Paul David Novitski
Kernspaltung
NUCLEAR FISSION

 

Dunkle Hügel rollten unter dem Zeppelin dahin. Hinter ihm ging eine bleiche Sonne auf und badete den Küstenstreifen davor in goldenes Licht. Spinne lag zusammengerollt in einer Hängematte in seiner Kabine und sah durch das Fenster zu, wie die Landschaft von Willamette unter den Sternen sichtbar zu werden begann. Irgendwo in einer der Gebirgsfalten unter ihr lag das Kuppeldorf, das ihre Heimat war, umgeben von Fichten und Rhododendronbüschen. Sie streckte sich gähnend in der Schlinge aus. Ihr Bruder Fuchsia war wahrscheinlich der einzige, der schon so früh auf den Beinen war – er stand immer schon vor der Dämmerung auf, wanderte den Hügel empor zur Töpferei und arbeitete noch ein wenig vor dem Frühstück. Aber die anderen würden noch schlafen.

Spinne gähnte erneut. Für sie war es zu spät in der Nacht – oder zu früh am Morgen –, um wirklich ganz wach zu sein. Diese langen Transkontinentalflüge brachten ihren Biorhythmus immer durcheinander. Als sie den Zeppelin in Pennsylvania bestiegen hatte, war es neun Uhr abends gewesen. Während des Fluges war die Sonne hinter ihnen aufgegangen, war über sie hinweggewandert und vor ihren Augen untergegangen. Nun ging sie wieder auf, und obwohl sie während des dreißigstündigen Fluges die übliche Schlafperiode einer Nacht zur Verfügung gehabt hatte, fühlte sie sich erschöpft.

Sie drehte sich um und glitt geräuschlos aus der Hängematte, dann streckte sie die Schultern in der kühlen Nachtluft. In mehreren anderen Hängematten in der langen Kabine räkelten sich leise schnarchende Gestalten. Spinne ging an den Schläfern vorbei zur Luke.

Im Bug verharrte sie ein wenig auf der Toilette, dann stand sie auf und spritzte sich kaltes Wasser aus dem Waschbecken ins Gesicht. Sie strich mit langen Fingern ihren zerzausten weißen Afro zurück und betrachtete anschließend ihre flachen, platt gedrückten Gesichtszüge im Spiegel. Im fahlen Licht vom winzigen Fenster des Badezimmers schien sie wie ein Geist im Spiegel zu schweben, wie das Nachglühen einer Person, die ganz plötzlich verschwunden ist. Sie zitterte, trocknete sich geschwind mit dem rauhen Handtuch ab und verließ den Waschraum wieder.

Als sie die erste Luke zur Linken öffnete, erblickte sie dahinter die Silhouette von Pilotin und Cockpit vor dem Hintergrund der Berge im Dämmerlicht. Hier konnte sie das Schnurren der Motoren noch deutlicher hören. Sie schlüpfte seufzend in den leeren Sessel des Copiloten.

Die Pilotin sah herüber. „Hallo. Schon auf?“

„Immer noch. Ich konnte nicht richtig schlafen. Ich bin der Passagier nach Noti.“

„Oh, richtig.“ Das Gesicht der Pilotin wirkte heiter im diffusen Schein der Dämmerung. „Da haben Sie ja nicht mehr lange zu warten. Wir werden in etwa vierzig Minuten landen.“

„Eugene?“

Die Pilotin schüttelte den Kopf. Ihr Haar war kurz, es sah aus wie ein Fell. „Nein, Ihre ist die einzige Haltestelle bis zur Küste. Ich habe Zeit genug, Sie vor der Haustür abzuliefern.“

„Fein! Ich konnte mich gar nicht mit dem Gedanken an eine dreistündige Fahrradtour abfinden.“

Die Pilotin tippte mit einem Finger gegen das Mikro des Funkgerätes. „Ist eine verdammt ruhige Nacht gewesen. Bis Astoria müssen wir auch keinen mehr an Bord nehmen. In dieser Jahreszeit bleiben die Leute lieber zu Hause. Sie kümmern sich um ihre Gärten oder schneiden die Bäume …“

Spinne gähnte. „Erinnern Sie mich nicht daran! Ich war gerade drei Wochen bei dieser GRC-Konferenz im Osten, und ich weiß ganz genau, daß niemand bei mir zu Hause sich die Mühe gemacht hat, meine Zwergapfelbäume zu schneiden.“

Die Pilotin lachte. „Ja, ich weiß, was Sie meinen. Wenn ich diese Rundreise hinter mir habe, werde ich den Sommer über daheim bleiben. Meine Familie fehlt mir sehr.“

Spinne stemmte ein Bein gegen die Konsole und kreuzte das andere darüber. „Wo ist das?“

„In den Cumberlands. Wir haben eine große, alte Farm dort draußen, mit Schafen, Hühnern, Soja und Hanf. Etwa zwanzig von uns leben ständig dort. Sechzehn Frauen und vier Töchter.“

Spinne betrachtete die Pilotin überrascht. „Sie sind verheiratet?“

„Logisch. Ich mag diese Abmachung. Auf dieser Seite des Ozeans haben wir die besten Zehn Jahresverträge.“ Sie legte mit den Zehen eine Reihe von Schaltern um. „Und Sie?“

Spinne machte eine unbestimmte Geste. „Oh, einfach eine kleine, ausgedehnte Familie. Mein Sohn, sein Vater, seine Mutter, ich, mein Bruder, sein Geliebter, seine Tochter. Wir wollten niemals heiraten. Vor einigen Jahren änderten wir alle gemeinsam die Namen, aber etwas Formelleres als das wollten wir alle nicht.“

Die Pilotin schniefte. „Klingt nach einem kleinen, verschworenen Klan.“

Spinne runzelte die Stirn und zupfte an einem Knopf ihrer Bluse. „Schätze schon.“

„Klingt aber nicht sehr überzeugend.“

Spinne zuckte die Achseln. „Die Menschen ändern sich. Derzeit stehe ich jemandem in einem anderen Haushalt näher.“ Sie schwieg eine Weile. Die Welt draußen wurde heller, die Hügel sahen grüner und saftiger aus. In der Ferne waren die weißen Flächen des Küstenstreifens zu sehen, die mit den Wolken verschmolzen. Schließlich sah sie zur Pilotin hinüber. „Haben Sie Kinder?“

„Hm? Ja, ich sagte doch bereits, wir haben vier auf der Farm …“

„Nein, ich meine …

„Oh.“ Die Pilotin legte stirnrunzelnd einen Schalter um und justierte einen Regler neu. „Da Sie danach fragen, ja. Ich hatte vor einigen Jahren welche.“ Sie sah auf. „Jungen.“

„Wo sind sie jetzt?“

„Wer weiß? Wahrscheinlich dort, wo ihr Vater ist.“

Spinne strich mit der Hand über den Bauch. „Ich ließ mich sterilisieren, nachdem Spatz geboren war.“

„Wirklich?“ Die Pilotin schüttelte den Kopf. „Nicht mit mir, Schwester. Ich will nicht, daß mir irgend jemand in den Innereien herumwühlt.“

Spinne keuchte. „Sie meinen, Sie haben zwei Kinder und sind nicht sterilisiert? Ihr Götter, wenn Sie nur die vom Hunger gequälten armen Würmer sehen könnten, mit denen ich es jeden Tag zu tun habe!“

Die Pilotin wandte sich um und nahm Spinnes Gesicht zwischen die Hände. „Kleines“, sagte sie lächelnd, „wo ich derzeit bin, kann ich überhaupt nicht schwanger werden.“

„Oh.“ Spinne spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde und schluckte schwer. „Tut mir leid, das war dumm von mir …“

„Vergessen Sie’s.“ Die Pilotin wandte sich wieder ihren Kontrollen zu.

Spinne suchte fieberhaft nach einem Weg, ihren Ausrutscher wiedergutzumachen. „Meine Geliebte ist schwanger“, sagte sie daher.

„Was Sie nicht sagen.“

„Deshalb komme ich früher von der Konferenz zurück. Sie wollte, daß ich da bin.“

Die Pilotin zuckte die Achseln. „Warum hat sie’s nicht einfach hinausgeschoben?“

„Nein, sie hat sich schon vor mehr als einem Jahr für dieses Datum entschieden. Heute ist Halbmond.“

Die Pilotin schnob verächtlich. „Ich habe mich schon in der Schule nie sehr für Astrologie interessiert. Als ich meine beiden Jungen hatte, stellte ich einfach meine Arbeit ein und ließ alles weitere meinen Körper machen.“ Sie verschob mehrere Schieber am Kontrollbord. Spinne fühlte, wie sie sanken. Das Summen der fernen Maschinen wurde einen Ton höher.

„Im Grunde genommen“, gab Spinne zu, „denke ich genauso. Ich bekam meinen Jungen natürlich. Wanderer hat mich immer noch nicht davon überzeugen können, daß eine Verlängerung der Schwangerschaft nicht schädlich für den Fötus ist.“ Die Pilotin antwortete nicht, daher lehnte Spinne sich zurück und betrachtete die immer deutlicher hervortretenden Einzelheiten der Landschaft unter ihnen.

„Sagen Sie mir, wo Sie genau wohnen, damit ich mit diesem Ding hier landen kann“, bat die Pilotin.

Spinne dachte nach, dann suchte sie in ihren Taschen nach einem Bleistift und einem Stück Papier. „Da wir gerade dabei sind“, sagte sie. „Ich würde Sie gern dasselbe fragen.“

 

Blutrotes Sonnenlicht ergoß sich wie warmer Sirup über Spatz’ geschlossene Lider, während er auf der Matte schnarchte. Unwillig zu erwachen, klammerte er sich an die schwindenden Traumsplitter, doch jene Visionen, Gerüche und Eindrücke glitten ihm nur um so schneller zwischen den geistigen Fingern hindurch, bis er schließlich gestrandet im sonnigen Morgen zurückblieb.

Er rieb sich blinzelnd das Gesicht und drehte sich auf der Matte um, damit ihm das Sonnenlicht nicht mehr direkt ins Gesicht schien. Eine kühle Morgenbrise wehte den sanften Geruch von Blüten durchs Zimmer. Mit der Dämmerung hatte sich die Spitze der Kuppel wie eine Blüte geöffnet, um die Blütenblätter der wärmenden Sonne zuzukehren. Der altvertraute Zweig ragte in den für ihn sichtbaren Ausschnitt des Himmels hinein, die weißen Blüten wurden sanft im Wind gewiegt.

Spatz atmete die kühle Mischung verschiedener Gerüche ein und seufzte sie langsam wieder aus. Oben am Himmel schwebte ein schwarzes Fleckchen im Blau. Er kniff ein Auge zu. Was mochte wohl der Vogel dort oben sehen? Wahrscheinlich ein schäbiges Gestrüpp im Antlitz des Berges, dazwischen Bächlein und Zufahrtsstraßen. Und hier, in einem Fleckchen Sonne, eine Handvoll Kuppeln, die wie Warzen ausschauten.

Spatz kicherte bei dem Gedanken, eine lebende Warze zu sein. War die Welt wirklich wie ein Gesicht, wie das Gesicht des Mondes? Wenn Spinne ihn in ihrem Schoß sitzen ließ, dann fuhr er gerne mit einem Finger über diese Beule unterhalb ihres linken Ohres, aus der drei weiße Härchen wie die Schnurrhaare einer Katze hervorsprossen. Er schüttelte den Kopf, um diese Erinnerung abzuschütteln. Wenn er an Spinne dachte, dann fühlte er sich immer so einsam. Die Welt glich dem Gesicht eines Coyoten, aber mit grünem Bart, nicht mit rotem.

Er richtete sich zitternd auf, und das Leinentuch rutschte von seiner braunen Brust herab. Er strich lange Haarsträhnen aus dem Gesicht, ließ den Kopf zurücksinken und erstarrte plötzlich mitten im Gähnen. Das war ja gar kein Vogel dort oben! Der Fleck war zu einem deutlichen Gegenstand geworden, dessen ovale, längliche Form er nun deutlich ausmachen konnte.

Spinne kam heim!

Er sprang von der Matte und eilte den langen Flur hinab, der sein Zimmer mit dem Haupthaus verband. Er schwang die Tür beiseite und betrat den großen, kühlen Raum. Das kitzelnde Aroma von Johannisbrotbäumen schwängerte die Luft. Bilder und Drucke, vertraute Kissen und Regale voller Bücher zierten die Hauptwand der Kuppel. Der dicke runde Teppich in der Zimmermitte war in den Farben des Waldes gehalten. Alle Türen, die zu anderen Seitenkuppeln führten, waren mit verschiedenfarbigen Stofftüren versperrt, auf denen die Embleme ihrer Bewohner prangten. Nur drei davon wurden von Borten offengehalten – Coyotes Landschaft in schwarzen Pinselstrichen, Schwans alter psychedelischer Druck und Fuchsias brauner Filzteppich. Die anderen schliefen wahrscheinlich noch. Fuchsia stand immer als erster auf – er ging hoch zur Töpferei –, aber Coyote und Schwan …

Spatz umkreiste den Raum auf dem Weg zum Küchenalkoven, wobei er den längeren Weg in Kauf nahm, um noch auf die Toilette gehen zu können. Sein dünner gelber Strahl fiel in die Dunkelheit des Komposters. Er vergaß nicht, den Deckel zuzumachen und flüchtig die Hände im Wasserstrahl zu waschen, worauf er sie auf dem Weg zur Küche trockenschüttelte.

Er schlich die letzten Schritte und spähte vorsichtig um den Kamin herum. Schwan kauerte am Küchentisch, trank Johannisbrotsirup und las in einem Buch, während Coyote am Gartenverschlag kauerte und das Frühstück schälte. Er sah auf, erkannte Spatz und winkte.

Spatz ging hinüber und ließ sich auf einem Kissen an dem niederen Tisch nieder. Schwan, die ein grünes Kleid trug, murmelte etwas, und die verästelten Falten ihres Gesichts verzogen sich zu einem Lächeln. Spatz lächelte zurück, behielt sein Geheimnis aber für sich, und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein, ohne viel zu verschütten. Er preßte den kühlen Rand des Kruges an die Lippen. Süßer Saft.

Coyote stellte einen Korb Früchte auf den Tisch und nahm gegenüber von Spatz Platz. Seine Lippen bewegten sich hinter dem buschigen roten Schnurrbart: „Was gibt’s Neues?“

Spatz signalisierte mit der Hand: Ich kenne ein Geheimnis!

Coyote keuchte mit gespielter Verblüffung. „Los, spann uns nicht auf die Folter!“

Auch Schwan legte ihr Buch nieder. „Was ist los?“

Spatz sprang vom Kissen und rannte einmal im Kreis um den Tisch, wobei er den Kopf gesenkt hielt, die Wangen aufblies und die Arme fest an die Seiten preßte. Nach einer Runde setzte er sich wieder hin, nahm sich eine Handvoll der Früchte und sah Coyote und Schwan listig an, während er von dem Obst probierte.

Schwan und Coyote sahen einander verblüfft an.

„Mal sehen“, sagte Coyote nachdenklich. „Du hast eine Biene gesehen!“

Spatz schüttelte den Kopf.

„Den Stier auf der Wiese“, sagte Schwan.

Wieder falsch, signalisierte er.

Dann beugte Schwan sich hinüber und legte die Hand auf Coyotes Schulter. Er beugte den Kopf nach vorn und grinste plötzlich. „Es muß ein Schiff sein!“ Er stand auf und ging zum Fenster, das Sonnenlicht elektrisierte sein rotes Haar. Schwan gesellte sich zu ihm, und dann senkte sich plötzlich ein Schatten über das Zimmer und schaltete Coyotes Haar ab. Ein flatterndes Gefühl breitete sich kurzzeitig in Spatz’ Magen aus. Coyote wandte sich um und hörte auf zu grinsen.

Du hast geschummelt! Spatz riß die Hände in die Höhe. Du hast es nicht erraten, du hast geschummelt!

„Ach, komm schon!“ sagte Coyote und kniete vor ihm nieder. „Sei doch nicht so. Ich kann doch auch nichts dafür, daß ich …“ Er blinzelte und versuchte, wieder zu grinsen. „He, Spatz“, sagte er dann. „Gehen wir doch raus und schauen ihm beim Landen zu!“

Spatz preßte die Kiefer aufeinander und wandte sich ab. Seine Freude war verflogen, nun war er traurig und müde. Er wollte Spinne landen sehen, aber nicht, wenn der dumme Coyote, Schwan, Häschen und alle anderen sich draußen drängten. Seine Augen begannen zu schmerzen, und er wischte die Nässe fort. Er riß ein zähes Stück Fruchtfleisch mit den Zähnen ab und kaute verbissen darauf herum. Als er sich schließlich wieder umsah, waren Coyote und Schwan verschwunden.

Er sprang auf und rannte aus der Küche, dann erstarrte er einen schmerzlichen Augenblick in der Hauptkuppel. Das Gefühl in seinem Magen war jetzt stärker, eine niederfrequente und pulsierende Vibration. Daher kehrte er um und rannte nicht hinaus, sondern durch die Flanelltür wieder in sein Zimmer zurück.

Sein Mund klappte herunter und schloß sich langsam wieder. Der gigantische, im Licht der Morgensonne dunkelrote Bulk des Zeppelin erfüllte fast den ganzen Himmel. Er kletterte auf seine Kleidertruhe, wo er auf Zehenspitzen stand, damit er über den Rand der offenen Kuppel sehen konnte. Der Zeppelin schwebte über der Wiese neben dem Haus, darunter standen zwei winzige Gestalten – er sah Coyotes rotes Haar und Schwans weiße Mähne. Dann sank langsam eine Kugel an einem Kabel vom Rumpf des Schiffes herab. Spatz konnte Fuchsias dunkle Gestalt sehen, die von der Töpferei herunterkam, während Rose hinter der Biegung der Hauptkuppel auftauchte. Sie hatte Häschen am Arm, und gemeinsam näherten sie sich den anderen.

Die Kugel, die verglichen mit dem Mutterschiff sehr winzig ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit viel größer als die umstehenden Menschen. Sie schwang sanft an ihrem Kabel, bis sie das Gras berührte. Dann ging eine Tür auf, und Spinnes vertrauter weißer Haarschopf drängte ins Freie. Sie sprang auf den Rasen und griff hinter sich nach ihrem Gepäck. Während sich alle um Spinne drängten, stieg die Kugel rasch wieder in die Höhe. Spatz biß sich auf die Lippen und entspannte seine verkrampften Füße. Jeder umarmte jeden, dann kamen sie auf das Haus zu.

Der Zeppelin erhob sich bereits wieder und entfernte sich vom Haus. Das Rumoren in Spatz’ Eingeweiden ließ nach. Er stieg von der Truhe herunter, blieb einen Augenblick unentschlossen in der Mitte des Zimmers stehen, dann eilte er zum Fenster, riß es auf und kletterte hinaus.

 

Coyote schritt auf dem Teppich im Hauptzimmer hin und her, rieb die Hände aneinander und schritt weiter. Wohin war Spatz jetzt nur wieder verschwunden?

„He“, rief ihm Spinne zu. „Setz dich endlich wieder hin und hör auf, dir Sorgen zu machen! Ihm wird schon nichts passiert sein.“ Sie saß unter einem blauen Picasso-Druck, Schwan an ihrer Seite und Häschen auf ihrem Schoß. Rose und Fuchsia waren schon längst wieder gegangen, Rose zur Arbeit im Dorf garten und Fuchsia zur Töpferei.

Coyote wandte sich um und durchquerte den Raum erneut. „Es ist alles meine Schuld“, sagte er. „Hätte ich nicht die dumme Bemerkung gemacht, daß ich hören kann … dann wäre er mit uns gekommen, um dich zu empfangen, und das ganze unliebsame Ereignis wäre nie …“

„Coyote!“

Er blieb stehen.

Spinne sah müde aus. „Komm schon, kannst du dich denn nicht einfach eine Weile still hinsetzen und ruhig sein? Du machst mich nervös, dabei bin ich erst seit einer Stunde wieder zu Hause. Spatz muß an seinen Problemen arbeiten, deshalb ist er nicht hier. Irgendwann muß er einmal lernen, daß Leute, die hören können, ihm eben in mancher Hinsicht überlegen sind, und er kann sich glücklich schätzen, wenn er kein höheres Lehrgeld bezahlen muß, als eine Wette zu verlieren. Sei nicht so überempfindlich.“

Coyote überkreuzte die Arme und schürzte die Lippen. „Du nennst das einfach überempfindlich sein’, ausgerechnet du! Manchmal bin ich der Meinung, daß dir überhaupt nichts an Spatz liegt.“

Spinne sah mit zusammengepreßten Kiefern weg.

„Jetzt aber Schluß, Coyote“, sagte Schwan beschwichtigend. „Du weißt doch, was die Ärzte gesagt haben …“

„Die Ärzte können sich selber vergewaltigen!“ brüllte er.

Häschen verzog das Gesicht und begann zu weinen. Spinne wiegte sie und sagte: „Schon gut, Häschen, schon gut.“ Dann bedachte sie Coyote mit einem wütenden Blick über die Schulter des Kindes. Die verblüffte Schwan sagte nichts.

Coyote atmete tief durch und versuchte, etwas ruhiger zu sprechen. „Tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe, aber ich mache mir Sorgen um Spatz. Schwan, die Ärzte kannten den Jungen nicht. Sie waren einfach stammelnde Verhaltensforscher, die ihre Statistiken durchforsteten, um so zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Die Burschen sind doch alle gleich.“

Spinne sah ihn ungläubig an und gab ein ersticktes Geräusch von sich.

„Die Ärzte rieten“, sagte Schwan, „sanft vorzugehen. Nichts zu erzwingen.“

„Erzwingen!“ Coyote schüttelte den Kopf. „Glaubst du, ich möchte etwas erzwingen? Ich möchte nur, daß mein Kind emotional ausgeglichen aufwächst.“

„Vielleicht bist du dabei zu streng“, sagte Spinne.

„Denkst du denn nicht daran, daß ich den Jungen liebe?“

„Pssst!“

„Du …“ Er wandte sich ab, dann wieder um. „Bei dir hört sich das an, als wäre ich auf einer Art Ego-Trip.“

Spinne sah ihn verblüfft an und lachte.

Er ging zur Tür.

„Schwer“, sagte Schwan mit leiser Stimme hinter ihm. Er umklammerte die Mulde neben der Tür und atmete langsam aus.

„Was?“ fragte er.

„Liebe“, sagte seine Mutter, „ist schwer zu teilen.“

Coyote grunzte und ging hinaus. Die Sonne hatte die Hälfte ihres Weges am Himmel bereits hinter sich gebracht, kleine Wölkchen sammelten sich vor ihrer gleißenden Scheibe. Es würde ein heißer Tag werden. Mit tief in die Taschen gesteckten Händen umrundete er die Außenkuppel. Warum fiel es ihm nur so schwer, mit Spinne zu reden? So ging das nun schon seit Monaten. Sie war distanziert, kritisch und streitsüchtig. Sie ignorierte ihn, und, was noch schlimmer war, sie ignorierte ihren eigenen Sohn.

Nicht, so dachte er, daß es ihm etwas ausmachte, den größten Teil der Verantwortung für Spatz allein zu tragen. Schließlich war der Junge ja auch sein Sohn. Und er mußte zugeben, daß Spinnes Arbeit schwierig, nervenaufreibend und zeitaufwendig war, daher war sie häufig abwesend und empfindlich. Aber … nun, zum Teufel, man mußte sie nur einmal beobachten. Schließlich fand sie ja auch Zeit für lange Gespräche mit Schwan, und dann widmete sie Häschen Stunden ihrer Zeit, die sie eigentlich für Spatz aufwenden sollte. Coyote war sicher, daß er schon ein eifersüchtiges Funkeln in Spatz’ Augen gesehen hatte, wenn seine Mutter mit Häschen zusammen war. Und sollte eine ausgedehnte Familie nicht gerade das vermeiden … Eifersucht? Wenn die Kulturrevolution einen Makel aufwies, dachte er, dann war es der, daß sie auf Leute von gestern zurückgreifen mußte. Coyote kickte kopfschüttelnd gegen einen Erdklumpen.

Und dann gab es auch noch Wanderer. Hatte Spinnes Beziehung zu ihr nicht den Hauch von etwas Perversem? Nein, nicht wegen des Sex – Coyote war erwachsen, auch er hatte seine homosexuellen Affären gehabt, daran war nichts auszusetzen. Nein, es hatte etwas mit der gefühlsmäßigen Intensität von Spinnes und Wanderers Beziehung zu tun. Ihr Liebesgeturtel hatte etwas Anstößiges, etwas Pubertäres an sich. Ihre Beziehung war zu exklusiv. Er fühlte sich vollkommen aus ihrer beider Leben ausgeschlossen. Und er war sicher, daß die anderen dies ähnlich empfanden. Er war nicht einfach nur eifersüchtig – Götter, es lag schon Monate zurück, seit Spinne und er zum letzten Mal kopuliert hatten, und noch länger war es her, daß sie wirklich Freunde gewesen waren. Es war nicht sein Problem, es war ihres …

Er umrundete die Kuppel weiter und näherte sich dem Garten. Es war schön, die Saat schon so früh sehen zu können. Er selbst hatte den Garten im ersten Herbst angelegt, kurz nachdem Spinne und er hierhergekommen waren, und er hatte das traditionelle flache Gartenmuster verändert, das Schwan jahrelang benutzt hatte. Sein Garten stieg langsam zu einem Hügel über dem umliegenden Rasen an, dessen Form, wie es sich so ergab, an Spinnes linke Brust erinnerte, wenn sie schlief. Aber das hatte er ihr niemals gesagt. Sie hätte ihn wahrscheinlich nur dafür kritisiert, dem einen oder anderen Fruchtbarkeitsgöttinnenmythos nachzuhängen. Wie das Bild auch aussehen mochte, der Garten bildete eine durchdacht angelegte und funktionelle Einheit. Wo der Nippel sein sollte, befand sich ein kleiner Teich, der von der Quelle des Haushalts genährt wurde, die sich nicht weit entfernt bei einer Mühle befand. Das Wasser rieselte durch ein System irdener Röhren, die die Pflanzen bewässerten. Die Pflanzenbeete verliefen spiralförmig vom Teich herab, und sie wurden von mehreren radialen Pfaden unterbrochen, die direkt von der Kuppe herabführten. Coyote erklomm den Hügel, nahm aber den längeren, spiralförmigen Weg nach oben. Als er die letzte Kurve umrundet hatte, sah er Spatz zusammengekauert im Sand der gegenüberliegenden Seite spielen. Er blieb stehen und atmete dreimal tief durch. Erst dann ging er langsam weiter.

 

War das ein Unkraut? Spatz beugte sich über die Sandwölbung, um das winzige Pflänzchen besser sehen zu können. Die Blätter waren spitzer und hatten mehr Ausbuchtungen als Tomatenblätter. Er griff danach, um es herauszureißen, dann aber hielt er inne und streichelte das winzige Pflänzchen statt dessen. Sogar Löwenzahn war gut im Salat, und später war er zum Wünscheerfüllen geeignet. Warum war ein und dieselbe Pflanze an manchen Stellen gut und an anderen schlecht? Warum nannte man sie Unkraut? Armer kleiner Löwenzahn, dachte Spatz, du bist eigentlich gar nicht schlecht, du wächst nur am falschen Ort, das ist alles. Und das ist nicht mal deine Schuld. Unkräuter kommen nicht freiwillig als Unkräuter auf die Welt.

Plötzlich fiel ein Schatten über den Sand. Spatz schreckte zurück. Coyote ragte über ihm auf. Er beugte sich lächelnd herab. Spatz hielt den Atem an, dann sah er hinabblickend, daß er das kleine Unkräutlein versehentlich mit den Fingern herausgerissen hatte. Er begann zu weinen, da legte Coyote ihm die Arme um die Schultern, doch er riß sich los und hob das Löwenzahnpflänzchen auf. Die haarähnlichen Wurzeln hielten noch ein wenig Erdreich umklammert, doch die Pflanze sah bereits aus, als würde sie zu welken beginnen.

Er sah vorwurfsvoll zu Coyote empor, der besorgt dreinblickte und sagte: „Wir können es wieder einpflanzen.“

Spatz schüttelte den Kopf und hielt das Pflänzchen so, daß Coyote es genauer ansehen konnte.

„Ach so“, meinte Coyote. Er sah sich um, dann deutete er zur Wiese. „Dann pflanzen wir es eben dort ein.“

Sie gingen gemeinsam den Gartenweg zurück und zur Wiese hinüber. Coyote kniete nieder und grub mit seinen dicken Wurstfingern in der feuchten Erde. Danach zerkrümelte er sorgsam Erdbällchen um die verletzbaren Würzelchen herum, bis die Pflanze so gesund und sicher wie im Garten aussah.

Spatz stieß Coyote an der Schulter an und machte Handzeichen. Ist jetzt wieder alles in Ordnung?

Coyote lächelte. „Ich glaube schon. Unkräuter sind verdammt zähe Burschen.“

Spatz seufzte und ließ sich auf die Fersen zurücksinken. Das kleine Fleckchen Sand, kaum größer als seine Handfläche, auf dem das Unkräutlein sprießte, war nun sein eigener Garten. Er kam zu dem Ergebnis, daß er ihn dem großen Familiengarten vorzog. Er würde jeden Tag die Pflanze gießen, damit sie saftige grüne Blätter und eine große gelbe Blüte bekam. Und dann im Herbst …

Coyote nahm ihn bei der Hand. „Komm“, sagte er. „Höchste Zeit zum Waschen.“

Spatz runzelte die Stirn und signalisierte mit der linken Hand: Wozu?

Coyote gab vor, vor lauter Verblüffung ganz aus dem Häuschen zu sein, so daß Spatz lachen mußte. „Hast du das denn schon vergessen? Heute ist doch der Tag von Wanderers großer Überraschung!“

 

Spinne holte ein Fahrrad aus dem Schuppen und schob es in die Sonne, wo Fuchsia stand und Häschen im Arm hielt. Glasurspritzer waren auf der braunen Gesichtshaut und in den Haaren auf Brust und Armen getrocknet.

„He“, sagte er zu ihr. „Nochmals vielen Dank. Rose sagte aber, ihr würde es nichts ausmachen, sie zu nehmen, wenn du deine Meinung ändern solltest.“

Spinne schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, ehrlich, das tue ich doch gerne. Es wird bestimmt sehr lustig werden.“ Sie rückte lachend ihre Sonnenbrille zurecht. „Häschen ist noch zu jung, um mir Ärger zu machen, oder nicht, Mädchen?“ Sie hob Häschen aus den Armen ihres Bruders, das Weiß ihrer Hände wirkte sogar im Vergleich mit Häschens rosafarbener Haut fahl, und setzte sie in den Babykorb zwischen der Lenkstange. „Alles klar?“

Häschen kicherte. Fuchsia ging wieder zum Haus zurück.

„He!“ rief sie ihm hinterher. „Du bist wirklich der einzige Mann, mit dem ich klarkomme.“ Er lachte, doch dann erblickte er etwas hinter ihr und wurde wieder ernst. Sie wandte sich um und sah Spatz und Coyote Hand in Hand näher kommen. Coyotes Wangen wirkten eingefallen, aber er lächelte – sie sah zurück zu Fuchsia, doch der war hinter der Rundung der Kuppel verschwunden. Sie stieß einen langen Seufzer zwischen den Zähnen hervor, versuchte ein Lächeln und wandte sich wieder um.

„Hallo, Spatz! Wie geht es meinem kleinen Mann denn?“

Spatz lächelte ihr zu, sah kurz zu Coyote auf, dann legte er die letzten paar Meter laufend zurück. Spinne beugte sich hinab, um ihn zu umarmen, doch das Fahrrad kam aus dem Gleichgewicht, und sie mußte auf einem Fuß hüpfen, um nicht umzufallen. Dabei fiel ihr allerdings die Sonnenbrille von der Nase – sie fluchte und verbarg die Augen vor dem grellen Sonnenlicht, während Häschen zu weinen begann. „Schon gut, Häschen, schon gut“, beschwichtigte sie das Kind, dann sagte sie: „Spatz, würdest du mir bitte die … ja, danke.“ Sie nahm die Brille entgegen, setzte sie wieder auf und blinzelte. Coyote stand neben ihr und biß sich auf die Lippen.

„Oh, danke“, wiederholte sie dann. „Wo ist Spatz?“

„Weggelaufen. Was hattest du erwartet? Soll ich …?“

„Nein, danke. Schon gut, ich werde später mit ihm reden.“ Ihr Götter, dachte sie dabei, wenn er mich doch nur angeschrien hätte, anstatt mich nur so anzusehen. „Hör zu“, sagte sie dann. „Ich werde ein wenig Zeit mit Wanderer verbringen. Ihr könnt ja später nachkommen, okay?“ Sie fuhr rasch davon, war nicht ganz sicher, ob sie eine Antwort gehört hatte, und wandte sich an den Kuppeln vorbei zur Wiese und dem Wald. Sobald sie sich ausreichend sicher fühlte, ließ sie sich auf den Fahrradsitz nieder und atmete tief durch, wobei sie sich bemühte, langsam zu atmen. Sie konnte ihre Schultern zittern spüren. Götter im Himmel, warum hatte Coyote nur einen so großen Einfluß auf sie? Zum Teufel mit dem Mann, fauchte sie sich selbst an und wartete auf die unverzügliche Reue. Sie kam nicht. Sie war nur müde und erleichtert, allein zu sein. Wenigstens würde Häschen sie nicht in eine häßliche Szene verwickeln.

Sie strampelte weiter den schmalen Pfad entlang und segelte stumm durch die Lichtmuster und Gerüche des Waldes. Unter den Bäumen war das Sonnenlicht nicht so schmerzend grell. Das dichte Piniennadelbett des Waldes absorbierte nahezu alle Geräusche, strömte dafür jedoch einen starken Geruch aus, einen sexuellen Geruch, einen Geruch langsamer Verwesung, während die säurehaltigen Nadeln langsam zu feuchter Erde zerfielen. Vier Vogelarten konnte sie anhand ihrer Stimmen bestimmen. Als sie schneller fuhr, strich ihr der Wind übers Gesicht und durchs Haar, und obwohl sie so müde war, lachte sie und trat noch etwas schneller in die Pedale.

Häschen war glücklich in ihrem Korb. Sie strampelte mit den Beinen und bewegte die Hände wie in einem selbstvergessenen Tanz, während sie mit leiser Stimme vor sich hin sang. Spinne fuhr einen kleinen Hügel hoch und auf der anderen Seite wieder hinab, wobei sie die Haltegriffe losließ und die Arme wie Schwingen ausbreitete. Sie sang einige Strophen aus einem alten, traurigen Lied, das Schwan gerne auf der Gitarre spielte. I wish I had a river soooo long, I would spread my wings and fly-yyy

Am Fuß des Hügels gabelte sich der Weg bei einer großen Fichte, die jeder Douglas nannte, die älteste im Wald. Ein Weg führte zum Gemeinschaftszentrum, wo Schwan und Coyote und Rose zeitweise arbeiteten, um das Gemeinschaftsquantum ihres Haushalts zu erfüllen. Spinne wählte den anderen Weg, die Ringstraße, die zu jedem anderen Haushalt in diesem Teil des Tales führte. Von hier aus hatte sie noch fünfzehn Minuten bis zu Wanderers Farm zu fahren.

Alles in allem umfaßte das Dorf Noti siebenundvierzig Haushalte, von denen manche bis zu dreißig Leute umfaßten, aber es gab auch Dreiergruppen, Paare und Einsiedler. Ihre Häuser waren über sechs Hektar des Tales verteilt und durch Wälder und Felder getrennt, nur verbunden durch die Fahrradwege und die lose kooperative Anarchie, mit der sie Gemeinschaftsangelegenheiten regelten. Noti war eine der ersten Geisterstädte gewesen, die mit dem Verschwinden der Städte während der techno-kulturellen Revolution neu besiedelt worden waren, und obwohl von Zeit zu Zeit einzelne Individuen unfähig gewesen waren, die Revolution in ihrem eigenen Leben zu manifestieren, funktionierte die Gemeinschaft doch schon seit nahezu einem Jahrzehnt erfolgreich.

Jeder Haushalt war autark, was das Lebensnotwendigste anbelangte – Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf und Gesundheit –, aber große Menschengruppen können eben mitunter Dinge vollbringen, die kleineren unmöglich sind oder ihnen zumindest schwerfallen. Die Nachbarn in Noti kamen zusammen zum Kuppelbau, Ernten, Pflastern von Wegen und Ausheben von Brunnen, zum kollektiven Weiterverkauf von Rohstoffen, zum Singen und Theaterspielen. Während die Mehrheit sich ihren Lebensunterhalt durch Haushaltsarbeit und den Verkauf überschüssiger Güter an andere Dörfer verdienten, gab es auch einige wenige, so wie Spinne, die außerhalb arbeiteten.

Spinne war Programmiererin beim Globalen Hilfswerk, einem internationalen Regierungskonsortium, das Nahrungsverteilungssysteme und landwirtschaftliche Wiedernutzbarmachung für jene Gegenden plante, die von den Dürreperioden um die Jahrhundertwende besonders stark betroffen worden waren. Spinne arbeitete zur Zeit am ‚Mittelwestamerikanischen Projekt zur Urbarmachung von Wüstengebieten’. Sie hatte eine Fernkonsole zu Hause, mit der sie den Großteil der anfallenden Arbeit erledigte. Die einzige physische Manifestation des Konsortiums war die jährliche Konferenz.

Während Spinne mit dem Fahrrad immer weiterfuhr, ließ sie den Wald schließlich hinter sich und radelte durch Getreidefelder, die Wanderers Heimat umgaben. Sie passierte einige alte Fachwerkhäuser, Relikte aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, die nun unbewohnbar waren und langsam verfielen. Sie wich einer Fußgängergruppe aus, winkte ihnen zu und bremste schließlich vor dem Hauptgebäude der Farm, einem großen, viereckigen Bauwerk, das aus grobbearbeitetem Zedernholz erbaut war. Sie stellte das Fahrrad neben den anderen ab und nahm Häschen auf die Arme, um mit ihr unter dem rebenumrankten Portal hindurch in die Küche zu gehen. Einige Menschen saßen um den Tisch und unterhielten sich. Ein paar sahen auf und winkten.

„Hallo“, sagte Spinne und setzte Häschen auf den Boden, wo das Mädchen rasch zu den anderen Kindern krabbelte. „Hallo, Wanderer.“ Sie umarmte ihre Freundin. Wanderers Bauch war groß und warm zwischen ihnen.

„Hallo, Liebes, ich bin froh, daß du es geschafft hast.“ Wanderer strich mit den Fingern über Spinnes Augen, ihre Wangen, über die breiten, flachen Nasenflügel und über ihren Mund. Sie küßten sich, Zunge liebkoste Zunge, und trennten sich wieder voneinander. „Bevor ich das Schiff heute morgen kommen hörte, hatte ich mich schon fast damit abgefunden, noch einen Tag länger zu warten.“

Spinne lachte. „Dummerchen, ich sagte doch, ich würde rechtzeitig zurück sein. Dein Herz hängt doch schon lange am Halbmond.“ Spinne stand auf. „Komm, ich will allein mit dir sein.“

Wanderer lächelte. „Nimm mich am Arm“, sagte sie. Sie erhob sich auf die Füße, strich ihr kurzes Haar zurück und ergriff Spinnes Hand. „Bin bald wieder zurück“, rief sie, während sie zur Tür hinausgingen.

Sie überquerten den Rasen und ließen sich im Schatten eines blühenden Kirschbaums nieder. Spinne zupfte einen dicken Grashalm heraus und kaute auf einem Ende, während sie die subtilen Farbveränderungen in Wanderers achatfarbenen Pupillen betrachtete.

„Wann wird denn das große Ereignis stattfinden?“

„Ich habe mich für drei Uhr zweiundvierzig entschieden“, antwortete Wanderer. „Ich habe die Wehen heute morgen beginnen lassen. Ich hatte ursprünglich heute abend sieben Uhr erwogen, bin dann aber davon abgekommen. Nun entgeht mir die Konjunktion von Mars und Venus, aber dafür erhalte ich einen herrlichen Trigonalaspekt, und der Mond steht im Krebs, und das gefällt mir.“

Spinne mußte lachen. „Weißt du, ich habe nicht den leisesten Schimmer, wovon du überhaupt sprichst.“

Wanderer zog eine ihrer buschigen Brauen in die Höhe. „Du solltest wenigstens wissen, daß dein Mond ebenfalls im Krebs steht!“

„Großartig“, sagte Spinne. „Wir werden einen Klub gründen.“ Sie beugte sich hinüber und küßte Wanderers Wange. „Aber meinst du nicht, du hättest du-weißt-schon-wen wegen des Zeitpunkts fragen müssen?“

Wanderer runzelte die Stirn – „Wen? Oh!“ – und sagte lachend: „Dummerchen, das ist doch der springende Punkt. Ich habe den richtigen Zeitpunkt durch Abstimmung mit meinem Inneren erreicht. Ich würde doch nichts erzwingen wollen! Schließlich ist dies der wichtigste Tag dieses neuen Lebens.“ Sie streichelte mit der Hand den Stoff über ihrem Bauch.

Spinne biß sich auf die Lippe. „Du, Wanderer …“

„Hmm?“ Wanderer drehte ihr den Kopf zu, doch ihre Augen schienen einen Punkt hinter Spinnes linker Schulter zu fixieren. „Was ist?“

„Ich wollte sagen … nun … sagen …“

Wanderer preßte eine Fingerspitze sanft auf Spinnes Lippen. „Ja“, sagte sie. „Ich habe die anderen bereits gefragt. Ich glaube, es geht in Ordnung.“

Spinne küßte ihre Handflächen. „Du hast meine Gedanken nicht vollständig gelesen.“

Wanderers Augenbrauen wuchsen zu einer langen, dichten Hecke zusammen. „Ich dachte … ich meinte … möchtest du denn nicht zu uns ziehen?“

Spinne atmete tief ein und stieß einen Seufzer damit aus.

„Oh“, sagte Spinne schließlich. „Oh. Natürlich.“ Sie hob den Kopf vom Gras. „Stören sie dich denn so sehr?“

„Ja“, sagte Spinne nach längerer Pause.

„Oh, ich liebe dich wirklich, aber du mußt verstehen, daß ich meine Familie jetzt noch nicht verlassen kann.“

„Deine Familie an sich stört mich überhaupt nicht“, sagte Spinne. „Nur die Männer.“

„Ich weiß, daß du so denkst. Aber warum?“

Spinne atmete aus, richtete sich auf und strich sich über die Stirn. „Ich weiß nicht. Ich meine, schon, ich kenne das Gefühl seit zwei Jahren in- und auswendig, und es wird immer stärker. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet ich so davon betroffen bin – vielleicht liegt das an dem Mann, mit dem ich zusammenlebe. Sie … sie passen einfach nicht, verstehst du. Sie passen nicht zu mir. Man könnte es einen Mangel an gemeinsamen Erfahrungen nennen. Ich weiß nur eines, daß ich nicht mehr länger mit ihnen zusammenleben möchte.“ Sie sah zu Wanderer hinab und bewegte sich etwas, um ganz in ihrem Blickfeld zu sein.

„Aber Spinne, du mußt verstehen, hier kann ich mich endlich entspannen. Zum erstenmal seit Jahren habe ich eine Heimat. Ich würde dich gern in unserer Mitte sehen, denn ich weiß, wie unglücklich du mit Coyote bist, aber ich bitte dich, nicht von mir zu verlangen, daß ich dich gegen meine Familie eintauschen soll. Denn dann müßte ich nein sagen müssen.“ Ihre Fingerspitzen zogen die Linie von Spinnes Mund nach, die Ränder unter den Augen und die Brauen. „Sei nicht traurig“, sagte Wanderer. „Liebes, als Sachen behandelt, können Menschen niemals glücklich werden.“

Spinne rupfte einige Grashalme aus und warf sie in den Wind. Wieder empfand sie die entsetzliche Müdigkeit und Schwäche. „Aber es ist doch nicht so, daß ich dich nur für mich alleine haben wollte“, sagte sie und hörte ihre Stimme zittern. „Ich möchte auch einen großen Haushalt, ganz bestimmt. Ich möchte eben einfach, daß es sich nur um Frauen handelt …“

Plötzlich hinterließ Wanderers Fingerspitze auf ihrer Wange eine feuchte Spur. „Oh, Spinne, Spinne … Schau, was ist, wenn mein Kind ein Junge wird? Würdest du dann nicht mit ihm zusammenleben wollen? Spinne – Liebes –, meine Bindung ist einfach stärker als das. Ich gehöre hierher. Daher wollte ich dieses Kind haben. Ich habe ein Zuhause. Das brauche ich.“

Spinne rückte ein wenig ab. „Es ist also endgültig.“

„Endgültig! Spinne, ich bin hier zu Hause.“

Sie spürte, wie die Muskeln ihres Kinns sich nach unten und die ihrer Augen sich zurückzogen. Sie wischte mit dem Handrücken über ihre Wangen und schluckte. „Verdammt noch mal!“ Ihre Finger berührten das kühle Gras. „Wenn ich dich nur ein paar Jahre früher gefunden hätte. Wenn du nur nicht schwanger wärst …“

Wanderer zog die Brauen zusammen. Sie schüttelte den Kopf. „Spinne, du solltest dich mal selbst hören! Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie du reagieren würdest, wenn jeder Mann sich so aufführen würde wie du? Komm jetzt. Sei heute meine Schwester. Ich möchte, daß du bei mir bist.“

Spinne schluchzte so sehr, daß ihre Kehle schmerzte, zog Wanderer an ihre Brust und hielt sie eng an sich gepreßt.

 

„He!“ rief Coyote. „Ich bin für Duschen. Wer geht mit?“

„Ich“, antwortete der tonverschmierte Fuchsia.

„Klar“, sagte Schwan, die staubig zur Tür hereinkam.

Spatz nahm Coyotes Hand und führte die Gruppe an.

Das Wasser fiel in schweren Tropfen, wie blaues Licht, von oben herab. Coyote, Fuchsia, Spatz und Schwan tanzten im häuslichen Regen umher, rubbelten einander mit Bürsten ab und schüttelten ihr nasses Haar.

„Wer schrubbt mir den Rücken?“ fragte Fuchsia.

„Ich“, antworteten Schwan und Coyote gleichzeitig. Sie lachten und schrubbten beide.

„Ahh“, stöhnte Fuchsia, „ihr geht aber herzhaft ran.“

Spatz machte sie händeschüttelnd auf sich aufmerksam. Fuchsia pinkelt in die Dusche!

„Hä?“ sagte Fuchsia und sah blinzelnd an sich hinab.

Coyote lachte und tippte Spatz auf die Schulter. „Du mußt genauer hinsehen“, sagte er. „Das ist doch nur Wasser, das heruntertröpfelt.“

Spatz sah ihn verwirrt an.

„Schau mich an! Schau dich an!“

Spatz spähte an seinem Bauch hinab, dann kicherte er entzückt. Das Wasser lief an seiner braunen Haut hinab, umkreiste den Nabel und tröpfelte in einem Bogen von seinem Penis herunter auf den Kachelfußboden.

Schwan beugte sich hinab und massierte Shampoo in Spatz’ verfilztes Haar. „Berufsrisiko“, sagte sie. Ihr Körper war, ebenso wie ihr Gesicht, mit Runzeln überzogen. Ihre Brüste hingen schlaff herab und wogten in der Nässe.

Ich habe dieses Wort nicht gesehen, signalisierte Spatz.

„Berufsrisiko“, buchstabierte Schwan. „Ein alter Ausdruck, der bedeutet, daß einem, nun, eben gewisse Dinge infolge des eigenen Berufs zustoßen können.“

Was für Dinge?

Schwan räusperte sich und runzelte die Stirn. Fuchsia kniete neben ihr nieder und kitzelte Spatz am Nabel, was mit einem Kichern belohnt wurde. „Beispielsweise“, sagte er, „bist du mit Knien auf die Welt gekommen. Wenn du nun auf etwas Hartes oder Grobes fällst, stößt du sie dir auf. Das ist das Berufsrisiko, Knie zu haben.“

Schwan schüttelte den Kopf. „Das ist das Berufsrisiko herumzulaufen.“

Auch Coyote kauerte sich nieder. „Und wir“, sagte er, „haben einen Penis, weil wir als Männer auf die Welt gekommen sind, daher sieht es manchmal so aus, als würden wir in die Dusche pinkeln, auch wenn wir es gar nicht tun!“

Spatz lachte, dann betrachtete er Fuchsias Lenden, dann Schwans, schließlich sein eigenes kleines Stummelchen.

„Alle fertig?“ erkundigte sich Schwan.

Fuchsia ging zur Wand und stellte das Wasser mit einem Prschrrab.

„Ich hole Handtücher“, sagte Coyote, aber Schwan hielt ihn fest.

„Für mich nicht“, sagte sie. „Es ist so warm, daß ich auch im Freien trocken werde.“

„Ich auch“, sagte Fuchsia.

Und ich, signalisierte Spatz.

Coyote zuckte die Achseln. „Na gut.“ Die ganze Gruppe ging nach draußen, nahm Kleidungsstücke von der Leine, holte schließlich Fahrräder aus dem Schuppen und fuhr davon.

 

Spatz stellte sein Rad bei den anderen ab und machte sich auf eigene Faust daran, die Farm zu erkunden. Er war nur ein oder zwei Male hier gewesen, aber noch nie hatte er so viele Menschen gesehen. Das größte Gebäude der Farm war eine aus Holz erbaute Pyramide. Die Fenster und verschiedene Teile der Wand waren heruntergeklappt, um das Tageslicht einzulassen. Spatz hielt sich von den auf dem Rasen spielenden Kindern fern und umrundete das Haus, wobei er in offene Räume spähte. In einem saßen ungefähr zehn Leute und hielten sich bei den Händen. Sie hatten alle die Augen geschlossen, und er vermutete, daß sie Om praktizierten. Fuchsia hatte ihm das im letzten Herbst beigebracht. Es vermittelte ein gutes Gefühl, besonders, wenn man es durch die Hände des Nachbarn spürte.

Er schlüpfte unter einem niederen Bogen in der Hecke hindurch und gelangte in den Garten. Blumen aller Farben blühten im Sonnenlicht. Hinter einigen Büschen reckte sich ein riesiger, knorriger Kirschbaum himmelwärts, wo er zu einem weißen Blütenmeer explodierte. Mehrere Beinpaare hingen daraus herab, und oben wurde die Krone geschüttelt, was zu einem weißen Regen führte. Spatz ging langsam zwischen den Büschen auf den Baum zu und grinste glücklich bei dem Gedanken an ein Versteck, der seine Wirbelsäule emporkribbelte.

Er rannte um einen Busch herum und stand plötzlich inmitten einer Gruppe von Leuten, die im Gras saßen. Einige sahen zu ihm auf. Er konnte sich nicht bewegen. Eine Frau spielte Gitarre, alle anderen bewegten sich mit offenen Mündern wiegend hin und her. Er konnte ihre Worte nicht verstehen, da sie die Lippen nicht genügend bewegten. Mit einiger Anstrengung riß er sich los und lief in eine andere Richtung.

Ein Versteck! Er entdeckte einen Busch, kroch darunter und kauerte sich in der trockenen, von Blättern umgebenen Kuhle zusammen. Das war schon besser.

Manchmal fragte er sich wirklich, wie es sein mußte, von Dingen zu wissen, die man nicht sehen konnte. Er konnte verschiedene Dinge fühlen, Trommeln, das Om und den Zeppelin heute morgen. Er spürte diese Dinge im Magen und mit den Fingerspitzen und auch, wenn er die Hände auf die Kehle von jemandem legte, der sprach oder sang. Aber wie mochte es sein, jemanden zu fühlen, der mit abgewandtem Rücken sprach? Wie mochte es sein, eine Vogelstimme in den Zweigen eines Baumes trällern zu hören? Konnten andere Menschen diese Dinge wirklich aus der Ferne fühlen?

Seine Aufmerksamkeit wurde von Bewegungen außerhalb der Blätter abgelenkt. Alle gingen in dieselbe Richtung – zum Haus. Es schien an der Zeit zu sein – aber woher wußten sie das?

 

Als die Glocke zu läuten begann, war es in der Küche schon übervoll und laut. Einen Atemzug lang verstummten alle rings um Coyote, dann begannen sie wieder zu sprechen, aber nun leiser, mit veränderten Stimmen. Sie gingen alle auf die Tür zu, die zum Gemeinschaftsraum führte. Coyote stellte seine Teetasse ab und folgte ihnen. Er fühlte sich gesellschaftlich isoliert und gleichzeitig irgendwie klar im Innern und dem Augenblick verhaftet. Er lächelte und nickte, wenn er Freunde sah, aber ihm war nicht danach zumute, mit jemandem zu sprechen, und mit ihm sprach auch keiner. Die Standuhr im Flur zeigte drei Uhr fünfzehn, das lange Pendel tickte langsam hinter dem Glas vor und zurück.

Das Gemeinschaftszimmer war ein zweistöckiger Raum. Wanderer saß im Lotossitz in der Mitte, während ihre Freunde den um sie verbleibenden Raum zu füllen begannen, die Kinder vorn, die größten Erwachsenen säumten die Wände. Coyote saß zwischen Menschen seiner Größe etwa in der Mitte der Versammelten. Seiner Schätzung nach hatten sich etwa hundert Menschen hier versammelt. Einige von ihnen erkannte er als Mitglieder dieses Haushalts. Er sah Schwan und Fuchsia, die zusammen rechts von ihm saßen, aber keiner sah zu ihm herüber. Fast jeder sah zu Wanderer. Coyote wandte sich ab, überkreuzte die Beine zu einer angenehmen Halb-Lotosstellung, und dann sah er Spatz“ knochige Gestalt unter der Tür auftauchen. Er wünschte sich, der Junge würde in seine Richtung sehen …

Die Gruppe atmete nun im gleichen Rhythmus mit Wanderer. Sie zog die Bauchdecke ein, entspannte sich wieder, mit jedem Atemzug hoben und senkten sich ihre Nasenflügel sichtbar. Man hörte nur noch das gemeinsame Atmen sowie die Schreie von Kindern und das Bellen von Hunden draußen. Wanderers runder Bauch erzitterte. Die Versammelten stimmten einen leisen Gesang an, dessen Rhythmus sich dem Atmen der Schwangeren und den Kontraktionen ihres Uterus anpaßten. Coyote räusperte sich und fügte dem Chor sein eigenes Murmeln hinzu. Sie waren wie ein Ozean zu Wanderers Mond, dachte er, und verwahrte die Metapher sorgsam an einem Ort, wo er sie wiederfinden konnte, wenn er wieder an seinen Gedichten arbeitete.

Der Gesang schwoll in immer stärkeren Wogen an und wieder ab. Eine der drei Mitfrauen hielt eine Armbanduhr in der Hand und murmelte Wanderer hin und wieder etwas zu, obwohl deren Konzentration völlig nach innen gekehrt schien. Sie hatte die Augen geschlossen und den Mund geöffnet. Sie veränderte mehrere Male ihre Haltung, bis sie schließlich die Gesäßbacken fest an den Boden preßte. Die Hände einer weiteren Mitfrau – Coyote kannte sie von den Gemeinschaftsgärten, ihr Name war Gael – ruhten auf Wanderers Schultern, um sie zu stützen, während die dritte auf dem Leinentuch lag und Wanderers Bauch, ihre Lenden und die ausgedehnte Vagina massierte. Als Wanderer schrille Laute der Ekstase und des Schmerzes von sich gab, erreichte auch der Gesang einen Höhepunkt, und dann erschien verblüffend rasch das nasse, rote Rund des Babykopfes zwischen ihren Schenkeln. Wanderer lehnte sich in Gaels Arme zurück, während die dritte Mitfrau das Baby in die Arme nahm. Die Hüften, die Knie und die winzigen Füßchen kamen heraus, schließlich hob die Frau das Baby empor und legte es auf Wanderers Bauch. Wanderers Hände griffen suchend hinab, spürten den Kopf und die kleinen Händchen. Da lächelte sie ganz kurz. Coyote war der Meinung, daß sie erschöpft aussah. Gael schob ihr ein Kissen unter den Kopf. Im Raum war es sehr still geworden, und das blieb auch so, bis das Baby nach mehreren Minuten den Gebrauch seiner Lunge entdeckte und einen kurzen Schrei ausstieß – dann erst begannen die Versammelten zu murmeln, zu lachen oder zu weinen.

Coyote blieb nicht und sah sich auch das Durchtrennen der Nabelschnur und die Riten nach der Geburt nicht an. Er erhob sich ungelenk und gesellte sich zu einigen anderen draußen. Niemand sagte etwas, sie sahen alle nur ernst oder glücklich drein. Jemandem im Garten wurde übel, Freunde halfen ihm. Ein Mann, den Coyote nicht kannte, lachte laut, obwohl seine Wangen tränenverschmiert waren, und breitete die Arme zur Sonne aus.

Coyote sah sich nach Spatz um.

 

„Aber schau dir doch nur die Augen an! He, hallo, Kleines!“ Spinne berührte die winzige Handfläche mit einer Fingerspitze, die Hand schloß sich um ihren Knöchel, die Augen schauten wiederholt zu ihr hinauf. Spinne lächelte auf Wanderer hinab. „Hast du das gesehen?“ Sie nahm Wanderers rechte Hand und schloß sie sanft um die Hand des Babys, die ihren Finger umklammert hielt. „Siehst du? Ich meine, fühlst du es? Das ist ein instinktiver Mechanismus aus der Zeit, als wir noch alle Haare auf Bauch und Rücken hatten, an denen die Neugeborenen sich festklammern konnten.“

Wanderers marmorfarbene Augen schimmerten feucht, und sie sah zur Decke empor. „Ich verstehe“, sagte sie.

Spinne lächelte und küßte die Finger der Frau. „Du hast alles gut überstanden, Kleines, wirklich prima. Das Baby ist sogar eine Sie.“

Wanderer lächelte erschöpft und schüttelte den Kopf. „Du weißt, Liebes, daß ich schon lange behaupte, eine Geburt sei weniger Frauen- als Menschensache. Zu schade, daß die Hälfte unserer Bevölkerung leider außerstande ist, selbst diesen göttlichen Erschöpfungszustand zu erleben.“

Spinne lachte. „Pssst. Über Politik können wir uns später unterhalten.“ Und plötzlich war sie traurig. Der Gemeinschaftsraum war fast verlassen, die Sonne ging unter. Oder vielmehr, dachte Spinne, die Erde ging auf. Sie spürte eine Träne, die ihre Wange hinabrollte. „Wanderer?“ Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Stück Papier.

„Mmm?“ Wanderer schien schon fast eingeschlafen zu sein.

„Wir sehen uns später, ja?“

Sie nickte verträumt.

„Sagen wir … in einem Jahr?“

Wanderer öffnete Augen, die nicht sahen.

„Ich gehe“, sagte Spinne mit einiger Anstrengung. „Ich weiß nicht, wohin. Wahrscheinlich nach Osten, nach Virginia. Ich möchte etwas Staub zwischen den Zehen spüren und mal was anderes sehen.“ Sie wartete darauf, daß Wanderer etwas sagte, aber diese gab keine Antwort. „Ich werde im nächsten Frühjahr zurückkehren, das verspreche ich dir. Denk doch nur. Diese kleine Lady hier wird dann schon im Haus umhergehen können.“

Nun lachte Wanderer unter Tränen. „Das bezweifle ich!“

„Ich liebe dich“, sagte Spinne.

„Ich liebe dich auch.“

Spinne beugte sich hinab und küßte ihre Wangen, ihre Lippen. Sie liebkoste das Kind, dann erhob sie sich und entfernte sich rasch.

 

Mit dem Fahrrad? Nein, zu Fuß. Den Asphaltweg verlassen und den Hirschpfad im Wald benutzen. Fichten, Büsche, Brombeersträucher und der schwere, süße Geruch des Nachmittags. Spatz rannte den Pfad entlang, bis er keuchend atmete. Er blieb stehen, zog die Hose hinunter und Buckte sich, um einen hellgrünen Trieb zu beobachten, der sich gerade durch das krümelige Erdreich bohrte. Babypflanze, Babymädchen. Sterben, alt sein. Man selbst sein. War Schwan auch einmal ein Baby gewesen? Spatz schüttelte nachdenklich den Kopf.

Er fragte sich, ob jeder bei der Geburt so aussah. So still, so kläglich, schimmernd, verschmiert, so rot und blau und winzig! Spatz war fast sechs, viel größer als Wanderers Baby, aber verglichen mit Spinne und Coyote und Fuchsia und Rose war er immer noch ein Baby – und verglichen mit Schwan waren sie wiederum alle Babys. Und Schwan war auch ein Baby, verglichen mit … mit Douglas. Aber wo endete das?

Er zitterte, denn es war schattig um ihn her. Er richtete sich ungeschickt wieder auf und zog die Hosen hoch, dann eilte er weiter den Pfad entlang. Die rote Sonne flackerte zwischen Blättern und Stämmen, während er ging. Der Pfad führte sanft gekrümmt hinab, dann stieg er weiter an, führte um einen Felsen herum und dann direkt bis zum Waldrand, nur wenige Meter von der Eingangstür der Hauptkuppel entfernt.

Er blieb stehen und fühlte sich taub und alt. Seine linke Wange begann zu schmerzen, Tränen rannen herab. Spatz rannte los.

 

Die Tür schlug zu und sperrte den Spätnachmittag aus. Schritte eilten die Rampe herab. Coyote, der nähte, sah auf. „He …“ Seine grauen Augen folgten Spatz, der wie ein Blitz durchs Zimmer eilte und hinter der blauen Flanelltür verschwand. „Puh“, sagte er. „Ich frage mich, was diese Eile zu bedeuten hat.“

Schwan, die neben ihm saß, holte ein Stopfei aus einer Socke und sah ihren Sohn an. „Hast du die Tränen nicht gesehen?“

„Was?“ Coyote hob die Schultern seiner roten Haarwolke entgegen. „Aber …“

„Ich habe Spatz die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen“, erklang Fuchsias Stimme hinter einem Paar Hosen. Flipp, flapp, und schon landeten sie zusammengelegt auf dem Wäschestapel. „Ich glaube, Spatz hat das alles … besonders aufgenommen“, sagte er. „Ich glaube, daß er es aus der Sicht eines Fünfjährigen wirklich verstanden hat.“

Danach wurde es im Zimmer einige Minuten still, abgesehen vom Geräusch von Stoff auf Stoff. Dann sagte Coyote: „O Gott …“

„Ich glaube, Spatz war ergriffen“, sagte Schwan. „In einem religiösen Sinn.“

Coyote sah sie einen Augenblick stumm an, dann steckte er den Flicken, den er festnähte, mit einer Nadel fest und stand auf.

„Nun mach mal einen Punkt, Coyote“, begann Schwan, doch er war schon verschwunden. Sie sank wieder zurück, schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. „Mein Gott, wann wird der Mann jemals lernen, jemanden allein zu lassen?“

Spinne schob die Tür beiseite (ein Schnappschuß eines Spiralmoleküls, Seide auf Sackleinwand) und kam ins Zimmer. „Schwan“, sagte sie, „ich muß euch etwas …“

„Er hört einfach nicht zu“, sagte Schwan. „Und Spatz kann es nicht.“

„Schwan …“

„Na gut, ich schätze, wir müssen sie einfach in Ruhe lassen, damit sie gemeinsam ihre Antworten finden können.“ Wieder schüttelte sie den Kopf.

Spinne seufzte. „Da hast du wohl recht.“

Fuchsia stieß Schwan an und räusperte sich. „Spinne, wolltest du …“ sagte er.

Spinne lächelte ihrem Bruder erschöpft zu und schüttelte den Kopf. Sie wandte sich um und ging wieder in ihr Zimmer, um zu packen.

 

Coyote fand Spatz in Decken vergraben an einer Wand der kleinen Kuppel. „He“, sagte er und schüttelte sanft Spatz’ Schulter. „Ich bin’s.“ Er drehte den Jungen auf den Rücken und betrachtete dessen rote Augen. „He, was hältst du denn von der Geburt heute? Ich fand, daß sie wunderschön war, du nicht auch?“

Spatz schüttelte nickend seine braune Mähne.

„Was denkst du darüber? Was hast du empfunden? Das würde ich wirklich gerne wissen.“

Spatz runzelte die Stirn und lächelte fast, doch dann begann er zu schluchzen. Coyote suchte nach seiner Hand und drückte sie.

„War es denn nicht hübsch?“ fragte er. „Ich habe in meinem Leben drei Geburten gesehen, eine davon war deine … und jedesmal war es zu gut, als daß man es beschreiben könnte, und viel zu schön.“

Sein Sohn wandte sich ab und weinte ungeniert in die Decke.

„He“, sagte Coyote. „He.“ Und er fuhr mit der Hand über den bloßen Arm, der unter der Decke hervorragte. Spatz gab ein langgezogenes, tiefes Heulen von sich, bei dem es Coyote kalt den Rücken hinunterlief. Er drehte den Jungen behutsam wieder um. Spatz sah ihn mit hellen, feuchten Augen an und zog auch die andere Hand unter der Decke hervor. Seine Finger zitterten, doch Coyote konnte trotzdem lesen, was sie sagten.

„Na klar“, antwortete er und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wüßte keinen Grund, der dagegen spricht. Viele Leute haben Babys, wenn sie alt genug sind.“

„Ah-ahhh“, weinte Spatz, schüttelte den Kopf und legte ihn an Coyotes Stirn. Haare und Kopfhäute rieben sich aneinander. Der Junge machte ein anderes Zeichen, das soviel wie unmöglich bedeutete.

„Oh“, sagte Coyote. „Wie kommst du denn darauf? Jeder kann Babys ha …“ Dann klappte sein Kiefer herunter. „O Gott“, sagte er und zog den Jungen an sich. „Oh, Spatz, es tut mir leid, ich habe es nicht gleich verstanden.“ Er küßte seine Stirn, das Gesicht, die Hände. „Tut mir leid“, murmelte er. „Ich würde dir gerne helfen, wenn du das meinst, aber das kann ich nicht. Wir alle müssen so leben, wie wir geboren werden.“

Er zog sich etwas zurück und drehte Spatz’ Kopf so, daß der Junge seine Lippen sehen konnte. „Ich liebe dich“, sagte er. „So wie du bist.“ Und danach weinten sie beide gemeinsam eine Weile.

 

Als Spinne hereinschlüpfte, um sich zu verabschieden, weckte sie die beiden nicht auf.