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Ikonen der Bewegung

 

Für einen richtigen Gentleman nehmen wir 10 Uhr als die frühste Stunde, zu welcher er daran zu denken beginnt, sein Kissen zu verlassen.

Lucas

Langschläfer sind Schlafmützen? Für die folgenden Persönlichkeiten gilt das sicher nicht. Sie haben allesamt ihre Epoche geprägt, Maßstäbe gesetzt oder sich durch ihre ausgeschlafene Art in den schlimmsten Krisensituationen bewährt. Lang zu schlafen ist nicht nur genetisch vorgegeben, es ist auch eine Lebenseinstellung, die die Sicht auf die Welt und die Dinge bestimmt. Während die Frühaufsteher-Fraktion all die Ich-bin-schon-seit-sechs-Uhr-wach-und-habe-schon-so-viel-erledigt-Helden für sich zum Vorbild nehmen kann, gibt es auch für die Gruppe der Eulen leuchtende Beispiele – und diese sind, wen wundert’s, weitaus schillernder als die Langeweiler aus dem Lerchen-Lager.

Königin Luise von Preußen

Preußenkönig Friedrich II. erhob sich gewöhnlich um fünf Uhr morgens von seinem Feldbett, das er selbst in seinen prachtvoll dekorierten königlichen Gemächern zum Schlafen nutzte, und regierte dann mit eiserner Emsigkeit sein durch Krieg und Verheerungen erweitertes Königreich. Sein Rock war zerrissen, seine Figur ausgezehrt, sein Haar ergraut und seine Laune im Keller. Kammerherren und Leibdiener fürchteten seine Ausbrüche. Selbst ein auf seine Anweisungen hin zusammengestellter hochexklusiver Aufguss, ein mit Senfpulver und Chili gewürzter Mokka, der wohl kaum den Namen »Frühstückskaffee« verdiente, konnte seine Laune nicht heben. Friedrich II. besaß das grimmige Gemüt eines Getriebenen, den die vermeintliche Trägheit der Individuen, die nicht aus seinem Holz geschnitzt waren, entmutigte – und das galt sogar mehr noch für den Adel als für das einfache Volk. In Friedrichs Herzen regierte neben Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit der Hochmut eines am mangelnden Weitblick seiner Umgebung verzweifelnden Genies.

Klar hat er Großes vollbracht, der 1,74-Meter-Mann aus dem Hause der Hohenzollern. Nicht umsonst ehrt seinen Name der Zusatz »der Große«, was weltweit nur sechs Herrschern und einer Herrscherin zuteil wurde. Er hat sein kleines Land gegen große Mächte verteidigt, die Prügelstrafe, die Folter und die Leibeigenschaft abgeschafft und im Antimachiavell als Tugenden eines Fürsten die Liebe zum Volk und die Bewahrung seines Glückes propagiert. Ihm ist es zu verdanken, dass Preußen zu einer ernstzunehmenden Macht im Gefüge der Staaten aufstieg. Und er gehörte zu den Ersten, die den neuen demokratischen Staat USA anerkannten, so dass die Gründungsväter George Washington und Benjamin Franklin bei seinem Tod den Verlust ihres »einzigen Freundes« betrauerten.

Doch all diesen Verdiensten zum Trotz war der eigentliche Star der Preußen eine Frau, Königin Luise. Schon allein was ihre Kleidung betrifft, setzte sie Maßstäbe. Sie war die Modeikone ihrer Zeit und würde, wäre sie nicht achtfache Mutter und verheiratet gewesen, heute glatt als It-Girl durchgehen. Als sie beschloss, Korsett und Reifrock abzulegen, und es wagte, statt dessen à la française hauchdünne, sehr raffinierte Gazekleider zu tragen, die man unter der Brust schnürte, quollen die Auftragsbücher der Modemacher Vibeau, Quittels, Nitzen und Michelets über. Jede Frau, die es sich leisten konnte, wollte nun dort schneidern lassen, wo die Königin ihre Garderobe fertigen ließ.

Selbst ihre spontanen Einfälle wurden imitiert. Als das Königspaar im August 1800 einen Ausflug zur Schneekoppe machte und es kühl wurde, lieh sich Luise von der ältesten Tochter des Grafen Schaffgotsch aus einer Laune heraus einen lila Schal mit silbernen Fransen, der weder zu ihrem ockerfarbenen Kleid passte, noch an die Qualität ihrer ausgesuchten Stoffe heranreichte, und trug ihn stolz wie einen purpurnen Königsumhang. Fortan zählte es zum letzten Schrei, einen lila Schal mit silbernen Fransen zu tragen, ebenso wie zuvor schon das Kopftuch, das Luise sich in ihrer Kronprinzessinnenzeit um den Hals gebunden hatte, um eine unschöne Schwellung zu verbergen – es wurde geradezu Kult. Der Bildhauer Johann Gottfried Schadow verewigte es sogar in seiner Marmorstatue von Luise und ihrer Schwester Friederike.

Diese Neigung zum Modischen, zum Schick und zur stilbildenden Inszenierung unterstrich Luises natürliche Schönheit, die sie mit allen Mitteln zu erhalten versuchte. Natürlich zählte für sie dazu, sich ordentlich auszuschlafen. Wie alle Damen ihres hohen Standes genoss Luise das Privileg, bis zum Mittagessen »en negligé« bleiben zu dürfen. Doch während viele wohl diese Zeit nutzten, um ihre Korrespondenz zu erledigen, Ordern an die Hofmeisterinnen zu geben oder die Bibel zu studieren, schlief sich die Preußenkönigin richtig aus – bis neun Uhr mindestens, zehn war aber auch keine Seltenheit. Dann ließ sie sich von ihrer Kammerdame das Frühstück (drei Tassen Schokolade, Zwieback und Erdbeeren) bringen und studierte erst einmal die Tageszeitungen, die um 1800 allerdings aus logistischen Gründen nur alle drei Tage erschienen, was Luise die Gelegenheit gab, an den Tagen, an denen keine Zeitung geliefert wurde, einfach so lange zu schlafen, bis sie die Obersthofmeisterin mit donnerndem Schritt weckte (selbst Preußens Königin konnte nicht immer so handeln, wie sie wollte). Bis Luise geruhte, sich mittels einer ausgiebigen Morgentoilette zum Mittagmahl zurechtzumachen, standen die Zeiger bereits auf zwölf Uhr. Ein, wenn nicht sogar zwei Stunden dieser kostbaren Zeit am Vormittag widmete sie ihren zahlreichen Kindern. Sie tollten im Bett herum, neckten sich, machten Kissenschlachten oder schmusten einfach nur mit ihrer geliebten Mutter. Mit diesen possierlichen Szenen von Mutterliebe und Mutterglück stieg Preußens schöne Königin quasi zur Heiligen der neuen bürgerlichen Bewegung auf und avancierte zu deren Vorbild. Eine Königin, die ihre Kinder selbst erzieht – wo hatte es das, zumal im rigiden Preußen, schon einmal gegeben?

Freilich unterlag dieses Bild einer geschickt lancierten Täuschung, denn selbstverständlich hatte auch Preußens Herrscherpaar eine ganze Heerschar von Erziehern, Gouvernanten, Lehrern und Exerziermeistern für ihren Nachwuchs engagiert. Doch irgendwie ging dies in all dem Trubel über die Volksnähe der Königin unter. Zu ihrem Glück.

Ein Grund, warum Luise gerne lange schlief, war der, dass sie keine Feier ausließ. In einem berühmten Brief aus ihrer Zeit als Kronprinzessin an ihre Schwester Therese schreibt sie: »Mach Dich darauf gefasst, dass ich bald sterben werde. Denn seit ich mit diesem Brief begann, habe ich immer nur getanzt und bis zu meinem Geburtstag finden noch sieben Bälle statt (…). Morgen ist Ball bei der Königinwitwe, übermorgen große Gesellschaft bei mir, Freitag Ball bei dem Grafen Alvensleben (…), am Sonnabend bei Podewils und am Sonntag bei dem König. Da kann man wirklich seine Seele verlieren und sein Testament machen.«[34]

Kein Wunder, dass Luise ausschlafen musste, um dieses Pensum durchzustehen – denn vor diesen Veranstaltungen drücken konnte sie sich keineswegs. Es war nicht nur ihre königliche Pflicht, auf allen Feiern zu erscheinen, es war auch ein Instrument der Politik, zu feiern, zu tanzen und sich zu amüsieren. Denn nicht nur das aufbegehrende Bürgertum musste in Schach gehalten werden, auch den Adel galt es bei Laune zu halten. Dieses Bedürfnis wusste Luise geschickt zu bedienen, indem sie mit allen – ob mit Herren von hohem Stande oder mit niederen Offizieren – die Nächte durchtanzte. Auch wenn ihr deshalb eine gewisse Willfährigkeit nachgesagt wurde, vermittelte sie so das allgemeine Gefühl, für alle Belange ein offenes Ohr zu haben – das höfische Kalkül ging auf. Was weniger wahrgenommen wurde, war, dass das Königspaar selbst nur so viele Feste ausrichtete, wie es die Höflichkeit gebot. Statt allzu oft zu opulenten Feiern einzuladen, erließ man dem Volk einen Teil der Steuern.

Luises Stil war Preußens Antwort auf die Schrecken der bürgerlichen Revolution in Paris. Sie avancierte zur vielgeliebten Königin, die die Interessen der Hofkamarilla wie des einfachen Volkes durch ihr vorbildliches Leben zu wahren vortäuschte. Ob adelige Vergnügungssucht oder bürgerlicher Familiensinn – sie brachte alles unter einen Hut, auch weil sie eine einfache und sehr friedliche Gewohnheit pflegte: Sie schlief aus.

Albert Einstein

Sein wilder, zerzauster Haarschopf, die Tränensäcke, die unzähligen Falten, die sich tief in sein Gesicht gegraben haben, die etwas achtlose Haltung und der (trügerische) Eindruck, dass er nicht viel wert auf seine Kleidung legte – kurz, das gesamte Erscheinungsbild Albert Einsteins nährte den Verdacht, dass das Genie gerade erst aufgestanden sei. Und so manches Mal wird dieser Eindruck der Wahrheit entsprochen haben, denn der Physiker legte wert auf ausreichend Schlaf und war vor zehn Uhr morgens ungenießbar wie ein bitterer Pilz.

Möglicherweise ist genau diese leicht zerfledderte Erscheinung in Verbindung mit der Aura eines verrückten Professors der Grund, warum uns Einstein noch heute so präsent ist. Sicher, da war der Nobelpreis und die Relativitätstheorie, aber es gibt Hunderte von Nobelpreisen für naturwissenschaftliche Leistungen, und an die meisten ihrer Träger erinnert man sich schon bald nicht mehr. Hört man ihre Namen, entsteht kein Bild vor dem inneren Auge, und ebenso wenig weiß man, worum es in den ausgezeichneten wissenschaftlichen Arbeiten ging. Zugegeben, das können auch bei Einsteins Relativitätstheorie genaugenommen nur die wenigsten, aber dafür hat die Formel E = mc2 in ihrer grandiosen Einfachheit geradezu Popcharakter. Sie inspirierte zu Filmen (wenn auch nur experimenteller Art), Kunst (etwa beim »Walk of Ideas« während der Fußball-WM 2006) oder Musik (von Mariah Carey, die eines ihrer Alben mit der Einsteinformel E = mc2 betitelte). Aber ganz gleich, was Einstein geleistet hat, ohne seine Selbstinszenierung als gerade dem Bett entstiegener verwirrter Professor hätte er wohl kaum soviel Popularität erlangt. Er war ein sympathisches Genie zum Anfassen – und hatte den Mut, seinen Träumen bis in den frühen Morgen nachzugehen. Die Idee zu seiner Relativitätstheorie kam ihm, dem Langschläfer, tatsächlich im Traum oder im Halbschlaf – die Legenden dazu sind etwas unterschiedlich. Jedenfalls vertiefte Einstein sich nicht in das Dickicht von Algebra, Newton’scher Axiome und den Tücken der endlosen Räume, sondern ging auf eine imaginäre Reise. Er stellte sich vor, auf dem Rücken einer Rakete, die so schnell war wie das Licht, durch die Weiten des Alls zu sausen und dabei in einem Taschenspiegel zu prüfen, ob die Frisur noch sitzt. Er ging dieser Idee nach, bis er nachweisen konnte, dass das Spiegelbild durch die Lichtgeschwindigkeit den Spiegel niemals erreichen konnte. Dieser Gedanke war die Basis seiner berühmten Formel: E = mc2.

Nach Lehrtätigkeiten in Bern (1896–1914) und Berlin (1914–1932) landete Einstein schließlich in Princeton, wohin er vor Naziterror und -verfolgung geflohen war. Hier, auf der Veranda seines Hauses, konnte man ihn mit einem Glas warmer Milch in der Hand antreffen, wenn er die Arbeit Arbeit sein ließ und im Schaukelstuhl dem Bedürfnis nach einem Nickerchen nachgab. Einstein beweist: Egal, wie die Frisur sitzt, Hauptsache der Kopf ist rund, damit man ihn wohlig auf ein Kissen betten und man mal die Richtung seines Denkens ändern kann.

Den Wahnwitz, in den man durch allzu große Genialität schlittern kann, kannte Einstein am Beispiel seines Freundes Kurt Gödel. Der Logiker musste sich für sein Einbürgerungsverfahren, das seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft, die er 1947 beantragte, vorausging, einer richterlichen Anhörung unterziehen. Bei der Lektüre der Verfassung verhedderte Gödel sich in Bedenken: Er wollte zeigen, dass die Verfassung eine Lücke aufweise, aufgrund derer es möglich sei, eine Diktatur zu errichten. Einstein, der dankbare und vom freiheitlichen Geist Amerikas begeisterte US-Bürger, setzte alles daran, seinen im Beweiswahn gefangenen Kollegen zum Verfahren zu begleiten. Zu groß war die Gefahr, dass dieser sich bei der Anhörung in Schwierigkeiten brachte. Gödel hätte sich beinahe um Kopf und Kragen geredet, doch Einstein gelang es, seinem Freund aus der Bredouille zu helfen. Dank seiner Lässigkeit im Umgang mit seiner hohen Intelligenz konnte er auch mal vereinfachen, wo der Alltag Vereinfachungen auferlegte. Großzügig war er ebenfalls – selbst gegenüber denjenigen, die sich seine Leistungen auf die (Landes-)Fahne schreiben wollten. »Wenn ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalte«, meinte Einstein 1915 zur London Times, »werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher, und die Franzosen, ich sei Weltbürger. Erweist sich meine Theorie als falsch, werden die Franzosen sagen, ich sei Deutscher und die Deutschen, ich sei Jude.«

Er war witzig, spöttisch und mitunter frech, was das bekannte Foto mit der herausgestreckten Zunge beweist. Der Physiker kam damals gerade von einer Veranstaltung der Uni Princeton zu Ehren seines 72. Geburtstags und nahm auf der Rückbank eines Autos zwischen seinem Chef und dessen Frau Platz. Genervt von den Fotografen, die nicht aufhören wollten, ihn zu fotografieren, streckte er ihnen die Zunge heraus. Eine stilsichere Geste (andere hätten den Mittelfinger gezeigt), die ihn außerhalb akademischer Zirkel zur Ikone aufsteigen ließ. Einstein avancierte posthum zum Popidol einer jungen Generation. Das Zungenbild zierte neben Che Guevara unzählige Wohngemeinschaften der Hippie-Ära, die ja Langschläfern grundsätzlich aufgeschlossener gegenüber war als die Generation Wirtschaftswunder. Einstein galt ihnen als frecher Friedensapostel. Es war die Verschmelzung von entspanntem Genie und menschlicher Größe: Wenige Tage noch vor seinem Tod 1955 hatte er ein Manifest für die Abrüstung unterzeichnet und damit auch zum Kalten Krieg Position bezogen.

Helmut Schmidt

Jede Ehe hat ihr Geheimnis. Das Geheimnis ihrer viel bewunderten Ehe mit Helmut Schmidt erzählte Loki Schmidt einmal ganz nebenbei einem Reporter: »Die Tragik unserer Ehe ist, dass ich ein Morgensinger bin, mein Mann eine Nachteule«[35], bekannte sie.

Wer hätte das gedacht?, mag manch gekränkter Frühaufsteher nun denken – der Altbundeskanzler mit dem souveränen Habitus als »Elder Statesman« keine Lerche? Tja, so sieht es aus: Helmut Schmidt ist einer von uns Langschläfern und der lebende Beweis dafür, dass man als solcher nicht unbedingt im milchigen Nebel der Bohème und der Tagträumerei zu finden ist, sondern mitten im Weltgeschehen. Es gibt noch mehr Hinweise darauf, dass Helmut Schmidt die Morgenstunde lieber gut gebettet verbringt, als Zugeständnisse an bürgerliche Betriebsamkeit zu machen, wie so viele andere im Politzirkus und in den Vorstandsetagen. Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Zeit, berichtet Folgendes von den Zusammentreffen mit dem Altbundeskanzler, die seiner Kolumne Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt vorausgehen: »Helmut Schmidt raucht ja nicht nur Zigaretten. Jedes Mal bringt er Schnupftabak mit und trinkt dazu Kaffee mit Milch und extra viel Zucker. Unsereins würde angesichts dieser Dröhnung wie Rumpelstilzchen durch die Flure hüpfen. Schmidt dagegen ist dann überhaupt erst auf Betriebstemperatur.«[36] Wo sich die beiden Interviewpartner zu ihren freitäglichen Treffen einfanden (Hamburger Pressehaus, 6. Stock), ist bekannt, über das Wann indes kann man nur Mutmaßungen anstellen – aber es ist sehr wahrscheinlich, dass die Treffen nach zehn Uhr morgens stattfanden. Denn vorher ist im Pressehaus – außer der rührigen Verwaltung – nur bedingt jemand anzutreffen. Und wer dann selbst um diese Zeit noch eine derart brisante Mischung aufputschender Stimulanzien schätzt, um in die Gänge zu kommen, der weist sich unmissverständlich als einer aus, dessen Motor noch nicht angesprungen ist, und er kann unmöglich ein Frühaufsteher sein.

Ein weiterer Hinweis auf Schmidts Langschläfertum findet sich in der Nonchalance seines Lebensstils. Sein Ferienhaus am Brahmsee ist eine Baracke aus Holz, Presspappwänden und Eternitplattenverkleidung, die er (allerdings einschließlich 30 Metern Seeufer und 3000 Quadratmetern Roggenackerboden) vor knapp 50 Jahren für 7000 Euro gekauft hat. Mehr war damals nicht drin. Auch im Haus nicht: ein Eltern-, ein Kinderschlafzimmer, eine Stehküche, ein Klo. Kein Strom, kein fließend Wasser, keine Heizung. Erst nach und nach wurde es in der Baracke heimelig – und dann wurde sie gleich Schauplatz der hohen Politik, wenn etwa um Finanzen, Arbeitsplätze oder Koalitionen gerungen wurde, man Staatskrisen bewältigte und versuchte, mögliche Fehler zu verwinden. Am Brahmsee wurden Minister empfangen und Präsidenten, Parteifreunde, Koalitionspartner und Journalisten, manchmal sogar im lockeren Freizeitlook – ein Mann, dessen Stimme über die Grenzen Europas hinaus Gewicht hat, kann es sich leisten, in Shorts und Ringelhemd die Tür zu öffnen und Gästen einen zufälligen Blick durch die angelehnte Schlafzimmertüre zu gewähren. Hat er hier bis vor kurzem die Lektüre der zehn Tageszeitungen, die er sich täglich vornimmt, beendet? Oder war es doch eher an seinem Schreibtisch? Wer weiß das schon.

Ausgeschlafene Gelassenheit ist nicht das Erste, was einem beim Namen Helmut Schmidt einfällt, der sich wegen seiner klaren Worte früh den Ruf einer »Schmidt-Schnauze« eingehandelt hatte. Er stand zu diesen Worten, dies verrät ein großes Selbstvertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit, die er etwa als Innensenator 1962 bei der Hamburger Flutkatastrophe unter Beweis stellte, oder während der massiven terroristischen Herausforderungen durch die Baader-Meinhof-Bande und die RAF in den 70er Jahren.

Schmidt hat so manche Nacht kein Auge zu getan und hätte es wahrlich verdient gehabt, auszuschlafen. Das hat er inzwischen nachgeholt. Seine Frau Loki erzählte einmal: »Wir schlafen sehr viel. Wir haben die senile Bettsucht, keineswegs die präsenile Bettflucht.«[37]

Marilyn Monroe

Ja, auch die Monroe gehörte zu uns Langschläfern. Sie gilt sogar als unsere Königin! Selbst wenn man sie angesichts der Tragödien, die ihr Leben bestimmt und auch beendet haben, vielleicht nicht zum Vorbild erheben möchte. Aber das Leben und der Lebensstil der Marilyn Monroe ist eben auch eine Frage der Perspektive. Denn das, was die Monroe geschaffen hat, gilt für die Ewigkeit. Es ist egal, mit welchen Mengen Wasserstoffperoxid man sein Haar bleicht, wie blass man seinen Teint hält, wie verführerisch man seine roten Lippen zu einem Kussmund formt, wie schläfrig einladend man aus der (Unter-)Wäsche schaut oder wie stolz man sein Dekolleté präsentiert – keine Frau wird jemals an ihre Göttlichkeit heranreichen. Auch wenn die Monroe für das heutige Schönheitsideal mit Kleidergröße 40 etwas zu pummelig war (besonders für die Kamera, deren kaltherziger Blick ungnädige acht Kilogramm draufpackt) – sie bleibt das ewige Original, da können sich Madonna, Christina Aguilera, Lady Gaga oder Paris Hilton anstrengen, so viel sie wollen.

Marilyn Monroe war trotz all ihrer unzähligen Lebensdramen stets der unangefochtene Star, mehr noch, sie prägte ihre Epoche und setzte in vielerlei Hinsicht Maßstäbe. Am einprägsamsten wohl durch ihre Sinnlichkeit. In der sexhungrigen Nachkriegszeit sahen viele die Macht der Triebe als die letzte aller Wahrheiten an. Sex galt als Schlüssel zum Menschen, seiner Seele, seinem Innersten. Sigmund Freuds Lehren belebten Party-Gespräche. Der Sexualforscher Kinsey veröffentlichte seine erste Studie. Marilyn Monroe war Antwort, Erfüllung und Versprechen zugleich. Sie war nicht Objekt der Begierden, sondern deren Subjekt. Ihr wackelnder Gang, ihr Hauch von Stimme, ihr dicker Hintern – was wenige Jahre zuvor noch wie eine billige Provokation gewirkt hätte, war der Triumph eines üppigen schwelgenden Narzissmus, einer Freude an der eigenen Weiblichkeit ohne falsche Scham. 1952 kamen Jugend-Fotos der Monroe ans Tageslicht, die zeigten, wie sie sich nackt auf einem roten Stück Samt räkelte. Für alle anderen hätten diese Bilder das Aus der jungen Karriere bedeutet. Nicht jedoch für sie. Als ein, ob dieser Ungeniertheit fassungsloser Reporter nachhakte und fragte, ob sie denn tatsächlich nichts angehabt habe, antwortete die Monroe keck: »Doch, das Radio.«[38] Alle waren angetan von ihrer erfrischenden Schlagfertigkeit.

Ein anderer Beweis für die neuen Maßstäbe, die sie setzte, war ihr Umgang mit ihrem Marktwert. Sie war von der 20th Century Fox durch einen Siebenjahresvertrag gebunden, der ihr weniger zugestand, als ihr aufgrund ihrer wachsenden Popularität hätte zustehen müssen. Sie fand jedoch eine Lücke im Kleingedruckten, unterschrieb bei einer Plattenfirma und nahm Songs wie »Diamonds are a girls best friend« auf, die sie reich machten. Dann forderte sie von der 20th Century Fox bessere Rollen, bekam sie, wurde zum Publikumsmagneten Nummer eins und verließ – auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs – die Firma, um sich mit einer eigenen Filmproduktion selbständig zu machen.

Auch was die Richtlinien für die Güteklasse ihrer Liebhaber und Ehemänner betrifft, ist Marilyn Monroe ungeschlagen, selbst Carla Bruni kommt da nicht heran. Von ihrer ersten Ehe mit dem unbedarften Nachbarsjungen Jim Dougherty, mit dem sie immerhin freundschaftlich verbunden war, einmal abgesehen, angelte sie sich nicht nur Amerikas Sportlegende Joe DiMaggio, sondern auch Arthur Miller, den international gerühmten Vorzeige-Intellektuellen. Dazu kamen Affären mit US-Präsident John F. Kennedy und dessen Bruder Robert.

Doch Marilyn Monroes Vorzeigefunktion in Sachen selbstbestimmter Sexappeal, Geschäftssinn, Männer und internationaler Erfolg verblasst angesichts des Maßstabs, den sie in Sachen langes Schlafen gesetzt hat. Sie ist die Krönung der Langschläfer. Welche von Hollywoods klassischen Filmdiven konnte es sich damals schon leisten, nach den Beleuchtern, den Kameraleuten, dem Regisseur oder gar den Wichtigtuern aus Produktion, Leitung oder Chefetagen am Set zu erscheinen? Niemand hätte es riskiert – und selbst ein Topstar wie Grace Kelly nahm, wenn auch klagend, in Kauf, immer früher am Drehort erscheinen zu müssen, damit durch immer aufwendigeres Make-up Frische und Freundlichkeit ins Gesicht gezaubert wurden. Die Monroe kratzte das nicht. Bei ihr reichte ein einfaches Ausgeschlafensein nicht aus – nach dem ersten späten Erwachen schlief die Einzigartige einfach ein weiteres Mal ein. Was bedeuteten schon Produzenten, denen die Halsschlagader schwoll, weil sie bei jeder Minute, die das hundertköpfige Team mit Warten auf den Star verbrachte, die Unsummen vor Augen hatten, die gerade verpufften? Viel wichtiger war der Monroe der wohltuende Effekt eines verlängerten Morgenschlummers. Drei Stunden Verspätung? Peanuts. Sie ließ die Leute locker auch acht Stunden warten, manchmal kam sie gar erst einen Tag später zu den Dreharbeiten. Mit erfreulicher Wirkung, denn das lange Schlafen ersparte den Leuten in der Maske nicht nur aufwendiges Make-up, es beförderte die Künstlerin auch zwangsläufig in den Mittelpunkt.

Und die Monroe hatte nur große Auftritte. Ob beim Geburtstag ihres Freundes John F. Kennedy, vor den US-Truppen in Südkorea oder eben am Filmset: ihr Auftreten garantierte ihr die Aufmerksamkeit, die sie für sich beanspruchte. Und alle, die sie anfangs zähmen wollten, fügten sich ihrem Tempo, weil sie ihrem Talent, ihrem Können und ihrem großartigen Gespür für das richtige Timing erlegen waren. Billy Wilder prägte für die Monroe ein immerwährendes Bonmot: »Es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet. Es kommt darauf an, auf wen man wartet.«