Kapitel zehn

Nachdem er seinen fünf Gefangenen das Ende vorgeführt hatte, das sie erwartete, war der Bischof von Aveyron womöglich besorgt, dass sie die Streben aus ihren Turmfenstern reißen und sich in die Tiefe stürzen könnten. Vielleicht hatte er auch das Gefühl, die Moral eines Bischofs könne es nicht erlauben, Frauen und Männer gemeinsam einzusperren. Worin immer der Grund lag, wenige Stunden, nachdem Ermengardes Asche auf dem Mist gelandet war, wurden Adelia, Boggart, Rankin, Mansur und Ulf vom höchsten Punkt des Palastes an seinen tiefsten gebracht und, Männer von Frauen getrennt, ins Verließ gesperrt.

Mit befreiten Füßen, aber immer noch gefesselten Händen wurden sie die Wendeltreppe hinuntergebracht. Dann gingen sie unter den Blicken der Leute durch die große Halle zu einer weiteren Treppe, die tief in die Erde führte, vorbei an einem Wachraum und noch einmal tiefer zum finsteren Tunnel des Verließes und den Zellen, die ihn säumten.

Jeder Schubser, jedes Ziehen an Adelias Arm schmerzte in der verletzten Schulter. Die Kordel, mit der sie sich eine Schlinge gebunden hatte, war von dem Wächter weggeworfen worden. Aber sie spürte kaum etwas. Ihr Schmerz war nicht zu vergleichen mit der Qual, die sie soeben miterlebt hatte.

Endlich wurden ihnen auch die Handfesseln abgenommen, und sie und Boggart landeten in einer Zelle, Rankin, Ulf und Mansur in der gleich daneben. Die Schlüssel drehten sich in den Schlössern.

Wenn sie gewollt hätten, hätten sie miteinander reden können, indem sie den Kopf an die kleinen vergitterten Öffnungen in den Türen gedrückt und laut hinübergerufen hätten. Aber sie wollten nicht. Keiner hatte ein Wort gesagt, seit sie den Platz draußen verlassen hatten.

Auf dem Steinboden hockend und Boggarts Hand fest in der ihren, wusste Adelia, dass sie das Schweigen brechen und etwas sagen sollte, um ihnen allen Mut zu machen, doch sie konnte nicht. Sie hatte alle Fassung, allen Halt verloren, und das Einzige, was sie noch aufrecht hielt, war der Gedanke, dass Rowley kommen und sie holen würde. Aber selbst wenn er es tat, würden sie nie wieder ohne diese Wunde sein, die von den Flammen und Schreien in ihr Gedächtnis gerissen worden war. Wir haben eine Frau bei lebendigem Leibe verbrennen sehen. Wie die anderen war Adelia jenseits von Wut und Beten, sondern erfüllt von einem alles umfassenden schmerzenden Erstaunen über die Grausamkeit des Menschen, gehüllt in Taubheit, die in hilflosen Schlaf mündete.

Rowley kam weder am nächsten Tag, noch am übernächsten.

 

Vater Gerhardt ritt nach Figères und überbrachte der erhabenen Tochter des Königs von England Grüße, Parfüm und Wein, in Weinblätter gewickelte Gänseleberpastete und Käse vom Bischof von Aveyron.

Da es bereits zu spät war, um die Prinzessin noch im Château zu stören, empfingen ihn der Bischof von Winchester, Vater Guy, Vater Adalburt und Doktor Arnulf – leicht verlegen – im kleinen Refektorium der Abtei, wo sie ein spätes Abendessen eingenommen hatten. (Der Prior war bereits zu Bett gegangen, er musste am Morgen Beete harken.)

»Ich fürchte, Ihr findet uns in unglücklicher Lage, Vater«, erklärte der Bischof. »Wie Ihr seht, sind wir hier durch widerliche Umstände auf unserer Reise gestrandet. Ich schäme mich, dass wir Euch nicht angemessener empfangen können.«

»Oh, sorgt Euch nicht, nein, sorgt Euch nicht!« Vater Gerhardt tat so, als sähe er den Spaten nicht, den jemand in der Ecke hatte stehen lassen, genauso wenig wie die Überreste des einfachen, bukolischen Mahles auf dem Tisch, auch nicht, dass der Mann hinter dem Stuhl des Bischofs der einzige Diener in diesem nicht mit Kerzen aus Bienenwachs, sondern mit Binsenleuchten erhellten Raum war.

Aber natürlich registrierte er das alles: Was Scarry gesagt hatte, erwies sich erneut als richtig.

Er nahm ein Glas Wein an und studierte die Gesichter der Männer. Vater Adalburt erwiderte seinen Blick mit dümmlichem Ausdruck, der Bischof von Winchester war ein müder alter Mann und die beiden, die auf seiner Seite sein würden, waren Vater Guy und Doktor Arnulf. Genau wie Scarry es gesagt hatte.

»Monseigneur, ich bringe einen Brief vom Bischof von Aveyron.« Er verbeugte sich und übergab das Schreiben. »Und jetzt, mit Eurer Erlaubnis, wäre ich dankbar für ein Bett für die Nacht. Es war ein langer Ritt.«

(»Gebt Ihnen den Brief und lasst sie allein, damit sie für sich sind, wenn sie ihn lesen«, hatte der Bischof ihm gesagt. »Der Verrat fällt ihnen leichter, wenn sie nicht von einem Unbekannten beobachtet werden.«)

Das sorgte für Unruhe. Ein Bett? Oh Gott, ein Bett! Der gute Bischof teilte sich bereits eines mit dem Prior, und die beiden Geistlichen und Doktor Arnulf belegten das einzige andere.

»Vielleicht kann Captain Bolt eines zur Verfügung stellen«, schlug Vater Guy vor und wandte sich mit scharfer Stimme an den Diener: »Peter, bringe er den guten Vater hinauf ins Château! Und dann komme er zurück und räume den Tisch ab! Es ist eine Schande, wie es hier aussieht.«

Als sich die Tür hinter Vater Gerhardt geschlossen hatte, griff er nach dem Brief. »Soll ich ihn vorlesen, Mylord?«

»Lest! Meine alten Augen versagen mir bei diesem Licht den Dienst.«

»Ein herzliches, achtungsvolles Willkommen vom Bischof von Aveyron an seinen Bruder im Herrn, den Bischof von Winchester. Dieser arme Landstrich fühlt sich durch die Anwesenheit der edlen Prinzessin und ihres religiösen Beraters, dem sein Ruf von Heiligkeit und Weisheit vorauseilt, geehrt …«

»Wie herzensgut«, sagte der Bischof von Winchester und wischte sich die Augen. »Ist das nicht herzensgut von Aveyron?«

Mehr als die Hälfte der Rolle war mit Komplimenten gefüllt, einer Einladung, den Bischofspalast zu beehren, und noch mehr Komplimenten.

Der Bischof von Winchester hatte zu nicken begonnen. Vater Adalburt machte sich auf seiner Tafel Notizen für seine nächste Predigt.

Dann, gegen Ende, kam der Brief auf den Punkt:

»Mylord, in Eurer Weisheit werdet Ihr wissen, dass die böse Irrlehre der Katharer sich in diesem Lande ausbreitet und einige von uns gegen die Ansteckung ankämpfen, damit sie nicht das gesamte Christentum erfasst. In diesem Zusammenhang muss ich Eurer Lordschaft zur Kenntnis bringen, dass Gott in diesem großen Kampf geruht hat, fünf dieser Abweichler in meine Hände fallen zu lassen. Wir haben sie in den Bergen aufgegriffen …«

Vater Guys Stimme hielt einen Moment inne, dann las er weiter.

»Für gewöhnlich würde es nicht mehr als einen Moment dauern, diesen Verbrechern – zwei Frauen in der Kleidung der Katharerinnen und drei Männern – das Strafmaß für das Predigen ihrer falschen Doktrin zuzumessen, behaupteten sie nicht, mit dem Gefolge Prinzessin Joannas verbunden zu sein. Ich halte das für die Unverfrorenheit derer, die falsche Lehren verbreiten, und doch fühle ich mich verpflichtet, es Eurer Lordschaft mitzuteilen. Solltet Ihr, mein teurer Bruder, diese Behauptung, wie ich erwarte, zurückweisen, werde ich mit den Abtrünnigen verfahren, wie ich mit allen Gegnern unserer heiligen Kirche verfahre. Ich erwarte Eure Antwort aus der Hand meines guten und treuen Geistlichen, Vater Gerhardt.

Bis dahin ist es mein innigster Wunsch, dass Gott Euch Seinen Segen spendet,

Euer Diener Philippe von Aveyron.«

(»Sie werden so gut wie ich wissen, dass es ihre Leute sind«, hatte Aveyron gesagt. »Aber wenn ich unseren Informanten befriedigen und gleichzeitig nicht den Zorn der Plantagenets auf mich ziehen will, müssen sie, wie Pontius Pilatus, ihre Hände waschen und die Hinrichtung erlauben. Und das brauche ich schriftlich.«)

Vater Guy rollte den Brief vorsichtig wieder zusammen. Er vermied den Blick von Doktor Arnulf, der sehr aufrecht auf seinem Stuhl saß.

Etwas, ein übelriechendes Verlangen machte sich in dem kleinen Raum breit, vertiefte seine Schatten und hing in den verstaubten, im Dunkel versunkenen Deckenbalken, wachsam, ängstlich, obszön.

 

In den Zellen stank es, und es war finster. Es gab nur einen Eimer, und in das fensterlose Dunkel drang nur ein ganz schwacher Lichtschimmer von den Fackeln oben im Wachraum und verflüchtigte sich im Tunnel.

Sie waren in Schwärze gehüllte Käfer, die sich unter dem Stiefel des mächtigen Palastes über ihnen duckten, voller Angst, dass er sie zertreten könnte. Was, wenn ein Feuer ausbrach? Wer würde sich schon um die Insekten kümmern, die da ganz unten eingeschlossen waren und nicht herauskonnten?

Allein Boggart bewahrte Adelia davor, sich in einen wirbelnden, schreienden Angstball zu verwandeln. Boggart, das wusste sie, befand sich im gleichen Zustand wie sie, aber kämpfte dagegen an, weil sie es auch tat. Sie waren wie zwei Spielkarten, die sich gegenseitig aufrecht hielten. Wenn eine fiel, dann auch die andere. Und wahrscheinlich, dem Schweigen nach zu urteilen, ging es den Gefangenen nebenan genauso.

Es gab dennoch Geräusche. Der Tunnel hatte ein Eigenleben, knarrte und wimmerte. Ulf brach das Schweigen: »Ist da jemand?« Der Ruf echote unbeantwortet und immer leiser werdend von den Wänden zurück: »… da jemand … da jemand …«, als riefen die Toten aus dem Nichts, und Ulf versuchte es nicht noch einmal.

Essen kündigte sich durch Klappern an. Beide Wärter trugen eine châtelaine um die Hüften, wie sie normalerweise von Damen getragen wurde, um nützliche Dinge wie Scheren, Fingerhüte, Nadeldosen oder die Schlüssel für Schränke daran festzumachen, aber die Wärter hatten nur Zellenschlüssel daran hängen, riesige Schlüssel.

Die Tür der Frauen wurde zuerst aufgeschlossen. Der eine Wärter schob ein Tablett in die Zelle, während der andere mit einem Speer in der Hand aufpasste, dass es zu keinem Fluchtversuch kam.

Dann wurde die Tür wieder verschlossen. Adelia und Boggart hörten, wie es nebenan genauso gemacht wurde, und lauschten dem Rasseln der Schlüssel, als die Wärter in ihren Wachraum zurückkehrten.

Finsternis.

 

»Katharer? Warum sollten Katharer etwas mit der Prinzessin zu tun haben?« Der Bischof von Winchester hatte Schwierigkeiten, den Dingen zu folgen.

»Das haben sie nicht, natürlich nicht«, beruhigte ihn Vater Guy. »Sie wollen so nur der Bestrafung entgehen. Wie der Monseigneur von Aveyron sagt, sind die Irrgläubigen Lügner. Sie haben nichts mit uns zu tun.«

»Wobei es merkwürdig ist …«, fuhr der Bischof fort. »Ist es möglich … Könnte es sein, dass … Wie viele von unseren Leuten sind am Ende bei den Nonnen dort zurückgeblieben?«

»Oooh«, sagte Doktor Arnulf beiläufig. »Sieben? Acht?«

»Nicht fünf?«

»Und vergesst nicht, Mylord«, sagte Vater Guy, »dass der Bischof von St. Albans vor seinem Aufbruch nach Carcassonne gesagt hat, er werde den Sarazenen und diese Frau zurück nach England schicken. Da lässt sich annehmen, dass sie längst weg sind.«

»Und haben die anderen mit sich genommen, sollte man annehmen«, sagte Doktor Arnulf.

»Darüber hinaus haben sie bestimmt den direkten Weg eingeschlagen und können nicht so weit von ihm abgekommen sein, dass sie auf das Gebiet von Aveyron geraten wären.«

»Und schon gar nicht wären sie wie Katharer gekleidet.«

Der Geistliche und der Doktor überboten sich gegenseitig, und sie machten es gut, wobei sie es wie geheime Liebende vermieden, sich anzusehen. Vater Adalburt verfolgte ihr Hin und Her und lächelte sein leeres Lächeln.

Der Sarazene, dachte der Bischof von Winchester erschöpft. Der Sarazene und diese Frau, wie hieß sie noch? Sie hatten diese Reise, die auch so schon schwer genug für einen alten Mann war, mit ihrem Unglück gänzlich verdorben. Er fürchtete den erneuten Aufbruch. »Ich wünschte, der Bischof von St. Albans wäre hier«, sagte er. »Er würde wissen, was zu tun ist, aber ach, wir werden ihn erst in Sizilien wiedersehen.«

Vater Guy bedauerte die Abwesenheit des Bischofs von St. Albans in keiner Weise. »Mylord, warum sollten wir uns um eine ferne Gruppe Ungläubiger sorgen?«

Doktor Arnulf bedauerte es ebenfalls nicht. »Das ist völlig unnötig.«

Sie blieben stumm, während ihr Bischof überlegte. Er schien ganz in sich zu versinken, wurde dann aber von Peters Rückkehr aufgeschreckt, der den Tisch abzuräumen begann. Wie die meisten Bediensteten, trug er die Leoparden der Plantagenets auf seiner Jacke.

Die Plantagenets. Das Wort riss den Bischof aus seiner Grübelei. So lästig und mit Unglück behaftet sich der Sarazene und diese Frau auch erwiesen haben mochten, König Henry hatte ihre Bedeutung hervorgehoben. Vielleicht sollte alles getan werden, um sich zu vergewissern, dass sie in Sicherheit waren? Die Füße des Königs konnten einem verheerende Tritte versetzen, wenn man unbedacht auf sie trat.

»Sollten wir nicht jemanden nach Aveyron schicken, um zu sehen, ob da nicht ein unseliger Fehler gemacht wurde … um uns zu versichern, dass niemand von unseren Leuten zu den Gefangenen des Bischofs gehört?«

Vater Guy drückte Doktor Arnulf eine Hand auf den Mund, der sonst laut aufgejault hätte. »Mylord, wenn mir die Bemerkung erlaubt ist, wäre das ein Fehler, der ein schlechtes Licht auf Euch würfe. Es würde diesem fremden Bischof sagen, dass Ihr Irrgläubigen Zutritt zu Prinzessin Joannas Gefolge erlaubt hättet, oder warum sonst solltet ihr Euch nach ihnen erkundigen?«

»Oje! Ja. Nein, das darf nicht sein.«

»Ich verstehe nicht, warum sich Eure Lordschaft wegen dieser Sache Sorgen macht«, sagte Doktor Arnulf. »Die Gefangenen des Bischofs sind wie Katharer gekleidet, also müssen sie welche sein.«

Der alte Mann seufzte. »Also gut, dann werden wir wohl einen Brief nach Aveyron schicken und jede Verbindung mit diesen Leuten von uns weisen müssen.«

Doktor und Geistlicher holten tief Luft und ließen sie langsam wieder entweichen. Das, was Aveyrons Brief in die Schatten des Raumes getragen hatte, wurde größer und vibrierte leicht.

Vater Guy sagte schnell: »Erlaubt mir, den Brief zu verfassen, Mylord. Am besten tun wir es gleich. Wenn Ihr Euch zurückziehen wollt, bringe ich ihn Euch später, damit Ihr ihn unterzeichnen könnt.«

»Danke, mein Sohn.« Der Bischof von Winchester erhob sich von seinem Stuhl und begab sich dankbar ins Bett, ein müder Mann, den das unangenehme Gefühl noch müder machte, dass ihm da etwas aus den Händen glitt.

Als sich die Tür hinter ihm schloss, fand Vater Guys Blick endlich den von Doktor Arnulf.

Der Doktor nickte. »Dann schreibt den Brief!«, sagte er.

 

Vor einem der Zelte außerhalb des Châteaus spielte Admiral O’Donnell mit Locusta an einem Feuer Schach.

»Ah, Peter«, rief er den Bediensteten an, der gerade vorbeikam. »Wer ist dieser Besucher? Der mit dem Blick, der die Dänen vernichten würde?«

»Er hat eine Botschaft vom Bischof von Aveyron überbracht, Mylord.«

»Hat er das?« Der Ire bewegte seine Königin. »Und worum ging es in dem Brief?«

Peter sagte es ihm.

»Katharer«, sagte O’Donnell und nickte. »Schlechter Umgang.«

»Schachmatt«, sagte Locusta mit einem Grinsen. »Ihr seid heute nicht recht bei der Sache, Mylord.«

»Der Ruhm gebührt Euch.« Der Admiral streckte sich und gähnte. »Und mir das Bett. Gute Nacht, Gentlemen!«

 

Da das Leben selbst noch in der Verzweiflung gelebt werden musste, machten die Gefangenen das Beste daraus.

Sie richteten sich ihr eigenes Tagesprogramm ein. Jeden Morgen – wenn es denn Morgen war – drückten sie abwechselnd die Gesichter gegen die vergitterten Türlöcher und redeten miteinander. Das war für Adelia und Boggart weit schwerer als für die Männer, da sich die Frauen auf die Zehen stellen mussten, um die Öffnung zu erreichen, was sich nicht lange durchhalten ließ.

Dann, Adelia bestand darauf, bewegten sich alle, indem sie zwanzig Mal die steinernen Wände ihrer Zellen abliefen. So entwickelten sie ein Gefühl für die unerwartete Größe der Räume um sich herum. Wie Rankin bei einem seiner Gespräche ganz richtig durch die Gitter rief: »Warum sollt’n gottesfürchtiger Mann so viel Platz für seine Straf’n woll’n, wenn er kein Dreckshund oder ’n Spitzbube iss?«

Was eine gute Frage war. Hatten die Bischöfe von Aveyron ihrer Herde so misstraut, dass sie meinten, sie zu Hunderten einsperren zu müssen, und deshalb die Zellen so groß gebaut? Erwartete der derzeitige Amtsinhaber wohl, sie mit Katharern zu füllen?

Am Nachmittag – wenn es denn Nachmittag war – hielten sie sich mit Singen und Rezitieren bei Laune. Einer nach dem anderen stellt sich dazu neben die Gitter, damit es alle hören konnten. Im Falle Adelias war es eine Strafe, für sie selbst wie für alle anderen, denn sie hatte die Singstimme einer verstimmten Krähe und beschränkte sich auf die Kinderlieder, die sie von Ihrer englischen Kinderfrau in Sizilien gelernt hatte. Ulfs Stimme klang ein bisschen besser, und er erzählte Geschichten von Hereward dem Geächteten und dem Kampf den der Held der Marschen gegen William, den Eroberer geführt hatte. Mansurs helle Stimme schickte Lieder aus seiner Heimat zwischen Euphrat und Tigris den Tunnel entlang. Boggart sang hübsche Balladen, die sie auf Märkten von Barden aufgeschnappt hatte. Und Rankin verfügte über einen wohlklingenden, tiefen Bass und sandte unverständliche, aber herzanrührende Lieder aus den Highlands in die Finsternis. Im Übrigen bedauerte er seine Pieps nicht dabeizuhaben, weil er sonst die Stimmung weiter hätte heben können.

»Seine Pieps?«

»Seinen Dudelsack«, kam die düstere Erklärung von Ulf. »Wenigstens bleibt uns der erspart.«

Aus Trotz sangen sie keine geistlichen Lieder, nicht ein einziges. An diesem Ort wollten sie dem Gott keine Stimme geben, dem der Bischof von Aveyron huldigte.

Aber sie wurden immer müder. Ihr Essen bestand aus Resten aus der Palastküche und war, immer angenommen, dass der Koch nicht hineinspuckte, von guter Qualität, reichte aber bei Weitem nicht aus, um sie bei Kräften zu halten. Adelia, die große Schmerzen in der Schulter hatte, schimpfte die Wachen aus, weil Boggart, wie sie ihnen sagte, für zwei essen müsse, aber dadurch änderte sich an den Rationen nichts, und so trat sie dem Mädchen von den ihren ab.

Und Rowley kam immer noch nicht.

Am Ende hörten sie auf zu singen. Hunger und Erschöpfung waren zu groß. Meist saßen sie schweigend da. Selbst Adelia hatte aufgehört zu sagen, die Länge ihrer Einkerkerung beweise, dass Aveyron auf Nachricht aus Figères warte, bevor er Weiteres unternehme – die hätte schon mehrfach kommen können.

Und Ulf nebenan ermüdete sie noch mehr. Seine Jugend gab ihm genug Kraft, sich in wütenden Spekulationen zu ergehen. So wie er es sich ausgeklügelt hatte, war es dem Verräter nicht um Ermengarde gegangen, sondern um sie, Adelia, was er ihr durch das Gitter seiner Zelle erklärte.

»Die waren hinter Euch her.«

»Sie wollten Ermengarde«, erwiderte sie matt. »Sie haben uns nur zufällig mit ihr gefangen und halten uns deshalb für Katharer.«

»Zugegeben, dass die Dreckskerle Ermengarde wollten, aber wer hat ihnen gesagt, wo sie war? Äh? Sagt mir das! Sie und Aelith, die beiden waren schon seit Monaten in dem Haus, warum sind die Kerle da ausgerechnet gekommen, als wir da waren? Äh? Das ist kein Zufall, wenn Ihr mich fragt. Dem ging’s um Euch, der wollte, dass sie Euch erwischen und als Katharerin einsperren.«

Es gab aber noch eine einfachere Erklärung, und Adelia drückte ihr Gesicht etwas fester gegen die Stäbe, um nicht zu laut aussprechen zu müssen, was sie dachte. Es war zu schrecklich.

»Wir waren selbst schuld, Ulf. Rowley und Locusta sind jeden Tag zu uns geritten gekommen, und zwei gut gekleidete Männer wie sie, die müssen die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen haben. Da ist einer neugierig geworden, ist den Berg hochgeklettert, um zu sehen, wohin sie wollten, hat die Katharerfrauen entdeckt und es überall herumerzählt. Gott, vergib uns. Wir waren schuld. Wir haben Aveyrons Männer zu ihnen geführt …« Sie konnte den Satz nicht beenden.

Aber Ulf gab anderen die Schuld an ihrem Unglück, anderen, die Adelia schon vorher hatten schaden wollen. Er führte den Tod des Pferdes an, das sie abgeworfen hatte, und den Mord an Brune. »Ich sage Euch, da gibt’s irgend’n Mistkerl, der Euch vernichten will. Um Euch geht’s ihm, Ermengarde war ihm egal.«

Der Hunger und das schmerzende Schlüsselbein ließen Adelia die Fassung verlieren. »Nun, dann hat er es ja geschafft, oder?«, schrie sie. »Und ihr alle sterbt mit mir.« Sie hörte ihre Stimme im Tunnel schallen, und es klang so, als wollte sie aufgeben, was sie gleich zurechtzurücken versuchte. »Rowley wird kommen, ich weiß es.«

Aber sie glaubte es selbst nicht mehr und hörte auf, von ihm zu reden.

 

Das Rasseln der Schlüssel, das die Treppe vom Wachraum herunterkam, ließ die Körper der Gefangenen sich aufrichten, Speichel begann zu fließen, und Verwunderung ergriff sie. War schon wieder ein Tag vergangen? Es war doch noch nicht Zeit für neues Essen?

Draußen im Tunnel wurde es hell, aber ihre Zellen blieben geschlossen. Adelia reckte sich in die Höhe, damit sie hinaussehen konnte. Vater Gerhardt stand vor Ulfs, Mansurs und Rankins Zelle. Er hielt eine Pergamentrolle in der Hand, und seine Zähne leuchteten im Schein der Fackel auf, die eine der Wachen trug. »Könnt ihr mich alle hören?«

Niemand antwortete, alle hörten ihn.

Er begann zu lesen.

»Hiermit ergeht die Bekanntmachung von unserem guten, heiligen Bischof von Aveyron, dass die fünf Katharer in seinem Gewahrsam der schändlichen Sünde der Häresie für schuldig befunden wurden. Es wurde beobachtet, dass sie sich in einer Hütte in den Bergen zusammengeschart hatten, um frevlerische Taten zu begehen. Der Teufel zeigte sich in Gestalt eines schwarzen Hundes, und die Katharer fielen vor ihm auf die Knie und tanzten unzüchtige Tänze …«

Aus der Zelle der Männer kam ein wütendes Brüllen. Mansur schrie auf Arabisch, Rankin auf Gälisch. Und über den Lärm der beiden erhob sich Ulfs Stimme. »Wurde beobachtet? Wer hat was beobachtet? Nenn uns seinen Namen, du Dreckskerl!«

»… wonach jeder Einzelne seine Lippen zu einem Kuss auf die Rückseite der Kreatur drückte, und dann kopulierten sie wild miteinander …«

»Von ’nem Hund?«, fragte Boggart und versuchte Vater Gerhardt zu verstehen. »Wir hatten doch nur Ward.«

Adelia schüttelte den Kopf. Es war fast immer ein Hund. Oder eine Ziege. Manchmal auch eine Katze oder eine Kröte. Und dann der osculum infame, der obszöne Kuss. Es war die uralte, unvermeidliche Anklage gegen Juden, vermeintliche Hexen und Häretiker, die sich nur in winzigen Einzelheiten veränderte. Gott, wie müde sie war!

Ulf wollte auch weiter den Namen ihres Anklägers wissen. »Du Dreckskerl, wir hatten nicht mal ’nen Prozess!«

Hör auf!, dachte sie. Mein lieber Junge, spar dir deinen Atem! Wir unterstehen hier nicht Henry Plantagenets Rechtsprechung. Hier gibt es keinen Prozess und keine Verteidigung, nur ein Urteil.

Vater Gerhard las stetig weiter, sein immer lauter werdendes Stakkato zerschlug Ulfs Schreie wie ein Hammer.

»Angesichts solcher Taten wurde beschlossen, dass solche Sündhaftigkeit diese Gotteslästerer von der Gnade Gottes ausschließt und ihre Körper die Strafe des Verbrennens erleiden müssen, damit ihre Seelen am Tag des Jüngsten Gerichts wenigstens teilweise von ihren Sünden gereinigt vor Gott erscheinen mögen. Das Urteil ist morgen um zwölf Uhr mittags zu vollstrecken.«

Der Priester rollte das Pergament wieder zusammen und bedeutete der Wache, ihm den Weg zurück zur Treppe zu leuchten. Ulfs Stimme überschlug sich: »In Gottes Namen, schickt nach Carcassonne, fragt den Bischof von St. Albans! Wir sind keine Katharer, er wird es Euch sagen.«

»Euer Bischof ich nicht mehr in Carcassonne, er ist unterwegs nach Italien.«

»Dann schickt nach Figères!«

Der Priester blieb stehen und drehte sich um. Sein Lächeln, wenn es ein Lächeln war, wurde breiter. »Wir haben nach Figères geschickt«, sagte er, »und Antwort erhalten. Sie kennen euch nicht.«

Adelia ließ das Gitter los und glitt auf den Boden. Eine kleine Hand fühlte nach ihrer. Sie hörte ein Flüstern. »Uns verbrennen? Sie wollen uns verbrennen?«

Adelia war wie taub.

»Schneidet mich auf!«, sagte Boggart eindringlich. »Ihr müsst mich aufschneiden!«

Adelia drückte sie an sich. »Schschsch.«

»Holt das Baby raus! Lasst sie mein Baby nich verbrennen! Schneidet mir ’n Bauch auf und holt das Baby raus! Zieht’s raus! Ihr könnt es.«

»Liebes, das kann ich nicht. Ich kann es nicht. Allmächtiger Gott, hilf uns, was soll ich nur tun?«

Es ist geschafft, Wolf, mein Geliebter! Der lange Plan, all unsere Listen und Strategien tragen ihre Früchte. Sie wird schreiend sterben. Oh ja, wir werden da sein, du und ich. Wir werden uns hinschleichen, um sie brennen zu sehen, den Geruch bratenden Schweines zu riechen, zu sehen, wie sie zischt und knusprig wird, bevor sie zu Asche zerfällt. Quae vide, mein Lupus. Sieh, was mir in deinem Namen gelungen ist, und sei stolz auf mich!

Boggart war jetzt still. Alle waren still. Adelias Zelle war von Allie und Musik erfüllt. Sie sah ihr Kind tanzen und mit den kleinen Händen winken.

Die Melodie wurde misstönig und verwandelte sich in ein Schlüsselrasseln.

Gott, da sind sie, Allie! Noch nicht, noch nicht! Gott, ich habe solche Angst.

Sie öffneten die Tür der Männer. Ein Handgemenge – gesegnet seien sie, sie ergeben sich nicht kampflos. Ich werde es auch nicht. Ich renne ihnen in ihre Speere. Gott sei mit mir in meiner Stunde des Todes.

Sie war so taub und blind vor Angst, dass sie nicht hörte, wie ihre Zellentür geöffnet wurde, und sie sah auch nicht das Licht, das auf sie fiel, auf sie, die dahockte und Boggart an sich drückte.

Dann stand Mansur vor ihr und streckte ihr die Hand hin. Ja, ich gehe mit dir. Bleib nur nahe hinter mir, versprich, dass du nahe hinter mir bleibst.

Ulf und Rankin, sie waren alle da. Und hinter ihnen noch jemand, der etwas sagte … über Schuhe?

»Zieht sie aus!«, sagte er. »Steckt sie euch hinter den Gürtel! Ist die Frau bei Sinnen? Und Boggart? Mäuschenstill jetzt.«

Sie hatte die Stimme schon einmal gehört, hatte den Mann schon gesehen, nur sein Name wollte ihr nicht einfallen. Aber da war jetzt Ulfs Gesicht. »Kommt, Missus, auf geht’s.« Er beugte sich zu ihr hinunter und zog ihr den Schuh aus, den einzigen, den sie hatte.

Sie waren draußen im Tunnel und folgten der Fackel, die der fremde, vertraute Mann hielt.

Die Treppe hinauf, wo eine Gestalt in der Aveyron-Uniform lag. Mit durchgeschnittener Kehle.

Der fremde, vertraute Mann steckte die Fackel in eine Wandhalterung und ließ sie dort zurück. Im Licht schimmerte das Blut der toten Wache nass.

Weiter hinauf, in die Halle des Palastes. Düster, von einem einzigen flambeau erleuchtet. Körper lagen in den Schatten der Nischen. Waren die auch tot?

Nein, sie schliefen. Bedienstete. Adelia konnte sie schnarchen hören. Es war also noch Nacht. Der Boden schien sich endlos weit auszudehnen, wie ein See, bis zur Tür nach draußen zum Platz. Unmöglich, ihn zu überqueren, ohne die Schläfer zu wecken.

Sie fand wieder zu sich, die Panik wurde durch ein Gefühl wilder Furcht und Hoffnung ersetzt, während ihre nackten Füße geräuschlos über die Kacheln eilten und dem Mann folgten … Es war der Ire. O’Donnell half ihnen zu fliehen. Rowley hatte ihn geschickt, um sie hier herauszuholen.

Aber er holte sie nicht heraus. Statt auf den Ausgang zuzusteuern, führte er sie zum Turm, in dem sie zu Anfang eingesperrt gewesen waren. Die Tür war offen. Er stand daneben und winkte sie an sich vorbei, damit sie vor ihm hinaufstiegen. Wir waren da oben schon, dachte sie. Da führt kein Weg hinaus. Ich traue ihm nicht, ich traue ihm nicht.

Aber sie konnte nicht stehenbleiben und zu argumentieren beginnen. Einer der schlafenden Körper nicht weit entfernt murmelte etwas und bewegte sich. Mansur, Ulf und Rankin waren bereits am Fuß der Treppe und wandten den Kopf, um sich zu versichern, dass sie und Boggart ihnen folgten. Schnell schob Adelia Boggart in den Turm und folgte ihr, den Iren hinter sich. Als er die Tür schloss, quietschten die Angeln und schnitten ihr in die Nerven. Sie blieb wie angewurzelt stehen und wartete darauf, entdeckt zu werden. Stattdessen jedoch bekam sie einen Schubs, und der Ire zischte: »Heilige Muttergottes, nun bewegt Euch schon!«

Schwärze hüllte sie ein. Hinauf jetzt, die sich im Kreis windende Treppe hinauf, tastend an Türen von Vorratsschränken entlang, einige von ihnen offen, andere geschlossen, alle schienen leer. Adelia flüsterte unwillig über die Schulter: »Warum steigen wir hier hinauf, statt zu sehen, aus dem Palast rauszukommen?«

»Das hier ist der Weg nach draußen. Macht schon.«

Es ging ihr an die Kraft, es ging allen an die Kraft, die Treppe hinaufzusteigen, so geschwächt waren sie. Boggart schluchzte um Luft und fing an zu wanken. Adelia musste mit ihrem unverletzten Arm den Hintern des Mädchen finden und sie weiterschieben.

Ein unverdeckter Mond schien in den Raum oben, aber besser noch war die Nachtluft, die durch die Fenster strömte und nach Feldern und Weite roch. Sie sogen sie in ihre pumpenden Lungen.

Boggart sank erschöpft zu Boden, aber der Ire zog sie gleich wieder auf die Füße. »Noch nicht, Missus. Wir gehen jetzt runter.«

An der Strebe des Fensters, das nach hinten auf die Dächer des Palastes hinausging, hingen Seile mit komplizierten Knoten, und auf dem Boden lag ein Enterhaken, der offenbar von unten heraufgeworfen worden war, damit er sich hinter der Strebe oder dem Mauervorsprung verfing.

»Wer geht zuerst?«, fragte O’Donnell. »Ist leicht wie ’n Handkuss, und der gute Deniz steht unten und fängt Euch auf.«

Er sah Adelia an. Sie schüttelte den Kopf. Wenn es so leicht war, musste Boggart als Erste die Chance zur Flucht bekommen. Aber Boggart zuckte ängstlich zurück, und Adelia würde ohne sie nicht gehen. Wahrscheinlich kann ich sowieso nicht, dachte sie, nicht mit dieser verdammten Schulter.

»Ich gehe«, sagte Ulfs Stimme.

War das Ulf? Diese Bohnenstange mit den tiefliegenden Augen und eingefallenen Backen? Und war die bärtige Vogelscheuche da Rankin?

Die anderen sahen zu, wie der Ire Ulf den linken Fuß in eine Schlinge stellen ließ und ihn ermahnte, sich gut festzuhalten. »Ich lass dich nach unten, Junge. Du musst dich nur am Seil festhalten.« O’Donnell beugte sich aus dem Fenster, legte die Hände um den Mund und ließ einen Eulenruf hören.

Von unten kam Antwort.

»Ab mit dir, wie meine Großmutter immer gesagt hat, wenn sie ’n Hausierer von den Klippen stieß.«

Adelia beugte sich vor und sah das Mondlicht in Ulfs fahlem Haar, die weißen Knöchel seiner sich ans Seil klammernden Hände. O’Donnell benutzte die Fensterstrebe als Drehkreuz, um ihn nach unten gleiten zu lassen. Die schwarze Tiefe schoss Adelia entgegen, und sie schreckte zurück, zwang sich jedoch, wieder hinauszusehen.

Ulf bewegte sich nicht weiter, er steckte fest. Es gab ein Ringen mit einer verschatteten Gestalt.

»Sie haben ihn.«

»Wer hat ihn?« O’Donnell steckte den Kopf hinaus. »Nein, das ist Deniz. Unser Junge hat gerade den ersten Teil des Abstiegs hinter sich gebracht, das ist alles.«

Den ersten Teil? Aber natürlich, das hier war das hintere Fenster des Turmes, und von den Dächern darunter ging es mindestens noch mal fünfzehn Meter weiter in die Tiefe. Wieder verspürte Adelia Hilflosigkeit, Hunger und Angst. Das war zu kompliziert und zu gefährlich. Boggart würde es niemals schaffen, und sie sicher auch nicht. »Warum konnten wir nicht durch die Tür vorne?«

O’Donnell hob eine Braue. »Nun, ich glaub nicht, dass die Wachen uns gelassen hätten. Die sind sicher nicht so verschlafen wie der Bursche unten.«

Den er getötet hatte.

Draußen schrie eine Eule.

»Er ist unten«, sagte der Ire und zog das Seil wieder hoch. »Der Nächste.«

Rankin ging und keuchte fürchterlich. Nach einer Ewigkeit erst schrie die Eule wieder.

Dann kam Mansur. Er wollte nicht vor den Frauen hinunter, aber Boggart war in Panik und Adelia wollte sie nicht allein lassen. Als der Araber hinaus ins Mondlicht kletterte, sah Adelia, wie schmutzig seine Kleidung war. Wo er doch sonst immer so makellos aussah.

Wir stinken, dachte sie, wir alle stinken. Nur der Ire nicht. Soweit sie es im Mondlicht beurteilen konnte, sah O’Donnell sauber und beherrscht aus. Er wirkte geradezu unbekümmert, als löschte er die Fracht von einem seiner Schiffe. Er ließ Mansur in die Tiefe gleiten und pfiff leise vor sich hin. Die Muskeln spannten sich unter seinem Hemd, das vorne, wie sie wusste, mit dem Blut der getöteten Wache bespritzt war.

Mansurs Abstieg schien noch länger als der Rankins zu dauern. Durch ihr lautes Atmen hindurch lauschte Adelia verzweifelt auf ein plötzlich ausbrechendes Schreien draußen am Fuß des Turmes, weil ihre leeren Zellen entdeckt worden waren … So viel Glück konnten sie nicht haben. Dieser mächtige Palast war voller Menschen.

»Und jetzt die Ladies.«

»Ich kann nich’«, sagte Boggart. »Das Baby …«

»Das ist genau das Richtige für den kleinen Racker«, sagte der Ire mit fester Stimme. »So in der Luft zu baumeln? Das wird ihm gefallen. Nun komm schon!«

Gemeinsam überredeten sie Boggart, den Fuß in die Schlinge zu stellen. Am schwierigsten war es, sie an der Strebe vorbei aus dem Fenster zu zwängen. Adelia knirschte mit den Zähnen bei dem Gedanken, was der Fötus in Boggarts Bauch wohl dazu sagte, so zusammengedrückt zu werden, aber dann endlich war das Mädchen draußen und sein gequältes Gesicht sank in die Dunkelheit hinab.

Der Eulenruf kam, und O’Donnell holte das Seil erneut ein. »Kommt, Missus!«

Adelia biss sich auf die Zähne. »Mein Schlüsselbein ist gebrochen.«

»Auf welcher Seite?« Da war kein Mitgefühl.

»Rechts.«

»Dann haltet Euch mit der Linken fest.«

Ihr Fuß kam in die Schleife, das Seil wurde einmal zusätzlich um ihren Leib geschlungen und kompliziert verknotet.

»Seht nicht nach unten«, sagte der Ire. »behaltet mich im Blick!«

Das tat sie nicht. Sie sah starr auf die Steine, die direkt vor ihrer Nase vorbeiglitten.

Tatsächlich war es gar nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte. Mit ihrer gesunden Hand hielt sie sich am Seil fest, ihr linker Fuß trug ihr Gewicht, und mit dem rechten stieß sie sich von den Steinen ab.

Als ihre Füße endlich die Dachziegel unter sich spürten, wurde sie von einer stark riechenden Schweißwolke eingehüllt, und der wartende türkische Knappe befreite sie aus ihrer Verschnürung. Er legte die kleinen Hände an den Mund, um den Eulenruf hören zu lassen, und schon schlängelte sich das Seil wieder nach oben.

Sie stand auf dem flachen Dach und sah endlich, wo genau sie sich befanden. Auf dieser Seite erhob sich der Turm über einem Gebäude, das Teil der hinteren Palastmauer war, und hinter der Mauer breitete sich Brachland aus, das zu einer Erhebung anstieg.

Jetzt kam O’Donnell geschmeidig die Wand herunter, den Enterhaken unter dem Arm. Er gab ihn Deniz, sah hinauf zu dem Seil, das immer noch am Fensterbalken verknotet war, und schüttelte den Kopf. »Wie traurig, so ’n feines Stück Hanf hier zurücklassen zu müssen. Nun dann, vielleicht hängt sich ja der gute Bischof dran auf.«

Er nahm ihren linken Arm und eilte mit ihr über das Dach zu einer Stelle, wo eine Strickleiter an einen Vorsprung gebunden war. »Schafft Ihr das, Missus?«

Sie wusste es nicht. Sie beugte sich über den Rand und sah nur Schwärze.

Als sie zögerte, stieg er selbst auf die Leiter und bog den Körper nach hinten, sodass er eine Art Rahmen für sie bildete. »Und so?«

»Ja.«

Es war dennoch schwer, die Leiter schwang vor, zurück und zu den Seiten, und sie konnte sich nur mit der linken Hand festhalten. Aber da sie keine Angst zu haben brauchte, hinunterzufallen, weil der Ire die Arme um sie geschlossen hielt, schaffte sie es. Deniz kam nach ihnen in einem Rutsch heruntergesaust.

Sie waren aus dem Palast. Draußen. Entflohen. Im Schatten der hinteren Mauer trat eine, wie es schien, ziemlich große Gesellschaft nervös von einem Fuß auf den anderen: Adelia sah zwei Pferde, zwei Hunde, das beladene Maultier, das wie immer O’Donnells Ausrüstung hinter ihm hertrug, Mansur, Boggart, Rankin, Ulf – und den daliegenden Körper eines Mannes.

Instinktiv beugte sich Adelia über ihn. O’Donnell stieß sie mit seinem Stiefel an. »Ein Wachposten. Lasst ihn!« Er sah zu den anderen hinüber und sagte auf Arabisch: »Setz sie auf die Pferde, Deniz!« Dann wandte er sich um und gab Adelia den Schuh, den sie vor Ermengardes Haus verloren hatte. »Den werdet Ihr brauchen.«

Irgendwo im Inneren des Palastes wurde eine Alarmglocke geläutet. Die leeren Zellen waren entdeckt worden.

Über den Feldern vor ihnen zeigte sich bereits das erste schwache Licht des heraufziehenden Morgens. Deniz und O’Donnell hievten Boggart auf eines der Pferde. Mansur forderte Adelia auf, sich zu beeilen. »Delia, los.«

Sie konnte nicht anders, sie griff nach dem Hals des daliegenden Postens. Er war tot. Als sie die Hand zurückzog, leckte ihr etwas darüber.

Es war Ward.

Sie nahm ihn hoch und drückt seinen dürren, schmutzigen Körper an sich, bevor sie weggezogen und, den Hund immer noch im Arm, auf das Pferd gehoben wurde, auf dem bereits Boggart saß. Ulf kletterte hinter sie. Rankin und Mansur saßen auf dem anderen Pferd.

Sie verschwanden im Dunkel, Hunde, Pferde und das Maultier, von O’Donnell und Deniz an den Zügeln geführt.

Nicht schnell genug, dachte sie. Die nackte Erhebung vor ihnen hellte sich von Sekunde zu Sekunde weiter auf. Sie würden so gut sichtbar sein wie ein Rudel Wild, nur nicht so schnell. Sie hörte, wie der Ire Deniz zuschnaufte: »Die werden erst auf den Platz hinauslaufen. Wird ’ne Minute oder zwei dauern, bis ihnen der Turm einfällt.«

Eine Minute oder zwei. Eine Minute oder zwei, um dieses endlose, frei einsehbare Stück Land hinter sich zu lassen. Es reichte nicht. Sie konnte die Rufe aus dem Palast hinter ihnen hören, laut herausgebrüllte Befehle, und die Alarmglocke läutete und läutete.

Sie erreichten den Gipfel der Erhebung. Verstörte Lerchen flogen auf, flatterten und zwitscherten, als wollten sie Aveyron warnen, dass die Irrgläubigen entkommen waren. Überquerten ihn. Ritten in einen Wald. Wurden nicht langsamer. Gott, lieber Gott, vergib mir meine Sünden. Lass uns nicht verbrennen, lass uns nicht verbrennen. Sei uns gnädig.

Sie schlängelten sich durch den Wald, ritten durch Bachbette, um die Spürhunde abzuschütteln, die in der Ferne kläfften. Sie sprengten Geröllhänge hinauf, und das Gestein schepperte laut unter den galoppierenden Hufen. Hielten nicht an, hielten nicht an. Nur einmal, da sahen sie im Schutz eines Felsvorsprungs, wie ein Trupp Reiter am Horizont seine Hunde anfeuerte, sie zu suchen. O’Donnell und Deniz hielten ihren Hunden die Schnauzen zu, damit sie nicht auf das Kläffen antworteten.

Weiter. Unter einer blassen Sonne, die anklagend auf sie herabsah, in den nächsten Schatten. Hielten nicht an, hielten nicht an. Auf und ab durch eine Landschaft, die sich um sie auftürmte, um ihnen das Vorankommen zu erschweren. Weiter, bis sie anhalten mussten, ob sie nun in Flammen sterben würden oder nicht … Aber der Ire verbot es ihnen: »Noch nicht. Wir sind ihnen noch nicht entkommen.«

»Wir müssen«, flüsterte Adelia. »Das Baby.« Gott allein wusste, ob das Kind noch mehr ertragen konnte, Boggart konnte es sicher nicht. Das Mädchen war halb bewusstlos.

»Noch nicht. Wir sind ihnen noch nicht entkommen.«

Durst. Kurz Wasser aus einem Bergbach in den Mund schöpfen, Pferde und Maultier die Schnauzen darin versenken lassen. Weiter, weiter. Durchgerüttelt, sich festklammernd, O’Donnell und Deniz zogen die Pferde, die zu stolpern begannen, unerbittlich weiter.

Dunkelheit, Kälte. Der Klang tropfenden Wassers. Eine Höhle. Sie waren alle drin. Eine Pause. Bitte, Gott, die letzte.

»Das sollte gehen«, sagte O’Donnell.

 

Es war eine wundervolle Höhle, wie die Flüchtenden feststellten, als sie sich etwas erholt hatten. Dazu brauchten sie Zeit, Ruhe, Essen und viel vom Wasser des klaren, kalten Sees inmitten ihrer Zuflucht.

Der Boden bestand aus schwärzlicher Erde voller großer runder Kiesel, und obwohl der Eingang der Höhle niedrig war, erhoben sich ihre Wände doch fast zur Höhe einer Kathedrale, mit einem Echo, dass Adelia an den Tunnel vor den Zellen erinnerte.

»Ein Land der Höhlen, dieses Languedoc«, erklärte O’Donnell ihnen: »Es wird von Löchern durchzogen wie ein von Käfern zerfressener Käse.«

Aber wie, fragte Adelia sich, wie hat er diese Höhle hier gefunden? Es gab keine Gelegenheit, ihn zu fragen. Kaum, dass sie sich erholt hatten, kamen Mansur, Rankin und Ulf mit zahllosen anderen Fragen.

»Nun, dass da fünf Katharer behaupten sollten, zu Prinzessin Joanna zu gehören, das kam mir komisch vor. Peter, erinnert Ihr Euch an Peter, der uns immer beim Essen bedient hat? Als Peter mir von Aveyrons Brief erzählt hat, wollte ich mich versichern, dass es nicht Ihr fünf wart – im Gegensatz zu anderen, denen es egal war. Ich hinterließ Nachricht in Figères, dass ich nach Saint-Gilles vorausreiten wolle, um alles für die Seereise vorzubereiten. Stattdessen sind Deniz und ich dann zum Stall geritten, der niedergebrannt war, zusammen mit Ermengardes Haus. Nun, ein Nicken ist für einen Blinden so gut wie ein Zwinkern, wie meine Großmutter immer zu sagen pflegte.«

»Aber wie habt Ihr uns gefunden?«

»Dank des stinkenden Straßenköters«, sagte O’Donnell. »Neben dem Haus haben wir den Schuh ihrer Ladyschaft gefunden, nur war Euer Duft längst verflogen. Aber der Gestank dieses Köters würde selbst einen Meeressturm überleben, und er hat den Kopf nun mal ständig auf ihren Füßen gehabt. Also hab ich den Schuh einem meiner Hunde zu riechen gegeben, und? Hat er uns nicht quer über die Berge geführt? Und tatsächlich, da stand unsere kleiner Stinker und winselte, weil er in den Palast reinwollte. Dankt ihm dafür!«

Adelia rieb die Wange am Kopf des Hundes in ihren Armen. Ward hatte das Ausharren vor dem Palast böse mitgenommen, er konnte kaum noch laufen und hatte während der Flucht zwischen den Taschen des Maultiers untergebracht werden müssen. Obwohl er sich langsam erholte, konnte ihn Adelia kaum loslassen, und da sie beide, Hund wie Herrin, ähnlich verdreckt waren, machte es nichts, ihn zu streicheln, wie er es verdiente.

Aber natürlich war es der Ire, dem sie alle mit jeder nur erdenklichen Beteuerung dankten. Er und Deniz hatten den Palast ausgekundschaftet, einen Plan entworfen, es mit ihren Seilen – »Keine wichtige Unternehmung ohne ausreichend Seile und ein Maultier, das sie einem hinterherträgt!« – geschafft hineinzukommen und sie alle damit auch wieder herausgebracht.

»Aber woher wusstet Ihr, wo ihm Palast wir waren?«, fragte Ulf.

Stolz wie ein Pfau drückte sich der Ire die Daumen unter den Hemdkragen. »Wir haben uns in ein Wirtshaus gesetzt, Deniz und ich, zwei unschuldige Pilger auf dem Weg zum Schrein von Rocamadour und sorglos mit ihrem Geld. ›Ist das hier nicht die schönste Stadt und der großartigste Palast, den du je gesehen hast, Deniz?‹ ›Aber sicher ist er das, Master. Ich frag mich, wie’s drinnen in ihm wohl aussieht.‹«

Er ließ die Hände sinken. »Aber das wär alles gar nicht nötig gewesen. Die ganze Stadt hat noch von Ermengarde geredet – Gott sei ihrer armen Seele gnädig – und von den bevorstehenden Scheiterhaufen, allerdings ohne große Begeisterung, wenn ich das so sagen darf. Ist kein beliebter Mann, dieser Bischof von Aveyron. Es ging viel darum, ob Ihr nun in den Zellen unten, die auch nicht sehr beliebt sind, oder im Turm eingesperrt wärt. Am Ende wussten wir von jedem Mauseloch im Palast.«

Wer bist du?, dachte Adelia. Den flüchtigen Hinweis auf Ermengarde und ihren Feuertod hatte der Ire geradezu leichthin gemacht, und überhaupt wirkten seine Erklärungen fast so, als wäre ihre Rettung aus einer Laune heraus erfolgt. Dabei verlangte das, was er getan hatte, eine Entschlossenheit, die kaum zur Unverbindlichkeit ihrer bisherigen Bekanntschaft passte. Er hatte sie unter beträchtlicher Gefahr für sich und Deniz aus dem Kerker geholt.

So stellte sie denn die für sie so augenfällige Frage: »War es der Bischof von St. Albans, der Euch geschickt hat? Wo ist er?«

»In Italien, Mylady.« O’Donnells Blick glitt zu ihr. »Er ist direkt weiter in die Lombardei, wie von König Henry befohlen. In Palermo stößt er wieder zu uns. Wenn er’s überlebt.«

Ulf sagte: »Er weiß also nicht mal …?«

»Von Eurer Entführung? Nein. Er denkt immer noch, Ihr seid auf dem Weg zurück nach England. Und wer soll ihm was anderes erzählen …?« Sein Blick glitt wieder zu ihr. »Obwohl ich sicher bin, wenn er von der Sache erfahren hätte, wäre er spornstreichs hergeeilt, um Aveyron was auf die Ohren zu geben und Euch da herauszuholen.«

Ulf fragte, warum das Bischof von Winchester das nicht getan habe, warum man sie im Stich gelassen habe … irgend so etwas. Adelia hörte nicht mehr zu.

Sie stand auf und wanderte zum Höhlensee. Sie zog die Schuhe aus, von denen einer durchgelaufen war – ekelhaft waren sie beide – und trat ins flache, eisige Wasser.

Der König zuallererst und vor allen anderen. Niemals sie. Ich hätte sterben können. Ihre tiefe Verbitterung mochte ungerecht sein – Rowley hatte von der Gefahr, in der sie sich befunden hatten, nichts gewusst – aber sie spürte sie, Gott, wie sie diese Verbitterung spürte.

Ich hätte sterben können, und dass ich nicht gestorben bin, und auch die anderen nicht, verdanke ich einem mir praktisch fremden Menschen.

Reglos stand sie da, bis sich das Wasser wieder ganz beruhigt hatte, und so schwach das Licht auch war, konnte sie sich in der glatten Oberfläche doch erkennen.

Wie sie nur aussah! Ihr Haar war wie Brombeergestrüpp und das Gesicht darunter von Schmutz und Verzweiflung entstellt. Was war mit dem Tuch, das Ermengarde ihr geliehen hatte?

»Nur Mut gefasst!«, sagte der Ire, der zu ihr herübersah. »Wir sind schon halb in Palermo.«

Nicht nach Palermo. Ich will zu Allie. Den Blick immer noch aufs Wasser gerichtet, sagte sie: »Ich weiß nicht, warum Ihr getan habt, was Ihr getan habt, aber ich danke Euch dafür. Im Namen von uns allen danke ich Euch aus tiefstem Herzen.«

Er wandte sich ab. »Ihr werdet ein neues Paar Schuhe brauchen«, sagte er.

 

Wolf bellt in Scarrys Kopf. »Wie sind sie entkommen? Wohin ist sie?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Hör auf, Geliebter! Du tust mir weh.«

Es sind die Würmer. Sie winden und zwängen sich durch Löcher in seinem Hirn, er kann nicht denken vor Schmerz.

»Du hast es versprochen.«

»Katharer müssen sie befreit haben.«

»Finde sie! Zerstöre sie! Ich bin du, und du bist ich, für immer. Homo homini lupus.«

»Ich werde es, ich werde es. Wirst du Frieden geben, wenn ich es tu?«

»Oh ja, dann leben wir beide in Frieden.«

Aber die Würmer hören nicht auf zu krabbeln, was Scarry auch tut. Am liebsten würde er sich den Kopf abreißen.

 

Deniz machte ihr Schuhe. Sein Maultier trug ein wahres Füllhorn auf seinem Rücken, aus dem der kleine Türke eine große Nadel zog, geölten Faden, Leinen und ein Stück Leder.

Schon machte er sich an die Arbeit, und die geflohenen Gefangenen taten ihr Bestes, sich zu reinigen. Während die Männer mit pflichtbewusst abgewandten Blick vor dem Höhleneingang warteten, zogen sich die beiden Frauen aus und benutzten den See als Waschzuber für sich und ihre Kleider. Adelia versuchte Boggart zu überreden, ganz unterzutauchen, wie auch sie es tat, aber das Mädchen blieb mit Ward am Rand, wusch sich und schob ihre Schwangerschaft vor. »Wär ’n Schock fürs Baby, Missus.«

Vielleicht hatte sie recht. Das Wasser war sehr kalt, aber für Adelia bedeutete die Kälte ein Art Taufe, eine Reinigung nicht nur ihres Körpers, sondern auch ihrer Seele, wenigstens teilweise.

Woran immer es lag, sie stieg mit neuer Entschlossenheit aus dem Wasser. Ich lebe und werde gottverdammt auch am Leben bleiben. Ich schaffe es zurück zu Allie.

Seife gab es keine im Maultiergepäck, was die Kleiderwäsche weniger erfolgreich machte. Auch geschrubbt und in der Sonne getrocknet, waren die Kleider der Geretteten nur ein ärmlicher Ersatz für ihre gewohnte Ausstattung. Die Schärpe, die O’Donnell Adelia gab, damit sie sich eine Schlinge für ihren Arm daraus band, hob sich wahrhaft prächtig von Rest ihrer Kleider ab.

Er holte auch einen alten Umhang mit Kapuze hervor, unter der Mansur seinen ruinierten Kopfputz verstecken konnte, den er keinesfalls ablegen wollte.

»Umso besser, wenn man uns in diesem Aufzug sieht«, sagte O’Donnell, als alle wieder ganz bekleidet waren. »Pilger in Lumpen auf dem Weg nach Compostela, mit nichts als einem Kreuz in der Tasche, um den Teufel vom Tanzen abzuhalten, wie meine alte Großmutter immer sagte.«

Er wollte sie nicht länger als zwei Tage in der Höhle rasten lassen. »Denn wenn ich sie kenne, kennen sie unsere Verfolger vielleicht auch.«

Aber woher kannte der Ire die Höhle? Ulf, der lange und eingehend mit O’Donnell geredet hatte, grinste, als Adelia ihm diese Frage stellte. »Er ist im Schmugglergeschäft, Missus, habt Ihr das noch nicht begriffen? In diesen Höhlen finden sich nicht nur entflohene Gefangene.«

Ein Mann verschiedener Aktivitäten also: Flottenbesitzer, Transporteur von Kreuzfahrern, Schmuggler, Mörder und Erretter …

Er verwirrte Adelia. Trotz allem, was sie ihm verdankte, fühlte sie sich in seiner Gesellschaft immer noch unwohl. Die anderen nicht. Für sie war er ein Engel, dem allein die Flügel fehlten.

Mansur, der sie nur zu gut kannte, sagte leise: »Er musste die Wachen zum Schweigen bringen, Delia, und es gab keine andere Möglichkeit, als es mit dem Messer zu tun.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich wünschte nur …«

Sie ließ zu viele Tote hinter sich zurück.

Ulf fragte den Iren nach den Einzelheiten dessen aus, was in Figères geschehen war, und kam anschließend zu Adelia gestürmt, die sich gerade etwas ausruhte.

»Habt Ihr das gehört? Sie haben uns verleugnet. Verdammte Judasse, allesamt. Sie haben Nachricht nach Aveyron geschickt, dass wir nicht zu ihnen gehören. Nicht zu ihnen gehören.« Ulf platzte fast vor Wut. »Glaubt Ihr es mir jetzt endlich? Da fädelt einer was Übles ein.«

»Gut, sie hätten sich zur Sicherheit vielleicht selbst überzeugen sollen, sind aber bestimmt davon ausgegangen, dass Mansur, Boggart und ich bereits auf dem Weg zurück nach England waren. Sie konnten nicht erwarten …«

»Sich vielleicht überzeugen sollen? Um Haaresbreite hätten sie uns alle verbrennen lassen, und zwar mit Absicht.«

»Nein«, sagte Adelia mit fester Stimme. »Was immer da geschehen ist, beabsichtigt war es sicher so nicht.«

Die Schultern des Jungen sackten zusammen. Er schickte einen verzweifelten Blick zu den anderen hinüber und ließ sie allein.

In der zweiten Nacht machten sie sich wieder auf den Weg, im Licht des Mondes. Adelia hätte es lieber gehabt, wenn sie länger ausgeruht hätten, um Boggarts, wenn schon nicht um ihrer selbst willen. Aber O’Donnell bestand darauf, dass sie weiterzogen, weil sich Aveyrons Männer womöglich daran machten, die Höhlen der Gegend zu durchsuchen.

»Unser guter Bischof lässt sich nicht so einfach seiner menschlichen Fackeln berauben. Er will seinen eigenen Kreuzzug führen und dem Papst ein Exempel statuieren.«

»Wohin ziehen wir?«

»Weit weg, in ein Dorf, das ich kenne. Es liegt in der Nähe der Küste.«

Wenn sie diesmal auch nicht vorangezerrt wurden und abwechselnd reiten konnten, war das Gehen doch so beschwerlich wie in der Nacht, als sie nach Aveyron verschleppt worden waren. Das Mondlicht täuschte und ließ sie stolpern, die Berge wurden steiler.

Adelia gewöhnte sich nur schwer an Deniz’ Schuhe. Sie mochten ja ein Wunder an Erfindungsgabe sein, ein geformtes Stück Ledersohle, an die Segelleinen genäht war, das um ihre Knöchel gebunden wurde, sodass ihre Füße wie zwei wandernde Plumpuddings aussahen. Bequem waren sie ganz und gar nicht.

Tagsüber versteckte die Schar sich irgendwo in der Nähe eines Baches zwischen den Bäumen. Mansur, Rankin und Ulf hielten abwechselnd Wache, während der Ire, Deniz und die Hunde jagen gingen und die Frauen späte Kräuter suchten, um dem Wildragout etwas Geschmack zu geben. Danach schliefen sie bis Sonnenuntergang, bevor sie erneut aufbrachen.

Irgendwann dann entschied O’Donnell, dass sie außer Reichweite von Aveyron seien und auch bei Tag reisen konnten. »Im Übrigen wird es Zeit, dass ich einen Abstecher in die Zivilisation mache«, sagte er, »und uns ein paar zusätzliche Pferde besorge.«

»Die Zivilisation.« Adelia ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Ich könnte uns ein paar neue Kleider kaufen.« Aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie kein Geld hatte. Ihre Börse hatte in Ermengardes Haus gelegen, zusammen mit ihrer Arzttasche.

»Ich reite allein«, sagte der Ire. »Das geht schneller. Was die Kleider betrifft, werde ich sehen, was ich tun kann, allerdings bezweifle ich, dass es in dem Flecken, den ich im Sinn habe, viel Modisches gibt.«

»Danke«, sagte sie knapp. Sie war noch nie von Männern abhängig gewesen, nicht mal von Rowley, und sie hasste es, dass sie jetzt auf diese Weise O’Donnell ausgeliefert war, dem sie bereits so viel verdankte.

Er ritt am nächsten Morgen weg, nahm das zweite Pferd mit und kam erst abends auf einem zottigen schwarzen Pony zurück, sechs weitere an einer Leine hinter sich. »Lauter Mérens-Pferde«, sagte er. »Gibt nichts Kräftigeres für die Berge.« Dazu hatte er einige Sack Hafer gekauft, zwei unförmige, schwere Wollkittel für Adelia und Boggart – »es gab nichts anderes« – und ein paar ähnlich dicke Umhänge, zottig wie die Ponys, für die anderen. »Die können wir brauchen. Es wird kalt werden.«

Er hatte recht. Tagsüber hielten sie die Umhänge und der Dampf warm, der von den Ponys aufstieg, aber nachts sank die Temperatur bis nahe an den Gefrierpunkt. Wenigstens konnten sie jetzt große, prasselnde Feuer entfachen. Es gab weit und breit niemanden, der sie hätte sehen können.

Adelia hätte niemals geglaubt, dass es hier so viel unbewohntes Land gab. Gelegentlich sahen sie in der Ferne einen Schafhirten und hörten das Spiel einer Flöte, aber das war alles.

Die Landschaft bekam etwas Dramatisches, fiel in verlassene, abgelegene Täler ab und stieg gleich wieder zum Himmel auf, zu wilden Felsformationen, die aus dichtem Gras auftauchten, wie die Glatze eines Mannes aus seinem verbliebenen Haarkranz. In Bergmulden gab es ruhige kleine Seen, in denen sich Wolken, Himmel und kreisende Adler spiegelten.

Sie legten keine Pausen ein, ließen nur die Ponys hin und wieder grasen. Es gab keine Straßen oder Wege, wenn sie mitunter auch einem Pfad zu folgen schienen, der aus abgetretenen, eng gesetzten Steinen bestand, und Adelia fragte sich, ob sich hier vielleicht ein altes Volk einen Weg zur Küste gebaut hatte.

Sie wurden abgehärtet, und ihre körperliche Verfassung besserte sich in überraschender Weise, selbst Ward schien voller neuer Energie. Rankin wirkte wie neugeboren, pfiff vor sich hin und sang Lieder aus den Highlands, an die ihn die Landschaft erinnerte. »Hier geht’s mir gut«, brummte er. »Jepp, hier geht’s mir gut, ’n Schlückchen Usquebaugh, und der König ist mein Onkel.«

»Das ist ein Fusel, den sie in Schottland trinken, sagt er«, erklärte Ulf Adelia. »Aus Torfwasser gemacht. Gott, hilf uns.«

Adelias größte Sorge galt Boggart, die, wenn es Zeit war, von den Ponys zu steigen und sie am Zügel zu führen, damit sie ausruhen konnten, langsam den leichten Watschelgang einer Hochschwangeren entwickelte.

Dem Iren blieb das nicht verborgen. »Wann soll das Baby kommen?«, fragte er, als Adelia und Boggart neben Ulf hergingen.

»Ich weiß es nicht, und sie weiß es auch nicht. Könnte in diesem Monat sein, vielleicht aber auch erst im nächsten.« Adelia wurde bewusst, dass sie ihr Gefühl für die Zeit verloren hatte. »Was für ein Datum haben wir eigentlich?«

Er schob sich die Kappe zurück, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und rechnete. »Muss verdammt bald der Tag der heiligen Cäcilia sein.«

Fast Ende November. Und sie ritten nach Süden, weiter und weiter von Allie weg. »Können wir keine richtige Straße benutzen? Warum müssen wir in diesen verflixten Bergen bleiben?«

Er zuckte mit den Schultern. »Zum einen, Eure Ladyschaft, gibt es hier nur eine Straße, und die führt direkt nach Toulouse, das wir umgehen wollen, weil, wenn Prinzessin Joannas Prozession Figères verlassen hat, was sicher der Fall ist, sie da durchkommen wird, und ich will nicht auf sie treffen. Zum anderen liegt unser Ziel nun mal in den Bergen, und der Pfad, auf dem wir uns bewegen, bringt uns da so schnell hin wie sonst nichts.«

»Was macht es, wenn wir auf die anderen treffen? Warum können wir uns dem Zug nicht wieder anschließen?«

»Weil Ihr einen Feind im Unterholz habt«, mischte sich Ulf jetzt geduldig ein, »und bis der da nicht verscheucht ist, gehen wir keine Risiko mehr ein, hab ich recht, Admiral?«

»Wo der Junge recht hat, hat er recht, Lady«, sagte O’Donnell. »Es hat zu viele böse Zufälle gegeben, und ein guter Lauf ist immer noch besser als ein schlechter Stand, wie meine alte Großmutter zu sagen pflegte. In Gottes Namen, was macht Ihr da, Frau?«

Adelia war wieder mal gestolpert. »Ich liege mit dem Gesicht im Gras«, schimpfte sie. »Und was macht Ihr?«

Sie sah seine weißen Zähne aufblitzen, als er ihr seine Hand entgegenstreckte, um ihr aufzuhelfen, und plötzlich hatte sie genug. Sie fühlte sich aus der Welt gefallen, allesamt waren sie aus der Welt gefallen und würden auf ewig weiter durch diese Berge ziehen und in ihnen sterben.

Sie hämmerte mit den Fäusten auf den Boden und bekam einen Wutanfall. »Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich weiß nicht, wohin wir unterwegs sind. Ich will hier nicht sein. Ich hasse dieses verdammte Land, es ist grausam, und ich hasse es. Ich hasse alles. Ich will zu meiner Tochter. Oh Gott, was mache ich hier? Ich will nach Hause.«

Es war Mansur, der sie hochhob und wegführte. Er setzte sie auf einen Felsen, kniete sich vor sie hin und wischte ihr die Tränen ab. »Du bist grob zu ihm«, schalt er sie. »Keiner von uns würde ohne ihn hier sein. Allah, der Gnädige, hat uns diesen Mann geschickt. Ohne ihn wären wir Ermengarde ins Feuer gefolgt.«

Sie beugte sich vor und vergrub das Gesicht in der rauen, stark riechenden Wolle seines Umhangs. »Ich will nach Hause, Mansur.«

»Ich weiß.« Er ließ sie sich ausweinen und streichelte und tröstete sie, wie sie Ward streichelte und tröstete, wenn er Angst hatte.

Endlich hob sie den Kopf. Über die Schulter des Arabers hinweg konnte sie Rankin zum Himmel aufblicken sehen, als spielte sich dort oben etwas äußerst Interessantes ab. Deniz hatte einen Futterbeutel aus dem Gepäck des Maultiers geholt, damit die Ponys etwas Hafer fressen konnten. O’Donnell sah ihm zu und kaute auf einem Grashalm.

Boggart und Ulf starrten sie entgeistert an, und sie dachte, wie gut die beiden doch waren. Abgesehen von Ulfs Jammern um Excalibur, hatten sie keinerlei Wehleidigkeit gezeigt. Sie schämte sich.

»Es tut mir leid«, sagte sie mit triefender Nase.

Mansur legte ihr eine Hand auf die Schulter: »Wenn du einbrichst, tun wir es alle.«

Sie küsste ihn müde und stand auf. »Ich breche nicht ein, ich bin nur etwas mitgenommen.«

Sie ging zu O’Donnell. »Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal. »Es kommt nicht wieder vor.«

Er nahm den Grashalm aus dem Mund. »Ich bringe Euch nach Hause«, sagte er ruhig. »Aber erst muss ich meine Schuldigkeit Henry und seiner Tochter gegenüber tun, das ist meine Pflicht.«

»Ich verstehe.«

»Der Plan sieht so aus. Ich bringe Euch fünf in diesem Dorf unter, dann reiten Deniz und ich nach Saint-Gilles. Da liegen meine Schiffe, aber meine Kapitäne setzen erst die Segel, wenn ich es ihnen sage.«

Sie nickte.

»Wenn Joanna bereits da ist, schicke ich sie und ihr Gefolge nach Palermo. Wenn sie noch nicht da ist, gebe ich meinen Kapitänen den Befehl, in See zu stehen, sobald sie auftaucht. In beiden Fällen komme ich anschließend zurück zu Euch. Wie klingt das?«

Der Himmel leuchtete plötzlich wieder heller, und irgendwo trällerte ein Buchfink, ganz wie in England. Die Welt wirkte wie zurechtgerückt.

Sie lächelte ihn an. »Ich schäme mich«, sagte sie.

»Nicht nötig.« Mit einem Ruck stand er auf und ging hinüber zu Deniz, um ihm mit den Ponys zu helfen.

»Iss er nich’ wunderbar, Missus?«, flüsterte Boggart.

»Ja«, sagte Adelia und meinte es auch so. Plötzlich musste sie grinsen. »Aber wenn er noch einmal seine alte Großmutter erwähnt, bringe ich ihn um.«