Teil eins

Kapitel eins

Zwischen den Gemeinden Shepfold und Martlake in Somerset gab es ein Niemandsland und viel böses Blut.

Genau wie die nahen Städte Glastonbury und Wells ständig miteinander im Streit lagen, kehrte auch zwischen diesen beiden Flecken kein Frieden ein. Ohne Unterlass stritten Martlaker und Shepfolder darüber, wessen Schweine sich nun an den Bucheckern des zwischen ihnen liegenden Waldes gütlich tun durften, wer das Recht hatte, seine Gärten mit dem Wasser welches Baches zu bewässern, wessen Ziegen unerlaubt die Grenze überquert und die Wäsche des Nachbardorfes angefressen hatten …

Heute am Lammmas-Samstag, nach einem guten Sommer, der dafür gesorgt hatte, dass sie die Ernte außergewöhnlich früh einbringen konnten, sahen sich die Bewohner der beiden Dörfer über ein Stück Feld hinweg an. Alle waren da, ob sie nun laufen konnten oder nicht. Ein Podium war errichtet worden, um Lady Emma von Wolvercote (ihr Gutssitz befand sich in Shepfold) und ihrem Mann Platz zu bieten. Bei ihnen waren Sir Richard de Mayne (der seinen Sitz in Martlake hatte), die beiden Gemeindepriester und ein arabischer Doktor nebst seine Helferin und einer älteren Frau. Vor ihnen lag ein Ball von der Größe eines schönen Kürbisses. Er war aus mit Lederstücken überzogenen Weideruten gefertigt und mit Sägemehl gefüllt.

Vater Ignatius (Shepfold) unternahm den letzten verzweifelten Versuch zu verhindern, was hier gleich geschehen sollte.

»Mylady, Sir Richard, es ist noch nicht zu spät, diesem üblen Tun Einhalt zu gebieten und die Leute nach Hause zu schicken. Der Sheriff hat ausdrücklich untersagt …«

Sein Protest traf auf taube Ohren. Unverwandt vor sich hinblickend, sagte Sir Richard: »Wenn es Shepfold unbedingt danach verlangt, aufs Neue gedemütigt zu werden, wie kann ich die Leute dann enttäuschen?«

Lady Emma weigerte sich ebenfalls, Vater Ignatius auch nur anzusehen, und schnaubte heftig durch die hübsche Nase. »In diesem Jahr wird Martlake gedemütigt.« Master Rötger, ihr hochgewachsener deutscher Mann, der auf eine Krücke gestützt neben ihr stand, warf ihr einen zustimmenden Blick zu und klopfte ihr ermutigend auf den Rücken.

Vater Ignatius seufzte. Er war ein gebildeter, zivilisierter Mann. Am morgigen Sonntag, dachte er, werden sich diese Menschen in ihren besten Sonntagsstaat kleiden und Garben und Früchte in die Kirche tragen, um Gott für seine unendliche Güte zu danken, ganz wie es sich gehört. Aber am Tag vor Erntedank folgen sie dieser so einzigartigen wie abscheulichen Tradition, fallen zurück ins Heidentum und verwandeln den Vorabend unseres christlichen Festes in eine altrömischen Ausschweifungen gleichende Gewaltorgie. Es ist ein Irrsinn.

Adelia Aguilar stimmte in sein Seufzen mit ein und ging in Gedanken die medizinischen Utensilien durch, die sie dabei hatten: Verbandsstoff, Salben, Nadeln, Fäden und Schienen. Wie schön es doch wäre, wenn sie darauf hoffen könnten, nichts von alldem brauchen zu müssen, aber die Erfahrung wies in ein andere Richtung.

Sie sah zu dem großen arabischen Eunuchen neben sich auf, der hilflos mit den Schultern zuckte. Dieses England vermochte ihn immer wieder neu zu verblüffen.

Sie hatten gemeinsam einen langen Weg hinter sich gebracht. Beide stammten aus Sizilien, dem Schmelztiegel verschiedenster Rassen. Sie, als Baby ausgesetzt und wahrscheinlich griechischer Abstammung, war von einem jüdischen Arzt und seiner Frau gerettet und aufgezogen worden. Er, Mansur, war als ihr Diener in denselben Haushalt gekommen, ein Waisenjunge mit einer wunderschönen Stimme, den die römische Kirche, damit er sie nicht verlor, hatte kastrieren lassen.

Die Umstände … nun, tatsächlich war es der verwünschte Henry II. von England gewesen, der sie aus Sizilien gerissen und in sein Reich verschifft hatte. Und jetzt, einige außerordentliche Jahre später, standen sie hier auf diesem kahlen Stück Land in Somerset, auf dem sich die Bewohner zweier Dörfer gegenseitig in einem sogenannten Spiel zu verkrüppeln gedachten.

»Ich verstehe die Engländer nicht«, sagte Adelia.

Gyltha, die auf der anderen Seite neben ihr stand, sagte: »Die hier in Somerset sind keine richtigen Engländer, Bor.« Gyltha kam aus Cambridgeshire.

»Hmm.«

Zum Teufel noch mal, Adelia war eine ausgebildete Ärztin, eine Spezialistin für das Öffnen und Untersuchen von Toten, eine Medica der Medizinerschule im zu Sizilien gehörenden Salerno, wahrscheinlich der einzigen Einrichtung in der gesamten christlichen Welt, die Frauen als Schüler aufnahm – und das hier, lachte sie, ist aus mir geworden.

Das Schlimmste war, dass sie ihre Kunst hier offiziell gar nicht ausüben durfte. In England? Wo die Kirche eine Frau mit medizinischem Wissen als Hexe betrachtete?

Nach außen hin musste Mansur derjenige sein, der die Verletzten verarztete, während sie nur seinen Anordnungen folgte. Es war ein erbärmlicher Vorwand, aber einer, der sie vor kirchlicher Verfolgung schützte – und einer, über den sich die zwei Dörfer, die beiden vertrauten herzlich das Maul zerissen.

Die Menge wurde langsam unruhig. »Heilige Mutter Maria, fangt endlich an!«, rief jemand. »Sonst verrecken wir in der verdammten Hitze!«

Es wurde tatsächlich ziemlich heiß, so jung der Tag noch war. Die Sonne, die Weizen und Gerste so vortrefflich hatte reifen lassen, schien schräg auf die gelbweißen Stoppeln, zwischen denen Krähen nach den von den Ährensammlern zurückgelassen Körnern suchten, und jenseits des Feldes hellten die Sonnenstrahlen das sich hier und da schon herbstlich färbende Laub der Buchen auf. An den Feldrainen tummelten sich Bienen und Schmetterlinge auf Klee und Kornblumen.

Vater Ignatius gab auf und wandte sich an seinen Priesterkollegen Vater John. »Euch gebührt die Ehre in diesem Jahr, Sir. Wenn man es denn eine Ehre nennen kann.«

Vater John, durch und durch ein Martlaker und deshalb ein Rüpel, nahm den Ball, hob ihn hoch über den Kopf, schrie: »Gott helfe den Richtigen«, und warf das Ding aufs Spielfeld.

»Das war nicht die Mitte!«, protestierte Vater Ignatius. »Ihr bevorzugt Martlake!«

»Das tu ich verdammt noch mal nicht!«

»Tut Ihr doch!«

Niemand schenkte den streitenden Priestern irgendwelche Beachtung. Das Spiel hatte begonnen. Wie riesige aufeinander zutosende Wellen rannten die gegnerischen Mannschaften laut brüllend gegeneinander an. Frauen und Kinder hielten sich außen und feuerten ihre Männer, Väter und Brüder in der Mitte an.

Da plötzlich tauchte ein junger Martlaker mit dem Ball vor den flinken Füßen aus dem Gewühl auf und rannte damit in Richtung der Shepfolder Gemeindegrenze, eine Meute grölender Shepfolder hinter sich. Lady Emma, Sir Richard und Master Rötger verfolgten die Vorgänge etwas gesetzter, während sich Adelia, Gyltha und Mansur mit ihrer medizinischen Ausrüstung in Bewegung setzten, begleitet von Adelias sechsjähriger Tochter und Emmas vierjährigem Sohn Lord Wolvercote.

Sie beobachteten das Gerangel, als der Bursche aus Martlake zu Boden gerissen wurde.

»Und weg ist die Nase«, bemerkte Mansur. »Ist es nicht gegen die Regeln, dem Gegner ins Gesicht zu treten?«

»Holt schon mal die Tupfer heraus!«, sagte Gyltha.

Adelia sah in ihre Arzttasche. »Welche Regeln?« Offiziell gab es tatsächlich ein paar: kein Fluchen, kein Aufheben und Tragen des Balles, keine Fausthiebe, kein Beißen und Kratzen, keine Frauen, Kinder oder Hunde auf dem Spielfeld. Aber Adelia hatte bisher noch nicht erlebt, dass auch nur eine davon befolgt wurde.

Gyltha redete auf Adelias Tochter ein: »Hör zu, meine Süße! Wenn du dich auch diesmal wieder einmischst, versohle ich dir dein kleines, zartes Hinterteil.«

»Sie hat recht, Allie«, sagte Adelia. »Keine Raufereien! Du und Pippy, ihr haltet euch da raus, verstanden?«

»Ja, Mama. Ja, Gyltha.«

Als sie sich um die gebrochene Nase des Martlakers gekümmert hatten, waren Kinder, Ball und Spieler verschwunden. Fernes Brüllen und Heulen deutete darauf hin, dass sich das Spiel in den Wald verlagert hatte. An dessen Rand standen Adelias alte Freunde Will und Alf.

»Geht nach Hause!«, sagte sie. Die beiden stammten aus Glastonbury. »Mischt euch da nicht ein! Ich hab’ nicht genug Verbandszeug.«

»Wir wollen nur zuseh’n«, erklärte ihr Will.

»Ja, genau. Zuschauer sind wir«, sagte Alf.

Sie musterte die zwei voller Zuneigung und Argwohn. In ihren groben Kitteln sahen sie wie einfache, ehrbare Landleute aus, obwohl sie sehr wohl wusste, dass sie das Gesetz immer mal wieder Gesetz sein ließen. Will war der Ältere der beiden und ein mürrischer Kerl, den sie zusammen mit seinem einfacheren, sanfteren Bruder Alf zwei Jahre zuvor unter gefahrvollen Umständen in Glastonbury kennengelernt hatte. Seitdem hatten die beiden sich zu ihren Beschützern erklärt und versorgten sie regelmäßig mit gewilderten Prachtbraten. Seit einiger Zeit allerdings tauchten sie öfter als gewöhnlich auf, aber Adelia hatte im Moment nicht die Muße, sich Gedanken darüber zu machen. Die Schreie aus dem Wald legten nahe, dass es Verletzte gab, um die es sich zu kümmern galt. Will und Alf folgten ihr zwischen die Bäume.

Ein gebrochenes Bein, zwei verdrehte Füße, eine ausgekugelte Schulter und drei blutende Köpfe später ebbten die Verletzungen vorübergehend ab, und Mansur schwang sich einen protestierenden Burschen mit kaputtem Bein über die Schulter, um ihn nach Hause zu seiner Mutter zu tragen. Gyltha wischte Allie den Schmutz aus dem Gesicht. Der Lärm hatte sich in vereinzelte Schreie zerstreut. Die Leute stürmten im Unterholz hin und her.

»Wo in Gottes Namen wollen sie denn jetzt hin?«, fragte Adelia.

»Die haben den Ball verloren«, sagte Will trocken.

»Gut.«

Aber da fiel ihr Blick auf eine Frau aus Martlake, die sich mit geschwollenem Leib und doch äußerst wendig über einen Dachspfad bewegte. »Wohin des Wegs, Mistress Tyler?«

»Zurück nach Hause, wie? Iss zu viel für mich, mit dem Baby und so.«

Tatsache aber war, dass die gute Mistress Tyler am letzten Sonntag in der Kirche noch keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft gezeigt hatte. Zudem führte der Dachspfad in Richtung Shepfold, und Lady Emma war eine gute Freundin Adelias, weshalb diese, trotz aller vorgeblichen Neutralität, Shepfold als Gewinner sehen wollte. »Gebt den Ball raus!«, rief Adelia. »Das ist gegen die Regeln.«

Worauf Mistress Tyler, sich den prallen, wabbelnden Bauch haltend, zu rennen begann.

Adelia rannte hinter ihr her und hörte so das Aufprallen des Pfeiles nicht, der sich in den Baum bohrte, vor dem sie bis vor einer Sekunde noch gestanden hatte.

Will und Alf sahen ihn an und eilten in die Richtung, aus der er gekommen war, aber ohne Erfolg.

Der Schütze hatte nur diesen einen Schuss abgegeben und sich gleich in den Wald zurückgezogen, in dem sich hundert Meuchler verstecken konnten.

Sie gingen zum Baum zurück, und es kostete Will einiges an Kraft, den Pfeil aus dem Stamm zu ziehen. »Sieh dir das an, Alf!«

»Wir müssen’s ihr sagen, Will.«

»Wir müssen irgendwem sagen.« Sie hegten den größten Respekt für Adelia, die sie bereits zweimal aus bösen Situationen gerettet hatte, aber so sehr sie sich auch um ihre Sicherheit sorgten, hatten sie ihr doch noch nichts von der drohenden Gefahr gesagt, in der sie sich befand. Sie wollten ihr keine Angst machen.

Sie liefen zu der Stelle, wo Adelia mit Mistress Tyler rangelte.

Da kam der Ball unter dem Rock der Frau aus Martlake zum Vorschein und wurde gleich von ein paar Spielern entdeckt.

Bevor die beiden Männer aus Glastonbury ihre Heldin erreichen konnten, wurden Adelia und ihre Gegnerin bereits unter einem Haufen Spieler beider Seiten begraben. In dem Versuch, sie zu befreien, verloren Will und Alf die Ruhe und ergriffen mit Fäusten und Stiefeln für Shepfold Partei.

Genau wie Adelia …

Etwa fünf Minuten später fragte sie eine vertraute Stimme hoch von einem herrlichen Pferd: »Seid Ihr das?«

Voller Erde und keuchend befreite sich Adelia aus dem Gerangel und sah zu ihrem Liebhaber auf, dem Vater ihres Kindes. »Ich glaube schon.«

»’n guten Tag, Bischof«, sagte Mistress Tyler und mühte sich, ihre Kleider in Ordnung zu bringen.

»Auch Euch einen guten Tag, Madam. Wer gewinnt?«

»Martlake«, sagte Adelia mit Bitternis in der Stimme. »Aber gegen die Regeln.«

Der Bischof von St. Albans war ein großer, kräftiger Mann in seinem vierten Lebensjahrzehnt und für Adelia das anziehendste Wesen der Welt. Ihr war es egal, dass seine durchaus zahlreichen Kritiker meinten, seine gewohnte humorvolle Ausdrucksweise zieme sich nicht für einen Mann seines kirchlichen Standes. Heute trug er seine Reisekleider, und seine edlen Stiefel und sein ebenso edler Umhang waren staubbedeckt. Er nahm den Hut vom Kopf, sodass man sein lockiges dunkles Haar sah, und deutete auf das runde zerfetzte Ding, das über einer Gruppe kämpfender Spieler tanzte. »Ist das der Ball?«

»Ja.«

»Gott sei’s gedankt! Ich dachte schon, es wäre der Kopf von einem der armen Kerle. Haltet mein Pferd!« Damit stieg Rowley ab, warf Hut und Umhang zur Seite und schritt zur Tat.

 

An diesem Abend herrschte in Martlake Heulen und Zähneknirschen, während drei Meilen entfernt in Shepfold ein schlaffes Stück Leder hoch auf einer Stange in die große Scheune des Gutes Wolvercote getragen wurde, als wäre es die goldene Kriegsbeute, die Julius Caesar in einem Triumphzug nach Rom brachte.

Draußen drehten sich Schweine und Schafe am Spieß, aus Fässern rann Ale für alle, die Lust hatten, ihren Durst damit zu stillen, und die leicht humpelnde Lady Wolvercote warf höchstpersönlich Pfannkuchen um Pfannkuchen in die Hände ihrer Shepfolder, während ihr Mann, der seine Eichenkrücke höchst wirkungsvoll in die Auseinandersetzung eingebracht hatte, Sahne darauf goss.

Ein ebenfalls zu Lady Emmas Haushalt gehörender walisischer Barde hatte seine Harfe beiseite gelegt und die Fidel hervorgeholt, die er mit solche Energie bearbeitete, dass ihm der Schweiß herunterlief. In langen Reihen tanzten Eltern und Kinder zu seine Weisen um die Siegesfeuer. Etwas entfernt, im Schatten der Bäume, rollten sich junge Körper in festlicher Kopulation.

Im Innern der Scheune warf Adelia einen strengen Blick auf den Bischof von St. Albans, der neben ihrer – und seiner – Tochter auf einem Strohballen saß. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter wurde noch durch das blaue Auge unterstrichen, das er wie sie sich bei ihrem siegreichen Feldzug geholt hatten. »Seht euch nur an. Ich hoffe, ihr schämt euch alle beide.«

»Das tun wir«, sagte Rowley. »Aber wenigstens haben wir Mistress Tyler nicht mit den Füßen traktiert.«

»Hat sie das?« Allie war begeistert. »Hat Mama der blöden Tyler einen Tritt versetzt?«

»Und was für einen.«

»Ich hole mir einen Pfannkuchen«, sagte Adelia, um im Weggehen über die Schulter noch hinzuzufügen: »Aber sie hat zuerst getreten.«

Als sie weg war, kam Will mit einem Krug Ale in der Hand heran, wuschelte Allie durchs Haar und zog die Mütze vor ihrem Vater. »Ich würde gern ’n paar Worte mit Euch wechseln, Bischof, wenn’s erlaubt ist. Draußen, wenn’s …«

Adelia kam zurück und holte Allie, um sie ins Bett zu bringen. Die beiden schoben sich zwischen den Tänzern durch, wünschten nach links und rechts eine gute Nacht und warfen Mansur einen Kuss zu, der für Allies Kindermädchen Gyltha, die Liebe seines Lebens, einen Schwerttanz vollführte.

Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Adelia das Gefühl, so dachte sie, zufrieden zu sein.

Als der König von England es vor sieben Jahren mit einigen unerklärten Morden im County Cambridge zu tun bekommen hatte, schrieb er seinem Freund, dem König von Sizilien, einen Brief und bat ihn um einen Experten in der Wissenschaft des Todes von der berühmten Medizinerschule in Salerno. Worauf der König von Sizilien ihm Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar geschickt hatte.

Weder dem sizilianischen König noch der Schule war der Gedanke gekommen, womöglich eine unpassende Wahl getroffen zu haben: An der Schule gab es Frauen wie Männer, und Adelia war nun mal die Beste ihres Faches.

Ihre Ankunft in England dann, einem Land, in dem weibliche Ärzte eine Unmöglichkeit waren, hatte Fassungslosigkeit hervorgerufen.

Nur durch die List, Mansur als den Doktor auszugeben, dem sie half und für den sie übersetzte, hatte Adelia ihre Aufgabe erfüllen können. Sie hatte die Morde aufgeklärt, und zwar so kundig und gut, dass Henry II. sie nicht nach Sizilien zurückkehren lassen wollte, sondern als seine eigene, spezielle Ermittlerin in England behielt.

Verwünscht sei der Kerl! Natürlich stimmte es, England hatte ihr Glück gebracht, hatte ihr Freunde, einen Liebhaber und ein Kind geschenkt. Aber durch Henrys Aufgaben war sie mehr als einmal in solche Gefahr geraten, dass ihr die Ruhe das alles zu genießen, geraubt worden war.

Die Engstirnigkeit der Kirche hatte sie, Allie, Mansur und Gyltha aus Cambridge vertrieben, aber Emma hatte auf ihrem Besitz Adelia ein Haus gebaut und ihr so ihr erstes wirkliches Heim geschenkt. Die beiden waren Freundinnen, seit Adelia dem König die Gunst abgerungen hatte, sein Mündel Emma heiraten zu lassen, wen sie heiraten wollte.

Aus Gyltha und Mansur war bald schon ein Paar geworden, was alle bis auf Adelia überraschte. In Sizilien war es nicht ungewöhnlich für einen Eunuchen, eine glückliche sexuelle Beziehung mit einer Frau zu unterhalten, oder mit einem anderen Mann. Eine Kastration bedeutete nicht unbedingt Impotenz, was in England, wo Eunuchen eine Seltenheit waren, unbekannt war. So dachten hier in Shepfold die meisten, dass dieser Mansur eine wirklich außergewöhnlich hohe Stimme habe und er und Gyltha, nun, etwas Besonderes seien …

Und während der letzten zwei Jahre hatte Henry II. Adelias Idylle mit keinem neuen Auftrag gestört. Tatsächlich fragte sie sich, ob er sie vielleicht – welche Freude wäre das! – vergessen hatte.

Selbst ihre nervenaufreibende Beziehung mit Rowley, die während einer ihrer Ermittlungen ihren Anfang genommen hatte, noch bevor der König ihn unbedingt zum Bischof machen musste, hatte zu einer etwas exzentrischen Art von Häuslichkeit gefunden, obwohl der Bischof immer wieder lange unterwegs war und seine Diözese bereiste. Sicher, es war eine skandalöse Beziehung, aber in diesem entlegenen Teil Englands schien das niemandem etwas auszumachen. Ganz sicher fühlten sich Vater Ignatius und Vater John, die beide mit den Müttern ihrer Kinder zusammenlebten, nicht in der Position, Adelia bei deren große Feindin, der Kirche, anzuschwärzen. Zudem gab es im Umkreis von etlichen Meilen keinen Arzt, der neidisch hätte sein können, und so lebten sie hier nicht nur unbehelligt, sondern Adelia konnte auch ihren Arztberuf ausüben und den leidenden Patienten in diesem Teil Somersets helfen, die sie dafür liebten.

Ich habe Frieden gefunden, dachte sie.

Zusammen mit Allie schloss sie die Hühner für die Nacht ein und befreite Allies Hund, einen Lurcher, aus dem Raum, in dem er eingesperrt gewesen war, um sich nicht am Fußballspiel zu beteiligen. »Wir haben Martlake geschlagen, wir haben Martlake geschlagen«, sang Allie ihm vor.

»Und morgen sind wir wieder Freunde«, sagte Adelia.

»Der verdammte junge Tuke bestimmt nicht. Der hat mir mein blaues Auge verpasst.«

»Allie!«

»Nun …«

Die Tür zu ihrem Haus war offen, wie sie es eigentlich immer war, aber das Knarren einer Diele drinnen ließ unliebsame Erinnerungen in Adelia aufflammen, und sie fasste ihre Tochter bei der Schulter, um sie vom Hineingehen abzuhalten.

»Ist schon gut, Mama«, sagte Allie. »Es ist Alf, ich kann ihn riechen.«

Und so war es. Sich gegen Eustaces wilde Begrüßung wehrend, sagte der Mann: »Ihr solltet diese verflixte Tür verschlossen halten, Missus. Ich hab’ ’n Fuchs hier reinschleichen sehen.«

Da es dunkel war und Alf ein paar Hundert Meter entfernt bei der Scheune getanzt hatte, fragte sich Adelia, wie gut er wohl sehen konnte. »Ist er noch drin?«

»Hab’ ihn rausgejagt.« Und damit verschwand Alf in der Nacht.

Adelia zündete eine Kerze an, um ihre Tochter nach oben ins Bett zu bringen. »Kannst du einen Fuchs riechen, Allie?«, fragte sie ihre Tochter.

Sie hörte ein Schnüffeln. »Nein.«

»Hmm.« Allies Nase war unfehlbar. Ihr Vater meinte sogar, dass sie seinen Hunden noch das eine oder andere beibringen könne. So saß Adelia auf dem Bett ihrer Tochter, streichelte sie in den Schlaf und fragte sich, warum Alf, der ehrlichste aller Männer, ihr wohl diese Lüge aufgetischt hatte.

 

In Emmas Garten hielt der Bischof von St. Albans den Pfeil, den Will ihm gegeben hatte, so fest gepackt, dass der Schaft brach. »Wer ist es?«

»Wir können’s nicht recht sagen«, antwortete Will. »Haben den Dreckskerl noch nicht zu Gesicht gekriegt. Aber wir denken, dass Scarry vielleicht zurück ist.«

»Scarry?«

Will scharrte verlegen mit den Füßen im Sand. »Weiß nicht, ob sie Ihnen das je erzählt hat, aber sie und wir, wir waren vor ein, zwei Jahren alle zusammen im Wald, und da haben sie uns angegriffen. ’n Kerl namens Wolf, ’ne üble Ratte war das, und er iss auf sie los, auf sie und Alf. Hätte sie beide erwischt, wissen Sie, aber sie hatte dieses Schwert und … nun, sie hat ihn eher gekriegt.«

»Das hat sie mir erzählt«, sagte Rowley knapp. Himmel, wie oft hatte er ihren zitternden Körper schon in den Armen gehalten, um sie von ihren Alpträumen zu befreien!

»Nun ja, Scarry war dabei, er war Wolfs Lieutenant oder so. Er und Wolf, die war’n …«

»Ein Paar. Das hat sie mir auch erzählt.«

Will schien sich innerlich zu winden. »Ja, also, Scarry hat’s sicher nicht freundlich aufgenomm’n, dass sie ihm seinen Wolf umgebracht hat.«

»Das war vor zwei Jahren, Mann. Wenn er sich rächen wollte, warum hat er dann zwei Jahre gewartet?«

»Musste aus ’m County raus vielleicht. Der König, dem hat’s nicht so gefallen, dass er Gesetzlose in seinem Wald hatte. Hat richtig sauber gemacht und sie allesamt an die Bäume knüpft. Wir hatten gehofft, Scarry wäre dabei gewesen, aber jetzt sind wir nicht mehr so sicher, weil, wenn’s nicht Scarry iss, wer dann? Sie wird von allen hier gemocht, unsere Missus.«

»Er versucht also, sie umzubringen?«

»Das kann ich nicht so genau sagen. Auf jeden Fall will er sie erst mal zu Tode erschrecken, und das iss auch mehr Scarrys Art. Ich und Alf, wir haben aufgepasst und ’ne Jagdgrube auf einem der Wege gefunden, die sie oft geht. War fein säuberlich abgedeckt, aber wir haben sie aufgefüllt. Und dann Godwyn, der, dem der ›Pilgrim‹ gehört und der sie immer nach Lazarus Island fährt, wo sie sich um die Aussätzigen kümmert, nun, letzte Woche, da iss sein Kahn gesunken, als sie halb da waren, und sie mussten durch die Marschen zurück, was gefährlich iss wegen dem Treibsand. Alf und ich, wir sind dann später rausgestakt und haben den Kahn gehoben. Da war ’n hübsches Loch im Boden, als hätte’s einer mit ’m Bohrer reingebohrt und dann mit Wachs getarnt oder so. Und dann war da …«

Aber der Bischof von Albans kehrte ihm bereits den Rücken und stapfte zu Adelias Haus hinüber.

An der Tür traf er mit Alf zusammen. »’s iss alles in Ordnung, Master, ich hab’ alles durchsucht, bevor sie gekommen ist. War keiner drin.«

»Danke, Alf. Ich übernehme jetzt.« Und das würde er, Herrgott, das würde er. Wie oft musste er das Frauenzimmer nochretten, bevor sie Vernunft annahm?

Rowleys Angst, wenn Adelia in Gefahr war, drückte sich stets in Wut auf sie aus. Warum musste sie sein, wie sie war? (Die Tatsache, dass er sie vielleicht gerade deswegen liebte, schob er kurzerhand zur Seite.)

Warum hatte sie ihn nicht heiraten wollen, als sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte? Es war ihr Fehler … dieses Gerede über ihre Unabhängigkeit … und dass sie meinte, als Frau eines ehrgeizigen Mannes versagen zu müssen … Alles war ihr verdammter Fehler.

Sie hatte ihren eigenen Kopf, und schon war Henry II. über Rowley hergefallen und hatte ihn gedrängt, Bischof zu werden – der König brauchte wenigstens einen Kirchenmann auf seiner Seite, nachdem Erzbischof Becket ermordet worden war. Und Rowley in seinem Groll und seiner Qual, der hatte zugestimmt. Daran gab er ihr noch immer die Schuld.

Bei ihren Ermittlungen dann waren sie immer wieder zusammengetroffen und hatten festgestellt, dass der eine ohne den anderen nicht sein konnte. Für eine Ehe war es jedoch zu spät: Keusch sollte der Bischof leben, und so führten sie diese verbotene Beziehung, ohne dass er irgendein Recht auf sie oder sein Kind gehabt hätte.

Aber jetzt war endgültig Schluss mit der Schnüffelei und mit den Kranken und Aussätzigen – Aussätzigen, beim Barmherzigen! Sie musste mit alldem aufhören. Und dank der Mission, mit der Henry ihn hergeschickt hatte, würde er das auch durchzusetzen.

Trotz seiner Wut war Rowley besonnen genug zu überlegen, wie er es ihr beibringen sollte. Er blieb an der Tür stehen und dachte nach.

Die beiden Jungs aus Glastonbury hatten recht, Adelia sollte nicht wissen, dass ein Mörder hinter ihr her war. Aber sie hatten aus dem falschen Grund recht. Rowley kannte diese Frau. Ein Mörder würde sie nicht aus dem Loch vertreiben, das sie sich hier auf dem Land gegraben hatte. Sie würde sich weigern, von hier wegzugehen, und große Reden schwingen, dass sie sich ihrer verdammten Pflicht ihren verwünschten Patienten gegenüber nicht entziehen könne.

Ja, das Beste war, sich ganz auf Henrys Wunsch zu verlassen, einen Samthandschuh über seine eiserne Faust zu ziehen und zu versuchen, ihr den Befehl des Königs möglichst schmackhaft zu machen …

Nur war er immer noch voller Wut und kam in den Samthandschuh nicht richtig hinein. Er ging in ihr Schlafzimmer und sagte: »Pack die Koffer! Morgen früh reiten wir nach Sarum.«

Adelia war auf etwas anderes vorbereitet gewesen. Sie lag im Bett und war, abgesehen von etwas Spitze im Haar, nackt, gebadet und parfümiert. Ihr Geliebter konnte sie nur so selten besuchen, dass es im Bett immer noch stürmisch zuging. Ihn an einem Samstag zu sehen, hatte sie freudig überrascht, musste er sich doch an diesem Tag für gewöhnlich auf einen Sonntagsgottesdienst in irgendeiner fernen Kirche vorbereiten.

Sonntags teilte er das Bett prinzipiell nicht mit ihr, was lächerlich war und ganz sicher scheinheilig, aber da sie wusste, wie sehr es ihn belastete, seinen Schäfchen Enthaltsamkeit zu predigen, ohne selbst enthaltsam zu sein, ertrug Adelia es mit Fassung … Und es war ja auch noch nicht Mitternacht.

Und so fragte sie nur verdutzt: »Was?«

»Wir brechen morgen früh nach Sarum auf. Deshalb bin ich hier.«

»Oh, tatsächlich?« Also nicht der Liebe wegen. »Warum? Und überhaupt, ich kann nicht. Ich habe einen Patienten drüben an der Straße, der mich braucht.«

»Wir reiten.«

»Ich nicht, Rowley.« Sie griff nach ihren Kleidern. Er sorgte dafür, dass sie sich ohne dumm vorkam.

»Captain Bolt kommt und wird uns begleiten. Der König will es so.«

»Nicht wieder, oh Gott! Bitte nicht!« Le roi le veult. Das waren für Adelia die verhängnisvollsten Worte. Dagegen gab es kein sich Auflehnen.

Traurig steckte sie den Kopf durch ihr Nachthemd und sah ihn an. »Was will er diesmal?«

»Er schickt uns nach Sizilien.«

Oh, das war etwas anderes. »Nach Sizilien? Rowley, wie wundervoll. Da werde ich meine Eltern wiedersehen, und sie lernen dich und Allie kennen.«

»Almeisan wird nicht mit uns kommen.«

»Aber natürlich wird sie das! Natürlich! Ich werde sie doch nicht hier zurücklassen!«

»Nein. Henry behält sie hier, um sicherzugehen, dass du zurückkommst.«

»Aber bis nach Sizilien. Das kann ein Jahr oder länger dauern. So lange lasse ich sie nicht allein.«

»Sie wird in guten Händen sein. Gyltha kann bei ihr bleiben, dafür habe ich gesorgt, und sie werden bei der Königin in Sarum untergebracht.« Das war sowohl eine suggestio falsi als auch eine suppressio veri von Rowley. Henry Plantagenet hätte absolut nichts dagegen, würde Allie bleiben, wo sie war: in Wolvercote unter Emmas Obhut. Es war Rowley gewesen, der ihn gebeten hatte, das Kind zu Eleonor ziehen zu lassen, und dann hatte er der Königin ihr Einverständnis abgerungen.

So war es zu einer seltenen Übereinkunft zwischen König und Königin gekommen. Seit sich Eleonor von Aquitanien der gescheiterten Rebellion der beiden älteren Plantagenet-Prinzen gegen ihren Vater angeschlossen hatte, war die Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau, um es vorsichtig auszudrücken, leicht angespannt.

Adelia legte den Finger umgehend in die Wunde. »Allie kann nicht bei Eleonor wohnen. Die Königin sitzt im Gefängnis.«

»Es ist ein Gefängnis, in dem jeder gerne sitzen würde. Ihr wird nichts verwehrt.«

»Bis auf die Freiheit.« Etwas Schreckliches ging hier vor, Rowley machte ihr Angst. Adelia hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie ging und öffnete das Fenster, um frei atmen zu können.

Als sie sich und ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte, drehte sie sich zu ihm um. »Um was geht es da wirklich, Rowley? Wenn ich fort muss … wenn ich Allie allein lassen muss, kann sie bei Gyltha und Mansur bleiben. Sie fühlt sich hier wohl, ist glücklich, hat ihre Tiere … Du weißt, wie sehr sie ihre Tiere mag.«

»Genau darum geht es.«

»Sie hat einen Instinkt für sie, eine besondere Begabung. Der alte Marley hat sie vor ein paar Tagen gerufen, als seine Hennen krank waren, und sie hat Emmas Dressurpferd vor dem Ersticken gerettet, als Cerdic nicht mehr weiterwusste … Was soll das heißen: Genau darum geht es?«

»Ich meine, ich möchte, dass meine Tochter die weiblichen Künste erlernt, die Eleonor ihr beibringen kann. Ich will, dass sie eine Lady wird und kein Sonderling.«

»Du meinst, sie soll nicht aufwachsen wie ich.«

In seiner Angst, seiner Wut und seiner Liebe musste er anerkennen, dass es darauf hinauslief. Adelia entzog sich ihm, von Beginn an war das so gewesen, aber mit seiner Tochter sollte das anders sein.

»So ist es, das soll sie nicht, wenn du es genau wissen willst. Und sie wird es auch nicht. Ich habe eine Verantwortung für sie.«

»Eine Verantwortung? Du kannst nicht mal öffentlich anerkennen, dass sie deine Tochter ist.«

»Das heißt nicht, dass mir ihre Zukunft egal wäre. Sieh dich an, sieh, was du anhast!« Adelia hatte sich inzwischen wieder ganz angezogen. »Bauernkleider. Allie ist ein schönes Kind, warum sollen wir sie das nicht zeigen lassen. Die Hälfte der Zeit läuft sie barfuß umher.«

Es stimmte, dass Adelia meist Selbstgeschneidertes trug. Sie hatte sich darauf eingelassen, die Geliebte des Bischofs zu sein, aber gleich auch dafür gesorgt, nicht seine Hure zu werden. Alles Geld, das er ihr geben wollte, lehnte sie ab und kleidete sich und ihre Tochter aus ihren schmalen Einkünften als Ärztin. Bis heute war ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr ihn das ärgerte.

Es ging hier nicht um Allie, sondern um sie.

Aber sie blieb bei dem Thema, das ihr so wichtig war wie ihm, der Zukunft ihrer Tochter. »Sie soll also was lernen? Was könnte ihr Eleonor denn wohl beibringen? Nähen und Sticken? Das Leierspiel? Nett zu plauschen? Die verdammte höfische Liebe?«

»Sie wird eine Lady. Ich hinterlasse ihr Geld, und sie macht eine gute Partie. Ich sehe mich bereits nach angemessenen Ehemännern um.«

»Du willst eine arrangierte Ehe für sie?«

»Einen angemessenen Mann, habe ich gesagt. Und nur, wenn sie zustimmt.«

Adelia starrte ihn an. Ihre Liebe war wie keine andere, von Beginn an und immer noch. Sie dachte, sie würde ihn kennen und er sie, aber plötzlich schien es so, als verstünden sie sich überhaupt nicht.

Sie versuchte sich ihm zu erklären. »Allie hat eine besondere Gabe«, sagte sie. »Wir können ohne Tiere nicht existieren. Wir brauchen sie zum Pflügen und Reiten, sie ziehen unsere Kutschen und nähren uns. Wenn Allie Heilmittel gegen die Krankheiten finden kann, die sie befallen …«

»Eine Tierärztin? Was für ein Leben ist das denn wohl für eine Frau?«

Der Streit geriet außer Kontrolle. Als Mansur und Gyltha ins Haus kamen, erzitterte es von den Schreien zweier Menschen, die sich aufs Bitterste bekämpften.

»Ich habe das Recht zu sagen, was in meinem Zuhause zu geschehen hat!«

»Das hier ist nicht dein Zuhause, du Scheinheiliger! Die Kirche ist dein Zuhause. Wann bist du je hier?«

»Jetzt bin ich hier, und morgen reiten wir nach Sarum, und Allie kommt mit uns mit. Der König will es so.«

»Du hast ihn dazu gebracht, stimmt’s? Willst du sie in die Sklaverei geben …?«

Gyltha eilte ins Kinderzimmer, für den Fall, dass Allie zuhörte. Eustace hob den zottigen Kopf, als sie hereinkam, aber Allie schlief den Schlaf der Unschuldigen und Unwissenden.

Gyltha setzte sich zu ihr aufs Bett, nur für den Fall, und sah verzweifelt zu Mansur hinüber, der kopfschüttelnd im Türrahmen stand.

»Das vergebe ich dir nie. Niemals«, klang es den Flur entlang.

»Warum? Willst du, dass sie am Ende einen Mann umbringt, so wie du?«

Wäre er ganz bei sich gewesen, hätte Rowley das niemals gesagt. Wolf, der Gesetzlose, hatte Adelia töten wollen, und ihr war nichts geblieben, als ihm zuvorzukommen. Die Tat hing wie ein Mühlstein um ihren Hals. Wieder und wieder hatte Rowley ihr versichert, wie gut es sei, dass sich dieses Ungeheuer nicht mehr unter den Lebenden befinde. Sie hatte Alfs Leben und ihr eigenes gerettet, und ihr war keine Wahl geblieben. Dennoch lastete es schwer auf ihr, dass sie, die doch Leben retten wollte, eines genommen hatte.

Dann plötzlich verstummte der Streit.

Gyltha und Mansur hörten den Bischof die Treppe hinunterpoltern und sich ein Bett auf einer Bank bereiten. Tief betrübt gingen auch sie zu Bett. Sie konnten sowieso nichts tun.

Die letzten Feiernden verließen die Scheune, und Lady Emma und Rötger kehrten ins Herrenhaus zurück. Auch die Bediensteten fanden endlich Ruhe.

Stille senkte sich über Wolvercote.

 

Auf einem Wasserfass draußen unter Adelias Zimmer hockt eine Gestalt im Schatten und streckt die unter ihrem Umhang verborgenen Arme, sodass sie einen Augenblick lang wie eine übergroße Fledermaus aussieht, die ihre ledernen Schwingen ausbreitet, um sich in die Luft zu erheben. Geräuschlos springt die Gestalt zu Boden, voller Freude über das Gehörte.

Scarrys Gott ist nicht der Gott der Christen, und Er hat ihm gerade die größtmögliche Gnade gewährt. Scarry war sicher, dass Er es tun würde, früher oder später. Jetzt hält Scarry das Elixier der günstigen Gelegenheit in Händen.

Denn Scarrys Hass auf diese Frau mit dem Namen Adelia Aguilar ist grenzenlos. Während seines zweijährigen Exils hat er darum gebetet, dass ihm der Weg gezeigt wird, sie zu zerstören, und nun endlich hat der Gestank seiner Abscheu die Nase Satans erreicht, und Scarry ist dafür belohnt worden.

Einst, in einem nicht zu weit entfernt gelegenen Wald Somersets, hat diese Frau Scarrys Freude getötet, sein Leben, seine Liebe, seinen Gefährten, seinen Wolf. Und jetzt ist Scarry zurückgekehrt, von Wolfs Heulen getrieben, und er wird sie vernichten. Wie dumm er war, wie erfolglos. Mit seinen Pfeilen und Fallgruben, seinen Versuchen, sie in Panik zu versetzen. Sie hat es nicht einmal bemerkt, dafür haben die beiden Trottel gesorgt, die um sie sind.

Das war eines Mannes unwürdig. Scarry war ein Nichts, doch jetzt hat ihm der wahre, der einzige Gott den Weg gezeigt. Das hat Er. Ja, das hat Er. Dominus illuminatio mea.

Wolf hat nie eine Frau getötet, bevor sie sich nicht vor Angst und Schmerz gewunden hat – das war der einzige Zustand, in dem Wolf, wie auch Scarry, sich mit diesen Kreaturen sexuell vereinigen konnte. Timor mortis morte pejor.

Aber nun, Gott, hast Du mir in Deiner unendlichen Weisheit alles gezeigt, was ich hören, sehen und lernen musste, damit Dein und Wolfs Wille zu triumphieren vermögen. Langsam, ganz langsam werde ich diese Frau quälen und zugrunde richten, Stück für Stück werde ich ihr die Glieder abtrennen, a capite ad calcem.

Scarry ist längst außer Sichtweite des Hauses, und er dreht sich in der schimmernden, warmen, ihn einhüllenden Nacht.

Wie merkwürdig, dass sie ihren Liebhaber nicht gefragt hat, warum der König sie nach Sizilien schickt.

Aber er, Scarry, weiß es. Durch einen großen Zufall, nein, keinen Zufall, durch das Tun des gehörnten Gottes, in dessen Händen er ruht, weiß Scarry alles über die Reise, die diese Frau unternehmen wird.

Und er wird bei ihr sein.