Kapitel elf

Die Burg von Caronne erweckte den Eindruck, als wäre ein Drache auf einem zerklüfteten Berggipfel gelandet und hätte Gefallen daran gefunden, wie er dort oben vor dem endlosen Himmel wirkte, worauf er die Flügel anlegte und sich in Stein verwandelte. Dann, als könnte der Drache es schützen, hatte sich ein Dorf in den Wald darunter geschmiegt, in Form eines Hufeisens, mit Feldern so steil, dass Schafe und Ziegen komisch schief auf ihnen zu stehen schienen. Ganz im Tal gab es eine kleine Kirche. Weit in der Ferne, aber immerhin noch sichtbar, erhoben sich die Pyrenäen, ein mit Schnee gekrönter Gebirgszug, hinter dem Spanien lag.

»Dahin wollen wir?«, fragte Adelia den Admiral. »Zu der Burg?«

»Dahin wollen wir. Da seid Ihr sicher. Selbst Katharer sind dort sicher.«

Sie nickte. Eine Feste. Nur hatte sich ihr eingeprägt, dass Katharer nirgends sicher waren, und dieser Ort war meilenweit sichtbar. Sie sah vor sich, wie sich das allgegenwärtige Auge der die Katharer hassenden Kirche auf die Burg richtete, sich den Ort merkte, die Opfer zu ihm hinaufkletterten sah – und sich vielsagend verengte.

Vielleicht war der Ort nicht einzunehmen.

Es machte es nicht besser, dass sie bei Anbruch der Dämmerung ankamen und die fünf geflohenen Gefangenen an ihre Ankunft in Aveyron erinnert wurden. Die Hähne des Dorfes krähten, Fensterläden öffneten sich und die Leute riefen einander zu, herbeizukommen und sich die Ankömmlinge anzusehen.

Aber dieses Mal wurden Willkommensgrüße daraus. »Don Patricio. Seht, es ist Don Patricio.« Kinder riefen seinen Namen und liefen voraus, während der Ire seinen Bewunderern zuwinkte und die kleine Kavalkade die Hauptstraße hinaufführte und immer noch weiter hinauf über Abgründe überquerende Brücken und durch vermooste, verfallende Durchgänge, bis sie die halb offenen Türen und das düstere Innere der Burghalle erreichten.

»Es ist Don Patricio. Don Patricio.«

Von den Rufen der Kinder herbeigelockt, kam eine Frau, deren Brüste nur von ihrem schönen, langen Haar bedeckt wurden, aus einem der oberen Räume, beugte sich über das Geländer und lächelte den Iren an. »Seid Ihr es, Patrick? Wo ist meine Seide?«

»Nicht bei dieser Reise, Mylady. Wo ist Euer Ehemann?«

Die Sprache, welche die beiden benutzten, eine ganz eigene und gerade noch verständliche Form des Okzitanischen, verriet Adelia, dass sie sich unter Katalanen befanden. Die Katalanen bevölkerten beide Seiten der Pyrenäen und auch die Berge selbst und verstanden sich als eigene Nation neben der französischen, der spanischen und dem Königreich der Plantagenets. Die Franzosen mochten sie am wenigsten.

»Ist zu Michaeli gestorben, ach«, sagte die Frau.

Ihre Witwenschaft schien sie jedoch nicht in zu große Trauer zu stürzen, ein junger Mann tauchte hinter ihr auf, der sich hastig die Soutane zuknöpfte.

O’Donnell rief: »Kommt schon runter, Fabrisse, ich habe ein paar Flüchtlinge für Euch.«

Während die Frau wieder verschwand, um sich zu bedecken, kam der Priester die Treppe heruntergehuscht und hob die Hand zu einer verlegenen Segnung der Neuankömmlinge, bevor er durch den Ausgang verschwand.

Die Frau kam eher gemächlich nach unten und ließ ihre wohlgeformten Beine durch die Schlitze des Umhanges sehen, in den sie sich gehüllt hatte. Sie genoss ihren Auftritt.

»Ladies und Gentlemen, darf ich Euch die Gräfin von Caronne vorstellen«, sagte O’Donnell.

»Die verwitwete Gräfin«, verbesserte sie ihn, »Alle Freunde Don Patricios sind mir herzlich willkommen. Vergebt dem jungen Grafen, dass er Euch nicht selbst begrüßt. Im Moment liegt er in seiner Wiege.«

Sie hatte ein hübsches, gefährliches Gesicht mit hohen Wangenknochen, und während sie ihr vorgestellt wurden, studierte sie ihre zerlumpten Gäste mit amüsiertem Blick aus dunklen, schmalen Augen. Sie hob die Brauen, als sie Ward sah, und nahm Boggarts Schwangerschaft mit Wohlwollen auf. Auf Adelia blieb ihr Blick besonders lange haften.

»Habt Ihr Gepäck?«, fragte sie und sagte auf Adelias Kopfschütteln hin: »Dann müssen wir sehen, was wir in Bezug auf Eure Kleider tun können. Dummerweise werden sie aus Hanf sein müssen, da dieser Mann …«, sie fletschte ihre weißen Zähne in Richtung des Iren, »nicht mitgebracht hat, was ich bestellt habe. Aber erst einmal das Frühstück.« Sie ließ einen lauten Ruf hören: »Thomassia!«

Die ebenfalls lautstarke Antwort kam von irgendwo links: »Was?«

»Frühstück für insgesamt sieben. Zweimal oben in mein Privatgemach …« Ihre Lider flatterten, als sie O’Donnell ansah, »Wo Ihr mir alles erzählen könnt.«

Die beiden sind ein Liebespaar, dachte Adelia und verspürte eine merkwürdige Erleichterung, ohne sicher zu sein, warum. Den vielen Facetten dieses Mannes den Titel Schwerenöter hinzuzufügen machte ihn endlich greifbar für sie. Endlich hatte sie die passende Schublade für ihn gefunden: Er war ein Abenteurer mit, wahrscheinlich, einer Frau in jedem Hafen, dieser Art Frau, hübsch und freigebig mit ihrer Gunst.

Ich kann ihm gegenüber unbefangen sein.

Das Frühstück war reichhaltig, mit Ziegenkäse, Ziegenmilch, Würsten, geräucherter Forelle, frisch gebackenem Brot aus dem Dorf und einem würzigen Olivenöl, in das es getunkt wurde, Wein mit Kräutergeschmack und eingekochten Feigen von dem Baum, der sich um die Küche wand und in deren Fenster hereinlugte. All das wurde von Thomassia serviert, einer stämmigen jungen Frau, die durch ihre unablässigen Anweisungen im katalanischen Dialekt missmutig wirkte. Allerdings schob sie die Arme ihrer Gäste dabei immer wieder zu den hölzernen Tellern und schien sie nur zum Essen ermutigen zu wollen. Einen Hund wie Ward hatte sie noch nie gesehen. Wer hatte das schon? Er brachte sie zum Lachen, und sie fütterte ihn mit Abfällen, bis nichts mehr in ihn hineinpasste.

Um Mansur schien Thomassia besonders besorgt und reckte immer wieder die Hand in seine Richtung. »S endeví – ina s endeví – ina, el contacontes.«

»Was will das Weibsstück von mir?«

»Ich glaube«, sagte Adelia, »ich glaube, dass sie dich bittet, ihr die Zukunft vorauszusagen.«

Mansur war beleidigt. »Ich bin kein Wahrsager.«

»Ich werd’ dem Mädel die Zukunft voraussagen.« Rankin lehnte sich über den Tisch, um Thomassias Hand zu ergreifen. Selbst während er sich das Essen in den Mund stopfte, hatte er die Augen nicht von ihr wenden können. »Sagt ihr, dass sie ’n hübscher Engel ist, das iss sie, und dass diesem Prachtmahl nur das parritch fehlt! Sagt ihr, dass ihr ’n feiner Ehemann vorherbestimmt ist!«

Adelia tat ihr Bestes. »Was ist dieses parritch?«, murmelte sie Ulf zu.

»Ein Brei aus zerstoßenen Haferflocken. Er hat mir mal welche aufgetischt. Nie wieder.«

Endlich gesättigt, wurden sie in die Halle zurückgeführt, und jetzt fiel ihnen auf, was ihnen vorher vor lauter Dankbarkeit für die herzliche Aufnahme und den bereitwillig gewährten Schutz entgangen war: eine Armut, die in ihrem Frühstück nicht zu erkennen gewesen war. Das Mobiliar war einfach und abgenutzt, einiges ernsthaft ramponiert, und zwischen den Steinfliesen des Bodens spross Gras. Risse in den Mauern waren, wenn überhaupt, nur notdürftig repariert und ließen lange Lichtspeere in den Raum fallen.

Jetzt erinnerten sie sich auch, dass die Ställe, die sie gesehen hatten, leer gewesen waren, und außer Thomassia gab es offenbar keine Bediensteten. Was kaum zu einem gräflichen Palast passte.

Adelia musste an Henry Plantagenets Geringschätzung für die Länder denken, in denen wie offenbar auch hier Land und Besitz zu gleichen Teilen unter den Erben aufgeteilt wurden.

In England unter Henry II. gab es dagegen das normannischem Gesetz entsprechende Erstgeburtsrecht, wonach der älteste rechtmäßige Sohn alles bekam. »Das Erstgeburtsrecht zwingt die jüngeren Brüder auszuziehen und sich ihren verdammten Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten«, hatte der König ihr erklärt. »Es hält den Besitz zusammen, erhält die aristokratischen Strukturen und bedeutet, dass ein Lord ein Lord ist.« Dann hatte er noch hinzugefügt, was für ihn am wichtigsten war: »Und der ist leichter zu besteuern.«

Den Besitz aufzuteilen und in der nächsten Generation wieder und immer so weiter ad infinitum, bedeute, hatte er gesagt, »dass am Ende irgendeine arme Sau mit nichts dahockt als einem Titel und ein paar Feldern und sich kaum den Lappen leisten kann, um sich den Allerwertesten abzuwischen.«

Wahrscheinlich war der kleine Graf, der da in seiner Wiege schlief, so einer.

Das heißt, wir sind verwundbar, dachte Adelia, denn diese Leute hier in ihrem Bergdorf sind durch ihre Armut verwundbar.

Hier konnte es keinen Schutz für Katharer geben, nicht mal für Katholiken, die sie duldeten. Hier gab es keine wahre Zuflucht vor dem reichen, allmächtigen Feind, der sie umringte. Die Leute hier mochten sich ja in Sicherheit wähnen, aber Adelia wusste, dass sie sich damit täuschten.

 

Im Zimmer oben, wo das Wappen von Caronne in eine der dicken Steinwände gemeißelt war, saß die Gräfin auf ihrem zerwühlten Bett und sah zu O’Donnell hinüber, der am Fenster stand, den herrlichen Blick genoss und seine Geschichte erzählte.

Als er fertig war, sagte sie: »Da bist du ein ganz schönes Risiko eingegangen, als du sie gerettet hast, Patrick.«

Er wandte sich nicht um. »Ich bin es eingegangen, um sie alle zu retten.«

»Um die Frau zu retten.«

Sein Ächzen war ein halbes Lachen. »Ist es so offensichtlich?«

»Für mich schon.«

Er schlug mit der Faust auf die zwei Fuß dicke Fensterbank. »Warum? Kannst du mir das sagen? Warum? Von allen Frauen … Sie macht nichts her, ist stur wie ein Maultier und sieht nichts als ihren verdammten Bischof.«

Die Gräfin zuckte mit den weißen Schultern. »So was passiert. Mir nicht, Dank sei dir, gebeneidete Mutter, aber es passiert.«

»Ich hätte das nie gedacht.« Er setzte sich neben sie aufs Bett. »Kümmere dich für mich um sie, Fabrisse. Deniz und ich müssen morgen weg.«

»Das werde ich.«

Er gab ihr einen Kuss. »Sie ist eine gute Ärztin, solltest du krank werden. Dreißig aus Joannas Gefolge würden nicht mehr leben, hätte sie die Ärmsten nicht aus ihren Särgen zurückgeholt. Und schenk ihr dein Lächeln, das die Sonne heller scheinen lässt!«

»Ich sagte, ich werde mich um sie kümmern.«

»Es tut mir leid, das mit deinem Mann.«

Wieder zuckte sie mit den Schultern und zog ein Flickenhemd über ihren herrlichen Körper. »Er war alt.«

»Wirst du wieder heiraten?«

»Vielleicht muss ich. Hängt vom Angebot ab.«

»Unterdessen …?«

»Unterdessen …«

Sie lächelten sich an. Als sie sich vorbeugte, um nach ihren Holzpantinen zu suchen, kniff er sie um der alten Zeiten willen in den Hintern. »Du bist immer noch die schönste Frau, die mir je untergekommen ist«, sagte er.

»Ich weiß.« Sie stieß ihn zur Tür. »Seide«, erinnerte sie ihn. »Der Preis ist gerade gestiegen. Orfrois muss sie sein, mit einem Silberfaden im Durchschuss. Und eine Gliederpuppe, einen Ritter, für Gervais, wenn er älter ist, einen Mantel für Thomassia, am besten aus englischer Wolle, eine neue Bratpfanne, und wir haben keinen Kreuzkümmel mehr …«

Ihre Liste immer noch weiter verlängernd, begleitete sie ihn die Treppe hinunter, seinen Arm um ihre Schultern.

 

Als Adelia ihre dritte Ziege gemolken hatte, waren Thomassia und die verwitwete Gräfin beide schon bei ihrer elften.

Ein kalter Wind blies durch die Ziegenpferche, irgendein Wind blies hier oben immer, aber sie trug ihren Umhang und die Arbeit wärmte sie. Sie ließ sich in die Hocke zurücksinken, ihre Schulter schmerzte nur noch wenig, es wurde besser. Genauso, dachte sie, geht es mit meiner Melkkunst. Die beiden anderen Frauen waren überrascht gewesen, als sie sich ihrem ersten Ziegeneuter mit einer Art wissenschaftlichem Interesse genähert hatte, das sich für die Praxis als völlig untauglich erwies.

»Ihr habt nie etwas gemolken?«

»Das gehörte in der Schule nicht zu unserem Stoff.«

Dass sie in eine Schule gegangen war, ganz zu schweigen von der Medizinerschule, brachte die beiden ebenfalls zum Staunen. Die Gräfin konnte ihren Namen schreiben, Thomassia nicht mal das.

Adelia hätte ihnen nichts von ihrer Ausbildung gesagt, aber wie es schien, hatte der gesprächige Ire bereits geplaudert. Sie machte sich Sorgen, dass die beiden es weiterverbreiten würden. »Außerhalb von Sizilien werden Frauen, die Ärzte sind, oft für Hexen gehalten.«

»Nein, nein«, sagte Fabrisse leichthin. »Keine Angst, hier wird Euch niemand anschwärzen. Wir haben hier nichts mit den Autoritäten zu tun.«

Wie es schien, war Caronne ein Rastplatz auf einer geheimen Route zu den Katalanen in den Pyrenäen. Das Dorf und seine Gräfin nahmen Besucher auf, die von der Kirche nicht nur verurteilt, sondern eingesperrt worden wären oder Schlimmeres. Nahmen sie auf und geleiteten sie weiter, und Adelia und ihre Freunde passten zu den regelmäßig hier durchkommenden Schmugglern, katharischen Perfecti, wandernden muslimischen Wahrsagern und anderen Sonderlingen, denen der Ort Obdach bot. Caronne wich selbst zu sehr von allen Regeln ab, um andere verraten zu wollen oder zu können. Wenn der Steuereintreiber des Bischofs von Carcassonne den Berg heraufgeritten kam – er wurde jeden Tag erwartet, und so war ein Posten aufgestellt worden – schafften die Dorfbewohner so viele ihrer besteuerbaren Ziegen und so viel Korn wie nur möglich tief in den Wald und hofften, dass es den Eintreiber nicht argwöhnisch machte, so wenige Tiere und Vorräte vorzufinden.

Und das taten sie, obwohl die Kirche ihnen damit drohte, ihre Seelen würden zur Hölle fahren, wenn sie dem Bischof nicht seinen rechtmäßigen Anteil gäben.

Fabrisse war Katholikin und der Jungfrau Maria ergeben, sah aber keinen Grund, den Männern zu folgen, die ihren Glauben beherrschten und seine Gebote verzerrten. Viele ihrer Freunde im Dorf waren Katharer, und wenn sie auch den Umstand beklagte, dass ihre Kirche überall in der Gegend an Boden verlor, wäre es ihr doch niemals eingefallen, ihre Freunde zu verraten, genauso wenig wie sie ihren geliebten kleinen Sohn über die Burgmauern geworfen hätte. Alle gemeinsam waren sie vereinigt im Kampf gegen die Armut.

»Der Graf hat immer gesagt, er schulde diesem Steuereintreiber nichts, der auf seinem edlen Pferd hier heraufgeritten kam, begleitet von einem ganzen Gefolge an Männern, die noch besser gekleidet waren als er. Jesus sagt, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, hat aber nicht vorausgesehen, dass sich Seine eigene Kirche zum Kaiser erklären würde.«

Das sahen alle im Dorf so. Als Adelia und Fabrisse eines Abends den Dorfplatz überquerten, um Na Roqua, einer ältlichen Katharerfreundin der Gräfin eine Fencheltinktur zum Einreiben der Brust zu bringen, hörte Adelia, wie eine Gruppe Männer über die Carnelage-Steuer sprach, den Zehnten auf das Vieh, der bald fällig werde.

»Warum sollten wir dem Bischof für unsere Lämmer zahlen?«, stellte einer die offenbar jährlich wiederkehrende rhetorische Frage. »Bringen wir ihn stattdessen lieber um.«

Auf das verzagte Lachen hin sagte Fabrisse zu Adelia: »Hört Ihr? Hier seid Ihr sicher. Ihr müsst Euch nicht fürchten.«

Sie ist so unbeschwert, Gott schütze sie! Aber ich habe Ermengarde brennen sehen. Trotzdem, sie hat recht, ich muss aufhören, mich zu ängstigen. Ich bin diese Angst leid.

Dennoch konnte sie nicht anders und fragte, ob denn auch der Priester des Dorfes schweigen würde. »Wird er uns nicht verraten, Euch und die Katharer?«

»Der?« Die verwitwete Gräfin hob die vollkommenen Brauen und lachte. Die fleischlichen Sünden des Priesters sorgten für sein Schweigen und seine Mithilfe. Seine Dienste für die einsamen Frauen des Dorfes beschränkten sich nicht auf die Messen, die er las.

Adelia schloss die verwitwete Gräfin immer mehr ins Herz. Sie hatte nie jemanden wie sie getroffen. Fabrisse war von einer grundsätzlichen Ehrenhaftigkeit, die Adelia davon abhielt, sie als unmoralische Frauensperson zu sehen. Ihr Verhalten passte zu der Gleichgültigkeit, die sie den von Männern aufgestellten Regeln entgegenbrachte. Sie machte kein Hehl daraus, dass sie auch ohne Ehemann körperliche Bedürfnisse hatte. Warum sie nicht befriedigen? Sie holte sich den jungen Priester der kleinen Kirche ins Bett, wie andere einen heißen Stein hineinlegten, um sich die Füße zu wärmen. (Adelia fragte sich, ob er Fabrisse, wenn sie zur Beichte zu ihm kam, von den Sünden freisprach, die sie zusammen begingen.)

»Ja, der«, sagte Adelia dennoch aus einer Furcht heraus, von der sie sich einfach nicht freimachen konnte. »Wird Vater Alain seinem Bischof nicht von uns erzählen?«

»Nein, das schwöre ich. Im Übrigen«, sagte Fabrisse, »hat Patricio sich für Euch verbürgt.«

»Vertraut Ihr ihm alle so sehr?« Die Frage kam gegen ihren Willen aus ihr heraus.

»Natürlich. Ihr nicht?«

»Oh, doch, ich vertraue ihm. Es ist nur, dass … Er hat sein Leben für uns riskiert, und ich begreife nicht, warum er das tat.«

Fabrisse ließ den Blick einen Moment lang auf Adelias Gesicht ruhen. »Tut Ihr das nicht?«, sagte sie. »Dann kann ich Euch auch nicht helfen.«

 

In Caronne lebten alle, ob nun edlen oder bäuerlichen Geblüts, von ihrer Hände Arbeit. Fabrisse mochte die Gräfin sein, aber sie fand es nicht erniedrigend, Wasser vom Brunnen zu holen und es wie die anderen Frauen auf dem Kopf nach Hause zu tragen, oder Feuerholz zu machen und ihre Wäsche im Fluss unterhalb der Burg zu waschen. Sie und Thomassia waren Herrin und Dienerin, was sie nicht davon abhielt, sich abends gemeinsam mit einigen anderen Dorffrauen auf Na Roquas Balkon zu treffen, Wolle zu spinnen, sich gegenseitig die Haare mit einem Läusekamm zu kämmen, was ein Zeichen der Freundschaft war, und dabei die letzten Neuigkeiten auszutauschen.

Adelia nahm an, dass es die Frauen schwerer hatten als die Männer. Sie arbeiteten ebenso viel und hatten weniger davon, jeder Einwand dagegen wurde abgetan oder sogar hin und wieder mit Schlägen beantwortet. Sie beschwerten sich nicht, kannten sie es doch nicht anders, blühten aber auf, wenn sie Witwen wurden, und zumeist überlebten die Frauen Caronnes ihre Männer. Na Roqua, Fabrisses Freundin zum Beispiel, und ihre Nachbarin Na Lizier hatten nach dem Tod ihrer Ehemänner ihr eigenes Geschäft gegründet und regierten heute über ihre Söhne und Enkel wie Matriarchinnen, die sie ja wirlich waren. Adelia bewunderte sie.

 

Tagsüber halfen Boggart und Adelia Fabrisse und Thomassia bei ihren Aufgaben, zu denen die endlosen Vorbereitungen für das Weihnachtsfest gehörten. Ob ihre Ansichten zur Geburt Jesu nun übereinstimmten oder nicht, Katharer und Katholiken feierten das Fest mit einem großen Mahl für das ganze Dorf in der Halle der Burg.

Mansur, Ulf und Rankin verbrachten ihre Zeit damit, den Schäfern mit ihren Herden zu helfen, was eine rein männliche Tätigkeit war, oder sie nutzten ihre Fähigkeiten dazu, Reparaturen an der verwahrlosten Burg vorzunehmen.

Das alles brachte den geflohenen Gefangenen ein Gutteil der Kraft zurück, die der Bischof von Aveyron ihnen genommen hatte. Ganz besonders Rankin fühlte sich wie zu Hause. »Wie auf ’n Highlands isses hier, nur ohne den verfluchten Regen.« So beschrieb er es, wobei auch ihm selbst immer klarer wurde, dass ein Teil der Anziehung, die Caronne auf ihn ausübte, von seiner wachsenden Freundschaft zu Thomassia herrührte.

Dieser wunderbare, so besondere Ort nimmt uns in sich auf, dachte Adelia, er schließt uns in sein Herz. Ganz sicher hatte sie ihn längst in ihr Herz geschlossen. Von O’Donnell, der die fünf wieder abholen wollte, war noch nichts zu hören oder zu sehen, und es konnte jetzt jeden Tag den ersten Schnee geben, der sie von der Außenwelt abschneiden würde.

Nachts dachte Adelia an Allie und fragte sich, wie lange dieses Idylle wohl nach anhalten mochte. Oder wie lange sie wollte, dass sie anhielt.

 

Am Morgen des Heiligen Abends bereiteten die Frauen das Festmahl des nächsten Tages vor. Die Küche hing voller Hühner, Enten und Gänse, die darauf warteten, auf ihre Spieße gesteckt zu werden, und alles war voller Vorfreude, als Mansur plötzlich in der Tür erschien. »Im Dorf gibt es Ärger.«

Adelia ließ die Handmühle fallen, mit der sie Kastanien für die torche aux marrons gemahlen hatte, Caronnes Weihnachtsspezialität. Ihr Blick fand den Boggarts, die sie ebenso erschreckt ansah. Sie kommen uns holen! Dann traten sie zusammen mit Thomassia und Fabrisse, die sich ihren kleinen Sohn auf den Rücken gebunden hatte, hinaus auf den Hof und hörten die Schreie unten aus dem Dorf heraufschallen.

Nicht noch einmal, lieber Gott, bitte nicht noch einmal!

Es klang wie ein Gemetzel, war aber keines. Als sie im Dorf ankamen, sahen sie Na Roqua auf dem flachen Dach ihres Hauses stehen und Na Lizier anschreien, die auf ihrem stand und ebenfalls schreiend alle Beleidigungen über die schmale Gasse hinweg erwiderte, die ihre beiden Häuser voneinander trennte.

Es sind nur zwei streitende Frauen. Danke, Gott, danke!

Eine Gruppe Neugieriger hatte sich versammelt, und Fabrisse musste sich zwischen ihnen hindurchschieben. »Sancta Maria, was geht hier vor?«

»Bleibt zurück!«, kreischte Na Roqua. »Geht nicht in die Gasse! Seht nur, was darin liegt!«

Die schwache Morgensonne hatte den schmalen Durchgang noch nicht erreicht, und Fabrisse musste ihre Augen anstrengen, um zu erkennen, worauf ihre alte Freundin deutete. Adelia trat neben sie und konnte den Körper eines großen Ziegenbocks ausmachen, der dort auf dem Boden lag, den Kopf in einem unnatürlichen Winkel verdreht.

»Sie hat ihn getötet«, heulte Na Roqua. »Die neidische Schlampe hat ihn auf ihr Dach gelockt und hinuntergeworfen.«

»Ich hätte ihn nicht mal in die Hölle gelockt, obwohl er da hingehört hätte«, schrie Na Lizier zurück. »Ich hab das Vieh nicht angerührt.«

»Oh, doch, das hast du. Sieh, sieh, es gibt keine Hufabdrücke in der Gasse. Ist er etwa vom Himmel dorthin gefallen? Du hast ihn in die Tiefe gestoßen.«

»Nein, habe ich nicht.«

»Gebenedeite Mutter!«, flüsterte Fabrisse. »Es ist Auguste.«

Adelia hatte mit Auguste bereits Bekanntschaft gemacht, der ziegenbissförmige Riss im Ärmel ihres neuen Hanfkleides bewies es. Der Bock war Na Roquas ganzer Stolz und eine Plage für alle anderen gewesen. Er streunte durchs Dorf, fraß, was er zwischen die Zähne bekam, und kopulierte mit allem, was eine entsprechende Öffnung besaß. (Es war kein Zufall, dass Auguste der Taufname des Bischofs von Carcassonne war.) Das Tier hatte allein deswegen nicht schon früher ein bitteres Ende gefunden, weil das ganze Dorf noch mehr Angst vor Na Roqua als vor ihrem Ziegenbock gehabt hatte.

Es sah tatsächlich wie ein Mord aus. Na Roqua hatte recht, es schien keine Hufabdrücke in der Gasse zu geben. Auguste war ganz sicher nicht an den Platz gelaufen, an dem er jetzt lag. Adelia versuchte ihr Gesicht nicht zu verziehen. »Was für eine Erleichterung«, flüsterte sie zurück. »Ich hatte gedacht, es sei etwas Fürchterliches geschehen.«

Im Gesicht der Gräfin war jedoch keine Spur von Belustigung zu entdecken. Sie was blass. »Aber es ist fürchterlich. Damit ist nicht nur das Weihnachtsfest verdorben, das wird auch der Beginn einer Fehde sein, die über Jahre andauern kann.«

»Wegen einer Ziege?«

»Das ist mein Volk, Delia. Ich kenne es, und ich sage Euch, ein Bruch zwischen den Roquas und Liziers …«

Es fing bereits an. Ein Lizier-Enkel unter den Zuschauern machte eine unvorteilhafte Bemerkung über Na Roqua und wurde sogleich von einem ihrer Söhne beschimpft.

»Ihr müsst etwas unternehmen!«, zischte Fabrisse.

»Ich?«

»Ja, ja. Ihr seid die berühmte Ärztin. Ulf sagt, Ihr löst schwierige Rätsel. Löst auch dieses!«

Mit verengten Augen sah Adelia zum Rand der Menge hinüber, wo Ulf mit Mansur, Rankin und Ward stand. Die vier verfolgten interessiert, wie sich der Streit langsam ausweitete.

»Und löst es so, dass niemandem die Schuld gegeben werden kann!«, zischte Fabrisse. Sie trat vor und hob die Stimme zu einer Lautstärke, die durch den anschwellenden Tumult schnitt. »Hört mir zu. So hört mir doch zu!«

Es wurde ruhig. Die verwitwete Gräfin mochte sich in Lumpen kleiden, aber sie war Caronnes Autorität.

Sie packte Adelias Ärmel, hielt ihn wie einen angeschwemmten Fisch in die Höhe und rief: »Hier ist jemand, der dieses Rätsel lösen kann. Diese Dame ist eine Meisterin der Wissenschaft des Todes. Don Patricio hat es mir erklärt. Er sagt, dass die Toten zu ihr sprechen.«

Schweigen. Endlich fragte einer der Roqua-Söhne: »Ihr meint, Auguste wird ihr erzählen, was passiert ist?«

»Ja«, sagte Fabrisse.

»Gott noch mal …«, murmelte Adelia.

»Das ist mir egal«, murmelte Fabrisse zurück.

»Aber ich habe keine Ahnung von Ziegen.«

»Das ist mir egal. Deshalb hat die Jungfrau Euch zu uns geschickt.«

Deshalb also. Es war lächerlich: Na Roqua und ihre Familie waren Katharer, die Liziers Katholiken, und sie konnten trotz ihres unterschiedlichen Glaubens ohne Streit zusammenleben, aber der Tod einer gottverdammten Ziege vermochte eine Vendetta auszulösen. Fabrisse – und wer kannte diese Menschen besser als sie? – war ehrlich besorgt, dass es dazu kam.

Gott, was soll ich nur tun? Ich nehme an, ich schulde es dieser Frau und diesem Dorf, ihnen den Frieden zu erhalten. Irgendwie.

Aber eine Ziege?

Nun, so viel änderte es nicht: Wenn es eine Wahrheit herauszufinden galt, fühlte Adelia sich dazu verpflichtet, ganz gleich, unter welchen Umständen. Der Tod war ihr Geschäft. Zum ersten Mal seit langer Zeit musste sie ihren Beruf wieder ausüben.

Sie machte sich von Fabrisse los, ging hinüber zu Na Roquas Haus und öffnete die niedrige Tür. Ein strenger Ziegengeruch schlug ihr entgegen. (Wenn Auguste nicht auf einem seiner Streifzüge gewesen war, hatte er sich zu seiner Herrin zurückgezogen.)

Die Fensterläden waren gegen die Kälte geschlossen wie in allen Häusern Caronnes. Ihre Bewohner lebten in einem Halbdunkel, das nur von einem Feuer erhellt wurde.

Adelia untersuchte die Türschwelle und öffnete die Fensterläden, um sich den Boden des Raumes ansehen zu können. Sie stieg die Treppe hinauf und untersuchte jede einzelne Stufe, trat in den oberen Raum und schließlich aufs Dach, wo die Blicke Na Roquas und der Menge unten voller unangenehmer Erwartung auf sie fielen.

Sie kehrte nach unten zurück und ging in das, was gewöhnlich die Küche gewesen wäre. Da Na Roqua aber von ihren Schwiegertöchtern mit Essen versorgt wurde, hatte sie dort ihr Geschäft eingerichtet, eine Wollkämmerei.

Eine Seite des Raumes lag voller Schafwolle und roch stark nach Lanolin, obwohl, als Adelia intensiv die Luft einsog, roch sie auch etwas Ziege. Auf einem Regal fand sie ein Kardierrad und ein paar Kämme, von denen einige zu Boden gefallen waren.

Sie blieb so lange in Na Roquas Werkstatt, dass die Menge draußen unruhig war, als sie endlich wieder herauskam. »Da drinnen kann ihr Auguste kaum was sagen«, meinte einer und erntete zustimmendes Grummeln.

»Heilige Maria, es ist das Tier, das Ihr untersuchen sollt«, sagte Fabrisse leise zu ihr und rief den Leuten zu: »Seid ruhig! Sie lauscht Auguste, sie folgt seinen letzten Schritten.«

Adelia achtete nicht weiter auf Fabrisse. Sie ging am Eingang zur Gasse vorbei und steuerte auf Na Liziers Haus zu. Es war unmöglich, etwas an der Schwelle zu erkennen, dazu waren schon zu viele Füße darüber gegangen. Die Treppe allerdings … den breiten Abdrücken ihrer Stiefel im Staub nach zu urteilen, schien nur Na Lizier sie heute schon hinaufgestiegen zu sein. Nein, oje, da waren auch die kleineren Abdrücke eines Huftieres.

Na Lizier hatte gelogen.

Aber oh, das war interessant, je höher sie kam, desto verschliffener wurden die Hufabdrücke, und hier und da verschwanden sie ganz unter den breiten Schuhabdrücken. Bis sie das Dach oben erreichten, waren sie praktisch ausgelöscht, als wären sie mit einem Staubwedel weggewischt worden. Hatte Na Lizier den armen Auguste vergiftet oder versucht, ihn zu erwürgen, und der Ziegenbock hatte sich aufs Dach geschleppt, um ihr zu entkommen? Oder die frische Luft zu erreichen?

Hmm.

Als Adelia erneut hinaus ins Tageslicht trat, gab sie einen klaren Befehl: »Bringt den Körper hinauf in die Burg! Da will ich hören, was Auguste mir zu sagen hat.«

Sie kam sich wie eine Närrin und Betrügerin vor, wollte die verdammte Ziege aber zu ihrer eigenen Befriedigung aufschneiden und in sie hineinsehen – auch wenn Gott allein weiß, was ich da finden soll. Dazu musste sie jedoch ungestört sein, Na Roqua würde das Aufschneiden ihres Lieblings kaum für »Zuhören« halten. Im Übrigen gab es in der Halle der Burg einen großen steinernen Tisch.

Es hätte auch die Beerdigung eines Helden sein können. Unter dem starren Blick Na Roquas wurde Auguste ehrfürchtig auf eine Decke gelegt, und vier Roqua-Männer trugen ihn auf den Schultern die Stufen der Dorfstraße hinauf, die Liziers widerstrebend hinter sich.

In der Halle wandte sich Adelia an Ulf, Rankin und Mansur. »Steckt ein paar Kerzen an und schafft die Leute hier raus. Ihr selbst bleibt, ich brauche euch.«

Auch Na Roqua wollte bleiben, wurde von Fabrisse aber überredet, dass sich das Rätsel nur lösen ließ, wenn allein diejenigen anwesend waren, die sich im Einklang mit der Seele des toten Tieres befanden.

»Ich war immer im Einklang mit Auguste«, beschwerte sich Na Roqua.

»Hat er seit seinem Tod zu dir gesprochen? Nein. Er wird nur zu einer Meisterin der Wissenschaft des Todes sprechen. Vertraulich.«

»Aber Ihr bleibt doch auch«, sagte Na Roqua.

»Weil es meine verdammte Burg ist. Und jetzt geht!«

Thomassia begleitete die alte Frau, um sie während des Wartens zu trösten.

Als die Kerzen entzündet und die Türen geschlossen waren, hievten Rankin und Ulf den toten Bock auf den Tisch. Boggart wurde in die Küche geschickt, um das schärfste Messer zu holen.

Etwas zögerlich befühlte Adelia Augustes Nacken und den Rest seines Körpers. Rigor mortis, die Totenstarre, hatte noch nicht eingesetzt, was bedeutete, dass das Tier noch nicht lange tot sein konnte, immer vorausgesetzt, bei einer Ziege verhielt es sich damit wie beim Menschen.

Aber so oder so, da er laut Na Roqua noch gelebt hatte, als sie schlafen gegangen war, musste ihm das, was geschehen war, während der Nacht zugestoßen sein.

Es würde interessant sein zu sehen, ob ihn der Sturz umgebracht hatte oder ob er bereits tot gewesen war, als er in der Gasse landete. Sie vermutete langsam Letzteres.

Die drei Männer unterhielten sich damit, Gründe für das Hinscheiden der Ziege zu finden, die Na Roqua befriedigen würden, ohne Na Lizier zu kompromittieren.

»Ein riesiger Adler könnte ihn gepackt und in die Gasse geworfen haben.«

»Kein Adler, der etwas auf sich hält, hätte ihn angerührt. Nein, er hat sich selbst mit einem Furz in die Höhe katapultiert und ist dann runtergeknallt.«

Adelia achtete nicht weiter auf sie. Sie nahm das Messer von Boggart und fragte sich, wo sie anfangen sollte.

Ulf grinste. »Eine Ziege, was? Wie tief die Mächtigen fallen!«

»Halt den Mund!«, sagte sie. »Dein Geplapper hat mir noch gefehlt. Also dann, ihr Männer, nehmt jeder ein Bein … so ist’s richtig, und legt ihn auf den Rücken.«

Da Rankin den langen, flohgesättigten Ziegenbart hochhielt, begann sie mit einem Einschnitt direkt unter dem Kinn.

Sie war noch nicht mal bis zum Kehllappen gekommen, als sie herausfand, wie Auguste sein Leben gelassen hatte. Etwas hatte ihm die Kehle verstopft.

Sie holte dieses Etwas aus ihm heraus und legte es neben einer Kerze auf den Tisch.

»Was zum Teufel ist das?«

»Ich weiß nicht. Sieht wie Schafwolle aus.« Sie zog die Masse mit dem Messer auseinander. Zerkaute Holzstücke waren darin, und einige nagelartige Spitzen.

»Na Lizier hat ihn also tatsächlich umgebracht«, sagte Mansur. »Sie hat das Vieh erstickt.«

»Hmm.« Adelia legte das Messer zur Seite und begann auf und ab zu laufen. Sie kombinierte ihre Entdeckung mit dem, was sie in den beiden Häusern gefunden hatte.

»Und?«, wollte Fabrisse endlich wissen. »Was sollen wir den beiden alten Frauen erzählen, ohne damit einen Krieg zu entfachen?«

Adelia kam zu einem Schluss. »Die Wahrheit. Beide sind nicht ohne Schuld.«

Sobald der Schnitt säuberlich wieder zugenäht war und sie den Bart darübergekämmt hatten, wurden Na Roqua, Na Lizier und der Rest des Dorfes in die Halle gelassen.

»Auguste hat mir erklärt, dass Folgendes geschehen ist«, sagte Adelia mit klarer Stimme. »Ihr, Na Roqua, habt gestern Abend die Tür zu Eurer Werkstatt aufgelassen …«

»Nein, das habe ich nicht«, rief Na Roqua. »Das tu ich nie.«

»Gestern Abend aber doch. So sagt es Auguste.«

Die alte Frau schmollte. »Nun, vielleicht …«

»Und Auguste ist hineinspaziert und hat sich an Eurer Schafwolle gütlich getan.«

»Das würde ihn nicht umbringen«, sagte ein Roqua-Sohn. »Auguste konnte alles fressen.«

»Dabei hat er wenigstens einen Eurer Kardierkämme mitgefressen«, fuhr Adelia mit fester Stimme fort. »Die spitzen Nadeln steckten in einem Wollball in seiner Kehle, sodass er ihn nicht schlucken konnte. In seiner Not ist er dann hinaus in die Nacht und in Na Liziers Haus gestolpert. Eure Tür war nicht verriegelt, oder?«

Na Lizier zuckte mit den Schultern. Niemand in Caronne macht sich die Mühe, seine Tür zu verschließen. Vor wem sollte man sich schützen wollen?

»Immer noch nach Luft schnappend, wollte er hoch aufs Dach, wobei ihm die Anstrengung die Nadeln noch fester in die arme Kehle drückte und sie mit der Wolle verstopfte, so dass er, als er das Dach erreichte, erstickte. Auguste hat mir erzählt, dass Na Lizier ihn dort heute Morgen nach dem Aufstehen tot vorgefunden hat, und weil sie fürchtete, Na Roqua würde sie verdächtigen, ihn getötet zu haben – genau, wie Ihr’s getan habt, Na Roqua – hat sie seinen Körper in die Gasse geworfen. Das nimmt er Euch nicht übel, Na Lizier, genauso wenig wie er Euch die Schuld an seinem Tod gibt, Na Roqua, weil Ihr die Tür zu Eurer Werkstatt leichtsinnig habt offenstehen lassen. Alles, was er sich wünscht, ist, dass Ihr beide die Freundinnen bleibt, die Ihr immer wart.«

Einiges von dieser Geschichte war geraten, einiges gefolgert. Mehr hatte sie nicht tun können.

In der Halle war es still, nur der junge Graf, der immer noch auf den Rücken seiner Mutter gebunden war, fing langsam an zu quengeln, weil er gefüttert werden wollte.

Die Spannung war kaum auszuhalten.

Na Roquas Stock klackte auf den Steinboden, als sie zu Na Lizier hinüberging. »Es tut mir leid«, sagte sie.

»Und mir tut es auch leid.«

Die beiden alten Frauen umarmten sich.

Alles jubelte, und Fabrisse legte ihren Arm um Adelia. »Unsere Retterin«, sagte sie.

Auguste wurde jetzt ein weiteres Mal von den Roqua-Söhnen hochgenommen und weggebracht, um ehrenvoll begraben zu werden.

Die alte Frau folgte ihnen nach draußen und blieb noch kurz vor Adelia stehen. Sie starrte ihr ins Gesicht. »Hat Auguste Euch gesagt, in welchem Körper er nun leben wird?«

»Äh, nein, das hat er leider nicht.«

Na Roqua seufzte. »Ihr hättet ihn fragen sollen.«

 

Das Rätsel um Augustes Tod zu lösen, war verglichen mit Adelias früheren Untersuchungen kaum von Gewicht, für das Wohl Caronnes jedoch bedeutete es viel, und beim Weihnachtessen an diesem Abend war sie die Heldin.

Dankbare Roqua- und Lizier-Männer schenkten ihr und ihren ehemaligen Mitgefangenen wunderschön gearbeitete Schaffellmäntel, und sie musste ihren Becher zu Dutzenden von Trinksprüchen auf sie heben. Sogar ein Lorbeerkranz wurde ihr auf den Kopf gesetzt. Endlich, nach einem dreistündigen Festmahl, während dem sie zuletzt schwer auf Mansurs Arm gelehnt hatte – dem Araber war durch seine Religion jeder Alkohol verboten, und so war er der einzig Nüchterne weit und breit –, wurde sie auf einen Stuhl auf einem Podium im Burghof gesetzt, um zusehen zu können, wie die Dorfbewohner um das mächtige Feuer herumtanzten, das Ulf und Rankin zu diesem Zweck aufgeschichtet hatten.

Es war den Fremden nicht möglich, sich am Tanz zu beteiligen. Die Männer kreisten ums Feuer, Frauen und Kinder formten eigene kleine Kreise am Rand, und die stampfenden, springenden Schrittfolgen waren zu kompliziert, um sie einfach so mittanzen zu können.

Die Musik kam aus Rohrflöten und schwoll plötzlich zu unglaublicher Lautstärke an, als Prades, der örtliche Schmied, in ein Röhrchen blies, das zu einer furchterregenden Vorrichtung führte, offenbar einer riesigen Schweineblase, an der einige Schläuche hingen. Das Wehklagen seines Instruments war so laut, dass es noch in zehn Meilen Entfernung zu hören sein musste. Adelia zuckte zusammen. Sie werden es hören. Sie werden kommen. Dann riss sie sich zusammen. Dieses Geräusch gehört zu den Bergen. Warum sollte deswegen jemand kommen?

»Oh, verdammt noch mal«, sagte Ulf, »das ist ein Dudelsack.«

Rankin, der sich auf der Plattform gerekelt und trunken an Thomassias Wange geknabbert hatte, war mit einem Mal auf den Beinen. »Hörtihrdas? Alleswasheiligiss, dassind … die Pieps. Die Pieps. Binnichz’ause.« Wie ein Verdurstender taumelte er auf Prades zu und klammerte sich bettelnd an dessen Arm.

»Er wird doch nicht, oder?«, stöhnte Ulf. »Doch, verdammt. Er besorgt sich ein paar Pieps. Wir sind verloren.«

Und zum ersten Mal seit langer Zeit musste Adelia lachen.

 

Der Schnee, der es, wie Adelia fürchtete, O’Donnell unmöglich machen könnte, sie zu holen, kam nicht, aber O’Donnell auch nicht. Stattdessen fand ein katharischer Perfectus ins Dorf, um seinen Glauben zu verbreiten.

»Oh Gott«, sagte Adelia, als sie davon hörte. »Er wird Euch in Gefahr bringen.« Das Euch war längst genauso wichtig für sie wie das Uns.

»Wollt Ihr wohl aufhören?«, sagte Fabrisse müde. »Wir haben Posten aufgestellt, die nach Fremden Ausschau halten. Wir kennen Bruder Pierre, er ist ein guter Mensch. Im Augenblick ist er bei Na Roqua, wenn Ihr ihn hören wollt.«

Adelia besprach sich mit den anderen.

»Wir sollten hingehen«, sagte Mansur. »Vielleicht weiß er etwas von Schwester Aelith.« Der Gedanke an das gejagte mutterlose Mädchen belastete sie alle.

An diesem Tag bekamen sie den Perfectus nicht zu sehen. Zu viele hatten sich bereits in Na Roquas Haus gedrängt oder saßen draußen, um Bruder Pierres Worten zu lauschen, die aus den Fenstern drangen. Er las aus der Bibel der Katharer im katalanischen Dialekt, den die Dorfbewohner verstanden, sodass sie Christi Worte in ihrer eigenen Sprache hören konnten, nicht in dem Latein, das die Priester von sich gaben.

Adelia wusste mittlerweile, dass Caronnes Bewohner zwar nicht lesen und schreiben konnten, aber doch Meister im Debattieren waren, besonders in religiösen Dingen. Bis tief in die Nacht würden das Fragen und Antworten andauern.

Sie ließ die anderen zurück, die zuhören wollten, ging mit Ward zur Burg und widerstand dem kalten Wind auf der Brücke eine Weile, um zu den mit Eis bedeckten Gipfeln der Pyrenäen hinüberzusehen. Sie waren eine Art Wetterorakel, schienen manchmal ganz nah und dann wieder in weiter Ferne zu liegen. Heute kündigte ihr klares Bild einen schönen Tag an. Wenn sie heranrückten und nur eine Meile oder zwei entfernt wirkten, gab es schlechtes Wetter. Adelia hatte sie zu lieben gelernt und stellte sie sich als eine Zuflucht vor, auf deren eng bewaldeten, von Bären und Wild belebten Hängen Außenseiter wie sie frei zu leben vermochten. Ich könnte mich dort niederlassen, dachte sie. Allie, Gyltha, Mansur, Boggart und ich, wir könnten dort sicher sein. Dort würde mich Henry Plantagenet nicht finden, um mir wieder und wieder einen neuen Auftrag zu geben.

Eine Stimme in ihrem Kopf fragte: Und Rowley?

Plötzlich sehnte sie sich fürchterlich nach ihm. Er kann ja auch mitkommen.

Etwas stupste sie gegen das Bein. Ward wurde es kalt. Sie tätschelte ihm den Kopf, und sie gingen in die Burg.

»Wart Ihr nie versucht, Katharerin zu werden?«, fragte sie Fabrisse, die gerade den kleinen Grafen von Garonne in seine Wiege legte.

»Nein.« Fabrisse beugte sich hinunter, um dem Grafen auf die Wange zu küssen. »Als der Kleine geboren wurde, war er schrecklich krank. Wir glaubten nicht, ihn retten zu können. Der Perfectus damals, er kam zu mir und sagte, ich solle mein Kind nicht mehr füttern, sondern ihm erlauben, die katharische endura zu erleiden und ihn sterben lassen. Er wolle ihm das consolamentum verabreichen, sagte er, um sicherzugehen, dass der kleine Raymond ein Engel Gottes oben im Himmel werde. Aber das wollte ich nicht. Wie konnte ich meinem eigenen Fleisch und Blut die Milch verweigern? Wir haben um ihn gekämpft, Thomassia und ich, und er hat überlebt.«

Das passte zu dem, was Schwester Ermengarde gesagt hatte. Adelia schüttelte staunend den Kopf. Jede Religion, die sie kannte, auch diese, versuchte die einfache menschliche Liebe von ihrem natürlichen Pfad abzubringen.

 

Am nächsten Vormittag nahm der kleine Bérenger Pons, der zitternd hoch oben im Kirchenfenster saß und den Weg nach Carcassonne beobachtete, die neben ihm liegende Handglocke und begann schon beim Herabklettern von der Leiter hefig zu läuten. Er rannte die Dorfstraße hinauf und rief, so laut er mit seiner quiekenden Stimme konnte: »Der Amtsmann kommt! Der Amtsmann kommt!«

Sofort tauchten die Frauen aus ihren Häusern auf und liefen zur Gemeindescheune, in der ihre Kornsäcke lagerten. Die Männer auf den Feldern ließen stehen und liegen, womit sie gerade beschäftigt waren, und rannten zu den Schafpferchen. Na Roqua trat aus ihrer Tür und zog den Perfectus hinter sich her, der unten im Haus übernachtet hatte. Sie schlug ihm wie einem Pferd auf den Hintern, damit er zur Burg hinauflief.

In der Burg warf Fabrisse den Priester aus ihrem Bett und eilte hinaus in die Halle, wo der junge Bérenger keuchend ankam und immer noch seine Nachricht hinausrief. »Wie lange noch, bis er hier ist?«

»Dreißig Vaterunser, vielleicht zweiunddreißig.« Da es in Caronne keine Uhren gab, maßen die Leute die Zeit nicht in Minuten.

»Bist ein guter Junge. Thomassia!« Sie lief, um auch den Rest der Burgbewohner in Bereitschaft zu versetzen. »Schnell, schnell! Der Steuereintreiber des Bischofs wird bald hier sein. Folgt Thomassia!«

In ihre Kleider springend, liefen Adelia, Boggart, Mansur, Rankin und Ulf hinunter in die Halle, Fabrisses Priester hinter sich.

Thomassia erwartete sie bereits und steuerte auf den Ausgang zu. Sie wedelte mit den Armen, um die Flüchtlinge auf Trab zu bringen. Am Ende der Brücke wurde es kurz eng, als der Perfectus zu ihnen stieß und der Priester, der immer noch mit den Knöpfen seiner Hose zu tun hatte, sich an ihm vorbeidrängte, um ins Dorf zu seiner Kirche zu eilen. Aber schon waren sie auf dem Pfad, der sich um die Burg wand und hinter ihr im Wald verschwand. Links und rechts konnten sie die Schäfer ihre Tiere in die gleiche Richtung treiben sehen. Die großen weißen Pyrenäenhunde schnappten nach den Beinen der Tiere, um sie anzutreiben.

Adelia nahm Ward auf den Arm und rannte. Der kleine Hund hatte fürchterliche Angst vor seinen riesigen Artgenossen. Ulf, Rankin und Mansur bildeten die Nachhut und halfen der dahinschwankenden Boggart.

Der Wald hüllte sie ein, aber Thomassia rannte weiter, hielt sich keuchend die Brust und verließ schließlich den Weg. Weiter ging es durch totes Farnkraut, bis sie zu einem von Efeu überwucherten Felsvorsprung kamen. Thomassia zog die dichten Stränge zur Seite, hinter denen der Eingang zu einer Höhle zum Vorschein kam, und winkte sie hinein. »Bleibt da drin.«

Dann brachte sie das Efeu wieder in seine alte Lage.

In der Düsternis der Höhle sagte die tiefe Stimme des Katharers: »Sie läuft zur Burg zurück und verwischt die Spuren. Thomassia ist eine gute Frau.«

Der Perfectus war von ihnen allen am wenigsten außer Atem. Leichtfüßig, das Gewand gerafft und in den Gürtel gesteckt, war er auf seinen dünnen brauen Beinen ohne große Mühe dahingelaufen. Adelia stand vorbeugt da und versuchte ihr Seitenstechen loszuwerden. »Ihr scheint so was gewohnt zu sein«, bemerkte sie keuchend.

»Zum ersten Mal passiert mir das nicht.« Der Mann klang amüsiert und verbeugte sich vor ihr.

Adelia stellte ihm sich und die anderen vor.

»Wie heißen die Leute noch, die ihn Höhlen hausen? Troglodyten, genau das werden wir«, grummelte Ulf. »Verdammte Troglodyten. Nun, wenigstens haben wir damit heute mal einen arbeitsfreien Tag.«

So war es, und wie die Bauern, zu denen sie langsam wurden, nutzten er und Rankin, Mansur und Boggart die Zeit, um vor sich hinzudösen.

Adelia sprach als Einzige ein annehmbares Katalan und hatte das Gefühl, sich mit dem Perfectus unterhalten zu müssen, sagte aber nichts und hoffte, dass der Mann nicht von sich aus auf das Thema kam, das sie fürchtete.

Aber er tat es. »Ihr wart mit Ermengarde in Aveyron, als sie umgekommen ist«, sagte er.

»Ja.«

Er überraschte sie. »Ich habe Euch gesehen. Ich war auch dort, ein Zeuge, in der Menge versteckt. Ich habe für sie gebetet. Nicht, dass sie es gebraucht hätte, sie war eine gute, gute Frau. Und ich habe auch für Euch und die Euren gebetet. Ich freue mich über Eure gelungene Flucht.«

Adelia sagte dazu nur knapp: »Es war mutig von Euch, dort zu sein«, und wechselte gleich das Thema: »Habt Ihr von Schwester Aelith gehört?«

»Wir haben sie in die Pyrenäen geschickt, bis sie ihren Mut wiederfindet zurückzukommen und ihre Mission neu aufzunehmen.«

»Ich hoffe, das wird sie nicht.«

»Doch, das wird sie. Sie ist die Tochter ihrer Mutter. Auch sie war in Aveyron.«

»Oh, mein Gott, sagt mir nicht, dass sie zugesehen hat!«

»Nein, sie war im Haus eines Freundes, nicht weit vom Eingang des Palastes, aber sie wollte in der Nähe sein, so nahe bei ihrer Mutter wie nur möglich.«

Adelia nickte. Das konnte sie verstehen.

Bruder Pierre redete weiter.

»Entschuldigung.« Adelia riss sich von den Gedanken an die Qualen der Tochter los. »Ich habe nicht richtig zugehört.«

»Ich sagte, es war noch jemand aus dem Gefolge Prinzessin Joannas da. Aelith hat in durch das Palasttor gehen sehen. Vielleicht noch jemand, der für Ermengarde beten wollte.«

»Wie bitte?«

»Jemand, den sie bei Euch gesehen hat, als Ihr und die Kranken zu Ermengarde in die Berge kamt. Ich glaube, das war es, was sie gesagt hat.«

»Nein«, sagte Adelia, »das kann niemand gewesen sein, den wir kannten.«

»Oh, doch«, sagte Bruder Pierre. »Aelith hat ihn wiedererkannt.«

Adelia spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Jemand, den sie kannten, war bei Ermengardes Hinrichtung gewesen. Jemand hatte sie in Ketten gesehen, und nichts dagegen getan. Hatte nichts unternommen.

»Wie …« Sie brachte die Worte nicht heraus, und machte einen neuen Anlauf. »Wie sah er aus?«

»Wer?« Der Perfectus war mit seinen Gedanken bereits bei anderen Dingen.

»Der Mann, den Aelith gesehen hat. Wie sah er aus?«

Bruder Pierre zuckte mit den Schultern. »Das hat sie nicht gesagt.«

Aber sie hatte ihn als einen der Unseren erkannt.

Den Kopf in den Händen vergraben, versuchte Adelia die Geschehnisses des Tages zu rekonstruieren, als die Ruhr über sie gekommen war. Ulf war unterwegs plötzlich krank geworden, andere folgten. Locusta ging nach einem Ort suchen, wohin sie die Kranken bringen konnten …

Er war mit Schwester Aelith zurückgekommen, ja, so war es gewesen. Sie erinnerte sich, wie er und die kleine Katharerin den Hang heruntergekommen waren und an das Angebot, den Kuhstall als Krankenhaus zu benutzen. Und dann … Was war dann gewesen? Es hatte eine Diskussion gegeben, Doktor Arnulf hatte behauptet, es sei die Pest … Wer war da noch auf der Straße gewesen, den Aelith später gesehen haben konnte?

Der Perfectus machte ein besorgtes Gesicht. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl, mein Kind?«

Adelia stand auf und lief zu Ulf. Er schlief. Sie schüttelte ihn. »Wer sonst war noch da?«

»Äh?«

»Auf der Straße an dem Tag … die Ruhr … Als wir Aelith zum ersten Mal gesehen haben … Wer war da noch da?«

»Wovon redet Ihr?«

Adelia erklärte es ihm

Ulf holte tief und befriedigt Luft. »Was hab’ ich gesagt? Hab’ ich nicht gesagt, dass da die ganze Zeit schon ’ne Schlange unter uns ist?«

»Aber wer ist es?« Sie schüttelte ihn. »Wer war an jenem Morgen noch da?«

Die anderen waren jetzt auch wach.

»Joanna und die anderen Ladies kann sie nicht gesehen haben, die waren ein Stück voraus«, sagte Mansur.

»Es war ein Mann.«

Boggart meldete sich zu Wort. »Da war Bischof Rowley …«

»Den können wir ausschließen.«

»Captain Bolt.«

»Der war es auch nicht. Wer noch? Natürlich der Bischof von Winchester, aber der …«

»Admiral O’Donnell.«

»Ja.«

»Der nervtötende Doktor …«

»Arnulf, ja. Weiter.«

»Die beiden Geistlichen, der dumme und der andere. Hab die beiden noch nie gemocht.«

»Könnte es einer von unseren Patienten gewesen sein?«, sagte Mansur. »Davon gab es genug.«

»Gott hilf uns!«, sagte Adelia. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«

»Es war Scarry«, sagte Ulf. »Von Anfang an. Ist er nicht schlau? Mordet und vergiftet allen die Gedanken, sodass sie froh waren, Euch in Aveyron loszuwerden. Und uns gleich mit.«

Adelia stöhnte und stolperte davon. Ihr war schlecht.

Sie wusste, sie hatte Angst gehabt, von allem Anfang an schon, zu glauben, dass ein heimtückisches Wesen hinter ihr her war. Es stellte sie in den Mittelpunkt von allem, wie die Heldin einer griechischen Tragödie, die von einer rachedurstigen Furie verfolgt wird.

Das bin ich nicht, das bin ich nicht.

Aber so war es, sie begriff es jetzt. Sie und nur sie war der alleinige Grund dafür, dass so viele hatten sterben müssen. Dahinirrend, dumm, vorsätzlich blind, eine Medea, welche die Leichen dahingemetzelter Kinder hinter sich ließ.

Jemand wollte sie zerstören und hatte alles getan, sie zu einer Hexe zu stempeln, sodass die Leute bereit gewesen waren, sie und vier weitere geliebte Menschen in Aveyron verbrennen zu lassen.

Es war, als würde sie gegen eine Wand geworfen. Ich will darüber nicht nachdenken.

Aber jetzt hatten alle Ausflüchte ein Ende. Du musst darüber nachdenken.

Nach einer Weile setzte sie sich und begann das Geschehene auf die einzige Weise zu betrachten, zu der sie fähig war: wie eine Ärztin, die eine Krankheit nach ihren Symptomen und ihrem Verlauf beurteilt.

Wann hatte es angefangen? Das Pferd, oh ja, das Pferd. Es war vergiftet worden.

Was dann? Brune, die arme Brune. Nein, erst war da noch Sir Nicholas gewesen, den sie verflucht hatte und der deswegen hatte sterben müssen.

Der Tod eines Pferdes, der Diebstahl ihres Kreuzes, die Ermordung zweier unschuldiger Menschen, der Verrat an das Katharer jagende Aveyron mit dem Ergebnis – nicht das, nicht das, aber natürlich das – eines weiteren Mordes. Einer Frau, die in den Flammen eines Scheiterhaufens gestorben war. Oh Gott, sie hatte den Mörder zu Ermengarde geführt.

Und das alles war von einem Hirn ersonnen worden, das so sorgsam, so gerissen, so gestört war, dass sie kaum zu fassen vermochte, was es getan hatte, ganz zu schweigen, warum. Nur, dass es krank war.

Und dann überlegte sie: Aber es hat nicht erst in der Normandie angefangen …

In England hatte es angefangen, in jenem weit entfernten Glück auf Emmas Gut mit Allie, mit vernünftigen Männern und Frauen, bei einem Fußballspiel. Da war das Gift schon da gewesen.

Und sie dachte weiter: Nein, auch da hat es nicht angefangen …

Tatsächlich hatte das Ganze in einem Wald in Somerset begonnen, wo zwei Gesetzlose aus den Bäumen gesprungen waren, grün und schwarz, phantastische, heidnische Körper, mit Blättern bedeckt, und sie hatte einen von ihnen getötet, um ihr Leben und das der Männer zu retten, die bei ihr waren. Und sich damit den nicht enden wollenden Hass des anderen eingehandelt.

Die Düsternis in dieser Höhle mit ihrem gefilterten Licht war nicht so verschieden von der auf der Lichtung, wo Wolf sich aufgespießt und Scarry auf Latein um ihn geklagt hatte.

Und hierher hat es mich gebracht. Den ganzen Weg von dort nach hier.

Sie hörte ein leichtes Schnarchen, der Perfectus war eingeschlafen. Ihre drei Männer redeten leise miteinander …

»Es ist Scarry, ich sage es euch. Von Beginn an schon. Der einzige Feind, den sie sich je gemacht hat.«

»Jepp. Und dieser schwarzgesichtige Bussard, der das Kreuz aus ’m Stall gestohlen hat? War das Scarry?«

»Ich weiß verflucht nicht, wie Scarry aussieht, oder? Hab den Dreckskerl nie gesehen.«

Excalibur. Noch ein Diebstahl, nicht eines Lebens diesmal, aber von etwas, das Henry ihr anvertraut hatte, wie er ihr auch seine Tochter anvertraut hatte. Scarry hatte ihr beides genommen und sie dort versagen lassen, wo ihr ganzer Stolz lag, in der Erfüllung ihrer Pflicht.

Mansur kniete vor ihr. »Ich kenne dich«, sagte er. »Es ist nicht deine Schuld.«

»Nein.« Sie hob den Kopf, und ihre Stimme ließ alle zusammenfahren. »Dieser Bastard!«

 

In diesem Augenblick hebt auch Scarry den Kopf, als hätte ihn ein ferner Hörnerruf unversehens von allen Würmern befreit. In die Löcher, die sie hinterlassen haben, strömt Wissen.

»Ich weiß, wo ich sie finde«, sagt er zu Wolf.

»Wo?«

»In Palermo. Sie wird nach Palermo kommen.«

»Woher weißt du das?«

»Weil der Auftrag, den Henry ihr gegeben hat, darauf lautet, sich um seine Tochter zu kümmern. Ich lese ihre Gedanken, mein Wolf. Sie ist eine pflichtbewusste Frau, sie wird ihren König nicht enttäuschen wollen.«

»Und werden wir sie dort töten?«

»Ja, Geliebter.« Scarrys Lächeln wirkt fast normal. »So wie sich die Armeen von Octavian und Marcus Antonius auf dem Schlachtfeld von Philippi getroffen haben, werden wir in Palermo aufeinandertreffen.«

 

Der Steuereintreiber verabschiedete sich wieder und drückte sein starkes Missfallen über die Dürftigkeit des Zehnten aus, den er und seine Männer dem Bischof überbringen würden.

Der junge Master Pons saß wieder oben in seinem Kirchenfenster und beobachtete, wie die Männer dem Pfad den Berg hinunter folgten. Die Glocke stand griffbereit neben ihm für den Fall, dass die diebischen Mistkerle auf den Gedanken kommen sollten, noch einmal umzukehren.

Das taten sie nicht. Sie verschwanden in die Sonne, den von der kalten Erde aufsteigenden Nebel zwischen den Hufen ihrer Pferde. Bérenger ließ in seiner Aufmerksamkeit jedoch nicht nach. Der Steuereintreiber war unberechenbar.

 

Zwei Tage später sah er eine andere Gestalt mit einer Reihe Maultiere aus dem gleichen Nebel kommen. Seine Hand langte nach der Glocke, dann zog er sie zurück.

Er rutschte die Leiter hinunter und tanzte erwartungsvoll um den Besucher herum. Manchmal hatte dieser Mann Süßigkeiten in seinem Gepäck.

Gemeinsam stiegen sie den Pfad zur Burg hinauf.

Adelia war bereits in der Küche. Sie wollte sie benutzen, bevor Thomassia kam, um das Frühstück für sie alle zu machen. Sie kochte den Saft aus zerschnittenen Aloe-vera-Blättern zu einer dicken Paste ein. Jacques Lizier hatte Mansur verlegen hinter vorgehaltener Hand gestanden, dass er unter »einem Jucken« leide, ohne den Bereich genauer zu bezeichnen, wo es ihn juckte. Mansur hatte das ihm Anvertraute an sie weitergegeben, und Adelia hoffte, dass es sich nur um einen Ausschlag handelte, und stellte eine lindernde Salbe für Jacques her.

»Zeit, aufzubrechen, Lady«, rief eine Stimme hinter Adelia. Sie drückte den Rücken durch. Deniz’ Koboldgestalt stand in der Tür. Sie hielt nach dem Iren hinter ihm Ausschau, aber Deniz schüttelte den Kopf. »Der Admiral ist noch in Saint-Gilles. Wir treffen ihn später. Ihr alle kommt jetzt mit. Packt. Schnell.«

Obwohl sie nicht viel zusammenzupacken hatten, brauchte der Abschied von Caronne seine Zeit. Es war schwer, dem Dank und der Schuldenlast Ausdruck zu geben, die sie gegenüber so vielen Menschen hier empfanden. Es schmerzte, sie zu verlassen.

»Von mir müsst Ihr Euch noch nicht verabschieden«, sagte Fabrisse. »Ich komme bis Salses mit Euch mit. Ich habe dort ein kleines Château als Ritterlehen von Raymond von Toulouse, oder besser gesagt, mein kleiner Graf von Caronne hat es. Deniz sagt, O’Donnell hat meine Seide in Saint-Gilles abgeliefert, und sein Schiff wird sie nach Salses bringen, bevor er nach Italien fährt. Na Roquas Tochter wird meinen kleinen Grafen bis zu meiner Rückkehr stillen. Ein paar der Roqua-Männer kommen ebenfalls mit, weil wir Salz brauchen. Unser Vorrat geht zur Neige.«

Und dann gab es noch einen besonders schweren Abschied … Adelia sah die Traurigkeit in zwei Gesichtern.

Rankin kam als Letzter die Treppe herunter, seinen Dudelsack unter dem Arm. Adelia sah ihn an. »Ihr kommt nicht mit uns«, sagte sie.

»Was soll das Gerede, Frau? Natürlich komm’ ich mit.«

»Nein. Ihr bleibt hier und heiratet Thomassia.«

Die Augen des Schotten begannen zu leuchten. »Ich leugne nicht … Aber über Rankin von den Highlands wird es niemals heißen, dass er ’n dreckiger Deserteur war.«

»Das ist kein Desertieren.« Sie hatte genug Ärger über ihn gebracht. »Ihr wart ein Fels für uns. Wir lieben Euch, aber jetzt sind wir sicher, und Thomassia braucht Euch. Ihr gehört hierher.«

»Jepp, sie sagt, sie will, die muntere Kleine, und ich hab diesen Flecken ins Herz geschlossen, aber …«

Adelia küsste ihn. »Also dann …«

Oben auf der Festungsanlage der Burg stand neben Thomassia, die den Grafen von Caronne auf dem Arm trug, Rankin und spielte ein jammerndes Klagelied auf seinem Dudelsack, während die kleine Reisegesellschaft wie ein Träne über die Wange eines Riesen den Berg hinunterzog.