Kapitel dreizehn

Adelia, Mansur, Ulf und Boggart mit ihrem Baby auf dem Arm standen in der Menge an der Straße zum Tor von Palermo, um Joanna in die Hauptstadt ihres neuen Königreichs einziehen zu sehen, wo sie ihr Bräutigam empfangen würde, umgeben von den Nobilitäten des Landes und dem Klerus in pfauenblauen Gewändern.

Die Prinzessin wurde von Richard begleitet, dessen Größe sie noch kleiner erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Ulf hielt nach Excalibur Ausschau, aber das Schwert in Richards juwelenbesetzter Scheide war keinesfalls das von König Artus.

Ausnahmsweise einmal richteten sich alle Augen auf die Prinzessin und nicht auf ihren Bruder. Die Hofdamen hatten sie in mit Perlen besetztes Gold gekleidet, ein Diadem umfasste ihr langes, helles Haar, und sie hielt den Kopf aufrecht auf dem kleinen Hals und lächelte.

Als Joanna an ihr vorbeikam, hätte Adelia weinen können. So tapfer und so winzig. Wie Ulf mit Tränen in den Augen sagte: »Diese Dreckskerle behandeln sie besser gut.«

Es sah ganz so aus, als würden sie es tun. Die Menschen standen zwölf Reihen tief die Straße entlang, riefen ihrer neuen Königin mit lauten Jubelrufen vermischte Segenswünsche zu und streuten Lorbeerblätter vor die vergoldeten Hufe ihrer anmutigen Schimmel.

Voran liefen die Trompeter, silberglänzend, mit Wappen auf Brust und Rücken. Hinter ihr ritten Petronilla und Beatrix, hübsch und ein einziges Lachen, dann Blanche, ebenfalls hübsch, aber erschöpft, der Bischof von Winchester und seine Geistlichen.

Dann kam O’Donnell in arabischem Gewand und mit einem das Gesicht bedeckenden weißen Kopfschmuck. Es war die traditionelle Ausstattung eines sizilianischen Admirals, eine Ehre, die ihm für seine Dienste für das Land zuteil geworden war.

Auf ihn folgten die Ritter mit ihren Speeren, ihre Pferde mit purpurnem Zaumzeug und purpurnen Sätteln, dann Captain Bolt, seine Männer in der Plantagenet-Uniform, sowie die mit Messingbändern gefassten Truhen mit der Mitgift.

England erwies seiner Prinzessin alle Ehre.

Dann waren sie weg. Ein Biegung der Straße und das Gedränge der Menschen verweigerten Adelia einen Blick auf den König und eine Antwort auf die Frage, ob der Bischof von St. Albans mit im Empfangskomitee war.

Falls Rowley bereits auf der Insel angekommen war, hatte O’Donnell versprochen, ihm zu sagen, dass auch sie da sei und es ihr gut gehe. Was nett von dem Iren war, wenn er es auch ohne große Freude tun würde.

»Wo werdet Ihr unterkommen? Außer Sichtweite, hoffe ich.«

»Mein Pflegevater hat ein Haus für seine Besuche in Palermo. Im Harat al-Yahud, dem jüdischen Viertel.« Wie schön es war, das auszusprechen. »Dort bleiben wir bis zur Hochzeit.«

»Tut das.«

Er hatte es so eingerichtet, dass Adelia, Boggart, Mansur und Ulf vor allen anderen von Bord gehen konnten, und ihnen Deniz als Mittler mitgegeben. »Und achtet darauf, immer verschleiert zu sein, wenn Ihr ausgeht!«

Als sie in die wimmelnden Straßen Palermos tauchten, umfing sie das Gewirr der vier offiziellen Sprachen, die von überallher auf sie eindrangen, ihre Augen wurden von grellen Farben geblendet und ihre Nasen zogen sich unter dem Ansturm jedweder Art von Gestank vermischt mit jedweder Art von Parfüm zusammen. Sie mussten Händlern und Prostituierten beiderlei Geschlechts ausweichen – die einen wollten ihnen kandierte Mandeln und bunte Bänder verkaufen, die anderen hatten ganz andere Dienste anzubieten –, sahen sich endlosen Zügen von Maultieren und Eseln gegenüber, die Gewürze aus dem Osten oder Baumaterial aus dem Norden transportierten, widerstanden den Rufen der Ladenbesitzer und achteten darauf, dass ihnen die Geldbeutel, mit denen O’Donnell sie versorgt hatte, nicht von den Gürteln geschnitten wurden …

Für Adelia war es eine magische Welt. »Seht, seht! Der alte Tempel dort? Der ist griechisch. Mein Vater sagt, Archimedes hat darin gelehrt, wenn er nicht gerade in Syrakus war … Und das da ist das Wechselhaus, das die Straße der Duftmacher, riecht doch nur! … Und die Mühle dort drüben, könnte ihr sie sehen? Da machen sie Papier … Wartet einen Augenblick, ich muss etwas cassata kaufen, die wirst du mögen, Boggart. Mansur nennt sie quas’at, es ist ein arabischer Kuchen … Und sciarbat, Gott, ich hoffe, der alte Abdallah verkauft es noch. Er macht es aus Früchten, die er mit Bergschnee kühlt …«

Sie war wieder ein Kind, das mit seinen Eltern ein Heiligtum der Wunder besuchte. Damals hatte sie gedacht, alle Hauptstädte müssten wie diese sein. Heute wusste sie, dass Palermo die herrlichste, wohlhabendste Metropole der ganzen Welt war, und völlig einzigartig.

Aber sie betrat die Vergangenheit durch ein neues Tor. Sie war der Odysseus, der dem Gesang der Sirenen erlag, nicht der, der nach Ithaka zurückkehrte. Diese Stadt würde erst dann wieder ihr Zuhause sein können, wenn auch Allie und Gyltha bei ihnen und Mansur waren.

Nach Jahren der Dürre und Entbehrung verschwand der Araber in der ersten Moschee, die er sah, seit er und Adelia nach England aufgebrochen waren.

Während sie draußen auf ihn warteten, hielt Boggart den kleinen Donnell an sich gedrückt und sah ihre ersten Kamele: »Was beim Gnädigen iss das? Gott segne mich, wandernde Hügel!«

Vor allem Boggart und Ulf kamen aus dem Staunen kaum heraus, aber auch für die anderen war die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Stadt ein wahrer Balsam, nachdem sie am eigenen Leibe hatten erleben müssen, was Intoleranz und Unduldsamkeit anrichten konnten.

Manchmal blieben sie kurz stehen, um Menschen zu betrachten, die anderswo Todfeinde gewesen wären, hier aber friedvoll miteinander debattierten. Sie sahen einen Mann mit einem Kreuz auf der Jacke, offenbar auf dem Weg in die Levante, um Sarazenen zu töten, der einen Araber verwirrt nach dem Weg fragte, einen Kippa tragenden Juden im Gespräch mit einem barhäuptigen Mönch und einen griechisch-orthodoxen Priester mit wild hin und her wackelndem Hut, dem der Witz eines normannischen Ritters so gut gefiel, dass er sich vor Lachen kaum zu halten wusste.

»Es hat sich nichts verändert«, sagte Adelia glücklich.

»Doch, das hat es«, wiedersprach ihr Mansur. »Es gibt viel mehr christliche Kirchen und weniger Moscheen. Auch weniger Synagogen.«

Das war Adelia bis jetzt nicht aufgefallen, aber er schien recht zu haben. Das Läuten von den Kirchtürmen war lauter, als sie es in Erinnerung hatte, lauter als der Ruf der Muezzins.

Für Ulf und Boggart war die Mischung dennoch ein einziges Wunder. »Ich dachte, König Henry wäre liberal«, sagte Ulf. »So gut, wie er seine Juden behandelt. Aber das hier … Wie konnte das entstehen?«

»Die Normannen«, erklärte Adelia ihm. »Die Normannen waren hier.«

Starrköpfige, unbarmherzige Abenteurer waren sie gewesen.

Und genial.

Von einer Gruppe landhungriger Brüder angeführt, den Hautevilles, hatten sie Sizilien und Süditalien unterjocht und der arabischen Herrschaft entrissen. Gleich anschließend jedoch machten sie die Araber zu ihren Beratern. Zwietracht kostete Geld und Menschenleben, ergo sorgten die Hautevilles dafür, dass es in ihrem Reich keine Bürger zweiter Klasse gab, die Ärger hätten verursachen können, und so schufen sie ein Königreich, das alle anderen Reiche überstrahlte, genau wie der Sirius alle anderen Sterne am Nachthimmel mit seiner Helligkeit in die Schranken verweist.

»Allerdings«, sagte Adelia, »ist es ein flüchtiges Gemisch.« Die Sizilianer neigten zu plötzlichen Gewaltausbrüchen und schrecklichen Vendettas, und hin und wieder wurde sogar ein Minister ermordet, nicht wegen seiner Hautfarbe oder Religion, sondern weil er sich unbeliebt gemacht hatte. »Es gibt hier genug kleine Gassen, die nachts nicht sicher sind, nicht mal bei Tage, um ehrlich zu sein.«

Erlaube nur, dass es besser wird, oh Gott! Lass es auf ewig so fortbestehen.

Endlich erreichten sie den mächtigen torlosen Bogen des Harat al-Yahud – wofür hätten die Juden ein Tor gebracht? – mit einem in Stein gemeißelten Davidstern.

Adelia spürte, wie sie zitterte. Hinter dem Bogen lag eine weitere der vielen Welten Siziliens, ihre Welt, die nach Hennablüten und Kümmelsamen roch, nach sämtlichen Gewürzen aus dem Lied Salomons. Kinder liefen Fangen spielend um Männer mit schwarzen Hüten und Schläfenlocken herum, die sich über Schachbretter beugten, Heiratsvermittler besprachen sich mit Schwiegertöchter suchenden Vätern bei koscherem Wein, und aus den Synagogen drang das Schemone-Esre-Gebet.

Es war eine Welt der Güte: Als Tochter eines angesehenen Arztes war sie von überallher gesegnet worden, ganz zu schweigen von den abricotines und barfi badams, die ihr von den Süßigkeitenverkäufern zugesteckt worden waren, an denen sie vorbeikam.

Sie fasste Mansurs Arm, als sie in eine Straße mit eng zusammengedrängten Häusern bogen. »Sie könnten hier sein, sie könnten. Vielleicht sind sie für die Hochzeit gekommen.« Sie wandte sich an Deniz und zeigte auf ein Haus: »Dort werden wir wohnen.«

Mehr hatte der Türke nicht wissen wollen und schon eilte er zurück zum Admiral.

Aber die Tür, die Doktor Gershoms und Doktor Lucias Patienten, den begüterten wie den mittellosen, immer offen gestanden hatte, wenn sie in der Stadt waren, diese Tür war verschlossen, genau wie die Fensterläden.

Zärtlich berührte Adelia die Mesusa in der kleinen vergitterten Nische im Türpfosten. »Sie sind nicht hier.« Sie hätte heulen können.

Da kam ein Ruf von nebenan: »Adelia Aguilar! Bist du es, Kleines?« Und schon wurde sie von dicken Armen und Küchengeruch umhüllt. »Schalom, mein Kind! Welche Gnade du bist für meine alten Augen. Aber so dünn, was haben sie mit dir gemacht, diese Engländer?«

Was für ein Trost. »Schalom, Berichiyah! Wie schön, dich zu sehen! Wie geht es Abrahe?« Sie stellte die Frau vor. »Das ist Berichiyah uxor Abrahe de la Roxela, eine alte Freundin. Sie bewahrt den Schlüssel zu unserem Haus auf und kümmert sich während der Abwesenheit meiner Eltern darum.«

Berichiyah war kaum anders gekleidet als die übrigen ehrbaren Frauen Siziliens. Hier wie auch überall sonst nahmen die Juden die Kleidungsgewohnheiten des Landes an, in dem sie lebten. Der Kinnriemen einer steifen Leinenhaube umrahmte die Falten ihres Gesichts, und über dem Mieder ihres Kleides wölbte sich ein enormer Busen. Der Rock war mit einer Nadel hochsteckt und ließ den Unterrock sehen. Dennoch hätte sie niemals jemand für etwas anderes als eine Jüdin gehalten, und wenn doch, wäre sie beleidigt gewesen.

»Sind sie nicht hier, Berichiyah?«

»Sie haben geschrieben, dass sie vielleicht kommen, vielleicht aber auch nicht.«

Diese Vielleichts hatten etwas Angst Machendes, das Adelia gleich fragen ließ: »Sie sind doch nicht krank?«

»Nein, nein, nicht krank. Als sie zuletzt geschrieben haben, ging’s beiden gut.« Berichiyah wechselte das Thema. »Warte, ich lasse dich hinein. Wie lang seid ihr hier? Ich hoffe, lange genug, dass ich etwas Fleisch auf deine Knochen bekomme.«

Sie verschwand und kam mit einem Schlüssel zurück. »Geht hinein, geht hinein! Alles ist sauber, und die Betten sind gelüftet. Ich hole Rebekkas Wiege für das Baby, ihr Juceff ist herausgewachsen. Wir haben jetzt zehn Enkelkinder, Adelia. Sechs Jungen und vier Mädchen. Und einen Großenkel, unser Benjamin hat im letzten Jahr die Tochter des Axtmachers geheiratet …«

»Geht es Abrahe gut?«, fragte Adelia noch einmal.

»Nicht gut, gar nicht gut, mein Mädchen. Der arme Mann hat die Gicht, und selbst dein Vater kann nichts für ihn tun.«

Berichiyahs Mann war vor Jahren schon heftig erkrankt und hatte seiner Frau das Lesen beigebracht, damit sie das Dattelimportgeschäft weiterführen konnte, das er von seinem Vater geerbt hatte. Seitdem musste sie für den Unterhalt der Familie sorgen, die vielen Kinder großziehen und gleichzeitig das Bild erhalten, dass er nach wie vor das, wenn auch leidende, Oberhaupt der Familie war.

»Ihr müsst erschöpft sein und wünscht euch sicher eine ruhige Nacht. Ich werde euch etwas Ziegeneintopf bringen, genug für euch alle. Du erinnerst dich doch an meinen Ziegeneintopf, Adelia? Morgen Abend esst ihr bei uns.«

 

Das Glück blieb ihnen jedoch versagt.

Immer noch in ihren Schaffellmänteln aus Caronne waren sie am nächsten Tag die so dringlich benötigten neuen Kleider kaufen gegangen. Adelia hatte den Markt in La Kalsa vorgeschlagen, dem Arbeiterviertel Palermos, wo es neue Gewänder und Turbane für Mansur gab und sich auch Adelia, Boggart und Ulf neu ausstatten konnten. Auch für Donnell würde es frische Tücher und ein neues Umhängetuch geben. Und das alles für nicht viel Geld.

Sich von Admiral O’Donnell Geld zu leihen war Adelia schwergefallen, aber er hatte gesagt: »Ganz ruhig, das stelle ich König Henry in Rechnung.«

»Oh, das wird er mögen.«

Als Boggart die bunten, gebrauchten Röcke an einem Stand durchsehen wollte, hielt Adelia für eine Weile Donnell, wobei ihr Blick auf die Bude daneben fiel. Donnell an sich drückend, verfolgte sie das Spiel von vier Marionetten, die von unsichtbaren Spielern über eine winzige Bühne bewegt wurden. Palermo war berühmt für seine Marionetten. Ihre Pflegeeltern hatten ihr als Kind eine gekauft, einen hölzernen, bemalten kleinen Ritter, den sie beim Spiel kaputt gemacht hatte.

Hier gab es auch einen Ritter, wahrscheinlich den großen Helden Roland von Roncesvalles, der sein Schwert laut krachend mit einem furchterregend aussehenden Mauren kreuzte. Adelias Bick wurde jedoch nicht von den beiden Kämpfern angezogen, sondern von einem lustigen Maultier und einem Kamel, die sich seitlich auf der Bühne jagten, wild um sich traten und die Mäuler aufrissen.

Die wären etwas für Allie.

Die Frage war, ob sie noch mehr Geld des Iren ausgeben sollte, um die beiden Figuren für ihre Tochter zu kaufen.

»Aber wenigstens eine, was meinst du, Donnell?«, fragte sie das Baby, dessen Blick auf die beiden hüpfenden Puppen geheftet war. »Das Kamel? Das Maultier?«

In diesem Moment schob jemand etwas zwischen Donnells Tuch und ihren Arm.

Sofort fuhr ihre Hand zum Geldbeutel an ihrem Gürtel, der aber noch da war, und sie fuhr herum und sah den Rücken eines schäbig aussehenden Mannes in der Menge verschwinden.

»Was ist, Missus?«, fragte Ulf.

Es war ein Stück Papier, etwas, das in England praktisch noch unbekannt war, verschlossen mit zwei Tropfen ungestempelten Siegelwachses.

An Mistress Adelia von ihrer Freundin Blanche von Poitiers, mit Grüßen. Kommt ins »Schild von Jerusalem« in der Straße der Silberschmiede, in einer Stunde!

Die Schrift war verschlungen und doch fließend. »Ich dachte nicht, dass Blanche schreiben kann«, sagte Adelia, nachdem sie die Zeilen laut vorgelesen hatte.

»Kann sie auch nicht«, sagte Ulf. »Der Brief ist von Scarry, ganz sicher. Er will Euch in den Tod locken, nichts anderes.«

Ulf musterte argwöhnisch alle Männer, die ihnen einen Seitenblick zuwarfen, und legte die Hand auf das Heft seines Schwertes, ein weiteres Geschenk von O’Donnell.

»So schnell würde er uns nicht finden. Ich gehe besser hin, Joanna könnte mich brauchen.«

»In einer verdammten Taverne?«

»Du gehst nicht ohne mich«, sagte Mansur.

»Und mich.«

»Und mich.«

Adelia sah Boggart an. »Das Baby können wir kaum mitnehmen.«

»Ich lass ihn nich allein, und Euch auch nich.« Und dann fügte sie noch hinzu: »Und Ward lassen wir auch nich alleine hier.«

Na, dann …

Das »Schild von Jerusalem« stand, oder besser: lehnte an der Ecke einer Gasse am Ende der Straße der Silberschmiede, die völlig verlassen dalag. Nur ein einsamer Geier hackte energisch auf den Kadaver einer toten Katze ein. Das Haus sah eigentlich nicht wie eine Taverne aus, mehr wie ein Schuppen, der abgerissen werden sollte. Das Kreuz der Kreuzfahrer auf dem Schild war kaum noch erkennbar, die Farbe fast ganz davon abgesprungen, genau wie von den fest verrammelten Fensterläden.

Mansurs Hand legte sich an den Dolch in seinem Gürtel. Ulf zog sein Schwert. »Ich denke, der Laden läuft nicht gerade bestens«, sagte er.

Ward machte den halbherzigen Versuch, den Geier zu verjagen, gab aber auf, als der ihn ignorierte.

Der Mann, der auf Mansurs Klopfen hin die Tür öffnete, war sicher nicht der Wirt. Auf seinem Wappenrock rissen zwei goldene Löwen zwei Kamele: Das war das Wappen der sizilianischen Könige seit ihrer Unterwerfung der Moslems. Er trat ein Stück zurück und bat sie mit einer Verbeugung hinein. »Mistress Adelia?«

»Ja.«

Er nahm die brennende Laterne von einem staubigen Tisch und öffnete die rechte Hand, um Adelia einen Ring zu zeigen.

Sie nickte und wandte sich an die anderen. »Es ist der von Blanche.«

»Und wer seid Ihr?«, wollte Ulf wissen.

»Ich bin Euer Führer. Seid so gut und folgt mir!« Der Mann sprach normannisches Französisch mit einem sizilianischen Akzent. Er deutete auf eine offene Falltür und ein paar Stufen, die ins Dunkel führten.

»Wir gehen nirgends hin, wenn wir nicht wissen, wohin«, sagte Ulf.

»Wirklich? Es heißt, Mistress Adelia hat einen Feind und es ist besser, es bleibet unbekannt, wo sie ist. Folgt mir!«

Die Stufen waren glitschig. Ulf, das Schwert immer noch in der Hand, ging als Erster, gefolgt von Mansur, dem Adelia das Baby reichte, um Boggart helfen zu können. Die beiden mussten warten, bis auch Ward mehr schlecht als recht nach unten gelangt war.

»Das iss aufregend, Missus, meint Ihr nich’?«, sagte Boggart nervös.

Das Mädchen war so tapfer. Adelia konnte nur beten, dass sie es nicht wieder in Schwierigkeiten brachte. Diese Passage mochte wie aus Tausendundeiner Nacht sein, konnte sie aber auch zu einem Sultan bringen, der voller Wut darüber war, eine verunstaltete Braut bekommen zu haben.

Es war ein langer Tunnel, an dessen Ende es über ein paar Stufen hinauf in einen von Mauern umgebenen Garten mit einem vergitterten Tor ging, das von furchterregenden Wächtern mit Turbanen, weiten Hosen und Krummsäbeln bewacht wurde.

Mistress Blanche wartete auf sie. Die Ärmste zitterte vor Aufregung. »Er sagt, er empfängt euch, Adelia. Ich habe ihm nichts verraten, nur dass Ihr der Prinzessin das Leben gerettet habt. Er kann sich gut an Euren Vater erinnern. Wenn Ihr es ihm erklärt, ihm sagt, dann vielleicht …«

»Ich soll ihm was erklären?«

Blanche fasste Adelia mit beiden Händen um den Hals, als wollte sie sie schütteln, zog sie stattdessen aber an sich heran und zischte ihr ins Ohr: »Die Narbe, Frau, die Narbe! Überredet ihn, bettelt ihn an, erklärt ihm, wie entzückend und schön die Prinzessin ist!«

»Aber sie ist doch schön und entzückend.«

»In Euren Augen, er aber erwartet Vollkommenheit.« Sie ließ sich zurücksinken und bekreuzigte sich. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn er sie zurückweist. Heilige Maria, Muttergottes, lass es ihn verstehen!«

Der Führer bedeutete ihnen, sich zu beeilen. Blanche würde, wie es schien, nicht mitkommen. In dem Fall, entschied Adelia, sollten Boggart und das Baby bei ihr bleiben. Was immer ihr bevorstand, die beiden mussten nicht Teil daran nehmen. »Kümmert Euch um Boggart und Donnell«, sagte sie zu Blanche, »und um Ward!«

Blanche nickte und drückte Adelias Hände, als zöge diese in einen Krieg, und dann wandte sie sich ab und betupfte sich die Augen.

Auf ein Nicken des Führers hin öffneten die Wächter das Tor, und sie kamen in einen Säulengang am Rande eines kleinen, mit Steinplatten belegten Hofes, einer Art Atrium mit einem plätschernden Brunnen in der Mitte.

Dann ging es in einen großen, mit sehr viel Blattgold geschmückten Raum in Begleitung weiterer furchterregender, aber zuvorkommender Wächter und durch etliche Räume mehr bis zu einem letzten, aus dem ein Geräusch wie von Tausenden zwitschernden Vögeln drang. Als wäre es eine riesige Voliere.

Adelias Blick traf den Mansurs. Sie wusste, was sich hinter dieser Tür befand. Die Könige von Sizilien mochten Normannen sein, aber diese arabischste aller Traditionen hatten sie sofort angenommen und führten sie offenbar immer noch weiter.

Die Tür wurde geöffnet, und vor ihnen tat sich ein enorm großer Raum voller Frauen auf, einige von ihnen waren schon etwas älter, die meisten aber jung und olivfarben, alle wunderschön und in sich bauschender Seide, denn die Luft draußen vor den fein gearbeiteten Fenstergittern war kalt diese tropischen Vögel aber mussten warm gehalten werden, wozu nicht zuletzt etwa fünfzig ziselierte Leuchter und Kohlenbecken dienten.

Einige der Schönen lagen auf Diwanen, doch die meisten spielten, tanzten oder schlugen Räder. Der Führer blieb zurück, er würde keinen Schritt weiter gehen und fasste Ulf am Arm, dem der Mund vor Staunen aufgeklappt war. »Ihr nicht«, sagte er.

Mansur tätschelte Ulf den Kopf. »Das ist ein Harem«, sagte er, »und Ihr seid ein gesunder Mann. Wenn Ihr diesen Raum betretet, werden die Wächter Euch töten müssen.«

Ulf sabberte. »Das wär’s verdammt noch mal wert«, sagte er.

Er blieb zurück, und die Tür schloss sich vor ihm. Im Raum wurde es einen Moment lang still, als die Frauen Mansur erblickten, aber schon erwachte das Kaleidoskop zu neuem Leben, wurde er doch gleich als nichts anderes als ein weiterer Eunuch erkannt.

In einer Ecke arbeiteten ein paar junge Frauen an Seidenwebstühlen, was nicht so recht zu all dem Spiel und der Entspannung passen wollte, wenn sich die Webenden ihrer Arbeit auch voller Freude zu widmen schienen.

Ein großer Eunuch, der eine langhalsige Laute gespielt hatte, legte sein Instrument zur Seite und kam auf sie zu. Er berührte seine Stirn und seine Brust. »As-salāmu ’alaikum.«

»Wa-alaikumu s-salām«, antwortete Mansur.

Der Mann verfiel gleich in ein perfektes normannisches Französisch: »Lord, Lady, ich bin Sabir, Euer ergebener Diener. Und jetzt, Ihr Huldreichen, wenn Ihr mir bitte folgen würdet …« Er machte eine Handbewegung in Richtung einer der älteren Haremsdamen. »Raschida wird Lady Adelia begleiten.«

Adelia begann sich zu fragen, ob der König sie in einem der Gemächer empfangen würde, in die sonst ausgewählte Damen des Harems zu sexuellen Vergnügungen gerufen wurden, doch der Raum, den sie betraten, war ohne Samitvorhänge, ohne Diwane und erotische Darstellungen. Ein herrlicher, klauenfüßiger Schreibtisch stand in der Mitte, und drei Wände waren von Büchern und Schriftrollen verdeckt. An der vierten hing ein edler Wandteppich mit einer Jagdszene, die einen Wald voller Pfauen zeigte.

Es war das Arbeitszimmer eines normannischen Königs, nicht eines arabischen Sultans.

Hinter dem Tisch saß jedoch kein König, sondern ein Frosch. Die Kapuze seines Burnus umrahmte Züge mit der weichen, grünlichen Farbe eines Amphibiums. Entweder hatte der Kuss der Prinzessin das Märchen umgekehrt, oder das vor ihnen war nicht der König

Der Mann stand auf. Er war von gedrungener Gestalt, begrüßte Adelia und Mansur, bedeutete ihnen, sich auf zwei Stühle auf der anderen Seite des Tisches zu setzen, und grüßte sie ein weiteres Mal, jetzt in normannischem Französisch. Er lispelte ganz leicht.

»Darf ich mich vorstellen? In bin Jibril, der erste Sekretär von Musta’iz, dem Glorreichen, der in einer Minute zu uns kommen wird. Lord Mansur, es ist uns eine Ehre. Was Euch betrifft, Lady Adelia, so hat man Euch in diesem Königreich sehr vermisst. Der Gewinn des englischen Königs war unser Verlust. Nur mit tiefem Bedauern habe ich einst die Erlaubnis unterzeichnet, Euch zu ihm zu schicken, wusste ich doch, dass wir eine äußerst fähige Ärztin verloren und unser geschätzter Doktor Gershom eine Tochter.«

Er verbeugte sich. Die Augen war das Einzige an ihm, das nichts von einem Frosch hatte. Sie stachen aus der locker gebauschten Haut hervor.

Adelia erwiderte die Verbeugung. Du warst das also?

»Darf ich hoffen, dass Eure Rückkehr von Dauer sein wird?«

»Ich fürchte, nein. Ich muss zurück, ich habe mein Kind dort lassen müssen.« Plötzlich ergriff sie die Angst, dass sie hier nicht wieder wegkommen würde.

Aber Jibril sagte: »So sagt man es uns. Möget Ihr glücklich und sicher zu ihr zurückfinden!«

»Danke.« Sie haben ihr Spione überall, dachte Adelia. Sie wissen sogar, dass mein Kind ein Mädchen ist. Dennoch, sie hatte fast vergessen, welche Erleichterung es war, in einem Land zu sein, in dem eine Frau als Ärztin kein Schreckensbild darstellte.

»Wir fürchten, Eure Reise von England hierher war voller Schwierigkeiten. Wie wir von Lord O’Donnell erfahren, werdet Ihr von einem heimtückischen Mörder verfolgt, der Euch Böses will. Der Glorreiche möchte, dass ich Euch versichere, sollte dieser Mann hier in Palermo entdeckt werden, wird er gejagt und wie der Hund getötet, der er ist.«

»Danke, aber deswegen bin ich doch bestimmt nicht hier, oder? Ihr wollt über Prinzessin Joanna sprechen.« Bringen wir es hinter uns.

Jibrils Lippen streckten sich in die Breite, womöglich lächelte er. »Ihr habt die englische Direktheit angenommen, Mylady. Erlaubt mir denn also, es auch zu tun. Lady Blanche hat uns berichtet, dass die Prinzessin in Saint-Gilles noch einmal von Bord musste und ihr Leben nur durch eine drastische Maßnahme gerettet werden konnte. Würdet Ihr so gut sein, uns darüber in Kenntnis zu setzen?«

Adelia holte tief Luft. »Ich war gezwungen, sie zu operieren.« Sie erklärte die Situation mit dem Blinddarm und seiner Entzündung. »Die Prozedur hat natürlich eine Narbe hinterlassen. Lady Blanche sorgt sich nun, das könne dem König missfallen: Ich bin jedoch überzeugt, dass er als verständiger Menschen eine Braut mit einer Narbe einer toten vorzieht. Ich kann Euch versichern, dass es an der Schönheit oder dem Gemüt der Prinzessin nichts ändert. Sie hat nichts an Liebreiz verloren.«

Die Lippen des Sekretärs weiteten sich noch mehr. »Das ist offensichtlich so. Wir sind alle entzückt von diesem Juwel aus England. Die Narbe ist nicht von Wichtigkeit, wenn sie das Leben der Guten gerettet hat. Ein Diamant mit einer Schwäche kann weit schöner sein als ein ganz und gar vollkommener. Das ist nicht unsere Sorge …«

Ist es das nicht? Gott sei Dank! Aber was sorgt Euch dann?

»Was wir wissen möchten ist, ob diese Operation irgendeine andere unerwünschte Auswirkung haben mag? Auf ihre Zukunft und ihre Ehe?«

Es war Mansur, der als Erster begriff, worum es ging. Auf Englisch sagte er: »Er will wissen, ob Joanna noch Kinder bekommen kann.«

Adelia ließ erleichtert die Luft aus ihrer Lunge entweichen. War es das? Natürlich war es das. Sie und Blanche hatten sich völlig umsonst gesorgt. Vernarbt oder nicht, Joannas Rolle bestand darin, William Söhne zu schenken. Ein Erbe war unverzichtbar, sollte Sizilien in der Hand der Hautevilles bleiben. Kinderlosigkeit war für einen König nicht einfach nur eine persönliche Tragödie, es bedeutete das Ende seiner Regentschaft, und womöglich auch einen Bürgerkrieg, weil verschiedene Anwärter den Thron für sich beanspruchten.

»Ich versichere Euch, Mylord, meines Wissens kann Joanna so viele Babys bekommen, wie Gott und der König ihr schenken.«

Jibrils stechender Blick war gnadenlos scharf, genau wie seine Stimme: »Und das ist die Wahrheit?«

»Diese Frau ist unfähig, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen«, erklärte ihm Mansur.

»Das caecum ist weit vom Mutterschoß entfernt«, sagte Adelia. »Ich kann Euch eine Zeichnung machen, wenn Ihr wollt.«

Zum ersten Mal war das Lächeln des Sekretärs echt. »Erspart mir das! Und vergebt mir!« Er war plötzlich ein anderer Mann. »Wir brauchen einen Sohn und Erben, versteht Ihr? Wir sind von Feinden umgeben, die sich Sizilien einverleiben werden, wenn es keinen Erben gibt: dem Papst, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und einer neuen Generation von Bischöfen. Wir werden an vielen Fronten bedrängt.«

»Aha.« Adelia sah unversehens eine Möglichkeit, ein anderes Problem anzusprechen. »Mylord, der König von England hat uns damit betraut, König William ein Geschenk zu bringen«, sagte sie. »Neben seiner Tochter ist es das größte Geschenk, das er ihm machen kann. Um es gegen einen gemeinsamen Feind einzusetzen, hat er gesagt. Er schickt ihm Excalibur.«

Excalibur. Das Licht, das in alle Augen trat, wenn der Name genannt wurde, erfüllte selbst den Blick dieses Arabers. Die Normannen hatte Artus’ Geschichte mitgebracht, als sie hergekommen waren, und sie hatte Wurzeln geschlagen. Es gab die sizilianische Legende, dass Artus im Ätna wohne.

Jibril lehnte sich vor. Er kannte den Wert des Schwertes für seinen Besitzer, und fragte zum ersten Mal so knapp wie direkt: »Wo ist es?«

Wenn Richard es hatte, und dessen war sich Adelia so gut wie sicher, schließlich hatte Henry sie vor dessen Ambitionen gewarnt, war das jetzt die Gelegenheit, ihn zu verraten. Aber vorsichtig!

Sie erklärte, dass das Schwert in einem Kreuz versteckt und Ulf anvertraut worden sei. »Es ging verloren, als meine Wegbegleiter und ich … in Schwierigkeiten gerieten, die uns für eine Weile von Prinzessin Joanna und ihrem Gefolge trennten. Doch wir hegen die Hoffnung, dass Herzog Richard es gefunden hat. Das Kreuz, in dem es sich befand, wurde gesehen, wie es an Bord der ›Nostre Dame‹ getragen wurde, kurz bevor sie von Saint-Gilles aus in See stach.«

Sie sah in Jibrils Augen, denen sicher nichts entging. Dieser Mann hatte Spione in allen Teilen der bekannten Welt und wusste wahrscheinlich besser über Richards Ziele Bescheid, als sie es tat.

»Wenn Herzog Richard es in seine Obhut genommen hat«, fuhr sie fort, »möchte er es König William vielleicht persönlich übergeben, und zwar, davon bin ich überzeugt, wenn er das Gefühl hat, der richtige Moment dafür sei gekommen.«

»Da bin ich sicher«, sagte Jibril.

Das genügte. Damit war es heraus. Richard würde fast unmerklich klargemacht werden, dass William von Henrys Absicht wusste, ihm das Schwert zu schenken, und dass er voller Erwartung war, es überreicht zu bekommen.

Mehr konnte sie nicht tun.

»›Um es gegen einen gemeinsamen Feind einzusetzen‹, ist das König Henrys Botschaft?«, fragte Jibril.

»Ja, Mylord.«

»Gegen welchen, frage ich mich. Wir haben so viele.« Aber Jibril war ein glücklicher Mann. »Nennt mir Euren Lohn, meine Lieben!«

Der Lohns bestand darin, direkt sein zu können. »Was die Babys betrifft, Mylord. Die Prinzessin ist noch nicht reif dafür.«

»Meine liebe Lady Adelia.« Jibrils Stimme war nicht ohne Vorwurf. »Ist der Glorreiche ein Barbar? Nein, das ist er nicht. Prinzessin Joanna wird ihre Kindheit genießen, bis die Zeit gekommen … Ah, hier ist er.«

Ein Mann betrat den Raum. Er war so schön wie sein Palast, und sah man vom langen, hellen Haar seiner Wikingervorfahren einmal ab, wirkte er ebenso östlich wie dieser. Spitze rote, mit Gravuren versehene Lederpantoffeln ragten unter seinem mit Quasten geschmückten Burnus aus erlesener, weicher Wolle hervor. Diener, Düfte und orientalische Höflichkeit hielten mit ihm Einzug, und er berührte Stirn und Brust zu einem Salām, als sie ihm vorgestellt wurden. Es war verwirrend, ihn normannisches Französisch sprechen und die heilige Jungfrau und nicht Allah anrufen zu hören, als er seinen Dank für »diese reine Perle Englands« ausdrückte, »deren Leben und Sicherheit mir so sehr am Herzen liegen und für die ich ewig in Eurer Schuld stehe«.

Er warf einen Blick zu Jibril hinüber, der nickte – das Gespräch hatte ein befriedigendes Ergebnis gehabt –, und schalt sie dann sanft: »Aber warum wart Ihr nicht bei meiner Prinzessin, als sie in der Stadt einzog? Ihr, die Ihr so viel für sie getan habt, hättet mit in ihrem Zug sein sollen. Wo wohnt Ihr? Nein, Ihr sollt in La Zisa wohnen, solange Ihr in Palermo seid. Ihr und Eure Freunde, Ihr seid meine Ehrengäste. Mansur, mein Freund, jagt Ihr? Lady Adelia, ich stehe bereits in der Schuld Eures geschätzten Vaters und nun auch in Eurer … Und wie geht es meinem Cousin in England?«

Er war jung, vierundzwanzig, vielleicht fünfundzwanzig, und seinem Charme nach zu urteilen, von seinem Harem gar nicht zu reden, erfahren mit Frauen – wie es ein Volk von seinem König erwartete, so sehr es von seiner Königin absolute Treue verlangte. Nur hatte dieser William nichts von der Eindringlichkeit und offenbar auch nichts von der überwältigenden Intelligenz seines zukünftigen Schwiegervaters. Henry Plantagenet hätte die Frage nach Joannas Fruchtbarkeit keinesfalls einem Sekretär überlassen. Wichtige Angelegenheiten klärte er persönlich.

Leicht beklommen vermutete Adelia Faulheit. Joanna würde sich zweifellos, und wie es ihre Pflicht war, in diesen Mann verlieben, in der Hinsicht würde es sicher eine glückliche Ehe werden. Aber ob William die Energie und Klugheit besaß, ob er genug König war, um das Gleichgewicht zu erhalten, von dem sein Reich abhing, da war Adelia weniger sicher.

Der Raum füllte sich immer weiter mit Bediensteten, die Sorbets brachten, Kuchen und zwei kleine Samtkissen mit lederbezogenen Schachteln darauf. Lord Mansur stand auf, um mit dem Orden des Löwen ausgezeichnet zu werden, und Lady Adelia bekam ein goldenes Kreuz um den Hals gehängt. Beiden wurden zudem schwere, klirrende Geldbeutel übergeben.

»Nehmt dieses aus unseren dankbaren Händen. Wie wir hören, hat man Euch alles genommen.«

»Vielen Dank, Eure Hoheit, vielen Dank!« Woher wissen sie denn das alles? Adelia befühlte ihr Kreuz und beugte den Kopf, um es richtig sehen zu können. Und musste schlucken. Es war voller Diamanten, die ausreichen würden, sie und Allie bis ans Ende ihrer Tage zu versorgen.

Als William wieder gegangen war, sagte Jibril: »Und jetzt, Mylady, stehen geschlossene Kutschen für Euch bereit, um Euch und die Euren nach La Zisa zu bringen. Dafür, dass Ihr der Prinzessin das Leben gerettet habt, ist es unsere und des Glorreichen Verpflichtung, das Eure zu schützen. Deshalb bringen wir Euch heimlich hin. Nur Ihr selbst werdet wissen, wo Ihr seid.«

Das war kein Vorschlag oder gar eine Bitte, sondern ein Befehl. Der König stand in Adelias Schuld, und seine Ehre verlangte, dass ihr nichts zustieß, bevor er diese Schuld nicht getilgt hatte.

Le Roy le veult, dachte Adelia.

Das Castello de la Zisa war eines der Schlösser, die Palermo wie eine Kette umgaben, und, wie es hieß, das schönste von ihnen. Ihr Vater und ihre Mutter hatten sie einmal mit hingenommen und ihr die große arabische Inschrift über dem Eingangsbogen gezeigt: Dies ist das irdische Paradies, das sich den Blicken zeigt, der König ist Musta’iz, der Glorreiche, der Palast Aziz, der edle Ort.

Nun, ein bisschen Luxus würde ihr ausnahmsweise einmal nicht ungelegen kommen.

»Das wäre sehr nett«, sagte sie.

 

Später disputierten zwei Männer in einem anderen Raum des Palazzo Reale. Es war ein schöner Raum, einer der vielen für geschätzte Gäste. Die gewölbte und bemalte Decke wuchs aus einem Fries üppiger, in Marmor gehauener Früchte, das die Rundbögen der Wände umschloss. In den Nischen darunter türmten sich wirkliche Granatäpfel und Orangen auf Porphyrschalen und Silbertischen. Für den Fall, dass den Gästen kalt war, brannten Schüsseln mit parfümiertem Öl in den Kohlenbecken. Obwohl sich die Luft in Palermo schon im Februar aufwärmt, war es im Palast doch immer noch kühl.

Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und war weniger zivilisiert. Tatsächlich glich der Raum einem Ring mit zwei Kampfhunden, die an ihren Leinen zerrten, um sich gegenseitig an die Kehle zu gehen.

»Und wo ist sie jetzt?« Dem Bischof von St. Albans gefiel die Geschichte von all dem, was seiner Frau zugestoßen war, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, ganz und gar nicht, und er mochte auch den Mann nicht, der sie ihm erzählte. Was auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Ich weiß es nicht.« Die Leichtigkeit, mit der Admiral O’Donnell das sagte, und die Art, wie er sich dabei auf der brokatbezogenen Ottomane räkelte, waren an sich schon ein Affront.

»Natürlich wisst Ihr es, verdammt noch mal!«

»Nein, ich weiß es nicht. Wir haben uns auf dem Kai getrennt. Ich habe die Prinzessin begleitet, und sie hat sich verabschiedet. Offenbar besitzt ihre Familie ein Haus im jüdischen Viertel. Aber da ist sie nicht mehr. Zusammen mit den anderen ist sie verschwunden, und die Nachbarn wissen nicht, wohin.«

Tatsächlich wusste der Admiral ziemlich genau, dass Jibril sie an einen sicheren Ort gebracht hatte. Williams Sekretär hatte ihn und Blanche aufs Genaueste zu den Geschehnissen während der Reise der Prinzessin befragt und großes Interesse am Aufenthaltsort Adelias gezeigt. Ja, O’Donnell war so gut wie sicher, dass sich die Frau in einem der Paläste des Königs aufhielt, in Sicherheit, Gott sei Dank, aber er wollte verdammt sein, wenn er das dem Bischof sagte, der nichts dafür getan hatte, dass es sich so verhielt. Lass ihn schwitzen.

»Warum zum Teufel habt Ihr sie nicht mit hergebracht?«

»Nun …« Wenn es möglich war, sich mit noch mehr entnervender Eleganz auf dem Möbel zu räkeln, der Ire tat es. »Ich dachte, sich dem königlichen Gefolge anzuschließen, in dem ihr jemand nach dem Leben trachtet, wäre vielleicht nicht die beste Entscheidung.«

Hast du das, Dreckskerl?, dachte Rowley. Und woher nimmst du das Recht zu entscheiden, was sie tun und nicht tun sollte? Und dann: Weil du ihr das verdammt Leben gerettet hast, nehme ich an. Nun, er konnte immer noch die Oberhand gewinnen. »Ich habe ihn gefunden«, sagte er.

»Scarry?«

Das lässt den Kerl hochschnellen. »Kommt hier herüber!«

Der Ire folgte ihm an einen exquisiten dreibeinigen Tisch voller Papiere und Permanentrollen. »Wie habt Ihr das gemacht?«

»Seht Euch das an!« Rowley ergriff eine der Rollen. Sein Triumph ließ ihn seine Wut vergessen. »Wir mussten dem Majordomus des Palastes eine Liste sämtlicher Leute des Gefolges der Prinzessin geben, die Namen aller, die mit ihr gereist sind und eine Unterkunft brauchten.« Er schlug sich mit der Hand gegen den Kopf. »Allmächtiger, ich weiß nicht, warum ich nicht vorher auf die Namen gekommen bin … Da steht’s so klar, wie nur was klar sein kann.«

Man konnte die Laudes-Glocke der nahen Kirche San Giovanni degli Eremiti läuten hören, die mit ihren zinnoberroten Kuppeln eher wie eine Moschee. Rowley achtete nicht weiter darauf.

Es war eine lange Rolle, auf der nicht nur die Namen, sondern auch Profession und Geburtsort verzeichnet waren.

Rowley streckte den Finger aus. »Da.«

Der Ire las den Namen. »Der? Der ist es sicher nicht. Jesus Christus, der war … Das muss doch nicht heißen, dass das Scarry ist.«

»Scarry ist ein Spitzname, sein Gesetzlosenname, und es liegt nahe, dass er von seinem richtigen Namen abgeleitet wurde. Es hat mich auch überrascht, aber es gibt niemanden sonst auf der Liste, zu dem er passen würde. Ich habe alle Namen studiert. Und wenn ich es mir recht überlege, hätte auch niemand sonst die entsprechenden Möglichkeiten gehabt.«

»Aber er ist … Ich hätte niemals gedacht … Wo ist er jetzt?«

»Niemand weiß es. Seit der Landung der ›Nostre Dame‹ ist er verschwunden. Was den Verdacht bestärkt. Offenbar wurde er von Tag zu Tag merkwürdiger.«

»Merkwürdiger? Da wüsste ich passendere Ausdrücke. Er treibt sich also irgendwo in der Stadt herum?«

»Das nehme ich an. Ich lasse nach ihm suchen und nach ihr. Warum in Gottes Namen habt Ihr sie ziehen lassen?«

O’Donnell kratzte sich das Kinn. »Nun, sie hat Joanna versprochen, bei der Hochzeit dabei zu sein, das heißt, sie wird übermorgen in die Kathedrale kommen. Sie ist eine Frau, die ihr Wort hält …«

»Das weiß ich.«

»… aber ich werde sie vorher finden.« Der Admiral stand auf und ging Richtung Tür.

Rowley hielt ihn auf. »Ich werde sie finden. Sie ist meine Frau, O’Donnell.«

Ein offenbar überraschtes Lächeln war die Antwort darauf. »Ist sie das jetzt? Ist sie das? Die Frau eines Bischofs?« Das Lächeln versiegte. »Dann hättet Ihr Euch verdammt noch mal besser um sie kümmern sollen, oder?«

 

Ulf langte nach einer in Honig eingelegten Dattel, einer Köstlichkeit, die er nicht gekannt hatte, die aber ganz nach seinem Geschmack war. »Was ist so komisch daran? Ich brauch’ nicht noch mehr Seide. Wenn ich so nach Hause komm’, nennen mich die Jungs einen Gockel und werfen mich in den Teich.«

»Du siehst sehr hübsch aus«, sagte Adelia. Das taten sie alle. Ihr eigener Bliaut saß an Brust und Taille hauteng, während Ärmel und Rock sich in herrlichem Silbergrün bauschten. »Wenn das Violett auch nicht so ganz zu deinem Teint passt.«

»Ich mag Violett.«

Mansur blieb beim Thema. »Der Majordomus hat Euch also gefragt, ob Ihr eine Seidenweberin bei Euch ihm Zimmer wolltet, und Ihr habt Nein gesagt?«

»Ich sage ja nicht, dass es kein schönes Zimmer ist, aber ich will da keine Werkstatt draus gemacht haben, oder? Die haben hier doch wohl genug Platz.«

»Es war eine Umschreibung«, sagte Mansur.

»Und ich brauch auch keine Umschreibungen.« Da endlich dämmerte es ihm. »Ihr meint …? Hölle, Tod und Teufel! Und ich hab’ Nein gesagt?«

»Das war ganz richtig so«, sagte Adelia. »Denk an das arme Mädchen!«

»Vielleicht hätte sie ihn in seiner violetten Seide ja gemocht«, sagte Mansur.

Adelia legte die Arme hinter den Kopf und lauschte dem Gesang eines Vogels auf dem Zweig eines Mandelbaumes, an dem bereits die ersten Knospen sprossen.

Sie musste an Homer denken: Neun Tage trieben wir von bösen Stürmen gepeitscht übers Meer, aber am zehnten erreichten wir das Land der Lotophagen.

Boggart, die Donnell nach dem abendlichen Stillen an sich drückte, kam von einem ihrer regelmäßigen Spaziergänge durch den Garten – damit er all die hübschen Gerüche in seine kleine Nase schnuppern kann« – zurück.

Auch sie war elegant. Ihr Haar bedeckte wie das Adelias ein Perlennetz. Zugegeben, noch fielen etliche Dinge um, wenn sie an ihnen vorbeikam, doch ihre Ungelenkheit schwand, wenn sie Donnell auf dem Arm hielt. Es hatte nie eine aufmerksamere Mutter gegeben.

Adelia setzte sich auf und nahm das Baby, um sich mit ihm in die Kissen zu schmiegen und sein Daunenhaar auf ihrer Wange zu spüren. Donnell roch nach frischer Luft und Milch. »Keine Lotusblüten für dich«, erklärte sie ihm, »nicht, bevor du deine ersten Zähne bekommst.«

»Hab noch keinen Lotus probiert«, sagte Boggart. »Iss der so gut wie Couscous?«

Selbst Ward trug ein silbernes Halsband. Da er eine wichtige Rolle bei der Befreiung in Aveyron gespielt hatte, war der muslimischen Dienerschaft des Schlosses befohlen worden, ihre Abneigung gegen die für sie unreinen Hunde zu unterdrücken. Erst war ihm eine Unterkunft in der einzigen Hunderesidenz des Palastes angeboten worden, dem königlichen Zwinger, aber die Salukis-Meute hatte ihn in Panik versetzt, und so wurde ihm erlaubt, als zusätzlicher Ehrengast zu Adelia und den anderen zu ziehen.

Seine Herrin hatte gefragt, ob sie eine Botschaft an den Bischof von St. Albans schicken könne, um ihn wissen zu lassen, wo sie sei, aber Jibrils Befehl, ihren Aufenthaltsort geheim zu halten, wurde aufs peinlichste befolgt und ihre Bitte überhört. Höflich überhört.

Dass Rowley in Palermo angekommen war, hatten sie ihr gesagt. Ja, der Bischof sei sich auch ihrer Anwesenheit in Sizilien bewusst, aber da es überall Spione gebe, sei es besser, keinerlei Kontakt zwischen La Zisa und der Außenwelt zuzulassen.

Nun, sagte sie sich, bei der Hochzeit werde ich ihn sehen. Und darauf war noch ein unschöner Gedanke gefolgt: Es wird ihm nicht schaden, bis dahin warten zu müssen.

Das war Rowley und vielleicht auch dem Admiral gegenüber unfair, der sich so um sie gekümmert hatte, aber ihr fehlte im Moment die Kraft für Männer und all die Gefühle, die mit ihnen verbunden war. Tatsächlich war ihr erst nach ihrer Ankunft in La Zisa und in dem Luxus, der sie hier umgab, richtig klar geworden, wie erschöpft sie und die anderen wirklich waren.

Es genügte ihr, nein, es war ein sinnlicher Genuss, wie ein Pascha bedient zu werden, im warmen Wasser des Beckens zu liegen, das groß genug war, um darin zu schwimmen, sich massieren, einölen und parfümieren zu lassen, unter schönen Kleidern zu wählen und Köche darum wetteifern zu sehen, ihre Geschmacksnerven mit Speisen zu verwöhnen, die sie in den Himmel des Wohlgeschmacks trugen.

Und alles das in einem Palast, der von Arabern für die normannischen Könige gebaut worden war, der die Augen verwirrte und die Sinne entzückte. Überall plätscherten Springbrunnen, Stalaktiten wuchsen aus Decken wie Honigwaben, die Böden waren mit überwältigenden Mosaiken bedeckt, und wohin man blickte, schlugen Pfauen ihr Rad.

Es kam den vieren zupass, für sich zu sein, zu schwatzen und sich an die Zeit in Caronne erinnern zu können, zufrieden und unter Freunden. Jeder wusste, dass auch die anderen nachts schwitzend aus Albträumen voller Schreie und Flammen hochschreckten. In Adelias Träumen erschien zudem immer wieder eine ermordete Wäscherin, die mit anklagendem Finger auf sie zeigte. Gesprochen wurde über diese Erinnerungen nicht, nein, die vier versuchten, es sich in ihrem irdischen Paradies und Miteinander so gut wie nur möglich gehen zu lassen.

Von Krummsäbel tragenden Männern bewacht zu werden, die an jedem Eingang standen, war für den Moment zumindest nicht ärgerlich und bedrohlich, sondern beruhigend. Adelia redete sich ein, dass Scarry, wer immer es sein mochte, gestorben war oder aufgegeben und sich davongemacht hatte und sie nie wieder behelligen würde.

Hätte sie auch noch Allie und ihre Eltern bei sich gehabt, wäre es fast so etwas wie der Himmel gewesen.

 

In einer der ärmeren Gegenden Palermos sprechen ein Hausbesitzer und seine Frau über den Mann, dem sie gerade ein Zimmer unter dem Dach ihrer heruntergekommenen Herberge vermietet haben.

»Er bezahlt gut«, sagt Ettore. Zimmer sind angesichts der bevorstehenden Hochzeit, die so viele Fremde in die Stadt lockt, begehrt und werden teuer bezahlt, aber dass sich der Mann sofort auf einen ganzen Gold-Tari eingelassen hat, und das für ein Zimmer, das selbst Ettore kaum luxuriös nennen würde, das hat den Herbergsbesitzer denn doch verblüfft.

»Hast du seine Augen gesehen?« Agata bekreuzigt sich. »Eine Gänsehaut hab’ ich gekriegt. Und kein Wort hat er gesagt. Lass mich mit diesem Kerl nicht allein!«

Auch ihren Mann hat dieser neue, stumme Gast verstört, aber ein Gold-Tari ist ein Gold-Tari. »Er bezahlt gut«, sagt er noch einmal.

 

»Noch ein Geschenk, Rafiq?«

Der Majordomus legte die Hände wie eine Schale zusammen, als böte er ihr einen Schluck Wasser an. »Vom Glorreichen, Mylady. Ich soll sagen, dass es heute Morgen mit dem Schiff gekommen ist. Es ist im Brunnenhof. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt? Es ist ein Geschenk für Euch und für Lord Mansur.«

Adelia sah, dass Mansur die Hand auf den Dolch unter seiner Schärpe legte, als sie in den Brunnenhof hinübergingen. Selbst hier war er nie so entspannt wie sie, ständig schweifte sein Blick über die Mauern des Gartens, als rechne er damit, das Scarry mit einem Messer zwischen den Zähnen über sie gesprungen kam.

Der Himmel war schon den ganzen Tag bedeckt gewesen, und das aus dem Löwenkopf in der Wand sprudelnde Wasser verlieh der Luft im Brunnenhof eine feuchte Kühle. Zwei Personen, ein Mann und eine Frau, standen unter einer der Palmen und verfolgten den Lauf des Wassers, das durch eine Rinne im gefliesten Boden lief.

Sie drehten sich um.

Der Mann hatte einen kurz geschnittenen Bart und humorvolle Augen. Er war etwas kleiner als die elegante Frau neben ihm.

Es war das Paar, das einst bei einer Erkundungswanderung auf dem Vesuv ein schreiendes verlassenes Baby gefunden hatte. Selbst kinderlos, hatten die beiden das Baby mit nach Hause genommen, es großgezogen und ihm ihre Liebe angedeihen lassen. Das Kind hatte von ihrer außergewöhnlichen Intelligenz und Aufgeschlossenheit profitiert, und als seine Pflegeeltern herausfanden, dass es ihnen von seiner Verstandeskraft her ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war, hatten sie es in die Medizinerschule von Salerno geschickt, an der sie beide als Lehrer arbeiteten.

Adelia stolpert auf sie zu und nahm sie in die Arme, drückte sie an sich und spürte auf ihren Wangen die gleichen Tränen der Dankbarkeit, die auch ihre Pflegeeltern vergossen.

 

Das Essen war beendet, aber das Erzählen und Erklären noch lange nicht, und so saß die Gesellschaft, auch nachdem die Teller längst abgeräumt waren, weiter um die Tafel herum.

»Aber das ist ja schrecklich«, sagte Doktor Gershom nicht zum ersten Mal. »Wer ist dieses Ungeheuer? Dass so etwas unserem Liebling widerfährt!«

»Wir müssen die Ruhe bewahren«, sagte Doktor Lucia zu ihm. Das war ihr Mantra. »Jibril wird den Wahnsinnigen finden und einsperren.«

»Das sollte er besser. So lange lasse ich sie nicht aus den Augen.« Er sah seine Frau an. »Ich bin ruhig, Frau.«

»Nein, bist du nicht. Das bis du nur, wenn du dich um deine Patienten kümmerst. Wir werden dich alle überleben, alter Mann.«

Es war ein ewiges Ritual zwischen den beiden, und nur Ulf und Boggart hielten es verblüfft für den Beginn eines ernsten Streites.

Adelia und Mansur sahen sich an und lächelten. Zwischen den beiden Alten hatte sich nichts geändert. Dieses ungleiche Paar stritt und neckte sich, und manchmal beleidigten sich die beiden auch auf eine Weise, die Fremde irritierte, besonders solche, die wie die meisten sizilianischen Eheleute in der Öffentlichkeit ausgesucht höflich miteinander umgingen, ganz gleich, was sich hinter geschlossen Türen zwischen ihnen zutragen mochte. Wer immer Gershom und Lucia jedoch besser kannte, wusste, dass sich hinter ihrer Streiterei eine gegenseitige Hingabe verbarg, die so tief reichte, dass sich beide einst lieber von ihren Familien hatten ächten lassen – die eine römisch-katholisch, die andere jüdisch – als nicht zu heiraten.

Es war Adelia nie in den Sinn gekommen, die Auseinandersetzungen ihrer Pflegeeltern könnten etwas anderes als Ausdruck persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit sein. Die Wurzeln des Baumes, der ihr solchen Schutz bot, konnten ihren Halt nicht verlieren.

»Und dass Henry Plantagenet eine Mutter von ihrem Kind trennt«, rief Doktor Gershom, »ist das königlich? Selbst dieser tief in der Wolle gefärbte Rohling müsste da zögern. Ich will meine Enkelin sehen.«

»Wir sehen sie, wenn wir nach England fahren«, sagte seine Frau.

Adelia schnappte nach Luft. »Ihr kommt nach England? Wann? Warum habt ihr mir nichts davon gesagt?«

Doktor Lucia sagte: »Vor einiger Zeit hat uns jener für deinen Vater tief in der Wolle gefärbte Rohling einen ungeheuer höflichen Brief geschrieben. Darin lobt er dich über alles, Adelia, und er sagt, sollten wir je England besuchen wollen, wäre es ihm eine Freude, uns seinen Schutz zu gewähren.«

»Das hat Henry getan?« Adelia konnte nur staunen.

Gershom schnaubte. »Hin und wieder verirrt sich einer seiner noblen Kuriere auf dem Weg nach Palermo zu uns und bringt uns einen Brief, in dem steht, wie es dir geht. Deine Mutter hält das für Höflichkeit. Ich sage, es ist das Mindeste, was er uns dafür schuldet, uns unsere Tochter genommen zu haben und für sich zu behalten. Seine Einladung ist eine Luftblase, eine Beruhigungspille, um uns bei Laune zu halten.«

»Oh nein«, sagte Adelia, immer noch überrascht, aber mit Überzeugung. »Nein, das ist es sicher nicht. Wenn er euch einen Platz in England angeboten hat, will er euch auch dort haben.«

Der Plantagenet tat nichts aus Feinfühligkeit, und sie fragte sich, was für Hintergedanken er dabei im Kopf haben mochte. Sie hatte nicht gedacht, dass er von der Existenz ihrer Eltern überhaupt Notiz nahm. Aber er war ein umsichtiger Monarch mit einem Netzwerk an Zuträgern wie kein anderer, und zwei der begabtesten Ärzte der Welt bei sich zu haben, könnte zweifellos von beträchtlichem Nutzen für ihn und sein Reich sein.

Was sie erstaunte war, dass die beiden es tatsächlich in Erwägung zu ziehen schienen, seiner Einladung zu folgen. Sie hatte gedacht, dass sie dafür viel zu tief im Fels des südlichen Apennin verwurzelt wären.

Adelia betrachtete ihre Mutter und sah etwas, das ihr im Taumel des Wiedersehensglücks entgangen war, eine Art Vertiefung im Wangenknochen der Frau.

Sie beugte sich vor und strich sanft darüber. »Wie ist das passiert? Hat Vater dich wieder geschlagen?«

»Das hätte ich fürwahr tun sollen«, sagte Gershom bitter. »Wenn ein sturer, widerspenstiger Holzblock von einem Waib es je verdient hat, etwas um die Ohren zu bekommen, dann diese Frau hier. Hatte ich ihr nicht gesagt, ihre Eltern keinesfalls ohne den Schutz von Halim besuchen zu gehen? Hat sie auf mich gehört? Mansur, mein alter Freund, wo warst du? Du hättest sie in die Flucht geschlagen.« Seine Miene veränderte sich. »Sie haben sie mit Steinen beworfen.«

»Mit Steinen beworfen … Wer?«

»Es war ein Mönch«, sagte Lucia ohne große Gefühlsregung. »In der Via Mercanti. Ich glaube, es war ein Bruder aus dem Kloster San Matteo. Ein völlig unfähiger Werfer, alle anderen Steine haben mich verfehlt.«

»Lieber Gott, aber warum hat er das getan?«

»Sicher, weil ich mit dem Juden verheiratet bin, den du so gerne deinen Vater nennst.«

»Es stimmt«, sagte Gershom. »Am nächsten Tag kam der freundliche Zeitgenosse mit Verstärkung und hat uns die Fensterläden zerschlagen, was der Steinigung deiner Mutter natürlich grundsätzlich vorzuziehen war, sich ökonomisch aber nicht so gut darstellte. Holz ist teuer. Wir haben bei Bischof Jerome Beschwerde eingereicht, aber es ist nichts passiert. Es hat keine Untersuchung gegeben.«

»Warum?«

»Mein Kind, deine Eltern sind eine Beleidigung Gottes. Ein Jude und eine Katholikin, die zusammenleben? Unerträglich. Das schreckt den ganzen Himmel auf.« Gershom seufzte. »Selbst deine Tante Felicia hat es für notwendig befunden, uns zu verlassen und in den Konvent von San Giorgio zu ziehen.«

Felicia? Das war die Frau, die den Haushalt in Salerno geführt hatte, damit ihre jüngere, medizinisch so begabte Schwester sich auf ihren Beruf konzentrieren konnte.

»Nun ja«, sagte Lucia. »Sie wird alt. Vielleicht ist ihr alles zu viel geworden.«

»Nein«, sagte Gershom. »Sie hatte Angst.« Er griff nach der Hand seiner Tochter. »Die Dinge ändern sich, Kleines. Simon, der Schreiner, und seine arabische Frau sind davongejagt worden, genau wie unser ausgezeichneter griechischer Apotheker. Du erinnerst dich doch an ihn? Hypatos, der sich darauf eingelassen hat, ein katholisches Mädchen zu heiraten?«

»Aber das hat doch niemanden gestört? Gut, gestört schon, aber sie haben es geduldet …«

»Es stimmt, bis vor ein paar Jahren hat sich die römische Kirche nicht weiter um gemischte Ehen gekümmert. Aber das ist nicht mehr so. König William wird gedrängt, seine ungläubigen Berater durch Männer lateinischen Glaubens zu ersetzen. Selbst Jibril muss öffentlich so tun, als wäre er zum Christentum konvertiert. Er hat es mir bei unserer Ankunft selbst erzählt.«

»Ich wusste es«, sagte Mansur. »Habe ich nicht gesagt, dass es in der Stadt weniger Moscheen gibt als früher?«

Aveyron.

Adelia stand auf und öffnete die Tür zum Garten, damit sie atmen konnte. Nicht hier, Gott, nicht auch hier!

Sie hatten versucht, ihre Mutter zu steinigen, sie zu steinigen, in Salerno, das einmal der Kochtopf gewesen war, in dem die größten sozialen, politischen und wissenschaftlichen Fortschritte entstanden, welche die Welt je erlebt hatte. Adelia hatte gedacht, dass sich dieser Geist weiter ausbreiten und dankbar von all den Männern und Frauen aufgenommen werden würde, die intelligent genug waren, sich eine Zukunft vorzustellen, in der es keine rassistischen oder religiösen Konflikte mehr gab.

Lass die Sonne nicht untergehen!

Aber die Sonne ging unter. Ein riesiger orangefarbener Halbkreis tauchte den Garten in bernsteinfarbenes Licht, als sie hinter den Horizont sank. In der Ferne konnte man den Aufruf zum Abendgebet hören von Minaretten und Campanilen. In der Stadt strichen in diesen Momenten weiße Arabergewänder, normannische Jacken, Mönchskutten und jüdische Umhänge aneinander vorbei, deren Träger in Moscheen, Synagogen und Kirchen eilten, um ihren jeweiligen Religionen zu folgen.

Doch Mansur hatte recht. Was einst ein musikalisch misstönender Zusammenklang gewesen war, wurde heute vom Läuten zum katholischen Vespergottesdienst übertönt.

Nicht Aveyron! Nicht hier!

Gershom trat neben sie. Er legte den Arm um sie. »Ich sage es mit tiefem Gram, mein Kind, aber du würdest heute nicht mehr in Salerno studieren können.«

Adelia starrte ihn an. »Es sind keine Frauen mehr zugelassen?«

»Keine Frauen. Und Leichenöffnungen sind auch nicht mehr erlaubt. Hin und wieder zweigt der alte Patricio noch heimlich die Leiche eines Bettlers für mich ab, aber …« Sein Hände hoben sich zum Himmel. »Wie können wir den menschlichen Körper heilen, wenn wir nicht wissen, wie er funktioniert?«

Nebeneinander standen sie da und verfolgten, wie sich der große Halbkreis in Gold verwandelte, zu einem letzten, glühenden Strich wurde, ganz hinter dem Horizont verschwand und sie im Dunkeln zurückließ.

 

Oben unter dem Dach von Signor Ettores Herberge sitzt Scarry auf der stinkenden Matratze seines Rollbetts und starrt unbewegt auf den bröckelnden Putz der Wand.

Ettores Frau hat recht, was seine Augen betrifft. Aber sie sind auf ihre Weise schön, schmale Schlitze mit einem klaren, dunklen Rand in völligem Weiß und ohne jedes Gefühl. Es sind Wolfsaugen.