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Harte Fakten für aufgeweckte Langschläfer

 

Ich würde alles auf der Welt tun, um meine Jugend wiederzuerlangen, außer Sport treiben, früh aufstehen oder ehrbar werden.

Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray

Es kommt auf die Länge an …

Was heißt das eigentlich: Langschläfer sein? Lang ist das Gegenteil von kurz. Aber tatsächlich kommen nur die wenigsten Menschen hierzulande mit einem kurzen Schlaf aus. Die durchschnittliche nächtliche Ruhephase vom Lichtlöschen bis zum Weckerklingeln dauert acht Stunden. Das gilt für jeden Vierten in der Bevölkerung. Fast zwei von drei Personen, also die Mehrzahl, benötigen eine halbe Stunde weniger (7,5 Stunden) oder eine halbe Stunde mehr (8,5 Stunden) Schlaf, um die Batterien wieder aufzuladen. Menschen, deren Schlafbedürfnis wirklich gering ist, also lediglich ca. fünf Stunden beträgt, gibt es nur wenige – nämlich etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Ebenso viele brauchen mehr als zehn Stunden Schlaf, um jenen Zustand zu erreichen, den sie mit »wach« beschreiben würden. Das sind die echten Langschläfer – nicht diejenigen, die sich bloß weigern, mit den sprichwörtlichen Hühnern aufzustehen.

»Lang« ist also durchaus eine relative Größe, und in den allermeisten Fällen schlafen Langschläfer genauso lang wie Frühaufsteher. »Lang« bedeutet also nur »etwas länger in den Tag hinein« – und da stellt sich die Frage: Was ist überhaupt ein Tag? Auch das ist ziemlich relativ.

Für viele beginnt der Tag, wenn die Sonne aufgeht, für andere erst dann, wenn die Läden öffnen oder man sich langsam den Geschäften des Tages widmet, und er endet abends mit dem Untergang der Sonne bzw. wenn die Läden wieder schließen oder man sich langsam auf die Nachtruhe vorbereitet. Und selbst diese unterschiedlichen Definitionen sind im Vergleich zu sehen. Denn während in Thailand wegen seiner Äquatornähe die Sonne das gesamte Jahr über gegen 5.45 Uhr auf- und gegen 17.45 Uhr untergeht, ein Tag dort also gut und gerne zwölf Stunden umfasst, ist die Tageslänge in allen nördlicheren und südlicheren Regionen über das ganze Jahr hinweg umso variabler, je näher sie sich in der Nähe der Pole befinden. In allen Ländern vom 60. Breitengrad bis zu den Polen geht um die Wintersonnenwende herum die Sonne über mehrere Tage gar nicht auf, während es im Sommer zu den sogenannten »Weißen Nächten« kommt, in denen die Sonne niemals hinterm Horizont verschwindet. An den Polen ist die Situation so extrem, dass sich dieser Zeitraum über ein halbes Jahr erstreckt: Ein Polartag dauert also sechs Monate. Wer hier die Sonnenauf- und Sonnenuntergangsstrategie verfolgt, erleidet Schiffbruch.

Mit der Erfindung der Uhr entstand eine andere Möglichkeit, einen Tag zu definieren. Ein Tag beginnt demnach um 0 Uhr und endet um 24 Uhr, wobei hier der Anfang des einen Tages zeitgleich auf das Ende des vorhergehenden Tages fällt. Dies ist eine künstliche und von Menschen definierte Sichtweise, aber immerhin eine, die sich an die ungefähre Periode einer Erdumdrehung anpasst, die nach natürlichem Empfinden einen Tag ausmacht.

Nicht immer war die Mitternachtssekunde der Anfang bzw. das Ende eines Tages. Als Europa die Handelswege nach Asien erschloss, schaute man sich die Art, wie man die Zeit zählt, aus dem Orient ab und führte die sogenannte »Italienische Stunde« ein, die so heißt, weil sie besonders in den norditalienischen Handelsmetropolen Furore machte: In dem Moment, in dem die Sonne untergeht, zählte man schon die Stunden des neuen Tages. Der neue Tag begann also schon spätabends. Ein Relikt dieser Zeitmessung ist der Sabbat, der am Freitag mit Sonnenuntergang beginnt. Das heißt: Wenn man aufwachte, wusste man gleich, wie viele Stunden bis zur Abenddämmerung vom Tage noch übrig blieben – und bei dieser Zeitrechnung fällt es tatsächlich ins Gewicht, wenn jemand die kostbaren Stunden des Tageslichtes verschläft. Dieses Konzept knüpfte an die Notwendigkeiten der neuen florierenden bürgerlichen Gesellschaften der Renaissance an. Nur wer zu einem bestimmten, allgemein vereinbarten Zeitpunkt die Türen seiner Kontore, Büros und Läden öffnete oder seine Waren auf den Markt- und Handelsplätzen präsentierte, hatte die Garantie, auf Kundschaft zu stoßen und gute Geschäfte zu machen, denn umgekehrt wusste ein potentieller Käufer somit genau, wann er nach Angeboten suchen und vielleicht ein Schnäppchen machen konnte, und unter solchen Bedingungen hatte der Spruch »Morgenstund hat Gold im Mund« durchaus seine Berechtigung.

Dies wurde jedoch längst nicht überall so gehandhabt. Jürgen Zulley und Barbara Knab schreiben in ihrem Buch Unsere innere Uhr: »Das gesamte Mittelalter hindurch bis weit in die Neuzeit gab es keinen einheitlichen Beginn des Tages. Die Orte konnten ihre Zeit mehr oder minder autonom einteilen, und so begannen die einen ihren Tag morgens, die anderen mittags und wieder andere um Mitternacht. Erst seit dem neunzehnten Jahrhundert hat sich ganz Europa und inzwischen die ganze Welt auf die Mitternacht bei Tagesbeginn geeinigt – den Zeitpunkt, der nicht nur im alten Rom galt, sondern auch im klassischen China.«[13] Nicht zuletzt dank Napoleon übrigens, zu dessen wichtigsten Bestrebungen die Vereinheitlichung diverser zeitlicher und räumlicher Maße zählte.

Lange Zeit kannte man in unseren Breitengraden nur einen zeitlichen Orientierungspunkt: Wenn die Sonne am höchsten stand, dann war Mittag – mehr brauchte man nicht zu wissen in den kleinen Gemeinschaften und Weilern rund um Marktplatz und Kirchturm. Wie beschaulich das Leben weit vor der Kapitalisierung der Märkte und der zeitlichen Gleichschaltung aussah, schildert Emanuel Le Roy Ladurie in einer Studie über die Lebensumstände im mittelalterlichen Dorf Montaillou. Ob Schäfer oder Bauer, Schuhmacher oder Tischler, Magd oder Knecht – die Arbeit wurde nicht als derart verpflichtend oder fesselnd empfunden, dass man sich nicht jederzeit von ihr hätte losreißen können. Man kam und ging mehr oder weniger, wann man wollte, und schlief, so lange es einem guttat und wann einem danach verlangte. Ob morgens länger oder mittags, weil die Sonne zu heiß brannte – niemand nahm an einem Nickerchen Anstoß oder hätte gar gewagt, einen Langschläfer als faul, nichtsnutzig oder charakterschwach zu bezeichnen.

Erst die Einführung der Uhr, die mit der Ausweitung der Handelszonen über die Dorfgrenzen hinaus einherging, sollte dies grundlegend ändern. Der Versuch, die Menschen im Takt der Uhr gleichzuschalten, um sich zu bestimmten Zeiten für Märkte und Handel zu verabreden, fing mit der Einführung der Kirchenuhr Ende des 14. Jahrhunderts an. Der Rhythmus, den diese mechanischen Räderwerke vorgaben, bereitete die ungezwungene Dorfgemeinschaft jedoch schonend auf eine Welt der Pünktlichkeit und Arbeitskontrolle vor. Denn die mechanischen Ur-Uhren schienen sich der Lebensweise der Dorfleute anzupassen. Sie waren so ungenau, dass sie sich bis zu einer Stunde am Tag verspäteten oder verfrühten. Mehr Präzision kam erst mit dem Pendel. Leonardo da Vinci hatte dessen Eigenschaften als Erster untersucht, Galileo Galilei schließlich erkannte, dass die Schwingungsfrequenz von der Pendellänge abhängt. Das war 1581, doch erst um 1700 war es möglich, dieses Wissen beim Bau von Uhren umzusetzen. Diese besaßen sogar einen Minutenzeiger. Die ersten Taschenuhren wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts üblich.

Die Diktatur der Zeit setzte allerdings erst mit der Entstehung der Großfabriken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, als aus freien Bauern, die massenweise ihr Land abtraten, Lohnknechte der Industrie wurden. In den Anfangsphasen der Industrialisierung mahnte noch eine große Uhr über dem Eingang die Arbeiterinnen und Arbeiter zur Pünktlichkeit. Zudem folgte bald die Einführung der Stechuhr, die minutiös das Kommen und Gehen der Werkstätigen aufzeichnete. Erst mit diesem Akt wurde Zeit wirklich zu Geld.

Freilich pulsierte Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch jeder Ort nach seinem eigenen Takt, auch wenn die Orte größer wurden und mit ihnen die lokalen Zeitzonen. Die Lokalzeit der jeweiligen Hauptstadt gab vor, wie die Menschen zu ticken hatten. In Bayern beispielsweise galt die Münchener Zeit, in Preußen die Berliner Zeit, die sieben Minuten vor dem Rhythmus lag, den die Isar-Stadt vorgab. In Wien orientierte man sich an der Prager Zeit, es gab aber auch andere lokale Bezugsgrößen wie die Lindauer, die Budapester oder die Lemberger Zeit. Schwierigkeiten bereitete das niemandem, denn Handel und Aktivitäten waren auf einen überschaubaren Raum begrenzt, aber mit der Einführung des Zugverkehrs führte dies unweigerlich zu verstärkten Unsicherheiten in der Ausgestaltung der Fahrpläne: Wenn ein Zug aus Wien (Prager Zeit) über München (Bayerische Zeit) nach Berlin (Berliner Zeit) fuhr, welche Ankunfts- und Abfahrtszeiten waren da gültig?

Das Gesetz betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung, kurz: das Zeitgesetz von 1893, machte den Irritationen ein Ende. Seitdem orientiert sich die Zeitmessung in Mitteleuropa an der mittleren Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich und ist allgemein verbindlich – auch wenn es in Berlin im Winter bereits dunkel ist, während sich in München trinklustige Menschen noch bei Dämmerung ein Weißbier nach Feierabend genehmigen.

Seitdem stirbt die Unpünktlichkeit aus; »Arbeitsbeginn acht Uhr« heißt nichts anderes als »Arbeitsbeginn acht Uhr«, und zwar für alle. Und solche allgemeinen Verbindlichkeiten schaffen Normen, die mit moralischen Appellen untermauert werden. Kalendersprüche wie »Zeit ist Geld« oder »Morgenstund hat Gold im Mund« bilden den Überbau dieser modernen Gesellschaft, die sich im Takt der Uhr bewegt und über deren Herdentrieb die Einwohner eines mittelalterlichen Dorfes erstaunt den Kopf geschüttelt hätten.

Die Entdeckung der inneren Uhr

Was unsere mittelalterlichen Vorfahren ganz selbstverständlich auslebten, wurde in den 1970ern Gegenstand der Forschung. Dass Menschen einen unterschiedlichen Rhythmus besitzen, ist jedoch schon lange im Alltagswissen verankert. Ausgeprägte Morgenmenschen bezeichnet man als »Lerchen«. »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche«, versucht Julia ihren Romeo nach ihrer ersten Liebesnacht zu beruhigen und zum Bleiben zu überreden, denn die Lerche stimmt ihr Lied erst in der Morgendämmerung an. Das andere Extrem sind die sogenannten »Eulen« oder »Nachteulen«. Sie schleppen sich morgens nur mit Mühe zur Schule, zum Studium oder zur Arbeit, sind dann aber dafür abends besser drauf. Die Eulen-Vögel sind nachtaktive Tiere, keine Vielschläfer. Es ist also völlig unsinnig, ihren menschlichen Pendants Faulheit und Undiszipliniertheit vorzuwerfen. Zudem genießen Eulen in unserer Kultur den Ruf, klug und weise zu sein. Aber auch im ostasiatischen Myanmar schenkt man Schulanfängern zum ersten Schultag statt einer Tüte mit Leckereien ein Pärchen lackierter Eulenfiguren, auf dass sich der Kinder Wissen und Weisheit mehren mögen.

Dass Eulen jedoch nicht schwach im Charakter sind, nur weil sie es nicht schaffen, sich der sozialen Norm der frühen Aufgewecktheit anzupassen, sondern dass ihr Aufwach-Timing individuell und genetisch bedingt ist, hat sich erst in jüngster Zeit in den eher abgeschlossenen Zirkeln der Schlafforschung als Erkenntnis etabliert. Zum Allgemeinwissen zählt es leider noch lange nicht. Zwar wird zur Zeitumstellung im Sommer, wenn alle für wenige Tage und Wochen in die Lage eines von der sozialen Norm malträtierten Langschläfers versetzt werden, in den Medien immer wieder darauf aufmerksam gemacht, aber kaum ist für die Lerchen der Spuk der Startschwierigkeiten vorüber, gelten wieder die alten Regeln. Dabei ist klar, dass auch ihr Leben nach einer inneren Uhr getaktet ist – die halt jener der sozialen Regeln entspricht.

Doch was ist eigentlich eine innere Uhr? Und wie funktioniert sie?

Dass es in der Pflanzenwelt so etwas wie eine innere Uhr gibt, die unabhängig von äußeren Einflüssen das Leben taktet, hat vor knapp 300 Jahren der französische Geophysiker Jean Jacques d’Ortous de Mairan herausgefunden. Der Forscher, der Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften war, hatte auf seinem Schreibtisch eine Mimose stehen, an der ihm eines Tages Folgendes auffiel: Während es draußen noch dämmerte, hatte die Pflanze bereits ihre gefiederten Blätter geschlossen – sie war quasi zu Bett gegangen. Im Rückblick erinnerte er sich, dass sie das jeden Abend in etwa zur gleichen Zeit tat und morgens mit wunderschön gefiederten Blättern den Tag begrüßte. Durch welchen Mechanismus wurde dieser Tag- und Nachtwechsel vorgegeben? Und in welchem Zusammenhang stand er mit dem Sonnenlicht? Kurz entschlossen sperrte d’Ortous de Marain die Mimose und einige ihrer Artgenossen über Nacht in einen schweren Eichenschrank und dunkelte den Raum, in dem dieser stand, vorsichtshalber auch noch mit blickdichten Samtvorhängen ab. Zu seinem Erstaunen öffneten und schlossen sich die Pflanzen trotz der völligen Dunkelheit, die sie umgab, in einem präzisen Rhythmus. Der Forscher schloss daraus, dass dieser Rhythmus nicht vom Sonnenlicht bestimmt wurde, sondern von einer Art inneren Uhr.

Auch andere Pflanzen takten ihre Existenz nach einem innerlich festgelegten Rhythmus, öffnen und schließen allerdings ihre Blüten und Blätter nicht immer zur selben Zeit. Dem schwedischen Botaniker Carl von Linné gelang es vor etwa 250 Jahren auf Grundlage dieser Beobachtung sogar, eine Blumenuhr zu entwickeln, bei der nur ein Blick in den Garten genügte, um die Uhrzeit zu erkennen. War das Gelbe Johanniskraut noch verschlossen, hatte aber die Weiße Seerose bereits ihre Blüten aufgefächert, musste es sechs Uhr sein. Machte die Rote Bibernelle dicht, war es zwei Uhr und damit Zeit für die Mittagsruhe. Öffnete die nachtaktive Nachtkerze abends ihr Blätter, war das für Linné ein Zeichen, seinen Schreibtisch aufzuräumen und den Feierabend zu genießen, da es halb sechs war.[14]

Aber nicht nur das Leben von Pflanzen wird nach einer inneren Uhr getimt, auch andere Lebewesen richten ihr Dasein nach dem Rhythmus eines Bio-Zeitmessers aus. Die Zoologen J.J.Galbraith und Sutherland Simpson fanden Anfang des 20. Jahrhunderts heraus, dass eine vorgegebene Regulierung der Körpertemperatur das Verhalten von Affen taktet. Der US-Biologe Curt Richter stellte in den 1960ern fest, dass Ratten (auch in völliger Abgeschlossenheit von der Außenwelt und natürlichen Lichtquellen) zur immer selben Zeit aktiv werden. Maynard Johnson konnte die gleiche Beobachtung bei Mäusen machen. Und der Biologe Klaus Hoffmann entdeckte, dass Eidechsen, auch wenn sie unter künstlichen Bedingungen gehalten und niemals in ihrem Leben Tageslicht ausgesetzt werden, einen inneren Zeitmesser haben, der ihr Leben regelt.

Die Existenz einer inneren Uhr galt nach einer Vielzahl solcher Experimente im 20. Jahrhundert als wissenschaftlich gesichert. Im Jahre 1960 formierte sich sogar die erste internationale Konferenz mit dem Titel »Biological Clocks« in Cold Spring Harbor (New York), auf der sich internationale Forscher über die Existenz und die Wirkung von sogenannten chronobiologischen Rhythmen austauschten. Nur eine Frage blieb offen: Wird auch der Mensch von diesen Rhythmen gesteuert? Und wenn ja, welche biologisch nachweisbaren Abläufe steuern ihn? Gibt es ein Organ, ein Gen, ein Hormon, das sagt: Nun ist es Zeit aufzustehen bzw. ins Bett zu gehen?

Um den menschlichen Biorhythmus unabhängig von äußeren Einflüssen wie Tag, Nacht, soziale Kontakte, Phasen der Aktivität und der Ruhe, Mahlzeiten usw. als Taktgeber zu erforschen, blieb den Forschern nur dieselbe Vorgehensweise wie bei den Tieren: Auch der Mensch musste ins Labor.

Der deutsche Physiologe Jürgen Aschoff und sein Kollege Rütger Wever waren die Ersten, die die Existenz von biologischen Rhythmen beim Menschen untersuchten. Sie schufen die in Fachkreisen berühmten Bunker im oberbayrischen Andechs. In der Nähe ihres Forschungssitzes richteten sie in einem Hügel zwei Appartements ein, die von der Außenwelt abgeschottet waren. Meterdicke Mauern sorgten dafür, dass weder Licht noch Schall von außen in das Innere des Bunkers drangen. Ein faradayscher Käfig leitete elektromagnetische Wellen ab. Massige Betonwände schützten vor Vibrationen. Ansonsten war der Bunker nur mit Mobiliar ausgestattet, das ein Gerichtsvollzieher nicht pfänden darf: Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, und statt eines Fernsehgerätes gab es einen Heimtrainer. Eine Klimaanlage sorgte für konstant wohlige Temperaturen. Zugang gab es nur durch zwei aufeinander abgestimmte Schleusentüren, die nie zur gleichen Zeit geöffnet werden konnten, so dass die Personen, die an dem Experiment teilnahmen, durch keinerlei Einwirkungen von der Außenwelt beeinflusst werden konnten und auch Versuchsteilnehmer und Beobachter völlig voneinander abgeschirmt waren.

Jeden Tag mussten die Studienteilnehmer Tests absolvieren, Fragebögen ausfüllen, Tagebuch führen und Wunschzettel mit Bestellungen für den persönlichen Bedarf schreiben. Ein Knopf, den sie immer dann drücken mussten, wenn sie glaubten, dass eine Stunde herum war, sollte etwas über das persönliche Zeitempfinden verraten. Sie waren verpflichtet, Proben mit ihren Ausscheidungen abzugeben, in denen man den Gehalt bestimmter Spurenelemente wie Kalium oder Kalzium maß, die einen Rückschluss auf Stoffwechselrhythmen und Hormonpegel zuließen, die im Zusammenhang mit dem Wach- und Schlafwechsel stehen. Rektale Sonden maßen zudem das Ansteigen und Abfallen der Körpertemperatur, Elektrokontakte, die im Boden eingelassen waren, wie viel und ob sich die Versuchspersonen bewegten. Das Personal, das die Ausscheidungsproben abholte, war angehalten, zu unregelmäßigen Zeiten zu erscheinen, so dass die Bunkerbewohner keinerlei Rückschlüsse daraus ziehen konnten, welche Stunde gerade draußen schlug.

Es gab weder zwitschernde Vögel noch klingelnde Wecker und auch keinen Nachbarn, aus dessen Küchenfenster morgens der Duft von frischem Kaffee wehte. An- oder abschwellender Verkehrslärm blieb aus, keine 20-Uhr-Nachrichten takteten das Leben, und auch keine Einladung von Freunden ließ darauf schließen, wie viel Uhr es gerade war. Der Bunker war ein Raum, in dem die Zeit still stand.

Eine Versuchsreihe dauerte zwischen sieben Tagen und mehreren Wochen. In dieser Zeit konnten die Probanden frei entscheiden, wann sie essen und schlafen, Sport treiben oder ruhen, lesen oder schreiben wollten.

Das Ergebnis: Alle Bunkerprobanden (zwischen 1964 und 1989 nahmen insgesamt 447 Personen an 412 Versuchsreihen teil) schliefen – wie in ihrem vertrauten Leben – etwa ein Drittel des Tages und blieben zwei Drittel des Tages wach und aktiv. Lief das Experiment über mehrere Wochen, verselbständigte sich die innere Uhr irgendwann: Manche verkürzten ihren Tag auf 18 Stunden, manche verlängerten ihn auf 33 Stunden – und blieben davon zwei Drittel der Zeit wach und schliefen das restliche Drittel. Das heißt, die innere Uhr lief bei den Probanden unterschiedlich schnell. Man vermutete, dass bei denjenigen, die einen kurzen Tag erlebten, die genetische Veranlagung zum Morgentyp durchbrach, und sich umgekehrt hinter denjenigen, deren innere Uhr langsam lief, Nachtmenschen verbargen, die einfach nicht Schluss machen und ins Bett gehen konnten, weil sie noch nicht müde waren. Der Großteil der Probanden pendelte sich jedoch auf einen 25-Stunden-Rhythmus ein. Die Forscher schlossen daraus, dass dies der natürliche innere Rhythmus des Menschen sei.

Die Veranlagung zum Morgenmuffel oder Frühaufsteher scheint also angeboren und durch eine innere Uhr vorgegeben zu sein. Ein 2008 durchgeführtes Experiment an der Berliner Charité bewies, wie prägend diese für den Menschen bis in jede Zelle des Körpers hinein ist. 28 Probanden, darunter bekennende Frühaufsteher wie Langschläfer, wurden unter der Leitung des Chronobiologen Achim Kramer[15] einem Test unterzogen, bei dem anhand winziger Hautplättchen die Aktivität jener Gene gemessen wurde, die von der inneren Uhr gesteuert und mit dieser synchronisiert werden. Diese Gene funktionieren – bei Mensch wie Tier – als körpereigene Taktgeber, kontrollieren, wann welche Hormone ausgeschüttet werden, die für den Schlaf, aber auch für Stoffwechselprozesse verantwortlich sind. Diese »genetischen Uhren« wiederum werden im Normalfall vom Gehirn aus zentral gesteuert, indem dieses äußere Signale wie Lichteinfall ins Auge in innere Informationen umsetzt. Die Forscher konnten das Verhalten der Gene durch ein sogenanntes »Glühwürmchenenzym« nach außen hin sichtbar machten. Waren die genetischen Taktgeber in den Zellen aktiv, leuchteten sie, waren sie inaktiv, war kein Leuchtsignal sichtbar.

Das Ergebnis war beeindruckend: Obwohl die Proben anonymisiert waren, war klar zu erkennen, welche von einem der elf Frühaufsteher oder einem der 17 Langschläfer stammte. Denn der Licht-an-Licht-aus-Takt lief bei den sogenannten Lerchen schneller, der Tag- und Nachtrhythmus war bereits vor Ablauf von 24 Stunden beendet. Bei den Eulen hingegen tickte diese innere Uhr langsamer, bei ihnen hatte der Tag an die 25 Stunden. Das hat für ihren Alltag die Folge, dass sie sich fühlen wie jemand, dessen Uhr nachgeht – sie verspäten sich ständig. Lerchen hingegen machen abends früh schlapp, weil ihre Uhr schon abgelaufen ist, und setzen mit einem ausgedehnten Nachtschlaf zu einem Neuanfang am nächsten Tag an.

Ob Eule oder Lerche ist sozusagen Schicksal und von Geburt an festgelegt. »Der Unterschied steckt in den Genen, die Chronotypen sind angeboren«, erklärt Kramer. »Ein Spättyp kann seine innere Uhr weder durch Lichttherapie noch durch die Gabe von Melatonin so umpolen, dass aus ihm plötzlich ein Morgenmensch wird.«[16]

Doch wie funktioniert die innere Uhr? Im Bunkerexperiment gab es Testpersonen, deren Wach-Schlaf-Rhythmus insgesamt 33 Stunden einnahm, anderen reichten 18 Stunden – und dennoch pendelte sich auch ihr Rhythmus im Alltagsleben wieder auf 24 Stunden ein. Wie schaffen es also die meisten Menschen, sich zumindest grob im Gleichklang mit den sozialen Gegebenheiten der Außenwelt zu arrangieren und auf Tag und Nacht einzurichten, auch wenn sie – wie die nachtaktiven Eulen – Probleme mit der Feinabstimmung haben?

Antwort auf diese und andere Fragen rund um die innere Uhr gibt Till Roenneberg.[17] Er ist Leiter des Zentrums für Chronobiologie am Institut für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und gilt als einer der ersten und führenden Forscher auf diesem Gebiet weltweit.

Eine innere Uhr – was ist das eigentlich?

Roenneberg: »Innere Uhren repräsentieren jeweils einen der vier Zeiträume, die in der Ökologie unserer Erde vorkommen. Das sind Ebbe und Flut mit 12,5 Stunden, der Tag mit 24 Stunden, der Mondmonat mit 28,5 Tagen und das Jahr mit 365 Tagen. Welcher Zeitraum von Bedeutung ist, hängt vom Lebewesen ab. Für den Menschen sind nur der Tag-und-Nachtrhythmus und der Jahreszyklus relevant.«

Was ist die Aufgabe der inneren Uhr?

»Sie koordiniert alle biologischen Vorgänge und garantiert, dass bestimmte Abläufe in den Zellen und Organen zur richtigen Tageszeit stattfinden. Das kann sie nur, wenn sie auch ohne die äußeren Signale ungefähr im 24-Stunden-Rhythmus weitertickt. Da der innere Tag in zeitlicher Isolation nicht genau 24 Stunden lang ist, nennt man sie auch ›circadiane Uhr‹. Sie ermöglicht es, Voraussagen zu treffen und zu planen, auch wenn der Organismus keine zeitlichen Informationen von außen bekommt, wie etwa über das Licht oder den Radiowecker. Alle Lebewesen haben im Laufe der Evolution eine circadiane Uhr entwickelt.«

Warum ist der Tag-und-Nachtrhythmus für den Menschen wichtig?

»Um das zu verstehen, muss man zurückdenken. In der Evolution sind zwei Dinge relevant: Ressourcen und Gefahren – und die sind alle auch tagesrhythmisch. Dies können bestimmte Pflanzen sein, die nur morgens ihre Blüten öffnen, oder Fressfeinde, die nur abends angreifen. Jeder Organismus kann also sein Verhalten optimieren, wenn er seinen inneren Tagesablauf mit dem Tag- und Nachtrhythmus synchronisiert, und das kann er nur, wenn er eine innere Uhr besitzt.«

Gibt es noch andere biologische Rhythmen?

»Ja, wie zum Beispiel Atem- oder Herzrhythmus – die nennt man ultradian, also kürzer als ein Tag. Oder mehrjährige Rhythmen, in denen manche Bäume blühen oder Insekten schlüpfen – die nennt man infradian. Da viele dieser Rhythmen jedoch keinem ökologischen Zeitraum entsprechen, werden sie nicht von der Chronobiologie erforscht. Dennoch gibt es kaum eine Stoffwechsel- und Körperfunktion, die nicht durch die Tagesrhythmik bestimmt wird. Auch der Blutdruck und die Körpertemperatur unterliegen der Tag-Nacht-rhythmik; Letztere hat ihren Tiefpunkt in der Nacht und wiederholt ihre Periodik stur im 24-Stunden-Rhythmus. Besonders Schichtarbeiter bekommen zu spüren, wenn der Tag-Nacht-Rhythmus und die Körpertemperatur nicht synchron sind: Nachts ist man kälter, daher friert man weniger leicht. Erst, wenn morgens die Temperatur wieder hochgeschraubt wird, fängt man bei Übermüdung an zu frieren. Ebenso folgen das An- und Abschalten von Genen, die Ausschüttung von Hormonen, der Kaliumspiegel und die Regulierung von Körperflüssigkeiten einem strengen Tagesrhythmus: Die Nieren geben insbesondere morgens Wasser ab.«

Wo befindet sich die innere Uhr?

»Die innere Uhr sitzt eigentlich in jeder Zelle unseres Körpers, sie hat jedoch ein Zentrum, das in der Medizin ›Nucleus suprachiasmaticus‹ (SCN) heißt und einige Zentimeter hinter dem Nasenrücken im Gehirn liegt – dort, wo sich die Sehnerven kreuzen. Die Master-Clock im SCN kann sich über Signale aus den Augen mit dem Licht-Dunkel-Wechsel synchronisieren und gibt ihr zeitliches Wissen an alle anderen circadianen Uhren im Körper weiter.«

Durch was wird diese innere Uhr gestellt?

»In der Wissenschaft nennt man das Signal, das den circadianen Rhythmus einstellt, Zeitgeber. Der wichtigste Zeitgeber für alle Organismen ist Licht, genaugenommen der Wechsel von Tag und Nacht – das gilt auch für die innere Uhr des Menschen. Dieses Signal wird über den Sehnerv an die dahinter liegende Master-Clock weitergeleitet. Von dort aus werden Signale im Körper reguliert. Die Ausschüttung des Hormons Melatonin etwa plant den Einschlafzeitpunkt voraus, die Ausschüttung des Hormons Cortisol den Zeitpunkt des Aufwachens.«

Gibt es noch weitere Zeitgeber wie beispielsweise Hunger oder Körpertemperatur?

»Nein. Das haben Beobachtungen an Menschen gezeigt, die vollständig blind sind. Deren Körper würde naturgemäß jeden Impuls – regelmäßig zur Arbeit gehen, regelmäßig essen, regelmäßig sich hinlegen und nicht bewegen – verarbeiten, um sich zu synchronisieren, aber es gelingt ihnen nicht. Die innere Uhr von Blinden läuft frei. Im Mittel ist sie jeden Tag eine Stunde später dran, das heißt, sie werden alle 24 Tage zum Nachtschichtarbeiter. Nur für Sehende gibt es noch weitere Zeitgeber. Aber diese wirken alle indirekt auch über Licht. Wenn ich zum Beispiel jeden Abend um 22 Uhr das Licht lösche und es jeden Morgen um acht Uhr wieder anknipse, um zur Arbeit zu gehen, dann sind das zwar soziale Faktoren, aber sie funktionieren letztlich über das Licht.«

Tickt die innere Uhr bei allen Menschen gleich?

»Wer gesund ist, dem gelingt es, seinen persönlichen Rhythmus mit der 24-Stunden-Periodik zu synchronisieren. Allerdings gibt es große Unterschiede, wann sich die innere Uhr eines Individuums in den Tag-Nacht-Rhythmus ›einbettet‹. Man kann das gut an den Zeiten des Einschlafens und Aufwachens erkennen, wenn diese nicht durch Wecker oder andere soziale Verpflichtungen bestimmt werden: Es gibt Menschen, die freiwillig früh aufstehen und das ganz normal finden – die Frühtypen –, und es gibt Menschen, deren innere Uhr zwar auch im 24-Stunden-Rhythmus tickt, aber später dran ist, so dass sie länger aufbleiben und in den Tag hinein schlafen können – die Spättypen. Extreme Spättypen gehen dann zu Bett, wenn extreme Frühtypen bereits aufstehen. Die meisten Menschen gehen ohne soziale Verpflichtungen zwischen Mitternacht und ein Uhr ins Bett und stehen zwischen acht und neun Uhr auf. Die Verteilung dieser Chronotypen in der Gesamtbevölkerung ähnelt einer sogenannten Glockenkurve, mit einer Tendenz zum Spättypen.«

Aber das Licht ist ja für alle gleich. Wieso gibt es dann Frühtypen und Spättypen?

»Da die innere Uhr und ihre genauen Eigenschaften von vielen Genen abhängen, tickt sie bei jedem ein wenig anders. Wenn man Frühtypen in eine Bunker-Isolation versetzt, laufen deren innere Uhren schneller als die von Spättypen. Im richtigen Leben müssen sie aber alle genau 24 Stunden laufen. Diese Synchronisation kann nur das Licht erreichen, wobei Morgenlicht die innere Uhr vorstellt, während sie vom Abendlicht auf ›später‹ gestellt wird. Um ihre ohnehin schnelle innere Uhr nicht auf einen noch früheren Aufwachpunkt einzustellen, müssen die Menschen mit schnellen inneren Uhren morgens früh aufstehen, damit sie noch Dunkelheit in ihren inneren Morgen bekommen und dafür abends mehr Licht abkriegen. Das sind dann die Frühtypen. Menschen mit langsamen inneren Uhren müssen genau das Gegenteil machen, um einen genauen 24-Stunden-Rhythmus zu erreichen. Das sind dann die Spättypen.«

Das erklärt noch nicht, warum es überhaupt verschiedene Chronotypen gibt.

»Das ist wie bei allen anderen genetischen Eigenschaften: Keiner gleicht dem anderen. Es ist ein Gesetz der Evolution, sich auf alle möglichen Eventualitäten einzurichten. Es gibt große und kleine Menschen, weil jeder von ihnen in bestimmten Situationen einen Vorteil hat.«

Worin bestehen die Vorteile eines Spättypen in einer Welt, in denen die Kernarbeitszeiten zwischen 8 und 16 Uhr liegen und in der eine Moral regiert, die den frühen Vogel huldigt?

»Er hält länger durch, weil sich sein Schlafdruck langsamer aufbaut. Wir glauben, dass das auch der Grund ist, warum besonders Jugendliche zum Spättypus tendieren. Man braucht in dieser Lebensphase besonders viel Durchhaltevermögen. Das mag auch seine Ursache im Zusammenleben mit der Sippe haben, als man nachts auf Jagd ging und sich junge Menschen durch Jagdglück einen Vorteil verschaffen konnten. Die extremen Spättypen haben oft große Schwierigkeiten, morgens rechtzeitig wach zu werden. Sie gelten als faul, aber künstlerisch. Die extremen Frühtypen werden am Abend früh müde und können am sozialen Leben nicht mehr teilnehmen. Sie gelten als langweilige Pedanten. Beides ist nicht richtig, es sind einfach nur verschiedene Zeittypen. Spättypen werden an Arbeitstagen morgens durch den Wecker geweckt, ihre innere Uhr lässt sie aber abends nicht früh genug einschlafen, um ausreichend Schlaf zu bekommen. Frühtypen werden vor allem an Abenden vor freien Tagen durch die Spättypen in unserer Gesellschaft am Einschlafen gehindert, werden dann aber morgens durch ihre innere Uhr geweckt und bekommen so auch oft zuwenig Schlaf.«

Welche Nachteile hat ein Leben gegen die innere Uhr?

»Frühtypen haben mit den traditionellen sozialen Zeiten des Alltags, etwa dem Arbeitsbeginn, weniger Probleme als Spättypen. Die Frage aber ist: Sind wir nicht alle aus dem Takt? In einer globalen Gesellschaft stören wir immer häufiger die optimale Übereinstimmung zwischen Innen- und Außenzeit. Nehmen wir die Fernflüge über mehrere Zeitzonen hinweg – sie verursachen Jetlag. Oder die Schichtarbeiter: 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind davon betroffen. Ihre innere Uhr und die äußeren Bedingungen sind völlig entkoppelt. Eine fehlerhafte Synchronisation führt dazu, dass die zeitlichen Abläufe des Körpers permanent nicht mit dem sozial bestimmten Verhalten übereinstimmen. Sie leiden unter chronischem Schlafmangel. Das kann dick machen, zu Magenerkrankungen, Diabetes und Depressionen führen. Und es kann Krebserkrankungen Vorschub leisten.«

Geht es Spättypen nicht genauso wie Schichtarbeitern?

»Ja, 60 Prozent der Bevölkerung leidet unter einem chronischen Schlafmangel, weil die Arbeitszeiten verlangen, dass sie früher aufstehen müssen, als ihre innere Uhr es vorgibt. Das macht sie auf die Dauer krank und beeinträchtigt ihre Leistungsfähigkeit. Ihnen wird das Ende des Schlafes weggenommen, das gerade wichtig für die Gedächtnisleistung ist. Spättypen sind erst am späten Vormittag richtig fit. Deshalb gelten sie als träge und faul. Aber das sind sie nicht. Es ist nur ihr genetischer Takt, der ihnen diese Zeiten vorgibt. Man sollte deshalb mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten zulassen. Denn wenn ein Arbeitgeber sagt: ›Ich komme lieber von 10 bis 18 Uhr statt von 8 bis 16 Uhr‹, dann sagt er nichts anderes als: ›Chef oder Chefin, ich gebe dir meine beste Zeit!‹ Darüber sollten Arbeitgeber nachdenken.«

Wieso ist der Anteil der Spättypen an der Gesamtbevölkerung so hoch?

»Wir sind zu wenig unter freiem Himmel und arbeiten zu viel in geschlossenen Räumen, und die Nächte machen wir mit elektrischem Licht hell. Selbst gut ausgeleuchtete Zimmer mit großen Fenstern haben ein bis zu 1000 Mal schwächeres Licht als Tageslicht. Der Zeitgeber Licht wird also immer schwächer, damit verlangsamt sich die innere Uhr, sie verstellt sich auf »später«. Das Problem ist, dass unsere sozialen Zeiten noch so gestaltet sind wie zu vorindustriellen Zeiten. Es kommt vermehrt zu sozialem Jetlag.«

Was ist ein sozialer Jetlag?

»Je weniger unsere Innenzeit mit der sozialen Außenzeit übereinstimmt, desto größer ist unser sozialer Jetlag. Das führt zu chronischem Schlafdefizit, das nur teilweise am Wochenende nachgeholt werden kann. Sozialer Jetlag entspricht vom Stressfaktor her einem Interkontinentalflug von Europa nach Amerika, zu dem man freitags abhebt und von dem man montags wieder zurückkehrt. Und das einmal pro Woche. Das bleibt nicht ohne gesundheitliche Konsequenzen.«

Kann man die innere Uhr stellen?

»Spättypen können ihre innere Uhr etwas mehr nach vorne stellen, indem sie gleich am Morgen nach draußen gehen und Licht tanken. Man kann etwa statt mit dem Auto mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren oder ein Stück laufen. Abends dagegen sollten sie Licht meiden. Wer sich etwa im Sommer im Freien aufhält, setzt am besten eine Sonnenbrille auf. Wie gesagt: Licht am Morgen beschleunigt die innere Uhr, Licht am Abend verlangsamt sie. Da diese ›Lichttherapie‹ aber aus Spättypen keine Frühtypen macht und oft schwer durchzuhalten ist, ist eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten viel effektiver. Eine Gesellschaft, die 24 Stunden am Tag an sieben Tagen der Woche funktionieren muss, aber immer noch in seiner Moral den Frühtypen fördert und favorisiert, ist schizophren. Denn von Arbeitszeiten, die individuell eingestellt sind, profitiert nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitgeber. Seine Angestellten sind zufriedener, kommen lieber zur Arbeit, fehlen nicht so oft krankheitsbedingt und sind insgesamt produktiver. Es gibt quasi nichts, was gegen diese Argumente spricht.«

 

Sie sind nicht allein!

Ob morgens munter oder Muffel – der Mensch tendiert mehr oder weniger stark in eine Richtung, was natürlich auch von den sozialen Zeiten abhängt. Läge der Arbeitsbeginn in vielen Firmen auf sieben Uhr morgens (wie etwa im äquatornahen Indonesien üblich), kämen auch mitteleuropäische Normallerchen in Schwierigkeiten, denn das könnte (bei unregelmäßiger Verkehrsanbindung und anderen Unwägbarkeiten) heißen, um fünf Uhr früh aufzustehen. Soviel freiwillige Aufgewecktheit aber ist auch in unseren Breitengraden eher selten. Denn im Schnitt benötigt der Mensch hierzulande acht Stunden Schlaf, um sich beim Aufstehen wach zu fühlen. Er schließt in der Regel eine Viertelstunde nach Mitternacht die Augen und wacht um 8.15 Uhr morgens auf. Dieser Typus könnte auch als Normtypus bezeichnet werden.

Till Roenneberg leitete die am breitflächigsten angelegte Studie zu Chronotypen weltweit. Mittels eines Fragebogens, den er mit seiner Münchener Kollegin Martha Merrow und der Baseler Schlafforscherin Anna Wirtz-Justice entwickelt hat, hat er die Antworten von etwa 50 000 freiwilligen Teilnehmern ausgewertet – und fasst zusammen: Durch die Welt der Schläfer zieht sich keineswegs ein unüberbrückbarer Graben zwischen Eulen und Lerchen. »Die Verteilung der Chronotypen ist ähnlich wie die Verteilung der Körpergrößen in der Bevölkerung. Es gibt sehr wenige extrem kleine oder extrem große Menschen, während die meisten Menschen in der Mitte der Verteilung liegen.«[18]

Um diese Verteilung genau zu ermitteln, war es erst einmal nötig, das Schlafverhalten der Einzelnen entsprechend zu kategorisieren. Roenneberg erläutert: »Lassen Sie uns drei Beispiele betrachten. Person A schläft von 22 bis 6 Uhr, Person B von 22 bis 8 Uhr und Person C von Mitternacht bis 6 Uhr. Wenn die Schlafzeit durch den Schlafbeginn definiert würde, wären A und B der gleiche Typ, würde sie dagegen über das Schlafende definiert, fielen A und C in die gleiche Kategorie.«[19] Die Problematik, die richtigen Schubladen für die einzelnen Schlaftypen zu finden, beruht darauf, dass Schlaf eben nicht nur von der Schlafzeit abhängt, sondern auch von der Schlafdauer, und darin unterscheiden sich die drei Typen: A schläft acht, B zehn und C nur sechs Stunden. Aus diesem Grund haben Roenneberg und sein Team die Kategorie der Schlafmitte definiert. Mit diesem Fixpunkt lassen sich die unterschiedlichen chronobiologischen Typen am besten bestimmen. Ein Beispiel: Die Schlafmitte einer Durchschnittslerche, die um 22 Uhr zu Bett geht und um 6 Uhr aufsteht, liegt bei 2 Uhr. Dieser Wert kommt zustande, indem man die Schlafdauer (in diesem Fall: acht Stunden) halbiert (vier Stunden) und zum Zeitpunkt des Einschlafens hinzuaddiert (22 Uhr plus 4 Stunden = 2 Uhr). Bei einer Durchschnittseule, die um 1 Uhr ins Bett geht und acht Stunden später um 9 Uhr aufsteht, läge nach gleicher Formel die Schlafmitte bei 5 Uhr. Mit diesem Schema lassen sich aber auch Kurzschläfer einordnen. Geht jemand beispielsweise um Mitternacht zu Bett und steht um 6 Uhr auf, dann liegt seine Schlafmitte bei 3 Uhr. (Ausschlaggebend war natürlich das Schlafverhalten an freien Tagen, an denen die Testpersonen so lange oder so kurz schlafen konnten, wie sie wollten.)

Das Ergebnis: Die wenigsten, die morgens nur schwer aus dem Bett kommen, sind außergewöhnliche Langschläfer – denn für Roenneberg gelten als Spättypen erst diejenigen, die bis 9.30 Uhr schlafen. Normaltypen schlafen zwischen Mitternacht und eins ein und wachen acht Stunden später wieder auf. Hardcore-Langschläfer stehen erst um 13 Uhr auf, sind dafür aber auch erst um 5 Uhr zu Bett gegangen – wenn Extremlerchen bereits aus dem Bett springen und ihre morgendliche Routine erledigen – wahrscheinlich sogar ohne Kaffee.

Während ein Frühaufsteher ungefähr zwischen 9 Uhr morgens und 12 Uhr mittags die beste Zeit hat, um sich zu konzentrieren und schwere Aufgaben zu bewältigen, wissen Langschläfer grob gesagt zu diesem Zeitpunkt gerade einmal, wie sie heißen und wo sie wohnen. Ihre Konzentrations- und Leistungsfähigkeit muss erst noch warmlaufen, denn ihre hohe Zeit ist am Nachmittag gegen 15 Uhr – also dann, wenn die Frühaufsteher bereits rapide abbauen und oft versuchen, sich mit Kaffee und Schokoriegeln zu dopen. Ihr Schlafdruck steigt, und sie sehnen sich dem Feierabend entgegen. Eulen dagegen tauen auf und können den Nachmittag nutzen, um Dinge, für die ihnen morgens der Antrieb fehlte, leichter und mit Schwung zu erledigen. Es ist ihre persönliche Primetime. Und während bei Lerchen nach der Tagesschau der Anstieg des Melatoninpegels signalisiert, sich bettfein zu machen, haben Eulen noch ein paar Stunden Zeit für Freunde und Feste, bis ihnen ihr Körper ebenfalls durch ein Absinken der Körpertemperatur und eine Ausschüttung des Hormons Melatonin zu erkennen gibt, dass es Zeit ist, sich schlafen zu legen …

Was bedeuten diese Erkenntnisse für eine Gesellschaft, die dem Frühtyp Vorteile verschafft und den Spätaufsteher in die Knie zwingt? Denn wenn es stimmt, dass der Normaltypus laut Roenneberg erst um acht Uhr aufsteht, und es darüber hinaus eine leichte Ausrichtung hin zum Eulentum gibt, dann beruht die soziale Organisation unserer Gesellschaft schlichtweg auf den Bedürfnissen einer Minderheit, die bereits morgens um acht fit für die Welt ist und mühelos um sechs Uhr aufstehen kann. Bei wenigstens 60 Prozent der Bevölkerung hingegen baut sich im Laufe der Woche ein Schlafdefizit auf, das erst – wenn überhaupt – am Wochenende ausgeglichen werden kann, und es hilft weder Kaffee noch der Versuch, früh zu Bett zu gehen – der ohnehin scheitern muss, weil Langschläfer einfach nicht früh müde werden. Bei 42 Prozent wächst sich dieser Mangel an Regeneration zu zermürbenden Schlafstörungen aus, bei 15 Prozent der Bevölkerung sind diese sogar behandlungsbedürftig – mit zunehmender Tendenz: Nach einer Studie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) litten im Jahr 2009 60 Prozent mehr Menschen an zermürbender Schlaflosigkeit als noch vier Jahre zuvor – nicht nur, aber eben auch wegen des sozialen Jetlags. Erhebungen in Taiwan, Großbritannien und den USA bestätigen diesen Trend. In Österreich kam eine Umfrage der Gesellschaft für Schlafmedizin und Schlafforschung unter der Leitung der Neurologin Birgit Högl zu dem erschreckenden Ergebnis: Nur eine von fünf Personen schläft ungestört. In den 90 Jahren konnten das noch drei von vier Personen von sich behaupten. Vor allem die 35- bis 55-Jährigen plagt die Insomnia – und damit ausgerechnet jene, die mitten im Berufsleben stehen. Roenneberg warnt: »Wir konnten zeigen, dass der Konflikt zwischen der biologischen Uhr und der gesellschaftlichen Zeit zu einer chronischen Form von Jetlag führt«.[20]

Was das heißt, wenn man aufgrund seiner angeborenen Veranlagung einem permanenten Schlafdefizit ausgesetzt ist, kann jeder nachvollziehen, der schon einmal einen Langstreckenflug über mehrere Zeitzonen hinweg hinter sich gebracht hat. Man ist müde, schlapp, unkonzentriert, einfach nicht bereit für die Anforderungen des Lebens. Doch während sich beim Fernreisenden die innere Uhr und die äußeren Zeitgeber – wie Licht – langsam wieder aufeinander abstimmen, bleibt der Langschläfer dauerhaft in diesem unerquicklichen Zustand. Die äußeren Gegebenheiten lassen ihm keinen Ausweg.

Besonders betroffen von dieser chronischen Übermüdung sind Schülerinnen und Schüler, deren Schlafmitte sich entwicklungsbedingt in den Morgen hinein verschiebt. Dass sich das Schlafbedürfnis im Laufe des Lebens ändert, zeigt sich, wenn man die einzelnen Lebensphasen unter diesem Aspekt betrachtet: Kleinkinder stehen tendenziell sehr früh auf. Spätestens mit Beginn der Pubertät entwickeln sich die Menschen jedoch zu Eulen. Bei jungen Männern hält diese Entwicklungsphase bis zum 21. Lebensjahr an, bei jungen Frauen bis zum 20. Lebensjahr – danach entwickelt der Mensch allmählich eine vorverlegte Tagesrhythmik. Von Jahr zu Jahr klingelt der innere Wecker quasi jeweils wenige Sekunden früher. Mit den Jahren werden es Minuten, vielleicht sogar eine Stunde. Bis zum 52. Lebensjahr ist der kleine chronobiologische Unterschied zwischen den Geschlechtern wieder aufgehoben. Im Seniorenalter spricht man von seniler Bettflucht. Da werden alle zu Lerchen.

Bezogen auf den Schulbeginn heißt das: Für Zehnjährige ist ein Schulbeginn von acht Uhr noch in Ordnung. Aber sobald die Kinder in die Pubertät kommen, verlangsamt sich ihre innere Uhr. Das heißt, sie werden abends einfach nicht müde und kommen am nächsten Morgen nur schwer aus den Federn. Ihre Leistungsfähigkeit ist morgens auf dem Nullpunkt, und die ersten zwei Schulstunden sind eigentlich verschenkte Mühe. Denn den Schülern fehlt das letzte Stück Schlaf, das ihre Denkleistung und Konzentrationsfähigkeit auf Trab gebracht hätte. Manche sind so schwer aus ihrem Ruhebedürfnis herausgerissen, dass ihnen im Unterricht die Augen zufallen. Lehrer glauben, die Jugendlichen müssten einfach nur früher zu Bett gehen, dann könnten sie dem Unterricht besser folgen. Aber auch diese Wahrnehmung scheint ihre Ursachen in der Lebensentwicklung zu haben: Denn Lehrer sind bereits wieder im Lerchentum angekommen und schließen von sich auf andere.

Mary Carskadon war die Erste, die bewies, dass die in den Morgen verschobene Schlafmitte bei Jugendlichen nicht sozial (»Wir haben gestern noch bis drei Uhr Party gemacht!«), sondern biologisch bedingt ist. Die Schlafforscherin schickte Jugendliche statt in die Schule ins Schlaflabor und stellte fest, dass diese, sobald es ihnen erlaubt war, sofort in einen REM-Schlaf fallen[21] – sie holten also den ihn fehlenden Schlaf nach. Chronobiologe Roenneberg erläutert, dass dieses Phänomen eigentlich bei Patienten mit einer Narkolepsie – einer schweren Schlafstörung – auftritt, aber eben auch bei gesunden Menschen, die unter permanentem Schlafentzug leiden: »Sobald man sie lässt, schlafen Jugendliche zu dieser morgendlichen Stunde auf der Stelle ein und fallen dabei unmittelbar in den REM-Schlaf.«[22] Die Versuchspersonen schliefen also, obwohl sie schon aufgestanden waren, körperlich weiter.

Was Eulen plagt

Die Entkopplung von individuellem Schlafbedürfnis und gesellschaftlichen Anforderungen, der »soziale Jetlag«, kann schwere gesundheitliche Schäden nach sich ziehen. Was bedeutet das für eine Eule konkret?

Dicke Eulen

 

Das individuelle Timing von Schlaf- und Wachbedürfnis regelt der Hypothalamus, eine Schaltstelle im Zwischenhirn, die dort sitzt, wo sich die Sehnerven kreuzen. Fällt Tageslicht auf die Netzhaut der Augen, wird dies in Form elektrischer Impulse an die innere Uhr weitergeleitet. Diese wiederum taktet mittels chemischer Signale das in jeder Zelle dafür empfängliche Gen: Zwei Eiweißstoffe vermehren sich bei Lichteinwirkung und signalisieren dem Uhren-Gen: »Licht – aufwachen – aufstehen!« Bleibt das Lichtsignal aus, zerfallen die Eiweißstoffe. Für den Körper heißt das: »Licht aus und ab ins Bett!«

Die innere Uhr bestimmt aber nicht nur, wann man aufsteht und wann man sich hinlegt, sondern auch, wann und wie viel gegessen wird. Mehrere Experimente und Untersuchungen belegen, dass der Appetit wächst, wenn unser Bio-Timer aus dem Takt gerät – und folglich wächst auch das Hüftengold.

Die Chronobiologin Katja Vanselow vom Institut für Medizinische Immunologie der Berliner Charité hat in einem Experiment am sogenannten »Clock«-Gen von Mäusen gedreht und deren Tagesrhythmus auf 28 Stunden ausgedehnt.[23] Die Übereinstimmung mit den natürlichen Tag- und Nachtrhythmen, auf die die Schaltstelle im Hirn reagiert, war nicht mehr gegeben. Die nachtaktiven Nager waren nun auch bei Tage gut drauf, fraßen aber gleichzeitig mehr. Alle Versuchstiere nahmen zu, einige wurden sogar richtig fett. Ein ähnliches Experiment an Schafen bestätigt diesen Befund: Zwingt man die Tiere, gegen ihren natürlichen Rhythmus zu leben, nehmen sie zu – auch wenn sie nicht mehr essen als vorher. Der Grund: Die Eiweißstoffe, die sich bei Lichteinwirkung vermehren, bauen sich nicht ausreichend ab und zirkulieren weiterhin in den Zellen. Und die Nahrung wird nicht verarbeitet, sondern lagert sich ein.

Falsches Timing und ein daraus resultierendes Schlafdefizit könnten also erklären, warum Menschen, die gegen ihren genetisch vorgegebenen Rhythmus leben, die Neigung haben, an Gewicht zuzulegen. Die schwedische Ernährungswissenschaftlerin Maria Lennernäs vom Institut für Klinische Ernährung und Stoffwechsel an der Universität Uppsala hat diesen Zusammenhang anhand von 96 Industriearbeitern, die in einem Drei-Schichten-System arbeiteten, erforscht.[24] Die Versuchspersonen mussten den Konsum von Kaffee, Tee und 14 anderen Nahrungsmitteln wie Brot, Fleisch, Gemüse etc. über mehrere Wochen hinweg mit Uhrzeitangabe protokollieren. Die entscheidende Erkenntnis war, dass gerade in den unliebsamen Morgen- und Nachtschichten die Arbeiter Nahrungsmittel mit einem hohen Anteil an Kohlehydraten wählten, also zum Beispiel Brot und Kuchen, vermutlich weil sie versuchten, mit den energiereichen Nahrungsmitteln gegen ihre Müdigkeit anzukämpfen. Da der Körper aber noch im »Schlaf-Modus« war, konnte er die Nahrung nicht richtig verarbeiten. Die logische Folge: Die unausgeglichene Bilanz zwischen Nahrungsaufnahme und tatsächlichem Energieverbrauch führt auf Dauer zu einer bemerkbaren Zunahme des Gewichts.

Schichtarbeit macht also dick, weil die Betroffenen gezwungen sind, gegen ihre biologische Uhr zu leben. Das trifft auch auf Menschen zu, die durch einen zu frühen Arbeitsbeginn aus dem Takt geworfen werden. Viele Langschläfer frühstücken, um gegen ihre Müdigkeit anzukämpfen, schon auf dem Weg zur Arbeit fettige Croissants und süße Teilchen, obwohl sie gar keinen Hunger haben. Warum sollten sie auch hungrig sein, wenn nach ihrem persönlichen Timing eine Aufstehzeit um sechs Uhr morgens eigentlich mitten in der Nacht ist und sie sich noch in einer REM-Phase befinden? Nur der Wunsch, sich die Tatkraft, die durch den permanenten Schlafmangel geraubt wird, zurückzuholen, lässt den Langschläfer zu hochkalorischen Snacks greifen.

Die Formel Dauerhaft zu wenig Schlaf = zu viel Gewicht wird durch die Befunde des Teams um Robert Daniel Vorona bestätigt, der an der Eastern Virgina Medical School im Nordosten der USA arbeitet.[25] Er fand heraus, dass, je weniger die Menschen schlafen, sie desto mehr unnötige Kilo mit sich herumschleppen. Der Grund ist eine mangelnde Produktion des körpereigenen Appetitzüglers Lepthin; dieser Mangel trat dann auf, wenn die Versuchspersonen nur ca. vier Stunden pro Nacht schliefen. Sein Gegenspieler Ghrelin, das dem Hirn Hunger und damit den Wunsch nach Nahrungsaufnahme signalisiert, wird hingegen bei Schlafmangel vermehrt ausgeschüttet und liefert das biochemische Signal für Heißhunger auf möglichst nährstoffreiche Lebensmittel.

Kranke Eulen

 

Wer – ob nun als Schichtarbeiter oder als in den Arbeitszeit-rhythmus von 8 bis 16 Uhr gezwungener Langschläfer – auf Dauer gegen sein biologisches Timing lebt, sieht sich also der Gefahr ausgesetzt, ständig gegen Hüftspeck und Fettringe ankämpfen zu müssen – auch wenn er wenig isst. Der Stress macht auf Dauer aber nicht nur dick, sondern ist auch mit diversen Krankheiten verbunden. Manche werden dabei direkt durch Übergewicht verursacht, aber man muss nicht gleich adipös sein, also einen Body-Mass-Index von über 27 auf die Waage bringen, um sich für Krankheiten wie Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislaufbeschwerden, Bluthochdruck, Kurzatmigkeit, Arthrose, Gicht, Thrombose und Embolie-Gefahr zu empfehlen und sein persönliches Risiko, an Krebs zu erkranken, zu erhöhen. Denn nicht nur das zu hohe Gewicht an sich tut seinen Teil dazu, an diesen Beschwerden zu erkranken, sondern auch ein Leben, das von Schlafmangel geprägt ist.

Hinzu kommt, dass Langschläfer oder Spättypen nicht nur genetisch bedingte Schlaf-, sondern auch genetisch bedingte Essenspräferenzen haben, die sie besonders dann in Schwierigkeiten bringen, wenn sie die Übermüdung, die sie ständig begleitet, durch einen kohlehydratebasierten Energieschub auszugleichen versuchen. Es gibt durchaus Menschen, die Kuchen, Pizza und Schokolade essen können, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen oder zuzulegen – die Eulen zählen leider meist nicht dazu. Bei ihnen stimmt eher der häufig bemühte Satz, dass sie ein Stück Torte nur ansehen müssen, um zuzunehmen. Denn auch wenn sie sich in selbstauferlegter Askese alle Ernährungssünden untersagen und ihren Speiseplan voll und ganz nach den neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten und sich Kohlehydrate nur in Form von Vollkornprodukten einverleiben, wird das wenig nutzen. Kohlehydrate – auch »gute« – setzen dem Nachtmenschen zu und sich auf seinen Hüften fest. Denn er ist von seiner biologischen Disposition her eher ein Fleischesser: Er verträgt und verdaut eiweißhaltige Kost besser als Kohlehydrate. Die Tendenz seiner entwicklungsgeschichtlichen Veranlagung macht ihn empfänglich für folgende Erfahrung: Gönnt sich der Langschläfer nur für ein paar Wochen mehr Eiweißkost als gewöhnlich, verliert er nicht nur seine Frustkilos, sondern fühlt sich auch insgesamt fitter. Eiweiß muss jedoch heutzutage, anders als in der Zeit der Jäger und Sammler, als sich diese Disposition herausgebildet hat, nicht zwangsläufig Fleisch bedeuten. Der Bedarf an Eiweiß kann auch durch Soja-Produkte wie Tofu gedeckt werden. Nach den Ernährungsberatern Johanna Paungger und Thomas Poppe werden sogenannte Alpha-Typen (mit denen in ihrer Kategorisierung auch die Langschläfer assoziiert werden) durch Brot, Kuchen, Nudeln und Zucker geradezu geschädigt. Man nimmt dadurch nicht nur zu, sondern diese Nahrungsmittel greifen auch das Immunsystem an. Einzig eine konsequente Abkehr von diesen Lebensmitteln schafft eine Verbesserung des Lebensgefühls.[26]

Die Ursachen für den Zusammenhang zwischen Nachtmenschen und Eiweißkost sind in der Entwicklungsgeschichte der Menschen vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter zu sehen sowie in der biologisch nicht vollständig gelungenen Anpassung des Verdauungsapparates und der Lebensweise des Urmenschen an die neuen (weniger beschwerlichen) Maßnahmen zur Nahrungsbeschaffung. Der Internist und Ernährungsmediziner Detlef Pape und seine Koautoren erklären: »Die Nomaden waren in körperlicher Hinsicht und von der genetischen Ausstattung her perfekt an die damaligen Umstände und die Schwankungen bei der Nährstoff-Versorgung angepasst. Doch sobald es den Nomaden gut ging und die umherziehenden Gruppen anwuchsen, gab es mehr und mehr Probleme mit dem stark schwankenden Nahrungsangebot, das ja immens vom Jagdglück abhängig war. Da der Mensch aber eine besonders lernfähige Spezies ist, entdeckte er die neue Methode, die seine Lebensweise revolutionieren sollte: Er lernte, dass das ganze Jahr über immer genug Nahrung zur Verfügung stehen konnte, wenn er Getreidesamen sammelte und gezielt aussäte. Die Ernte wurde bevorratet, so dass die Gruppe auch bei glückloser Jagd oder im Winter keinen Hunger leiden musste. So wurde der Nomade zum Ackerbauern.«[27]

Doch mit dieser Entwicklung geht sowohl eine Veränderung des Verdauungsapparates als auch des chronobiologischen Typus einher: Der Nomade aus der letzten Eiszeit vor 30 000 Jahren war darauf angewiesen, seinem Essen bis zu 30 Kilometer täglich nachzulaufen und es in kräftezehrenden Kämpfen zu erlegen. Seine Nahrungsverarbeitungsmechanismen waren wegen des unregelmäßigen Jagdglücks darauf ausgelegt, Fettdepots einzurichten, von denen bei Hunger und Nahrungsnot gezehrt werden konnte. Der Ackerbauer und Viehzüchter musste keine weiten Wege zurücklegen. Sein Körper richtete sich im Laufe der Jahrtausende auf die neue komfortable Lage ein, Haustiere schlachten oder Getreide ernten zu können. Er passte sich den Gegebenheiten an, indem er weniger Fettdepots einlagerte. Dafür aber brauchte er mehrere kleinere Mahlzeiten am Tag. Ebenso veränderte sich der chronobiologische Rhythmus des Ackerbauern: Weil seine Ernährung gesichert war, konnte er die Nacht durchschlafen. Der Nomade hingegen war oftmals auf die taktische Raffinesse angewiesen, das Wild im vermeintlichen Schutz der Nacht zu erspähen, zu überlisten und schließlich zu erlegen. Er war ein klassischer Spättyp.

Auch wenn wir nicht mehr auf die Jagd gehen und die Mehrheit der Menschen hierzulande nicht mehr auf dem Feld, sondern am Schreibtisch und vor dem Computer arbeitet, bleibt der Zusammenhang zwischen Chronotypus und Ernährung bestehen: Die Urahnen der Frühaufsteher sind die Ackerbauern. Ihr Ernährungsapparat ist auf kleinere, kohlehydratreiche Mahlzeiten eingestellt: »Die Bauchspeicheldrüse reagiert unempfindlich mit einer niedrigen Insulin-Antwort auf eine Kohlehydratmahlzeit.«[28] Die Fettspeicherung ist niedrig, der Ackerbautyp bleibt schlank. Die ernährungsgeschichtlichen Vorfahren des Spättyps hingegen sind die nachtaktiven Nomaden, deren Verdauung auf den Verzehr großer Mengen Fleisch ausgerichtet ist. Kohlehydratreiche Nahrung wie ein Teller Nudeln oder eine Pizza führt zu einer hohen Ausschüttung des Hormons Insulin und zu einer Speicherung der gewonnenen Energie – kurz: er wird fett.

Und noch eine Gefahr droht dem modernen Langschläfer: Versucht er sein durch die gesellschaftlichen Umstände verursachtes Schlafdefizit und den damit einhergehenden Energiemangel mit schnellen Schokosnacks auszugleichen, gerät er in einen bizarren Teufelskreis. Weil er Zucker bzw. Kohlehydrate nicht verträgt, reagiert sein Körper darauf mit Müdigkeit. Dieser wiederum versucht er mit weiteren kohlehydratreichen Zwischenmahlzeiten zu begegnen.

Aber auch ein anderes gesundheitsschädigendes Verhalten kommt oft zum Tragen, wenn bei Menschen die innere Uhr und die sozialen Anforderungen nicht im Gleichklang sind. Maria Lennernäs’ Studie zum Essverhalten von 96 Industriearbeitern, die in Schichten zu arbeiten gezwungen waren, erfasste auch den Konsum sogenannter Genussgifte wie Nikotin und Kaffee – mit erschreckendem Ergebnis. Alle Arbeiter waren starke Raucher, für die es üblich war, bis zu zwei Schachteln Zigaretten am Tag zu rauchen. Zudem tranken alle weitaus mehr Kaffee als die von Ernährungswissenschaftlern empfohlene Menge von fünf Tassen pro Tag. Auffällig war auch ihr erhöhter Alkoholkonsum in der Freizeit. Vergleiche mit Arbeitergruppen, die nicht im Schichtdienst arbeiteten und deren Rhythmus folglich nicht durch äußere Anforderungen aus dem Takt gebracht war, zeigten, wie signifikant das Verhalten der untersuchten Industriearbeiter abwich, denn bei jenen entsprach die Anzahl von Rauchern und Kaffeetrinkern der Normalverteilung.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Till Roenneberg in seinen Untersuchungen. »Je stärker der soziale Jetlag, desto mehr greifen Individuen nach Stimulanzien. Desto häufiger sind sie auch Raucher.«[29] Der Grund für den Griff zur Zigarette oder zur Flasche mag nicht nur in dem Versuch liegen, der Müdigkeit durch die Aufnahme von Wachmachern entgegenzuwirken, sondern hängt auch mit dem Auseinanderdriften von innerer Uhr und äußeren Bedingungen zusammen. »Nikotin-, aber auch Alkoholgenuss deuten oft auf Schwierigkeiten hin, mit sozialen Anforderungen fertig zu werden,«[30] resümiert Roenneberg. Besonders ins Gewicht fällt dieser fatale Mechanismus bei Jugendlichen. Da diese auf Grund ihres Entwicklungsstadiums zu einem Leben im sozialen Jetlag gezwungen sind, wird auch hier signifikant häufig versucht, diesem durch Genussgifte entgegenzuwirken. Mit oftmals unabwendbaren Folgen: Nicht nur, dass besonders in dieser Entwicklungsphase ein gesunder Lebenswandel den Grundstein für eine stabile Gesundheit legt, gerade im Jugendalter ist die Gefahr, eine Karriere als lebenslanger Raucher oder Trinker einzuschlagen, besonders hoch.

Dumme Eulen

 

Wer nicht glauben mag, dass ein Leben gegen die innere Uhr zu einem Leben in Dummheit verdammt, der muss nur einmal nach durchwachter Nacht versuchen, sich auf eine Arbeit zu konzentrieren, die er sonst mit links erledigt. Eine Routineaufgabe, etwa die Berechnung von Material für die Renovierung einer Wohnung, gerät vor dem inneren Auge zu einem fast unüberwindbaren mathematischen Problem. Ein einfacher juristischer Schriftsatz rückt mit einem Mal in die Nähe eines komplexen Vertragswerks, und Pressemeldungen im Umfang einer DIN-A4-Seite geben einem das Gefühl, dass man sich damit um den Literaturnobelpreis bewerben würde. Alles erscheint schwierig, aufreibend, anstrengend! Ein vorbeifahrendes Auto, das Fauchen der Kaffeemaschine, das Klingeln des Telefons im Nebenbüro – selbst das kleinste Geräusch raubt einem den letzten Nerv. Man kann sich nicht konzentrieren, macht Fehler und lässt sich von jeder noch so kleinen Sache ablenken, und wenn der verhasste, sich gerne mit fremden Federn schmückende Kollege auf Infobeutezug urplötzlich im Türrahmen des Büros steht, nimmt man eine Unterhaltung mit ihm sogar als willkommene Ablenkung. Oder man starrt Löcher in die Luft und gibt sich Tagträumen hin, aus denen man sich nur schwer wieder herausreißen kann. Kurzum: Man möchte zwar arbeiten, kann aber nicht, man lenkt sich ab und sollte nicht – ein Teufelskreis, der sich nur durch den ersehnten Schlaf durchbrechen lässt. Doch auf den muss man bis nach Feierabend warten bzw. bis nach Schulschluss oder Seminarende. Denn wie erwähnt, sind die meisten Schüler und Studenten biologisch bedingte Spättypen und in ein atypisches Leben gezwungen, das denen von Schichtarbeitern gleicht. Der frühe Unterrichtsbeginn entreißt ihnen die wertvollen letzten Stunden des Schlafes, die für die Auffrischung der Gedächtnisleistung zuständig sind. Was wiederum bedeutet, dass diejenigen, die biologisch als Langschläfer prädisponiert sind, in ihrer schulischen Performance beeinträchtigt werden: Ihre Müdigkeit verschlechtert ihre Gedächtnisleistung sowie ihre Konzentrations- und Leistungsfähigkeit. 50 Prozent der Schüler und Schülerinnen in den Abiturklassen, so eine Münchener Studie, schlafen in den Schulstunden bis zur ersten großen Pause (um ca. 9.35 Uhr) im Unterricht ein. Kritisch wird es, wenn in dieser Zeit Leistungsnachweise erbracht werden müssen. Die Klassenspiegel dieser Arbeiten liegen deutlich unter dem Schnitt aller geschriebenen Klassenarbeiten.

Eulen schneiden laut Till Roenneberg auffällig oft schlechter in der Schule ab als Jugendliche, die zum Frühaufsteher tendieren und die hormonell bedingte Verlagerung des Schlafbedürfnisses aufgrund ihrer chronobiologischen Disposition besser ausgleichen können – daraus ergeben sich die klassischen Streberkarrieren. Bei den Lehrern sind Lerchen beliebt und durch ihre Veranlagung im moralischen und kulturellen Vorteil. Die Eulen hingegen müssen in dieser Phase permanent Frust einstecken, der durchaus prägend für ihre Berufswahl und damit für das gesamte spätere Leben sein kann. Denn wer in Fächern die Leistung nicht bringen kann, die für einen bestimmten Numerus clausus erforderlich ist, kann gewisse Berufswege nicht einschlagen. Roenneberg plädiert deshalb, ebenso wie seine amerikanische Kollegin Mary Carskadon, für einen späteren Schulanfang: »Wir schließen daraus, dass Heranwachsende und junge Erwachsene außerordentlich profitieren würden, wenn ihre innere Uhr stärker berücksichtigt würde. Dazu gehört unter anderem die Anpassung der Schulzeiten – vor allem bei Jugendlichen zwischen 15 und 25.«[31]

Eulen leben gefährlich

 

Was genau steckt hinter der Unfähigkeit, sich nach zu wenig Schlaf auf seine Arbeit oder den Unterricht zu konzentrieren? Der Biologe Michael Chee von der Duke National Universität Singapur ging dieser Frage nach und maß die magnetischen Hirnströme übernächtigter Testpersonen und stellte sie in Beziehung zu denen einer ausgeschlafenen Vergleichsgruppe. Während Seismographen die Hirnaktivität aufzeichneten, mussten die Probanden einen einfachen Reaktions- und Konzentrationstest durchführen: Auf einem Projektor erschienen nacheinander Buchstaben als visuelles Signal. Die Probanden sollten so schnell wie möglich nach Erscheinen dieser Signale eine Taste betätigen, die angab, ob ein Groß- oder ein Kleinbuchstabe gesehen wurde. Das Experiment dauerte über eine Stunde, man musste sich also relativ lange auf ein visuelles Signal konzentrieren. An der Reaktionszeit, die zwischen Erscheinen des Bildes und dem Tastendruck lag, konnte man Aufmerksamkeits-schwankungen messen. Die Schnellsten und Stärksten beider Gruppen waren in ihrer Konzentrationsfähigkeit gleich auf, bei den Langsamsten hingegen zeigten sich gravierende Unterschiede: Bei Übernächtigten reagierten die im Hirn ansässigen Kommandozentralen, die dafür sorgen, dass sich die Aufmerksamkeit nach nachlassender Konzentration wieder erhöht, kaum noch, und das Areal, das für die Verarbeitung optischer Reize zuständig ist, hatte sich im Wortsinn abgeschaltet und war gänzlich inaktiv. Chee vermutete, dass das Gehirn Übernächtigter sich in einem schlafähnlichen Zustand befindet. Das Abdriften in Tagträumereien und die Eigenart, bei völliger Übernächtigung dumpf und ohne Ziel in die Gegend zu starren, findet hier eine neurobiologische Erklärung. Chee schlussfolgerte, dass das unausgeschlafene Hirn einfach nicht fähig sei, sich aus einer Bewusstseinslücke herauszureißen, während bei Ausgeschlafenen die Funktion, sich nach einem gedanklichen Ausflug ins Nirgendwo wieder zusammenzureißen und auf die Aufgabe zu konzentrieren, zum Kerngeschäft gehört.

Das zeigte sich auch, wenn man die Besten beider Gruppen miteinander verglich: Die Übernächtigten konnten sich durchaus auf den Test konzentrieren, hatten zwischendurch aber völlige Aussetzer. Clifford Saper von der Harvard-Universität erläutert Chees Studie: »Das Ergebnis zeigt, dass das Gehirn von übernächtigten Individuen durchaus normal arbeitet. Aber zwischendurch leidet es an so etwas wie einem Stromausfall.«[32]

Problematisch war, dass die Probanden, die nicht genug geschlafen hatten und trotzdem funktionierten, sich aufgrund ihrer vergleichsweise exzellenten Bewältigung der gestellten Aufgabe im Gefühl wiegten, wach, ausgeruht und den Anforderungen des Tages gewachsen zu sein. Den Mini-Stopp ihrer Hirnaktivität bekamen sie gar nicht mit. Diese Ausfälle aber sind es, die jugendliche Schüler, Studenten und Auszubildende dazu disponieren, unvermittelt in den Tiefschlaf zu fallen. Sie weisen die gleichen Symptome auf wie Narkolepsie-Patienten. Und darin liegt die Gefahr: Denn wenn Menschen so übermüdet sind, dass sie im Stehen einschlafen könnten, dann neigen sie – ohne, dass sie es mitbekommen – zum hochgefährlichen Sekundenschlaf. Im Unterricht mag das im schlimmsten Fall das Gelächter der Mitschüler oder eine Abmahnung vom Lehrer eintragen, im Straßenverkehr jedoch können diese Mini-Blackouts tödlich sein, und sei es nur auf dem morgendlichen Weg zum Ausbildungsplatz. LKW-Fahrer, die über lange Strecken am Steuer sitzen, kennen dieses Phänomen, aber auch abstinente Diskogänger, die nach durchtanzter Nacht ihre angetrunkenen Freunde nach Hause fahren wollen, sind nicht so fit, wie sie glauben. Manfred Walzl, Neurologe und Psychiater der Landesnervenklinik Graz, erklärt, dass Schlafmangel die benebelnde Wirkung von Alkohol haben kann. »Nach 17 Stunden Wachzeit am Stück reagiert der Mensch so, wie wenn er 0,5 Promille Alkohol im Blut hätte, nach 24 Stunden sogar wie 1,0 bis 1,2 Promille.«[33]

Ein ähnlicher Effekt hat Schlafmangel bei Menschen, die zu früh aus dem Bett gerissen werden, weil sie entgegen den Vorgaben ihrer inneren Uhr gezwungen sind, sich äußeren Gesetzmäßigkeiten wie Arbeitsbeginn oder Öffnungszeiten von Behörden zu beugen. Denn der Mangel an Schlaf, der sich bei einem Eulen-Typus notgedrungen anstaut, akkumuliert sich mit der Zeit und lässt sich auch nicht ausgleichen – außer, man ändert sein Leben radikal. Gelten Nachtschichten gemeinhin als ungewöhnliche und strapazierende Arbeitszeit, so sind für diejenigen, die (bei einem normalen Schlafbedürfnis von acht Stunden) ihre Schlafmitte gegen fünf Uhr morgens haben, die sozial akzeptierten bürgerlichen Zeiten ungewöhnlich und strapaziös. In ihrem Hirn setzen die Leitungen aus, ohne dass sie es merken. Auch sie fallen in den gefährlichen Sekundenschlaf – und das kann zu Pannen und gefährlichen Unfällen führen, etwa wenn man Maschinen bedienen muss oder Auto fährt. Nicht umsonst steigt im Frühjahr, wenn allen durch die Zeitumstellung eine Stunde Schlaf geraubt wird, die Anzahl der Verkehrsunfälle rapide an.