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Paris – Zentrum des Eulenuniversums

 

Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris.

Heinrich Heine

So wie es unter den Menschen Frühaufsteher und Langschläfer gibt, so gibt es diese auch unter den Städten. Unterhielten sich auf einer illustren Gesellschaft die Städte über ihre Schlafgewohnheiten, so würden sich Jakarta, Kuala Lumpur und Hongkong wohl damit rühmen, die Ersten zu sein, die aus den Federn kommen. Das liegt nicht nur daran, dass im Osten die Sonne eher aufgeht, oder an der relativen Nähe dieser Megastädte zum Äquator, sondern auch daran,dass diese Städte aufschließen wollen an die Weltmärkte und den westlichen Wohlstand, und so machte leider auch hier plötzlich die Kunde von der goldenen Morgenstund die Runde.

Kairo und Bagdad reagieren auf so viel Eifer nur mit einem müden Lächeln – sie würden geltend machen, dass weder Geld noch Arbeit, noch Streben nach Wohlstand sie aus dem Bette ruft, sondern niemand Geringerer als Gott höchstselbst, und dass man deswegen nicht nur früher aufzustehen bereit sei als alle anderen, sondern dass das auch der würdigste aller Gründe sei.

Dem ist natürlich nichts hinzuzufügen, und die Diskussion um Schlafgewohnheiten wäre jäh beendet, würde nicht mit einem Mal New York in die Runde platzen mit einem: »Ich gehe erst gar nicht ins Bett!« Auch das ist natürlich schwer zu toppen, denn gegen eine Stadt, die 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche die Augen geöffnet hat, kann selbst ein ganz früher Vogel nicht ankommen. Da ist immer einer schon oder noch wach, wenn man aufsteht.

Aber soviel Vorsprung löst selbstverständlich nicht nur Bewunderung aus, sondern auch Neid. Hinter vorgehaltener Hand fangen die Städte an zu tuscheln: Jaja, New York, zwar immer wach, aber sei es da nicht auch ziemlich laut? Nicht zuletzt wegen der ewig heulenden Sirenen der Polizeiautos? Das zeige ja wohl, dass nicht nur die guten Menschen rund um die Uhr rührig seien, sondern vor allem die, von denen man sich wünsche, dass sie gar nicht erst in die Gänge kommen. Andere warten mit Statistiken auf: New York sei zwar die Stadt der Superlative, jedoch leider auch bei den Negativstatistiken: Herzinfarkte, Tablettensucht, Paranoia … Jetzt trauen sich noch andere in die Offensive: Hat nicht eigentlich genau dieses Nicht-inne-halten-Können zur Überhitzung der Börsen geführt? Ist New York nicht Schuld am Börsencrash? An der weltweiten Wirtschaftskrise? Hat es nicht Millionen von Menschen in die Pleite, die Verzweiflung und auch einige in den Tod getrieben?

Und dann schlägt die Stunde von Paris. Denn Paris schläft lang! Und zwar schon immer! Aus Prinzip!

Nun wird auch hier hinter dem Rücken getuschelt: In Paris, so das blitzblanke Dubai, da sei es ja in den Ecken nicht gar so sauber – zumal wenn man an das historische Paris von vor der Revolution denke, an den Gestank von Mist, Fäule, Rattendreck, angebranntem Fett und verschimmeltem Brot, an Fischabfälle und feuchte Lumpen und an den Geruch von Verwesung und Tod, der von den Friedhöfen aus durch die verwinkelten Gassen wehte. Ekelhaft sei das gewesen damals und nicht zum aushalten – aber eben auch typisch für notorische Langschläfer.

»Und was das alles kostet«, mischt sich das kapitalistische Washington ein. Schon Benjamin Franklin, Erfinder des Bonmots »Zeit ist Geld«, sei ja seinerzeit, als er anno 1784 in Frankreichs Hauptstadt zu Gast war, diese Gewohnheit, sich auszuschlafen, erzürnt gewesen und er habe deshalb den Pariser Bürgern mal vorgerechnet, was diese Unsitte koste. In 183 Sommernächten verbrächten sie satte 128 100 000 Stunden bei Kerzenschein und verbrauchten dabei 64 Millionen Pfund Wachs und Talg – Rohstoffe im Wert von 96 Millionen Livre: »Eine immense Summe! Die die Stadt Paris jedes Jahr sparen könnte, indem sie Tageslicht statt Kerzen benutzt«[39], belehrte Franklin die Pariser Bürger. »Ihr Leser, die ihr wie ich noch nie vor Mittag die Sonne gesehen habt, werdet erstaunt sein zu hören, wie früh sie aufgeht, vor allem wenn ich Ihnen versichere, dass sie Licht gibt, sobald sie aufgegangen ist. Ich sah es mit eigenen Augen.«[40] Seine nicht ganz ernstgemeinten Vorschläge, diese Pariser Verschlafenheit abzuändern, klangen drastisch: Strafsteuern auf Fensterläden, Straßensperren nach Sonnenuntergang, strenge Rationen für Kerzen und, falls dies alles nicht nütze, Kanonenfeuer und Glockengeläut gleich nach Sonnenaufgang! »Damit sich die Augen der Langschläfer öffnen und sie ihren eigenen Vorteil erkennen.«[41]

Solch einen strikten Kurs finden die meisten Städte dann doch zu radikal, zumal sich in der Runde auch die eine oder andere Nachteule befindet, die nach außen hin den schönen Schein wahrt, aber insgeheim Paris um sein Laisser-faire beneidet. In dieses klammheimliche Wohlwollen würde Paris dann einstreuen, dass es zu der Zeit, als Franklin zu Gast war, tatsächlich lang geschlafen habe, allerdings nicht besonders viel. Denn es habe in den Nächten etwas getan, wozu keine der anderen europäischen Städte in der Lage war: eine Revolution und die Abschaffung des Adels vorzubereiten und zu vollenden. Revolution, das hieß, an der königlichen Zensur vorbei Versammlungen einzuberufen, Salons zu halten, Pamphlete zu drucken und Forderungen zu ersinnen – und dies gerne auch nachts. Das Ergebnis sei bekannt und auch der Grund, warum man heute so nett und in illustrer Runde zusammenstehen könne.

Nach diesem Plädoyer in eigener Sache wird Paris ein paar Flaschen Champagner ordern und den gemütlichen Teil des Abends einleiten. Und dann, wenn sich die frühen Vögel einer nach dem anderen mit betriebsamen Entschuldigungen wie »Muss früh raus« (London) und »Hab morgen viel zu tun« (Hongkong) verabschiedet haben und schließlich nur noch das nimmermüde New York, das nachtaktive Paris und das ohnehin entschleunigte Berlin beieinanderstehen, würde die US-Metropole Paris gestehen: »Sie waren mir gleich sympathisch! Nur gut, dass Sie die Vorschläge unseres Präsidenten nicht ernstgenommen haben.«