Gregory Benford
Alte Frau am Straßenrand
OLD WOMAN BY THE ROAD

 

Eine alte Frau in einem formlosen, zerknitterten Kleid und ausgetretenen Schuhen saß am Straßenrand. Durch die Kiefern, die dicht an dicht das weiße Band der Straße säumten, wehte eine leichte Brise, und ich war außer Atem vom schnellen Marschieren. Die alte Frau saß schweigend und regungslos da. Ich wäre beinahe vorbeigelaufen, ehe ich sie bemerkte.

„Sie ruhen sich sicher etwas aus?“ fragte ich.

„Ich warte.“ Ihre Stimme klang trocken, und beim Ausatmen raschelte es wie Laub in ihrer Kehle. Sie saß auf einem braunen Pappkoffer mit kupfernen Schließen. An der Seite war er aufgeplatzt, und weißer Stoff schaute hervor.

„Auf den Bus?“

„Auf Buck.“

„Der Hubschrauber hat durchgegeben, der Bus würde oben vor der Biegung halten“, erklärte ich. „An der Hauptstraße.“

„Ich weiß.“

„Hier in der Nebenstraße kommt er gar nicht vorbei.“

Ich war selbst spät dran und nahm an, sie habe sich den falschen Platz zum Warten ausgesucht.

„Buck wird schon kommen.“ In ihrer hohen Stimme schwang der nasale Akzent der Landbevölkerung mit. Auch ich hatte so einen Klang in der Stimme, aber im Moment sprach ich meine Vokale klar aus, und der Akzent der alten Frau erinnerte mich daran, wie lang mein Weg gewesen war.

Ich folgte der lang geschwungenen Biegung des Sandweges mit den Augen. Aus einer Nebenstraße kam knatternd ein offener Lieferwagen und bog in die tiefen Radspuren im weißen Sand ein. Auf der Pritsche hockten Leute mit ein paar Kisten und Koffern und einem 3-D-Gerät. Sie nahmen an Wertsachen mit, soviel sie konnten, aber die von draußen hatten uns nicht viel Zeit gelassen.

„Wer ist Buck?“

„Mein Hund.“ Sie blickte mir ins Gesicht, als müsse es doch völlig klar sein, wer Buck war.

„Sehen Sie mal, der Bus …“

„Du bist doch der Bishop-Junge, nicht wahr?“

Ich schaute wieder zur Seite und die Straße entlang. Diese paar Worte „der Bishop-Junge“ knirschten mir wie Sand zwischen den Zähnen. Bevor ich an die Universität ging, hatten die Freunde meiner Mutter immer diese Worte gebraucht, wenn sie auf einen Bridge-Abend herüberkamen. Es schien nie ein Weg daran vorbeizuführen, es zuzugeben und mich damit in eine geistige Schublade einordnen zu lassen. Das war damals so, und jetzt war es nicht anders. Ich sagte: „Ja, der bin ich.“ Die Worte kamen deutlich heraus.

„Genau wie ich dachte.“

„Sie sind …?“

„Elisabeth McKenzie.“

„Aha.“

Wir hatten dem Ritual Genüge getan, und nun konnten wir uns unterhalten.

„Ich habe deine Großmutter sehr gut gekannt.“

„Mrs. McKenzie …“

„Ich bin ganz sicher, daß ich dich auch mal gesehen habe. Ist schon lange her. Es war bei einem von diesen Fischessen, die deine Großmutter gab. Du und noch ein paar kleine Jungen spielten am Wasser mit den Netzen rum, und mein Mann ging hin, um euch von den Booten wegzuscheuchen. Ich nahm Flundern aus, und dein Großvater kümmerte sich um das Feuer. Das war unten am Point Clear.“

„Ich glaube, ich erinnere mich auch daran. Mrs. McKenzie, bald kommt der letzte Bus.“

„Ich warte noch auf Buck.“

„Wo ist er denn?“

„In den Wald gelaufen.“

Ich verschob die Riemen meines Rucksacks auf den Schultern. Sie knarrten in der Stille.

Viel Zeit blieb nicht mehr. Bald würde es losgehen. Einer der großen Reflektorspiegel, die die von draußen im synchronen Orbit hielten, würde seinen Lichtstrahl auf eine mit Gasen gefüllte, aufladbare Röhre richten. Die Gase würden ihre Molekularphasen durchlaufen und durch das einfallende Licht erregt werden. Damit würde die Lasertätigkeit einsetzen. Von ihrem bevorzugten Quantenzustand würden die erregten Moleküle gemeinsam in den nächsttieferen Zustand überschwappen, und während die Welle die Röhre entlangwanderte, würde sie weitere Photonen losreißen. Die Photonen würden sich gegenseitig in der Phase verstärken und sich zu einer intensiven Welle mit wachsender Amplitude aufbauen. Aus der hundert Meter langen Röhre würde ein Strahl durch die Atmosphäre und die Wolkendecke über uns hindurchschießen. Und statt auf ein Feld beschichteter Halbleiterkollektoren bei Mobile zu treffen, würde der Strahl eine zwanzig Meter breite Schneise durch die Wälder und Felder um uns herum sengen.

„Der Bus kommt“, mahnte ich.

Sie sah mich nur an.

„Ich trage Ihren Koffer.“

„Das kann ich schon selber.“ Mit zugekniffenen Augen blickte sie in die Ferne, und ich sah, daß sie todmüde war, so müde, daß sie es selbst nicht mehr merkte.

„Ich komme mit Ihnen, Mrs. McKenzie.“

„Ehe Buck nicht zurückgekommen ist, gehe ich nicht.“

„Der Bus … Lassen Sie doch den Hund, Mrs. McKenzie.“

„Ich bin auf den ollen Bus nicht angewiesen.“

„Wieso nicht?“

„Meine Kinder sind vor ein paar Stunden mit ihren Familien nach Mobile gefahren. Sie haben gesagt, sie würden wiederkommen und mich abholen.“

„In meinem Instet-Radio …“ – ich tippte an meine Schläfe –“ … habe ich gehört, die Straßen nach Mobile seien völlig verstopft. Womöglich schaffen sie es nicht zurück.“

Sie ruckte mit ihren mageren Beinen auf dem Koffer hin und her. „Meine Kinder sind schon sehr früh abgefahren.“

„Aber …“

„Sie laden dort einen Haufen Sachen aus ihrem neuen Haus ab. Danach kommen sie zurück und holen mich. Das haben sie versprochen.“

„Woher sollen sie denn wissen, wo Sie sind?“

„Ich habe ihnen gesagt, daß ich versuche, zu Fuß zur Hauptstraße zu laufen. Habe es bloß nicht ganz geschafft, das ist alles.“ Sie blinzelte in die Sonne. „Sie wissen schon, daß ich hier unten bin.“

„Aber trotzdem wird es Zeit …“

„Mir passiert nichts, nur keine Sorge. Es sind gute Kinder. Sie danken mir alles, was ich für sie getan habe.“

„Ich glaube wirklich, Sie sollten den Bus nehmen, Mrs. McKenzie.“

„Ohne Buck gehe ich nicht. Buck habe ich schon, seit er ganz …“ Sie brach ab, und ich blinzelte mir den Schweiß aus den Augen und schaute um mich. Ringsum erstreckte sich Kiefernwald mit einigen Eichen, deren knorrige Wurzeln sich über den Sandboden wölbten. Ein Hund konnte hier praktisch überall sein. Das Land war flach und lag kaum höher als der Meeresspiegel. Ich hatte im Baldwin County ein bißchen zelten und mich erholen wollen. Fünf Tage war ich schon hier, hatte auf dem Fish River gerudert und nach den Stätten gesucht, die ich als Junge gekannt hatte, damals, als meine Großmutter Boote vermietete und in einem alten, weitläufigen Fischerhaus wohnte. Die Insel genau in der Mitte des Fish River, die in meiner Erinnerung groß und geheimnisvoll aussah und die ich Schatzinsel getauft hatte, bestand jetzt aus ein paar Bäumen auf einem Klumpen Schlamm. Die ständige Strömung hatte sie hinweggeschwemmt. Jetzt war dort alles Morast, und das schwarze Wasser schmeckte wie schwacher Tee. Aber es war alles schön, die Seitenarme und die Strömungen im tiefen Fluß, die an meinem Ruderboot zerrten. Ich hatte auf der Landzunge gezeltet, wo der Fish River einen Bogen macht, bevor er sich geraden Laufs in die Bucht ergießt. Eines Morgens hatte mich der Hubschrauber aufgeweckt, der den Alarm herausdröhnte. Die von draußen gaben vier Stunden Frist, hieß es. Sie hatten diese vierzig Quadratkilometer in Süd-Alabama und zwei weitere Stellen in Asien nach dem Zufallssystem herausgepickt, um ein Exempel zu statuieren. Die großen Zylinder-Gemeinwesen, die die Erde umkreisten, würden ihre Lasereinrichtungen, die zum Übermitteln von Energie aus dem Orbit gedacht waren, zum Sengen und Brennen benutzen. Weitere Schläge waren angedroht, bis die Erde den Zylinderwelten völlige Unabhängigkeit zugestand. Aber ein wirkliches Gleichgewicht der Kräfte konnte es nicht geben. Wenn die von draußen erst freie Hand hatten, konnten sie die Erde nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Sie hatten die ökonomische Macht und jetzt auch noch die militärische. Vielleicht war das nicht einmal so schlimm: Sie waren die Tüchtigsten, die die Erde hervorbringen konnte.

Darüber hatte ich viel nachgedacht, als ich auf der Landzunge war. Es war gar nicht so einfach zu entscheiden, auf welcher Seite man eigentlich stehen sollte. Die Leute im Orbit waren großartige Kerle und mir sehr ähnlich. Viel ähnlicher jedenfalls als die Leute im Baldwin County, selbst wenn ich hier aufgewachsen war. Ich hatte schon eine Zeitlang mit Laser-Technologie gearbeitet und wußte, daß die Zukunft dem Orbit gehörte. Die von draußen waren klug und wußten, wann es zu handeln galt.

„Wo ist Buck hin?“ fragte ich mit entschlossener Stimme.

„Er … da drüben.“ Ein mattes Winken der Hand.

Ich legte meinen Rucksack auf die Böschung, wo das Kriechgras ihn festhielt. Aus einem ausgefahrenen Seitenweg kam mit heiserem Summen ein Auto. Bleiche, aneinandergedrängte Gesichter sahen uns aus großen Augen an, dann trat der Fahrer den Wasserstoffhebel durch, und sie waren verschwunden.

Ich betrat den niedrigen Kiefernbestand an der Straße. Unter meinen Stiefeln huschten Sandfliegen davon. Der weiße Sand gab sein leises Quietschen von sich, wenn meine Sohlen darüberrutschten. Ich erinnerte mich, wie ich als Junge dieses Geräusch hier zum ersten Mal gehört hatte – ich trug damals Tennisschuhe – und mir schließlich zusammengereimt hatte, wie es zustande kam.

„Buck!“

Links von mir leuchtete etwas Braunes auf, und ich lief hin. Ich rannte durch ein Kieferndickicht, und der Hund kläffte und verdrückte sich eiligst unter ein Schlehdorngebüsch. Ich rief noch einmal nach ihm. Der Hund lief nicht einmal langsamer. Ich schlug einen Bogen nach links. Er verschwand im Eichenunterholz, und ich hörte, wie er sich darin verhedderte, sich wieder losriß und auf der anderen Seite herauskam. Da war er schon fünfzig Meter entfernt und lief schnell.

Als ich zu der alten Frau zurückkam, schien sie gar keine Notiz von mir zu nehmen. „Ich kann Buck nicht einfangen, Mrs. McKenzie.“

„Das hätte ich dir gleich sagen können.“ Sie lachte mir ehrlich amüsiert ins Gesicht. „Buck ist ganz schön fix.“

„Rufen Sie doch mal nach ihm.“

Sie lächelte abwesend und hob die Hände an den Mund. „Buck! Hierher, mein Junge!“

Die niedrigen Kiefern verschluckten das Geräusch.

„Muß weggelaufen sein.“

„Hören Sie, Mrs. …“

„Du hast ihn scheu gemacht. Er kommt nicht, wenn jemand da ist, den er nicht kennt.“

„Wir haben nicht die Zeit, auf ihn zu warten.“

„Ohne den alten Buck gehe ich nicht. Als ich ganz allein unten am Fluß in dem alten McAllister seinem Haus war und das Wasser ums Haus herum stieg, da war Buck meine einzige Gesellschaft. Fünf Wochen lang die einzige lebende Seele, die ich gesehen habe, als wir den großen Sturm hatten.“

Ein leises Dröhnen. „Das dürfte der Bus sein.“

Sie legte den Kopf schief. „Ja, ich höre auch etwas.“

„Nun kommen Sie schon. Ich trage Ihren Koffer.“

Sie machte einen Schmollmund und kreuzte die Arme. „Ich werde von meinen Kindern abgeholt. Ich habe ihnen gesagt, daß ich hier irgendwo zu finden bin.“

„Ihre Kinder schaffen es vielleicht nicht rechtzeitig.“

„Es sind zuverlässige Kinder.“

„Mrs. McKenzie, ich kann nicht so lange warten, bis Sie Vernunft annehmen.“ Ich nahm meinen Rucksack auf und fegte ein paar rote Ameisen hinunter, die auf den Riemen umherkrabbelten. „Sind Sie von McAllisters Haus bis hierher zu Fuß gekommen?“ Ich hievte den Rucksack auf eine Schulter und schwang ihn dann auf die andere.

„Ja.“

Das Haus des alten McAllister lag gute fünf Kilometer entfernt. Klar, daß sie erschöpft war und hier verschnaufen wollte.

„Vernunft annehmen. Ihr Bishops hattet es immer mit der Vernunft.“ Ihre Augen verengten sich. In ihrem Gesicht standen viele Erinnerungen.

„Darum möchte ich ja, daß Sie jetzt mitkommen.“

„Deine Oma hat andauernd von dir gesprochen.“ Sie warf einen Blick zum Himmel. „Du warst doch da oben, stimmt’s?“

„Ja, das stimmt.“

„Und du gehst wieder zurück. Du warst hier unten nur auf Urlaub.“

Ich schaute die jetzt verlassene Straße hinunter.

„Es sind also deine Leute da oben.“

„Es scheinen gerade die Falschen die Hand am Hebel zu haben.“

„Dieselben wie immer.“ Sie zog die Nase hoch.

„Mrs. McKenzie, da kommt der Bus.“ Das Turbogeräusch ging in ein hohes Sirren über, als der Bus unterhalb der Biegung von der asphaltierten Straße abbog. „Es ist der letzte.“

„Geh du nur.“ Sie setzte sich mit ihrem vollen Gewicht zurück auf ihren Koffer. Ich streckte die Hand aus, um ihren Arm zu ergreifen, und ihr Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an. „Rühr mich nicht an, Junge.“

Mir wurde klar, daß weder Überredungskunst noch Gewalt sie um diese letzte Straßenbiegung bringen würde. Bis hierher und nicht weiter war sie gelaufen; den Rest des Weges würde die Welt sich schon zu ihr bemühen müssen.

Der Busfahrer dort vorne war hier, an seinem letzten Haltepunkt, wahrscheinlich schon spät dran. Er würde nervös und mehr als ein bißchen verängstigt sein. Die von draußen würden pünktlich anfangen, das wußte er nur zu gut.

Ich rannte los. Unter meinen Füßen gab der Sand nach. Ich merkte, daß mich das Traben und Laufen bis hierher schon mehr angestrengt hatte, als mir bewußt gewesen war. Ich quälte mich durch die tiefen Radspuren. Der ganze verdammte Planet zerrte an meinen Füßen und hielt mich unten fest. Etwa zweihundert Meter weit war ich schon um die Biegung gekommen und fast in Sichtweite des Busses, als ich den Motor aufheulen hörte. Ich lief schneller und spürte den Geschmack von Schweiß im Mund. Der Fahrer schaltete den Motor hoch, er hatte es eilig. Er mußte auf mich zukommen, wenn er für die Rückfahrt nach Mobile auf die Route 80 einbog. Vielleicht konnte ich es rechtzeitig zur Hauptstraße schaffen, so daß er mich sehen und anhalten würde. Mir war klar, daß jetzt alles davon abhing, wie schnell ich vorwärts kam, also zog ich den Kopf ein und rannte.

Rannte.

Aber dort unten saß immer noch die alte Frau. Um zu ihr zu kommen, würde der Fahrer den Bus den Sandweg mit den tiefen Radspuren hinuntermanövrieren müssen und Gefahr laufen steckenzubleiben. Alles für die alte Frau mit den dankbaren Kindern. Sie schien nicht zu verstehen, daß es am Himmel jetzt undankbare Kinder gab. Sie schien überhaupt nicht viel von allem zu verstehen, was da vor sich ging. Und auf einmal war ich mir gar nicht mehr so sicher, daß das bei mir anders war.