist, und nicht-ist ist nicht ist-nicht,

Eine Rose ist eine Rose,

Wir sind hier und werden nicht sein,

Und das ist alles, was wir wissen können!“

 

Ruskinson sieht Chib auf sich zukommen, krächzt und versucht zu fliehen. Chib nimmt die Leinwand von Dogmen einer Dogge und schlägt Ruskinson damit auf den Kopf. Luscus protestiert entsetzt, aber nicht wegen der möglichen Verletzungen Ruskinsons, sondern wegen des Schadens, den das Bild nehmen könnte. Chib wirbelt herum und rammt Luscus das Ende des ovalen Bildes in den Magen.

 

„Die Erde schlingert wie ein sinkendes Schiff,

Ihr Rücken bricht fast unter der Last

Der Exkremente von Himmel und Hölle,

Die Gott in Seiner schrecklichen Freigiebigkeit

Fallen ließ, als er Ahab schreien hörte:

Scheiße! Scheiße!

 

Ich weine bei dem Gedanken, daß dies der Mensch ist

Und dies sein Ende. Doch wartet!

Auf der Woge der Flut tanzt ein Dreimaster

Von überkommenem Äußeren. Der Fliegende Holländer!

 

Und auch Ahab steht wieder auf dem Deck eines Schiffes.

Lacht, ihr Schicksalsgöttinnen, und spottet, ihr Nornen!

Denn ich bin Ahab, und ich bin ein Mensch,

Und wenn ich auch kein Loch brechen kann

Durch die Wand dessen, Was erscheint,

Hinüber zu dem, Was ist, um eine Handvoll zu holen,

So werde ich doch weitergraben.

Meine Mannschaft und ich werden nicht aufgeben,

Wenn auch die Planken unter unseren Füßen bersten

Und wir sinken und ununterscheidbar werden vom

Allgegenwärtigen Exkrement.

 

Einen Augenblick, der ewig

Im Auge Gottes brennen wird, steht Ahab

Schattenhaft vor dem Leuchten des Orion,

Mit geballter Faust, ein blutiger Phallus,

Wie Zeus, der die Trophäe der Entmannung

Seines Vaters Kronos in Händen hält.

Doch dann kippt sein Schiff samt

Mannschaft und fällt Bug voraus über den

Rand der Welt. Und nach allem, was man hört,

Sind sie immer noch im F

a

l

l

e

n

 

Chib wird durch den Strahl eines elektrischen Aufruhrstabs von einem Bullen in eine zuckende Masse verwandelt. Während er sich davon erholt, hört er die Stimme seines Urgroßvaters im Sender in seinem Hut.

„Chib, komm rasch! Accipiter ist hier eingedrungen und versucht, durch die Tür meines Zimmers zu gelangen!“

Chib steht auf und drängt und erkämpft sich einen Weg zum Ausgang. Als er keuchend im Haus ankommt, muß er feststellen, daß die Tür zu Großpapas Zimmer offen ist. Accipiter steht zitternd und bleich in der Mitte. Die IRB-Männer und Elektrotechniker stehen im Flur. Chib stürmt in Großpapas Zimmer. Accipiter ist ein Bündel Nervosität. Er sieht Chib, weicht zurück und beteuert: „Es war nicht meine Schuld. Ich mußte hier eindringen. Nur so konnte ich Gewißheit erlangen. Es war nicht meine Schuld. Ich habe ihn nicht angerührt.“

Chibs Kehle ist wie zugeschnürt. Er kann nicht sprechen. Er kniet nieder und nimmt Großpapas Hand. Ein sanftes Lächeln umspielt Großpapas Lippen. Nun ist er Accipiter für immer entkommen. In der Hand hält er das letzte Blatt seines Manuskripts.

 

DURCH BALAKLAVAS DES HASSES

NÄHERN SIE SICH GOTT

 

Den größten Teil meines Lebens habe ich nur wenige Gläubige, dafür aber viele Gleichgültige gesehen. Aber ein neuer Geist macht sich breit. Viele junge Männer und Frauen haben nicht die Liebe zu Gott neu entdeckt, sondern eine tiefe Abneigung gegen Ihn. Das entzückt mich und gibt mir neuen Mut. Jugendliche wie mein Urenkel und Runic brüllen Lästerungen gegen Ihn hinaus, und damit verehren sie Ihn. Würden sie nicht glauben, so würden sie überhaupt nicht an Ihn denken. Nun kann ich endlich wieder hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.

 

DURCH DEN STYX ZU DEN STICKS

 

Chib und seine Mutter gehen schwarzgekleidet zum Röhreneingang nach Ebene 13 B. Diese ist weitläufig, erleuchtet, die Benutzung ist umsonst. Chib teilt dem Fahrkartenfido ihr Ziel mit. Hinter der Wand rechnet ein Proteincomputer, kaum größer als ein menschliches Gehirn, rasch alles durch. Dann fällt eine codierte Fahrkarte aus dem Schlitz. Chib nimmt das Ticket, dann gehen sie zum Bahnsteig, wo er das Ticket in einen Schlitz steckt. Dort kommt eine andere Karte heraus, und eine mechanische Stimme wiederholt die Informationen auf der Fahrkarte in Welt- und LA-Englisch, falls sie sie nicht entziffern können.

Gondeln schießen auf den Bahnsteig und bremsen. Sie schweben reifenlos auf einem ständig ausgeglichenen und ausbalancierten Gravitationsfeld. Sektionen des Bahnsteigs gleiten zurück, um Häfen für die Gondeln zu bilden. Die Passagiere steigen in die ihnen reservierten Käfige. Die Käfige gleiten nach vorn, ihre Türen öffnen sich automatisch. Die Passagiere besteigen die Gondeln. Sie setzen sich hin und warten, während die Sicherheitsgitter über ihnen einrasten. Aus den Vertiefungen der Karosserien steigen Plastikscheiben empor, die eine Halbkugel formen.

Die vollautomatischen und von Proteincomputern auf ihre Sicherheit überwachten Gondeln warten, bis der Bahnsteig frei ist. Wenn sie das Startsignal empfangen, dann setzen sie sich langsam in Bewegung und gleiten in die Röhre hinein. Dort verharren sie, während binnen Mikrosekunden eine weitere Überprüfung stattfindet. Dann schießen sie rasch in die Röhre hinein.

Wusch! Wusch! Andere Gondeln passieren. Die Röhre glüht gelblich, als wäre sie mit elektrifiziertem Gas gefüllt. Die Gondel beschleunigt rasch. Einige überholen zwar noch, aber Chibs Gondel wird schließlich so schnell, daß keine andere mehr mithalten kann. Das Heck einer Gondel vor ihm ist wie eine schimmernde Scheibe, die er erst dann einholen kann, wenn sie bremst und in ihren Zielbahnhof einläuft. Es sind nicht viele Gondeln in der Röhre. Die Nord-Süd-Route ist, ungeachtet der nach 100 Millionen zählenden Bevölkerung, nur wenig befahren. Die meisten Bewohner LAs bleiben in den Wänden ihrer Wohnungen. In den Ost-West-Röhren ist der Verkehr etwas dichter, da viele die öffentlichen Badestrände am Meer den kleinen Swimming-pools vorziehen.

Das Fahrzeug schießt dröhnend nach Süden. Nach wenigen Minuten verläuft die Röhre plötzlich abwärts, in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Horizontalen geneigt. Ebene um Ebene bleibt zurück.

Chib kann die Menschen und die Architektur anderer Städte durch die transparenten Wände erkennen. Ebene 8, Long Beach, ist interessant. Die Häuser sehen wie aufeinandergeschichtete Kuchenplatten aus Quarz aus, eine auf der anderen, offenes Ende auf offenem Ende, die Einheit ist auf einer Säule mit geschnitzten Gestalten errichtet, die Zufahrtsstraße ist eine freischwebende Strebe.

Auf Ebene 3 A verläuft die Röhre wieder eben. Nun rast die Gondel an Besitzungen vorbei, angesichts deren Anblick Mama die Augen schließen muß. Chib drückt die Hand seiner Mutter und denkt an den Halbbruder und die Vettern und Kusinen, die sich hinter dem gelblichen Kunststoff befinden. In dieser Ebene sind fünfzehn Prozent der Bevölkerung untergebracht, die Zurückgebliebenen, die unheilbar Irrsinnigen, die zu Häßlichen, die Monstrositäten, die Altersschwachen und Senilen. Dort drängen sie sich zusammen, die leeren, ausdruckslosen oder verzerrten Gesichter gegen die Wandungen der Röhren gepreßt, um die schönen Gondeln vorüber schweben zu sehen.

 

Eine „humanitäre“ Medizin hält alle Babys am Leben, die eigentlich – nach dem Willen der Natur – sterben sollten. Seit dem zwanzigsten Jahrhundert werden Menschen mit defekten Genen am Leben erhalten. Daher können diese Gene sich auch ungehindert ausbreiten. Das Tragische ist, daß die Wissenschaft inzwischen soweit ist, daß defekte Gene in Ovum und Sperma korrigiert werden können. Theoretisch könnten alle Menschen mit völlig gesunden Körpern und physisch perfekten Gehirnen gesegnet sein. Das Problem ist jedoch, daß wir nicht genügend Ärzte haben, um mit der Geburtenrate fertig zu werden, obwohl diese Rate ständig weiter sinkt.

Die Medizin hält die Menschen auch so lange am Leben, daß sie hoffnungslos senil werden. Daraus resultiert eine immer größer werdende Anzahl sabbernder, hirnloser Narren. Gleichzeitig eine ständig zunehmende Zahl von Geisteskrankheiten. Es gäbe genügend Therapien und Drogen, um die meisten davon wieder zum „Normalzustand“ zurückzubringen, aber bei weitem nicht genug Ärzte und Räumlichkeiten. Eines Tages ist das vielleicht anders.

Was sollen wir jetzt tun? Die alten Griechen setzten kranke Kinder in den Feldern aus, damit sie starben. Die Eskimos schickten ihre Alten auf Eisschollen auf die Reise. Sollen wir unsere abnormen Kinder und Alten vergasen? Manchmal halte ich das für die gnädigste Methode. Aber ich kann von niemandem verlangen, daß er den Knopf drückt, den ich selbst niemals drücken würde.

Ich würde den ersten erschießen, der danach greift.

aus Großpapas Privaten Ergüssen

 

Die Gondel nähert sich einer der seltenen Kreuzungen. Die Passagiere sehen der breiten Röhre zu ihrer Rechten in den Rachen. Ein Expreß rast auf sie zu, ragt vor ihnen auf. Kollisionskurs. Sie wissen es besser, können aber nicht verhindern, daß sie das Sicherheitsgitter umklammern, mit den Zähnen knirschen und die Beine einziehen. Mama kreischt sogar leise. Dann donnert das Fahrzeug über ihnen dahin, das Kreischen der Luft wie das einer armen Seele auf dem Weg zur Verbannung in die Unterwelt.

Die Röhre sinkt wieder, bis sie schließlich auf Ebene 1 ausläuft. Sie sehen das Rund unter ihnen und die massiven, selbstregulierenden Stützpfeiler, auf denen die Megalopolis ruht. Sie überfliegen eine kleine Stadt, die das LA des einundzwanzigsten Jahrhunderts als Museum bewahrt hat, eine von vielen unter der Röhre.

Fünfzehn Minuten nach dem Start erreichen die Winnegans ihr Ziel. Ein Fahrstuhl bringt sie zum Boden, wo sie in eine große schwarze Limousine einsteigen. Diese wurde von einem privaten Verleih zur Verfügung gestellt, da Onkel Sam beziehungsweise die Regierung von LA zwar eine Verbrennung, nicht aber ein althergebrachtes Begräbnis bezahlt. Die Kirche beharrt nicht mehr auf traditionellen Begräbnissen, sondern überläßt es den Religionsanhängern, zwischen den verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, als Asche vom Winde verweht oder als Leiche unter dem Boden beerdigt zu werden.

Die Sonne hat den halben Weg zum Zenit zurückgelegt. Mama bekommt Schwierigkeiten mit dem Atmen, ihre Arme und ihr Nacken werden rot und aufgeschwollen. Dreimal war sie bisher außerhalb der Stadt, und dreimal wurde sie auch von dieser Allergie befallen. Chib tätschelt ihre Hand, während sie über eine schlecht gepflasterte Straße fahren. Das archaische achtzigjährige Fahrzeug, das von einem Elektromotor angetrieben wird, fährt allerdings nur im Vergleich zu der Gondel holpernd. Es legt die zehn Kilometer bis zum Friedhof mit Höchstgeschwindigkeit zurück und hält nur einmal an, um einen Hirsch passieren zu lassen.

Vater Fellini begrüßt sie. Er ist in Nöten, da er gezwungen ist, den Anverwandten mitzuteilen, daß Großpapa in den Augen der Kirche ein Sakrileg begangen hat. Die Leiche eines anderen Mannes gegen die eigene einzutauschen, eine Messe über ihr lesen und sie in geweihter Erde begraben zu lassen – das ist Blasphemie. Mehr noch, Großpapa starb als ein Verbrecher ohne Reue. Wenigstens legte er, nach Wissen der Kirche, vor seinem Tod keine Beichte ab.

Chib hat mit dieser Weigerung gerechnet. St. Marys von BH-14 hat sich geweigert, die nötigen Formalitäten für Großpapa zu erledigen. Aber Großpapa hatte immer gesagt, daß er neben den Ahnen begraben werden wollte, und Chib wird sicherstellen, daß ihm dieser Wunsch auch erfüllt wird.

Chib sagt: „Ich werde ihn selbst begraben! Direkt am Rand des Friedhofes!“

„Das können Sie nicht tun!“ sagen der Priester, die Angestellten des Bestattungsinstitutes und der Bundesbeamte wie aus einem Munde.

„Und ob ich kann! Wo ist die Schaufel?“

Da erst sieht er das dünne, dunkle Gesicht und die falkoforme Nase von Accipiter. Der Agent überwacht die Ausgrabung von Großpapas (erstem) Sarg. In der Nähe stehen mindestens fünfzig Fidomänner, die mit ihren Minikameras filmen, wobei die Sender einige Dekameter neben ihnen schweben. Großpapa steht im Zentrum des Interesses, wie es dem Letzten Milliardär und dem Größten Verbrecher des Jahrhunderts auch zusteht.

Fidointerviewer: „Mr. Accipiter, würden Sie uns einige Worte zur Erklärung abgeben? Ich übertreibe wohl kaum, wenn ich Ihnen sage, daß mindestens zehn Milliarden Menschen diesem historischen Ereignis zusehen. Schließlich wissen ja sogar schon die Vorschulkinder über Win-again Winnegan Bescheid.

Wie fühlen Sie sich jetzt? Sie haben schon seit sechsundzwanzig Jahren mit dem Fall zu tun. Der erfolgreiche Abschluß muß Ihnen doch eine große Befriedigung sein.“

Accipiter (ohne zu lächeln und so säuerlich wie Zitronensaft): „Nun, ich habe diesem Fall selbstverständlich nicht meine volle Aufmerksamkeit gewidmet. Alles in allem vielleicht maximal drei Jahre. Aber da ich mich jeden Monat mindestens ein paar Tage darum gekümmert habe, könnte man durchaus sagen, daß ich bereits seit sechsundzwanzig Jahren auf Winnegans Spur bin.“

Interviewer: „Man sagt, daß der Abschluß dieses Falles auch gleichzeitig das Ende des IRB bedeutet. Wenn wir nicht falsch informiert wurden, dann wurde das IRB allein wegen Winnegan noch weiter geführt. Sie hatten in dieser Zeit selbstverständlich auch noch andere Dinge zu tun, aber das Aufspüren von Betrügern und Spielern, die ihr Einkommen nicht richtig gemeldet haben, wurde doch inzwischen an andere Ämter übertragen. Ist das richtig? Und was haben Sie nun vor?“

Accipiter (dessen Stimme ein funkelnder Kristall verschiedener Emotionen ist): „Ja, das IRB wird aufgelöst. Aber erst nachdem der Fall gegen Winnegan und seine Enkelin nebst deren Sohn abgeschlossen ist. Sie haben ihn verborgen, und daher sind sie der Mittäterschaft schuldig.

Eigentlich sollte man die gesamte Bevölkerung von Beverly Hills, Ebene vierzehn, mit anklagen. Ich weiß, was ich leider nicht beweisen kann, daß jeder, sogar der honorige Polizeichef, gewußt hat, daß Winnegan sich in jenem Haus verbarg. Sogar Winnegans Priester wußte es, da er gelegentlich zur Messe und Beichte ging. Der Priester versicherte, er habe Winnegan immer angehalten, sich freiwillig zu stellen, erst dann wollte er ihm die Absolution erteilen.

Aber Winnegan, einer der härtesten Kriminellen, der mir je untergekommen ist, weigerte sich. Er behauptete, daß er kein Verbrechen begangen habe, sondern daß, ob Sie es glauben oder nicht, eigentlich Onkel Sam der Verbrecher sei. Man stelle sich nur den Eigendünkel und die Anmaßung dieses Mannes vor!“

Interviewer: „Aber sicher werden Sie doch nicht die gesamte Bevölkerung von Beverly Hills einsperren wollen?“

Accipiter: „Davon hat man mir abgeraten.“

Interviewer: „Haben Sie vor, sich nach Abschluß dieses Falls zur Ruhe zu setzen?“

Accipiter: „Nein. Ich werde zum Dezernat für Kapitalverbrechen in Groß-LA überwechseln. Mord aus Profitgier existiert fast nicht mehr, aber Gott sei Dank gibt es ja immer noch Verbrechen aus Leidenschaft!“

Interviewer: „Aber wenn der junge Winnegan den Prozeß gegen Sie gewinnt – seine Anklage lautet auf Eindringen in die Privatsphäre, illegalen Einbruch in sein Haus und direkte Herbeiführung des Todes seines Großvaters –, dann werden Sie wahrscheinlich nicht zum Dezernat für Kapitalverbrechen gehen und auch zu keiner anderen Polizeistelle.“

Accipiter (dessen Stimme ein funkelnder Kristall verschiedener Emotionen ist): „Kein Wunder, daß wir Gesetzeshüter einen so schweren Stand haben! Nicht nur sind manchmal ganze Ortschaften Mittäter eines Verbrechens, sondern auch meine Vorgesetzten scheinen auf deren Seite zu stehen …“

Interviewer: „Möchten Sie die letzte Bemerkung gerne weiter ausführen? Ich bin sicher, alle Ihre Vorgesetzten sehen derzeit zu. Nein? Soweit ich informiert bin, soll die Verhandlung in Ihrem Fall gleichzeitig mit der Winnegans stattfinden. Wie wollen Sie es anstellen, bei beiden anwesend zu sein? He, he, einige Fidosender nennen Sie bereits den Simultanmenschen!“

Accipiter (mit finsterem Gesicht): „Dafür ist so ein Idiot von einem Beamten verantwortlich. Er hat die Daten falsch in den Rechtscomputer eingegeben. Dann hat er oder sonstwer den Fehlerlöschkreis ausgeschaltet, woraufhin der Computer durchbrannte. Man vermutet, daß der Beamte diesen Fehler absichtlich gemacht hat – es ist nebenbei meine Vermutung, und der Idiot kann mich gerne verklagen, wenn er sich traut –, aber es gibt viele Fälle wie diesen und …“

Interviewer: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Hergang dieses Falles für unsere Zuschauer etwas aufzuhellen? Aber bitte nur die Höhepunkte.“

Accipiter: „Nun, äh, wie Sie wissen, wurden vor etwa fünfzig Jahren alle Gesellschaften in Privathand in staatliche Ämter umgewandelt. Alle – mit der Ausnahme der Baufirma Finnegan in dreiundfünfzig Staaten, deren Präsident Finn Finnegan war. Er war der Vater des Mannes, der heute – irgendwo – begraben werden soll.

Gleichzeitig wurden alle Gewerkschaften – wieder mit Ausnahme der größten, der Baugewerkschaft – aufgelöst oder zu Regierungsgewerkschaften umfunktioniert. In diesem einen Fall waren Unternehmen und Gewerkschaft nämlich eins, da alle Angestellten fünfundneunzig Prozent des Firmenkapitals zu etwa gleichen Teilen unter sich aufteilten. Der alte Finnegan war gleichzeitig der Gesellschaftsvorstand und der Sekretär und Geschäftsführer der Gewerkschaft.

Auf Biegen und Brechen konnte diese Firmengewerkschaft sich der Enteignung widersetzen – mit gehörig krummen Mitteln, wie ich vermute. Über Finnegans Methoden wurden Untersuchungen angestellt: Erpressung und Bestechung von US-Senatoren und sogar des Obersten Gerichtshofs. Aber natürlich konnte man nichts davon beweisen.“

Interviewer: „Zum Nutzen unserer Zuschauer, die vielleicht nur über ein verschwommenes geschichtliches Wissen verfügen: Auch vor fünfzig Jahren wurde Geld nur noch zum Austausch nichtgarantierter Waren verwendet. Seine andere Rolle war, wie heute, die eines Index von Prestige und gesellschaftlicher Stellung. Die Regierung dachte sogar einmal daran, das Geld vollkommen abzuschaffen, doch eine Studie zeigte dann deutlich, welchen großen psychologischen Wert es hatte. Auch die Einkommensteuer wurde beibehalten, obwohl die Regierung keine Verwendung mehr für Steuergelder hatte, denn die Höhe der Einkommensteuer eines Mannes war ebenfalls eine Prestigesache, und außerdem konnte die Regierung auf diese Weise dem Zirkulationsprozeß große Mengen Geld entziehen.“

Accipiter: „Wie dem auch sei, als der alte Finnegan starb, verstärkte die Regierung den Druck auf die Gesellschaft, um die Bauarbeiter und Angestellten als Beamte zu übernehmen. Aber der junge Finnegan erwies sich als ebenso hinterlistig und verschlagen wie sein alter Herr. Ich will damit allerdings nicht sagen, daß die Tatsache, daß sein Onkel zur damaligen Zeit Präsident der Vereinigten Staaten war, auch nur das geringste mit seinem Erfolg zu tun hatte.“

Interviewer: „Der junge Finnegan war siebzig Jahre alt, als sein Vater starb.“

Accipiter: „Während des Tauziehens, das viele Jahre andauerte, beschloß Finnegan, sich in Winnegan umbenennen zu lassen, ein Wortspiel mit Win Again. Er scheint ein kindliches, fast närrisches Vergnügen an Wortspielen gehabt zu haben, und ich verstehe es nicht. Die Wortspiele, meine ich.“

Interviewer: „Für unsere nichtamerikanischen Zuschauer, die den Brauch des Namenstages vielleicht nicht kennen … dieser wurde von den Panamoriten erschaffen. Wenn ein Bürger ein bestimmtes Alter erreicht, dann wird ihm das Recht zugestanden, sich selbst einen neuen Namen auszusuchen, der seinem Temperament oder seinen Zielen im Leben angemessener ist. Ich möchte an dieser Stelle gerne darauf hinweisen, daß Onkel Sam, dem man ungerechterweise immer wieder vorwirft, er würde unter seinen Bürgern für Konformismus sorgen, diesen individualistischen Zug durchaus gutheißt. Und das ungeachtet des ständig steigenden Aktenberges, den die Regierung dadurch zu bewältigen hat.

Ich möchte aber auch auf etwas anderes Interessantes hinweisen. Die Regierung behauptete, daß Großpapa Winnegan geisteskrank gewesen sei. Meine Zuhörer werden es mir hoffentlich verzeihen, wenn ich mir einen Augenblick Zeit lasse, um den Grund von Onkel Sams Behauptung zu erläutern. Nun, für all jene unter Ihnen, die nicht mit einem der großen Klassiker der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts vertraut sind: Die Rede ist von Finnegans Wake, und der Verfasser, James Joyce, entnahm den Titel einem alten Vaudeville-Song.“

(Wird halb ausgeblendet, während der Ansager kurz die Bedeutung des Wortes „Vaudeville“ erklärt.)

„Das Lied handelte von Tim Finnegan, einem irischen Trunkenbold, der betrunken von einer Leiter fiel und für tot gehalten wurde. Während der Totenwache, die in Irland üblich ist, wurde die Leiche versehentlich mit Whiskey bespritzt. Finnegan spürt die Berührung des Whiskeys, des ‚Wassers des Lebens’, und richtet sich auf, dann klettert er aus dem Sarg und tanzt und trinkt wieder mit den Trauernden.

Großpapa behauptete immer, daß dieses Lied auf Wahrheit beruhte, da man einen guten Mann nicht unterdrücken oder niederhalten kann, und daß der originale Tim Finnegan sein Vorfahre gewesen ist. Diese irrsinnige Behauptung wurde von der Regierung gegen Winnegan verwendet.

Winnegan jedoch brachte Dokumente bei, welche seine Behauptung erhärteten. Später – zu spät – erwiesen sich diese Dokumente als Fälschungen.“

Accipiter: „Der Fall Regierung gegen Winnegan wurde zusätzlich durch die Sympathie der öffentlichen Meinung unterstützt, die ganz auf Seiten der Regierung stand. Bürger beschwerten sich, die Praktiken der Firmengewerkschaft seien undemokratisch und diskriminierend. Die Angestellten und Arbeiter erhielten vergleichsweise hohe Löhne, während Normalbürger sich mit dem Einheitseinkommen zufriedengeben mußten. Daher wurde Winnegan vor ein Gericht gestellt, dies selbstverständlich völlig zu Recht und rechtens, und zahlreicher Verbrechen angeklagt, unter denen sich unter anderem auch Subversion der Demokratie befand.

Da er das Unausweichliche sah, kappte Winnegan seine Karriere als Krimineller. Er schaffte es irgendwie, zwanzig Milliarden Dollar aus den Tresoren des Bundes zu stehlen. Diese Summe entsprach übrigens der Hälfte des in Umlauf befindlichen Geldes in Groß-LA. Winnegan verschwand mit dem Geld, das er nicht nur gestohlen, sondern für das er nicht einmal Einkommensteuer bezahlt hatte. Ich kann nicht verstehen, warum so viele Leute das Bild dieses Schwerverbrechers so verklärt haben. Ich habe sogar schon Fidofilme gesehen, in denen er als der strahlende Held auftrat – selbstverständlich fadenscheinig unter falschem Namen verborgen.“

Interviewer: „Ja, Leute, Winnegan beging das Verbrechen des Jahrhunderts. Und obwohl er schlußendlich gefaßt wurde und heute irgendwo begraben werden soll, ist der Fall irgendwie immer noch nicht abgeschlossen. Die Bundesregierung allerdings sagt, daß er doch abgeschlossen ist. Wo aber sind die zwanzig Milliarden Dollar?“

Accipiter: „Das Geld hat heutzutage keinen Wert mehr, außer natürlich als Sammlerstücke. Kurz nach dem Diebstahl zog die Regierung alle in Umlauf befindlichen Geldscheine ein und ließ neue drucken, die nicht mit den alten verwechselt werden konnten. Die Regierung hatte damals etwas Ähnliches schon lange vorgehabt, da der Geldumlauf unnatürlich aufgebläht war – daher wurde auch nur die Hälfte des eingezogenen Geldes wieder ausbezahlt.

Ich würde aber trotzdem zu gerne wissen, wo das Geld ist, und ich werde nicht eher ruhen, bis ich es gefunden habe. Ich werde weitersuchen, selbst wenn ich es in meiner Freizeit tun muß.“

Interviewer: „Wenn der junge Winnegan seinen Fall gewinnt, dann werden Sie dazu jedenfalls genügend Zeit haben. Tja, Leute, wie die meisten von Ihnen sicher wissen, wurde die Leiche Winnegans etwa ein Jahr nach seinem Verschwinden in einer der unteren Ebenen von San Francisco gefunden. Seine Enkelin identifizierte den Leichnam, und Fingerabdrücke, Retinaabdrücke, Zahnabdrücke, Blutgruppe, Haartyp und ein Dutzend anderer Merkmale stimmten ebenfalls überein.“

Chib, der zugehört hat, ist der Meinung, daß Großpapa mehrere Millionen des gestohlenen Geldes aufgewendet haben muß, um das zu bewerkstelligen. Er weiß es nicht bestimmt, vermutet aber, daß ein Forschungslabor irgendwo auf der Welt den Doppelgänger in einem Biotank gezüchtet hat.

Das geschah zwei Jahre nach Chibs Geburt. Sein Großpapa zeigte sich zum ersten Mal, als Chib fünf Jahre alt war. Er kam herein und ließ Mama nichts davon wissen, daß er wieder zurückgekehrt war. Chib war der einzige Mitwisser. Selbstverständlich war es Großpapa unmöglich, von Mama gänzlich unbemerkt zu bleiben, und doch bestand sie darauf, ihn niemals gesehen zu haben. Chib hielt das für eine Vorsichtsmaßnahme, um jede eventuelle Mitwisserschaft an dem Verbrechen abzuwälzen. Sicher war er aber nicht. Vielleicht hatte sie seine „Erscheinungen“ auch völlig aus ihrem Geist verdrängt. Für sie war das einfach, da sie nie wußte, ob es Dienstag oder Donnerstag war, und sie Schwierigkeiten hatte zu sagen, in welchem Jahr sie lebte.

Chib ignoriert die Leichenbestatter, die sich erkundigen, was sie mit dem Leichnam anfangen sollen. Er geht zum Grab hinüber. Die Spitze des ovalen Sarges ist bereits zu erkennen. Der lange Rüssel der Grabemaschine zerbröselt das Erdreich mit Ultraschall und saugt es dann ab. Accipiter durchbricht seine lebenslange Beherrschung, lächelt und reibt sich die Hände.

„Tanzen Sie doch noch ein wenig, Sie Hurensohn“, sagt Chib, und seine Wut ist die einzige Barriere vor den Tränen und dem Weinen, das in ihm aufsteigt.

Nun ist das Erdreich um den Sarg soweit geklärt, daß die Greif arme der Maschine fassen können. Diese senken sich, haken ein und heben den schwarzen Plastiksarg mit seinen unechten Silberbeschlägen empor. Chib sieht den IRB-Männern zu, die den Sarg öffnen, und möchte etwas sagen, schweigt dann aber. Er betrachtet sie intensiv und mit zum Sprung durchgedrückten Knien. Die Fidomänner kommen näher, ihre augapfelförmigen Kameras betrachten die Gruppe um den Sarg.

Der Deckel öffnet sich ächzend. Ein lauter Knall ertönt. Dichter, schwarzer und undurchdringlicher Rauch kräuselt empor. Accipiter und seine Männer taumeln schwarz und mit weit aufgerisssenen weißen Augen aus der Wolke heraus. Die Fidomänner fliehen in alle möglichen Richtungen und versuchen, ihre Kameras zu retten. Diejenigen, die weit genug entfernt sind, können erkennen, daß die Explosion am Boden des Grabes stattfand. Nur Chib weiß, daß das Öffnen des Sargdeckels den Sprengsatz im Grab zur Explosion gebracht hat.

Er ist auch der erste, der zum Himmel emporblickt, wo ein Projektil in die Wolken schießt, weil er als einziger damit gerechnet hat. Die Rakete steigt etwa einhundertfünfzig Meter empor, während die Fidomänner ihre Kameras auf sie richten, dann platzt sie und entfaltet ein Banner zwischen zwei runden Objekten. Die Objekte dehnen sich aus und werden zu Luftballons, das Banner dagegen faltet sich zu voller Größe auf.

Auf dem Stoff steht mit großen schwarzen Buchstaben:

 

WINNEGANS FAKE!{4}

 

Zwanzig Milliarden Dollar, die unter dem angeblichen Grab verborgen waren, brennen lichterloh. Einige Scheine werden emporgewirbelt und vom Wind davongeweht, während IRB-Männer, Fidomänner und die Angestellten des Bestattungsinstitutes hinterherjagen.

Accipiter sieht aus, als erleide er einen Schlaganfall.

Chib weint, dann lacht er und wälzt sich auf der Erde.

Großpapa hat Onkel Sam wieder ein Schnippchen geschlagen, und gleichzeitig hat er sein letztes Wortspiel so angebracht, daß alle Welt es sehen kann.

 „Oh, mein alter Herr!“ schluchzt Chib zwischen Lachsalven. „Oh, mein alter Herr! Wie ich dich liebe!“

Während er sich noch so heftig auf dem Boden wälzt, daß seine Rippen schmerzen, spürt er plötzlich ein Stück Papier in der Hand. Er fängt sich und sieht dem Mann hinterher, der es ihm gegeben hat. Der Mann sagt: „Ich wurde von Ihrem Großvater bezahlt, daß ich es Ihnen bei seiner Beerdigung überreiche.“

Chib liest.

Ich hoffe, daß niemand verletzt wurde, nicht einmal die Leute vom IRB.

Letzter Rat vom Weisen Alten Mann in der Höhle: Brich die Brücken ab. Verlasse LA. Verlaß das Land. Geh nach Ägypten. Soll deine Mutter doch allein die Purpurne Sozialhilfe reiten. Wenn sie Beherrschung und Selbstverleugnung praktiziert, kann sie es schaffen. Wenn sie das nicht kann, nun, das ist nicht deine Schuld.

Du hast Glück, du bist mit Talent, wenn nicht gar mit Genie zur Welt gekommen. Außerdem bist du stark genug, daß du die Nabelschnur zerreißen kannst. Also, tu es! Geh nach Ägypten. Gib dich der uralten Kultur hin. Steh vor der Sphinx. Stelle ihr (eigentlich ist es ein Er) die Frage.

Und dann besuche eines der zoologischen Reservate südlich des Nils. Lebe einige Zeit in einem Faksimile der Natur, wie sie war, ehe der Mensch sie vernichtet und entweiht hat. Dort, wo der Homo sapiens (?) sich aus dem Killeraffen entwickelte, absorbiere den Geist dieses uralten Ortes und längst vergessener Zeiten.

Du hast mit deinem Penis gemalt, den, wie ich befürchte, mehr die Geilheit als die Liebe zum Leben versteift hat. Lerne, mit dem Herzen zu malen. So wirst du ein großer und aufrichtiger Künstler werden.

Male.

Und dann gehe hin, wo immer du hingehen willst. Ich werde bei dir sein, solange du lebst und dich an mich erinnern kannst. Um Runiczu zitieren: „Ich werde das Nordlicht deiner Seele sein.“

Halte fest an dem Glauben, daß es auch andere gibt, die dich ebensosehr lieben, wie ich dich liebte, vielleicht sogar noch mehr. Und was noch bedeutender ist: Du mußt sie ebensosehr lieben wie sie dich.

Kannst du das schaffen?