Teil drei

Kapitel zwölf

»Was ist?«

»Da ist ein Licht draußen auf dem Meer. Es blinkt.«

Adelia stieg aus dem Bett und trat zu Fabrisse an den schmalen Fensterspalt des oberen Zimmers im Bergfried des Château de Salses, durch den man aufs Mittelmeer hinaussah. »Muss ein Schiff sein«, sagte sie.

»Natürlich ist es ein Schiff«, antwortete Fabrisse. »Die Frage ist nur, wessen Schiff.«

Es konnte O’Donnell sein, der bis jetzt noch nicht eingetroffen war. Es konnten aber auch friedliche Schmuggler sein oder eine weniger friedliche Macht, die ins Land des Grafen von Toulouse eindringen wollte. Oder es waren Piraten, die nur aufs Plündern und Vergewaltigen aus waren.

Für die letzten beiden Möglichkeiten war das Château de Salses nicht gerüstet. Letztlich, dachte Adelia, hätte es nicht einmal ein paar entschlossenen Schneckensammlern genug entgegenzusetzen.

Das Château de Salses, ursprünglich eine Festung, war in noch schlimmerem Zustand als die Burg von Caronne. Aus der Ferne war es wunderschön, das musste Adelia eingestehen. Als sie und die anderen die Berge heruntergeritten gekommen waren, hatte es vor dem kühlblauen Wasser, das gegen seine dem Meer zugewandte Mauer klatschte, wie ein riesiger rosafarbener, mit Zinnen versehener Kuchen ausgesehen.

Als sie näher kamen, sahen sie allerdings, dass die staubrosa Verteidigungsmauern langsam in den Burggraben bröckelten, die Brücke hing gefährlich durch, und den mit Unkraut überwucherten Hof umgaben ein Bergfried mit einer unsicheren Wendeltreppe sowie ein paar strohgedeckte Ställe und Werkstätten.

»Ich kann mir den Unterhalt nicht leisten«, verkündete Fabrisse fröhlich, was sie nicht ausdrücklich hätte sagen müssen, »obwohl mir das Château den Großteil meiner Einnahmen verschafft. Wir sind hier nahe an der spanischen Grenze, und dennoch abgelegen, was heißt, dass es gut zur Schmugglerei taugt, wenn auch nicht gut genug.« Aber offenbar hatte sie das Gefühl, dem Château damit nicht ganz gerecht geworden zu sein, und so fügte sie gleich noch hinzu: »Irgendwann vor Christi Geburt ist Hannibal mit seiner Armee hier durchgekommen, auf dem Weg nach Italien.«

Vielleicht hatten es ein paar seiner Elefanten tatsächlich bis ins Château geschafft, dachte Adelia. Viel wieder aufgebaut worden war seitdem nicht.

»Das sind Signale«, sagte sie jetzt und verfolgte, wie das Licht in unregelmäßigen Abständen aufleuchtete und wieder verschwand.

»Die Frage ist, für wen?« Man konnte nie wissen, wer auf den einsamen Anhöhen hinter ihnen lauerte.

Sie ließen Boggart schlafend zurück, zündeten eine Fackel an und stiegen vorsichtig die kaputten Stufen meidend hinunter in den Hof.

Deniz, der Wache gehalten hatte, stand mit Johann auf der dem Meer zugewandten Mauer. Die beiden unterhielten sich murmelnd.

Und das muss auch noch gesagt werden: Adelia hatte im Château de Salses keine Spur von dem Ritter entdecken können, dessen Kriegsdienste dem Grafen Raymond von Toulouse, wenn er danach verlangte, als Preis für das Lehen zur Verfügung stehen würden. (So wie sie Fabrisse kannte, hatte die ihre eigene Art, dem Grafen sein Lehen zu bezahlen.) Was es jedoch gab, waren eine Ziegenherde, ein älterer Mann mit durchtriebenem Blick, den Fabrisse ihnen als »meinen Buchhalter Johann« vorgestellt hatte, was eine beschönigende Beschreibung für den Leiter ihrer Schmuggelaktivitäten war, und eine Schar Enkel.

»Wer ist es, Deniz?«, rief Fabrisse leise.

»Die St. Patrick.«

O’Donnells Flaggschiff. Das war eine Erleichterung. Seit Tagen warteten sie darauf.

»Nun werde ich Euch morgen verlieren«, sagte Fabrisse traurig zu Adelia. »Er wird alle Vorbereitungen getroffen haben, Euch zurück nach England zu schicken.«

»Nein«, sagte Adelia. »Wir fahren mit ihm nach Palermo.«

Seit sie in der Höhle von Caronne von ihrer schrecklichen Erkenntnis überrascht worden war, hatte sie ihre Sicherheit zurückgewonnen.

Wie kann er es wagen. Wie kann er es nur wagen. Das lasse ich nicht zu. Sie war von Henry Plantagenet mit eine Aufgabe betraut worden. Bisher hatte Scarry es verhindert, dass sie ihre Verpflichtung erfüllte, aber sie würde bis zum Ende dabeibleiben, und wenn er sie dafür umbrachte. Oder sie ihn, denn dazu war sie mittlerweile bereit.

»Oho!«, sagte Fabrisse und sah sie an. »Wir haben unsere Angst abgelegt.«

»Nein, aber ich laufe nicht mehr weg.«

Seltsamerweise waren es Rankins Worte vom »schwarzgesichtigen Bussard« gewesen, die Adelia ihren Mut zurückgegeben hatten. Sie würde ihm auf ewig dafür dankbar sein, dass er ihrem Dämon das Dämonische genommen hatte. Er hatte seine Hufe zu menschlichen Füßen werden lassen. Ob sie den Bussard entlarven und außer Gefecht setzen konnte, wusste sie nicht, aber sie wollte es bei Gott versuchen. Schließlich waren alle Wahnsinnigen auf ihre eigene Art verletzlich.

Zusammen mit den anderen war sie wieder und wieder die Zeit in Joannas Tross durchgegangen, um einen möglichen Hinweis auf Scarrys Identität zu finden. Wer hatte all die üblen Dinge einfädeln und tun können? Wer war wo gewesen und wann? Wie Ulf gesagt hatte: »Wer hat sich da immer wieder aus dem Staub gemacht?«

Praktisch jeder konnte es sein, war die Reise doch höchst unstet und ungeordnet verlaufen. Das war das Problem.

Aber wer trug einen Kopf auf den Schultern, in dem der Plan hatte gedeihen können, die Leute so zu beeinflussen, dass ihnen Adelia wie ein Fluch vorkam, den sie gerne auf einem Scheiterhaufen enden sehen wollten?

Wer nur?

Sie hatten ihre Eindrücke und Erinnerungen so sehr durchleuchtet, dass sie praktisch Scarrys Schuhgröße in Händen hielten, aber sie fanden kein Gesicht dazu.

Am Ende hatte Ulf gesagt: »Wir kommen nicht weiter, was?«

Doch als Adelia jetzt mit Fabrisse aufs Meer hinaussah, wusste sie, dass es nicht so war. Sie waren weitergekommen. Scarry glich dem Licht, das da draußen flackerte, ein Versprechen, dass er irgendwo in der Finsternis mit dem gestohlenen Schwert wartete. Warum sie sich so sicher war, wusste Adelia nicht zu sagen, aber sie wusste, dass er auf dem Weg nach Palermo war und sie dort auf ihn treffen würde. Um ihn zu schlagen.

Sie hörte Deniz’ Stimme von der Mauer herunterklingen: »Da rudert einer an Land.«

»Jetzt?«

Es war eine wolkenverhangene, mondlose Nacht, und das Land stach wie ein löchriger Schwamm mit zahllosen verstreuten Inseln aus dem Wasser, die eine bessere, fast undurchschiffbare Verteidigungslinie gegen einen nächtlichen Angriff von See boten als alle Festungsmauern.

»Signal: ›Wartet und zeigt Licht.‹« Deniz kam von der Mauer herunter. »Er bringt Waren.«

»Patricio, Don Patricio. Meine Seide, hurra!« Fabrisse lief, um ihrem Besucher ein Mahl zu bereiten.

Adelia wartete, während Deniz eine Laterne entzündete und dem unsichtbaren Schiff draußen in der Nacht ein Signal zusandte. Anschließend begleitete sie ihn durch die geheime Hinterpforte des Châteaus hinunter zum Strand.

Hinter sich konnten sie Johann nach seinem ältesten Enkel rufen hören. Er solle kommen und die Maultiere vorbereiten helfen, mit denen sie die anlandende Konterbande in den Bergfried schaffen wollten. Zur See hin waren nur die friedlich gegen die Küste schlagenden Wellen zu hören. Adelia hatte sich nicht damit aufgehalten, Schuhe anzuziehen, und der Sand war kalt unter ihren Sohlen. Vom Schiff draußen kamen keine Signale mehr, und so war Deniz mit seiner Laterne ein einsames Glimmen in der Dunkelheit.

»Es ist nicht nur die Seide der Gräfin, oder?«, fragte Adelia. Sie hatte Deniz’ Gesicht im Schein der Laterne gesehen.

Der Türke schüttelte den Kopf. »Er signalisiert: ›Ärger‹.«

Adelia lief zurück, um Mansur und Ulf zu wecken und ihre Schuhe zu holen. Ärger! Gottverdammt, gab es je etwas anderes?

Es wurde ein kaltes Warten. Das nördliche Mittelmeer konnte im Winter eisig werden. Die Männer wärmten sich die Hände an ihren Laternen. Adelia stampfte mit den Füßen auf den Sand und versuchte auszurechnen, was für ein Datum sie hatten. Es musste jetzt, was? … Anfang Januar sein.

Vor fünf Monaten hatte sie sich von Allie verabschiedet. Wenn O’Donnells Ankunft heute Nacht mit einer weiteren Verzögerung einherging, dann … würde sie jemanden umbringen.

Fabrisse kam mit einer eigenen Laterne.

Ulf sah auf. Seine jungen Ohren hatten etwas gehört. Eine Sekunde später hörten sie alle das Knarzen von Rudern in ihren Dollen. Deniz watete ins Wasser und hielt die Laterne in die Höhe.

Mansur und Ulf folgten, um ihm zu helfen, das Ruderboot auf den Strand zu ziehen. Als sie zurückkamen, stützten sie jemanden zwischen sich … eine Frau.

»Blanche?« Adelia schüttelte den Kopf, als traute sie ihren Augen nicht. »Mistress Blanche?«

Die Hofdame fiel Adelia um den Hals. »Ihr müsst ihr helfen, heilige Muttergottes, sie ist so krank. Helft ihr! Sie stirbt.«

»Wer?«

Jetzt platschte O’Donnell durchs Wasser. Er trug etwas auf den Armen.

Es war nicht Fabrisses Seide, es war Prinzessin Joanna, und er wiederholte Blanches Worte: »Helft ihr!«, sagte er zu Adelia. »Ich glaube, sie stirbt.«

 

Es war ein wildes Gedrängel, als sie den unteren Raum des Bergfrieds ausräumten und Joanna auf den Tisch legten, an dem früher, als der Turm noch als Wachhaus gedient hatte, die Soldaten gegessen hatten. Laternen wurden aufgehängt.

Joanna fieberte und war kaum ansprechbar. Ihr rechtes Knie hob sich immer wieder Richtung Leib, und es war ein Kampf, sie auszuziehen, weil sich Mistress Blanche an Adelia klammerte und sie anflehte, das Kind zu retten. »Gebraucht Eure Hexenkraft«, sagte sie immer wieder. »Ich weiß, Ihr könnt es, alle wissen es. Ihr habt die Leute vor der Ruhr gerettet. Ihr wart es, ich habe es gesehen. Rettet die Prinzessin! Mir ist egal, wie, aber rettet sie!« Am Ende musste sie mit Gewalt zurückgehalten werden. Ulf brachte sie hinaus.

Adelia begann mit ihrer Untersuchung und hörte kaum auf O’Donnell, der den anderen erzählte, was geschehen war.

»Sie wurde praktisch in dem Moment krank, als wir sie in Saint-Gilles an Bord brachten«, sagte er. »Doktor Arnulf diagnostizierte eine akute Verstopfung und hat sie mit Krötensud, Einhornpuder, Krampfringen, verschiedenen Amuletten und was weiß ich noch behandelt. Der gute Bischof von Winchester hat wieder und wieder den 91. Psalm rezitiert, ad infinitum. Aber ihr ging es immer nur noch schlechter.«

Er verstummte, als Adelia plötzlich aus dem Raum stürmte und über den Hof zu der auf einem Strohballen hockenden Blanche lief. Die Hofdame hielt das Gesicht in den Händen vergraben, während Ulf ihr linkisch die Schulter tätschelte.

Blanche hob den Kopf, als Adelia näher kam. »Könnt Ihr der Prinzessin helfen? Könnt Ihr sie wieder gesund machen?«

»Hatte sie Verstopfung?«, fragte Adelia.

Ulf knurrte verlegen, und es zeigte, wie verzweifelt Mistress Blanche war, dass sie nach kurzem Zögern nickte.

»War ihr schlecht? Hat sie gespuckt?«

Wieder nickte Blanche.

»Hmm.« Adelia ging zurück in den Bergfried.

O’Donnell redete immer noch. »… außer sich war sie. Ich glaube, Blanche ist die Einzige von den drei Frauen, der Joanna wichtiger ist als sie selbst, Gott segne sie! Als ich vorschlug, nach Salses zu segeln, wo Ihre Ladyschaft in situ sei, fingen die anderen zwei an zu keifen, was der König mit ihnen machen werde, wenn er erfährt, dass sie seine Tochter einer Hexe und einem Sarazenen ausgeliefert haben, was Sizilien tun werde und Doktor Arnulf. Darauf habe ich ihnen gesagt, was der tut, dieser Doktor Arnulf, bringt sie nur noch schneller ins Grab …«

Adelia drückte rechts unten auf den Leib des Mädchens und zog ihre Hand schnell wieder zurück. Sie hörte ein Stöhnen, und das rechte Knie hob sich ein Stück.

»… also haben wir sie entführt, Blanche und ich. Haben die Hofdamen ihrem Schlaf überlassen, und ich hab’ meine Jungs das Beiboot mit Joanna darin zu Wasser bringen lassen. Möge Gott uns alle vor der Verdammnis schützen!«

»Wie mutig, das zu wagen.« Das war Fabrisse. »Delia, ist er nicht mutig?«

Adelia hörte sie nicht. Die Muskeln, auf die sie gedrückt hatte, waren völlig verkrampft gewesen.

»Und Herzog Richard?«, fragte Mansur.

»Der weiß nichts von alledem. Der ist an Bord meiner ›Nostre Dame‹ Richtung Sizilien unterwegs. Das Königshaus reist nicht zusammen, für den Fall, dass es einen Unfall gibt. Ah, und schlau, wie ich bin, habe ich ihm Vater Adalburt mit aufs Schiff gegeben. Da kann er jetzt Richards Nerven zerraspeln und nicht meine.« O’Donnell verstummte und sah zu Adelia hinüber, die sich vom Tisch abgewandt und auf einen Stuhl gesetzt hatte, fast so wie Blanche, mit dem Gesicht in den Händen.

Er ging zu ihr hinüber. »Sie stirbt, richtig?«

»Ich glaube, ja.«

»Könnt Ihr sie nicht retten?«

Adelia schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich es könnte, und das ist sehr zweifelhaft, mir fehlt die Ausrüstung dazu. Meine Sachen waren in Ermengardes Haus.«

»Also, was das betrifft …« Er drehte sich um und rief nach Deniz. »Was hast du mit der verdammten Kiste gemacht, die ich mitgebracht habe?«

Wenig später brachte Deniz einen ledernen, in Silber gefassten Koffer. O’Donnell sah Adelia an. »Wird es hiermit gehen? Ich … äh … ich habe mir dieses Ding aus Arnulfs Kabine entliehen, als der gute Doktor schlief.«

Im Koffer waren Kalbsledertaschen mit Flaschen, eine abgewetzte Urinliste, fettige Salbentöpfe, Pinzetten, ein verrostetes Instrument um Ausbrennen von Wunden, ein hölzerner Schlegel, vermutlich um schwierige Patienten ruhigzustellen, Zangen zum Zähneziehen, ebenfalls rostig …

Adelia warf die Instrumente auf den Boden und wühlte durch die Töpfe und Flaschen, öffnete sie und warf auch sie zur Seite. Der zehnte Topf enthielt, wonach sie gesucht hatte, voller Furcht, es zu finden. Ähnlich ging es ihr mit einer der größeren Flaschen.

Es gab jedoch keine Messer. Als gehorsamer kleiner, religionshöriger Doktor befolgte Arnulf das päpstliche Edikt von 1163, das jedes Vergießen von Blut verbot.

»Keine Messer«, sagte sie und schämte sich der Erleichterung in ihrer Stimme.

»Wofür braucht Ihr Messer?«, fragte der Ire. »Ich hätte einen schönen Dolch, wenn das hilft.«

»Messer?«, fragte Fabrisse. »Wenn Ihr Messer braucht, ist Johann der Richtige. Er fährt einmal in der Woche nach Leucate. Da gibt es ein paar Juden wie ihn, und er schlachtet für sie. Er ist ein, wie heißt das? … ein Kroschet?«

»Ein Schochet?« Adelia hob den Kopf. »Er ist ein Schächter?«

»Ich glaube, schon. Jedenfalls hat er eine schöne Sammlung von Messern, die alle sehr scharf und sehr sauber sind. Da ist er ganz eigen.«

»Ja«, sagte Adelia. »Ja, das ist er dann wohl.«

Deswegen waren die Juden oft gesünder als ihre Nachbarn und wurden immer wieder beschuldigt, die christlichen Brunnen zu vergiften, wenn irgendwo die Pest ausbrach. Adelias Pflegevater, Doktor Gershom, selbst ein nicht praktizierender Jude, schob es auf die religiöse Vorschrift, dass das rituelle Schlachtwerkzeug sauber und gepflegt sein müsse. Sein Argument war immer gewesen, dass der alte, stinkende, blutige Dreck an den Messern der nichtjüdischen Schlachter dazu beitrug, ihr Fleisch schlecht werden zu lassen.

Gott, lieber Gott, jede Entschuldigung, die sie dafür hatte, nichts zu tun, wurde ihr genommen.

Adelia schloss die Augen und durchdachte ihre Diagnose noch einmal. Der Schmerz im rechten unteren Quadranten des Unterleibes, das Anziehen des Knies, die starren Muskeln – das waren die klassischen Anzeichen, hatte ihr Pflegevater ihr erklärt. An der Leiche eines Kindes hatte er ihr gezeigt, was unter diesen Muskeln lag: der Dickdarm mit einer kleinen, wurmartigen Tasche, die unten daraus hervorwuchs.

Weder Gershom noch Gordinus, der Afrikaner, ihr Lehrer in der Medizinerschule in Salerno, hatten ihr die Funktion dieses kleinen Fortsatzes erklären können. Gordinus nannte ihn das addimentum vermiformis. Gershom sprach von einem appendix oder caecum, »das keinen anderen verdammten Nutzen hat, als krank zu werden.«

Und Joannas appendix war krank.

Ich brauche Luft! Adelia stand auf und ging hinaus auf den Hof. Sie atmete schwer. Die Dämmerung zog herauf, die Wolken waren weggeblasen, und mit ihrem schnaufenden Hund hinter sich stieg sie die Stufen zur Mauer hinauf, in das Licht eines eiskalten, atemlosen Tages.

Rechts von ihr füllten zwei Söhne Na Roquas Säcke mit Salz aus den grellweißen Salzpfannen von Salses. Hinter ihnen standen nackte Weinstöcke in ordentlichen Reihen, bereit in der nächsten Saison die Trauben für frischen Salses-Wein zu tragen, der so herb war, dass sich Rüstungen damit säubern ließen.

Aber es war das Meer, dessentwegen Adelia hier hinaufgestiegen war. Blau und golden lag es in der aufgehenden Sonne, friedlich, und seine Berührung der Küste war wie der regelmäßige Atmen eines Kindes, sein einziger Schmuck die draußen liegende »St. Patrick«. O’Donnells Schiff wiegte sich ruhig am Anker, während seine Passagiere in hellem Aufruhr waren, einige aus Sorge um ihre Prinzessin, Doktor Arnulf aus Verbitterung und Wut, und keiner von ihnen konnte etwas tun, es sei denn, er schwamm die paar Meilen zur Küste.

Adelia hätte alles gegeben, um ihren Platz mit denen da draußen zu tauschen. »Vater, hilf mir!«, sagte sie, und es war nicht einfach nur Gott, zu dem sie betete, sondern sie richtete sich auch an den Juden, der sie großgezogen und genau dem ins Auge gesehen hatte, dem sie sich jetzt gegenüber fand.

Die Verantwortung erdrückte sie. »Vater, hilf mir. Das einzige Wesen, dem ich mich in den letzten Monaten mit einem Messer genähert habe, war eine Ziege, und die war tot.«

Sie hörte einen Schrei hinter sich, wo Mistress Blanche, gefolgt von O’Donnell, die Treppe zur Mauer heraufgelaufen kam. »Warum steht Ihr hier? Warum tut Ihr nichts?«

»Weil das, was ich tun muss, sie töten könnte«, sagte Adelia, den Blick immer noch aufs Meer gerichtet. Sie holte tief Luft und drehte sich zu den beiden um. »Ich kann sie nicht gesundzaubern. Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich bin nur eine Ärztin. Wisst Ihr, da gibt es ein Organ in unserem Körper … hier.« Sie drückte sich die Hand rechts unten auf den Leib. »Manchmal versagt es …« Sie überlegte, ob sie vom Eiter und den Fäkalstoffen reden sollte, entschied sich aber dagegen. »Ich glaube, das ist bei der Prinzessin der Fall, und es muss entfernt werden.«

»Entfernt werden? Wie?«

»Nun, indem man einen Einschnitt macht und das kranke Organ herausnimmt.« Lieber Gott, wenn es nur so einfach wäre.

»Mit einer Schere? Wie man Kleider zuschneidet?« Blanches Kenntnisse von Einschnitten beschränkten sich auf das Schneidern.

»Ja, nur dass wir ein Messer benutzen.«

Bis dahin war Blanches Ausdruck wild und aufgewühlt gewesen, jetzt wurde sie totenbleich. »Ihr macht ein Loch? In die Haut?«

»Ja. Und nähe es hinterher wieder zu.«

»Aber dann hat sie eine Narbe, oder?«

»Ich fürchte, ja …« Sie wollte weiterreden und der armen Frau erklären, dass ihre Prinzessin keine Schmerzen erleiden würde, denn trotz Doktor Arnulfs empörten Versicherungen, dass er der Kirche gehorche, was den Einsatz von schmerzlindernden Mitteln anging, hatte er die entsprechenden Mohnzubereitungen sämtlich in seiner Tasche.

Das war jedoch nicht die Sorge der Hofdame. »Das geht nicht.« Sie wandte sich zur Treppe, als wollte sie zu Joanna eilen und sie beschützen, doch der Ire hielt sie auf. »Moment, Blanche. So hört der netten Ladyschaft doch erst einmal zu!«

Blanche schlug auf ihn ein. »Versteht Ihr denn nicht? Er wird sie zurückweisen. Liebe Muttergottes, er wird sie zurückweisen.«

Adelia begriff nicht, was Blanche meinte. »Die Prinzessin ist sehr krank, und es gibt nur diese eine kleine Chance, dank der ich ihr Leben retten könnte.«

Blanche legte die Hand auf den Mund und begann sich hin- und herzuwiegen.

O’Donnell nahm Adelias Arm und führte sie ein Stück die Mauer entlang. Die Sonne hob die Falten in seinem Gesicht hervor, und die Augen, denen sie so misstraut hatte, schienen unendlich müde. »Die Ärmste schwimmt zwischen Skylla und Charybdis, Mistress«, sagte er leise. »Einerseits will sie verzweifelt das Leben ihrer Herrin retten, andererseits, wenn die Prinzessin diese Prozedur überlebt … wird sie das?«

»Ich weiß es nicht.«

Er nickte. »Also, wenn sie es überlebt, ist sie nicht mehr vollkommen, versteht Ihr? Dann trägt sie die Narbe einer unheiligen Operation, ist gleichsam eine beschädigte Ware. König William könnte sie zurückweisen, vielleicht muss er es sogar. Ich weiß es nicht. Und wie würde Euer guter Henry diese Erniedrigung aufnehmen? Eine verschmähte Tochter? Es hat schon Kriege aus unwichtigeren Gründen gegeben.«

Adelia begriff. Sie redeten hier nicht einfach über eine kranke Patientin, sondern über ein Stück Handelsware zwischen Königen und Ländern. Das Mädchen, das drüben im Bergfried auf dem Tisch lag, war von internationaler Bedeutung. Falls Joanna die Operation nicht überlebte, was wahrscheinlich war, würde Adelia beschuldigt werden, sie umgebracht zu haben. Wenn sie aber überlebte, so wie zwei von Doktor Gershoms Patienten überlebt hatten, wäre ihr Eingriff dafür verantwortlich – wie hatte es dieser Mann gerade ausgedrückt? – eine Ware, eine königliche Handelsware verdorben zu haben. Im einen wie im anderen Fall würden die politischen Auswirkungen nicht nur sie, sondern den ganzen Kontinent betreffen.

Dass eine Operation, welcher Art auch immer, der Lehre der Kirche zuwiderlief und drastisch bestraft wurde, hatte sie gewusst. Das galt für alle Eingriffe und wurde von denen als Risiko akzeptiert, die solcherlei Dinge beherrschten und ihren Beruf mit genug Leidenschaft ausübten, um sie zur Rettung ihrer Patienten einzusetzen – ohne es an die große Glocke zu hängen. Dass die Schule in Salerno Operationen erlaubte, brachte sie ins mögliche Schussfeld der Kirche.

Und das jetzt, dieser Eingriff, würde sich nicht verbergen lassen. Joannas Körper war ein Geschenk des englischen Königs an den König von Sizilien, und wenn er in der Hochzeitsnacht aus dem Geschenkpapier gewickelt wurde, würde sein Makel entdeckt werden. Das Juwel wäre entstellt, befleckt durch einen in den Augen der Kirche und sicher auch ihres königlich-christlichen Ehemannes übelsten Akt der Gottlosigkeit.

Adelias bedachte all das, bedachte die weitreichenden Folgen und begriff, dass es am Ende keinen Unterschied machte.

Sie sah den Iren an. »Es ändert nichts«, sagte sie. »Das kann es nicht. Ein Arzt ist nur seinem Patienten gegenüber verpflichtet. Joanna liegt im Sterben, und da es nur eine Möglichkeit gibt, sie zu retten, muss ich diese ergreifen.«

»Wie stehen die Chancen?«

»Nun, ich bin nicht die Erste, die es probiert. Mein Lehrer hat einmal einen alten Mann operiert, aber der ist gestorben. Es war zu spät, das Organ war geplatzt und hatte sein Gift vergossen. Mein Vater … ich habe ihm geholfen, als er zwei Patienten damit gerettet hat, beides Kinder.« Es war seltsam, dass dieses Problem so oft junge Menschen betraf. »Und ich war noch bei drei anderen Eingriffen dabei, bei denen die Patienten es nicht überlebt haben. Es ist ein fürchterlich großes Risiko.«

»Aber Ihr wisst, wie es geht?«

Tränen ließen ihre Augen glitzern. »O’Donnell, ich will das nicht tun. Ich will es nicht, aber ich muss. Ich kann sie nicht einfach so sterben lassen.«

»Ja«, sagte er sanft. »Deshalb liebe ich Euch.«

Er betrachtete ihr Gesicht und streckte behutsam einen Finger aus, um ihr erstaunt herabgesunkenes Kinn anzuheben. »Wusstet Ihr das nicht? Ach, es ist auch nicht wichtig.«

Nicht wichtig? Nicht wichtig? Er verblüffte sie. Alles, was sie zu sagen vermochte, war: »Warum?«

Er musste lächeln. »Also, wenn ich die Antwort darauf wüsste, warum die Sonne jeden Tag auf- und untergeht …«

Sie hätte in diesem Moment alles getan, alles, um diesem wunderbaren Mann, dem sie doch alles verdankte, mit seinem Schmerz zu helfen. Alles, um ihm nicht wehzutun. Aber das Eine, was er sich von ihr wünschte, konnte sie ihm nicht geben.

»Das habe ich nicht gewusst«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid. So leid.«

»Das ist nicht nötig. Aber ich musste es sagen. Und jetzt geht und macht Euch fertig!«

 

Der Operationstisch, sagte Gershom, sei ein Altar, auf dem der Arzt sein Bittgesuch an Gott richte, und er müsse wie alle Altäre makellos sein. So wie ein Mann, der am nächsten Tag zum Ritter geschlagen wurde, vor seiner Nachtwache in der Kirche ein Bad nahm, mussten der das Bittgesuch stellende Arzt und seine Gabe vor Gottes Angesicht gesäubert werden, damit Gott, nahm er das Gesuch an, die Gabe gesund zurückgeben konnte.

Adelia stürzte sich in die Arbeit. Alle bekamen eine Aufgabe. Die leidende Prinzessin wurde aufs Sofa gelegt, und Ulf und O’Donnell schleppten den Tisch ins Freie, wo das Licht besser war. Dann schrubbten sie ihn ab, wie er noch nie abgeschrubbt worden war. Johanns Messer schimmerten sauber, wurden aber noch einmal in kochendes Wasser gelegt, genau wie die Nadeln und der Seidenfaden aus dem Nähkörbchen, das Mistress Blanche trotz aller Aufregung mitgenommen hatte (zusammen mit ihrem Gesichtspuder, dem Rouge und den Düften).

Alles, alles musste gottgefällig werden.

Als Adelia einen Korb mit Wollfetzen, die sie brauchen würde, ins blubbernde Wasser des Bottichs senkte, fasste Mansur sie am Arm. »Du bist verrückt. Lass das Mädchen! Sie ist in Allahs Händen.«

»Nein, sie ist in meinen. Oh Gott, Mansur, ich habe solche Angst.«

Er seufzte. »Sie können uns nur einmal aufhängen. Was sagten die Gladiatoren in der Arena? ›Die Todgeweihten …‹«

Sie hörte ihm nicht zu. »Säubert Fabrisse unsere Kleider?« Sie musste ihre Sünden abwaschen, ihre Schuld an Brunes Tod und an dem Ermengardes. Sie musste rein sein. Alles musste rein sein.

Der Araber nickte. »Und wie! Wir werden alle blitzsaubere Kleider tragen.« Er erlaubte sich ein Lächeln. »Aber vielleicht sind sie noch etwas nass.«

Und mitten in all dem kam ein Schrei oben aus dem Bergfried. Fabrisse lief hinauf, um nachzusehen, und verzog das Gesicht, als sie zurückkam. »Boggarts Fruchtwasser«, sagte sie. »Das Baby kommt.«

»Nicht jetzt, oh, nicht jetzt!«

»Doch.«

Adelia holte tief Luft. »Ihr müsst Euch um sie kümmern. Nehmt eines der Messer des Schochet. Und Ihr …«, sie wandte sich an Mistress Blanche, »Geht und helft ihr.«

»Aber ich …«

»Helft, habe ich gesagt.« Adelia biss sich auf die Lippe. Schließlich war die Hofdame eine tapfere, liebevolle Frau. »Blanche, meine Liebe, Ihr hattet den Mut, Joanna zu mir zu bringen. Jetzt müsst Ihr sie mir überlassen.«

 

Länger als ein Stunde schon hockten Ulf und Johann mit seinen Enkeln auf dem Hof, in gehöriger Entfernung vom Tisch in der Mitte. Wie Menschen, die einem heiligen, schrecklichen Ritus verfolgten. Was sie ja auch taten.

Trotz der hellen Sonne war es bitterkalt. Mansur stand über den Tisch gebeugt da, hielt mit den langen Fingern der linken Hand die Ränder des aufgeschnittenen Fleisches auseinander, wischte mit der Rechten das Blut ab und zitterte am ganzen Leib. O’Donnell stand daneben an einem kleineren Tisch, auf dem Werkzeuge und Flaschen auf einem Tuch ausgebreitet waren, und auch er zitterte trotz des Kohlenbeckens neben sich.

Joanna war in ihrem Laudanumschlaf eine frische Decke um Kopf, Arme und Beine gelegt worden, aber das Fleisch ihres nackten weißen Bauches war von einer Gänsehaut überzogen. Unten rechts klaffte die Wunde.

Oben im Bergfried kamen Boggarts Wehen schnell und mit großer Kraft. Ihr tiefes, lautes, unfreiwilliges Schnauben schallte wie Hörnerklang über den Hof.

Adelia hörte und spürte von alledem nichts, nichts von der vergehenden Zeit, den Leuten um sie herum und der Angst. Ihr schien nicht einmal mehr bewusst, dass sie hier einen Menschen operierte. Sie kämpfte mit dem Feind, einem prallen, gelblich schimmernden, rotgeäderten, wurmförmigen Zipfel, den sie mit ihrer Pinzette kaum vom übrigen Gedärm losbekam. Er war noch nicht geplatzt, Gott sei Dank! Aber das alles dauerte zu lange.

Endlich hatte sie ihn. Ihn mit der Pinzette haltend, gestikulierte sie in O’Donnells Richtung, ihr ein Messer zu geben, und schnitt ihn ab.

»Das Brenneisen, schnell!«

Es gab ein Zischen. Der Körper auf dem Tisch bäumte sich auf, und Mansur drückte Joanna auf Adelias kurzen Blick hin den Schwamm, den er in der Hand hielt, unter die Nase.

Der Wurm landete in einem Eimer.

Jetzt das Zunähen. »Die Nadel!« O’Donnell gab ihr die gekrümmte Stahlnadel aus Blanches Nähsachen. Am Ende verknotete sie den Faden.

»Den Branntwein.« Sie tropfte Alkohol über die Wunde und bedeckte sie mit feinem Stoff.

Als sie fertig war, nahm Adelia selbst einen Schluck von dem Schnaps, setzte sich auf die Erde und starrte in die Leere, die Flasche immer noch in der Hand.

Sie sah erst auf, als Fabrisse mit einem laut brüllenden Baby auf dem Arm in den Hof kam.

Joanna atmete, aber der Kampf um ihr Leben war noch nicht zu Ende. Jetzt lag alles in Gottes Hand. Adelia hatte ihr Bestes getan. Ob es gut genug gewesen war, musste sich noch erweisen.

 

Ein Weile sah es so aus, als hätte der Herr gegeben und würde nun nehmen. Donnell, wie der neugeborene Junge genannt wurde, machte sich prächtig, während Joanna ins Delirium fiel und Adelia in Panik geriet.

Der Ire ruderte zu seinem vor Anker liegenden Schiff, um den Passagieren zu berichten, dass es mit der Prinzessin noch auf Messers Schneide stehe, »Lord Mansurs Fürsorge« ihr jedoch guttue.

Er ging nicht auf ihre Forderung ein, sie an Land zu bringen, und befahl seiner Mannschaft, alle an Bord zu halten. Wasser, Wein und Essen würden zu ihnen hinausgebracht werden.

Von der Operation wurde niemandem etwas gesagt. Starb Joanna, war sie der Krankheit erlegen, die der Grund für ihre Entführung gewesen war, was Mansur und Adelia einen gewissen Schutz bot. Wobei sie von Arnulf und den anderen sowieso für den Tod der Prinzessin verantwortlich gemacht werden würden, aber das Verschweigen der Umstände würde sie vielleicht vor der sonst so gut wie sicheren Hinrichtung retten.

Selbst Henrys II. Zuneigung zu Adelia würde kaum Bestand haben, wenn er erfuhr, dass seine Tochter gestorben war, nachdem sie ihr den Leib aufgeschnitten hatte.

Zweilfelhaft war, ob Blanche dauerhaft zu schweigen vermochte. Sie war zwischen zwei riesigen, sie erdrückenden Felsen gefangen, zwischen die sie sich selbst manövriert hatte. Blanche schüttete ihren Gram und ihre Selbstverdammnis über Adelia aus, während die beiden an Joannas Bett wachten. Einmal hieß es: »Ihr habt sie getötet«, dann wieder: »Ich hätte sie sterben lassen sollen, statt sie zu Euch zu bringen.«

Selbst als Joannas Fieber nachließ, hörten die Ausbrüche nicht auf, allerdings nur, wenn das Mädchen außer Hörweite war: »Was ist sie jetzt? Heilige Muttergottes, Ihr habt sie zugrunde gerichtet.«

Die Narbe würde zweifellos fürchterlich werden. Adelia war keine geschickte Näherin, und als sie Joanna am siebten Tag die Fäden zog, war die Wunde eine schrecklich runzelige Obszönität in dem ansonsten perlweißen jungen Fleisch.

Adelia sagte nichts zu ihrer Verteidigung. Sie war voller Demut. Sie sah in der Wunde ein erstaunliches Sinnbild für die Überlebensfähigkeit des menschlichen Körpers, für die Heilkräfte jungen Fleisches und für die Liebe Gottes, der ihr, der Urheberin dieser Wunde, ihre Kühnheit mit einem Wunder vergeben hatte.

 

So sehr O’Donnell auch drängte, die lange Reise die italienische Küste hinunter zu beginnen, bestand Adelia darauf, dass sich Joanna nach dem Entfernen der Fäden noch eine weitere Woche erholte. Das Kind machte gute Fortschritte, dennoch wies Blanche vorwurfsvoll darauf hin, dass sich die Prinzessen mit einer gewissen Steifheit bewege, als sie am dritten Tag nach dem Fädenziehen, dem zehnten nach der Operation, die ersten Schritte über den Hof machen durfte.

Vier weitere Tage also noch, um den Muskeln Erholung zu bieten und festzustellen, was für ein reizendes Kind sie war. Joanna fehlten Eleonors Unternehmungsgeist und Henrys Herrschernatur, dafür hatte sie aber ihren ganz eigenen Liebreiz. Eine Nähe wuchs zwischen ihnen allen, die der Prinzessin erlaubte, ihre königliche Distanziertheit abzulegen und sich fröhlich und unbeschwert zu geben. Ulf erzählte ihr schauerliche Geschichten von Hereward dem Geächteten, die sie entzückten, auch wenn sich der Großteil der Heldentaten dieses Mannes der Marschen gegen ihren Ururgroßvater William, den Eroberer gerichtet hatte. O’Donnell kannte ähnlich schreckliche Piratengeschichten, und Mansur, für den sie eine große Achtung entwickelte, verfeinerte ihr Schachspiel.

Sie war ganz fasziniert von Boggarts Baby, und wie es die kleinen Finger um die ihren schloss. Sie wollte wissen, ob eine Geburt wehtat – »Mama sagt, nicht sehr« –, und Boggart antwortete taktvoll: »Nicht mehr als von Natur aus.«

Am meisten aber faszinierte sie Adelia. Wie alle praktizierenden Ärzte hatte Doktor Arnulf sie gelehrt, dass die Medizin eine okkulte Wissenschaft sei, zu der allein er den Schlüssel besitze. Dass sie im Gegensatz dazu tatsächlich etwas war, das selbst eine Frau zu beherrschen vermochte, war für Joanna nur schwer zu begreifen.

»Aber wenn Gott bestimmt hatte, dass ich sterben sollte, war es dann keine Sünde, sich gegen ihn zu wenden?«

»Warum sollte Gott etwas gegen unser Wissen bestimmen? Es ist da, eine Quelle der Kraft, die er geschaffen hat, damit wir sie nutzen. Absichtvolles Nicht-wissen-Wollen, das ist die Sünde. Offensichtlich wollte er Euren Tod nicht. Mistress Blanche wusste das.«

»Also war es ein Wunder?«

Oje! Sie wollte das Mädchen nicht glauben machen, dass sie, Adelia, eine Heilige sei. »In dem Sinne, dass die Natur ein Wunder ist. Die Natur hat Geheimnisse, die wir, so wünscht es Gott, lernen sollen. Wenn er es nicht wollte, würde ein Waffenschmied kein Schwert schmieden können, keine Kräutersammlerin wüsste, wie sie die gesundheitsfördernden Eigenschaften der Pflanzen nutzen kann. Ich bin keine Hexe und kann auch keine Wunder wirken. Ich bin nur eine Handwerkerin, nicht mehr und nicht weniger, die in eine Schule gegangen ist, in der man es für richtig hält, die Dinge verstehen zu lernen, die Gott geschaffen hat, um das Leiden Seiner Geschöpfe, von uns Menschen, zu lindern. Wie alle Dinge, die wir tun, hätte auch Eure Operation scheitern können, und so danke ich Gott jeden Tag für seine Gnade, dass es nicht so war.«

Joanna lächelte. »Genau wie ich.« Und dann wurde sie königlich hoheitsvoll: »Mein Vater wird ewig in Eurer Schuld stehen, ebenso wie mein Bräutigam.«

Ihr Bräutigam. Sie war jetzt elf Jahre alt. In Figères hatten sie ihren Geburtstag gefeiert.

Die beiden wurden Freundinnen. Jeden Abend, wenn Adelia nach Joannas Wunde sah, musste sie von ihrer Kindheit erzählen, die der Prinzessin ungeheuer exotisch vorkam. Von Allie ließ sie sich ebenfalls gern erzählen. »Mama liebt Tiere auch sehr. Die beiden werden sich gut verstehen.« Und dann wurde sie plötzlich schwermütig: »Wie schön es sein muss, Allie zu sein.«

Adelia wollte sie in diesem Moment unbedingt aufmuntern, sodass sie aus einem Impuls heraus sagte: »Wir könnten O’Donnell bitten, uns aufs weite blaue Meer hinauszusegeln … um uns davonzumachen.«

»Um Piraten zu werden?« Joanna lachte. »Wie komisch das wäre. Aber warum sollte ich davonlaufen?«

»Nun … nur mal angenommen, dass Ihr Sizilien nicht mögt.«

»Aber ich werde es mögen. Es ist meine Pflicht, ich werde seine Königin.«

Adelia kam nie wieder auf dieses Thema zu sprechen. Wenn es etwas Stählernes in Joannas sanfter Seele gab, stand das Wort »Pflicht« darin eingraviert. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, missbraucht zu werden, und wenn doch, hätte sie ihn verdrängt. Was ihr bewusst war, war die diplomatische Seite des Ganzen. Ihr Vater hatte eine ausgezeichnete Ehe mit einem König für sie arrangiert, so wie er es auch für ihre Schwester getan hatte. Es war ihr Schicksal, ein anderes hatte sie nicht.

 

Als Adelia ihre Patientin endlich für kräftig genug hielt, das Château de Salses zu verlassen, und bevor sie hinaus zur »St. Patrick« ruderten, hielt O’Donnell ihr und der ganzen Gesellschaft »privatim et seriatim«, so nannte er es, einen Vortrag darüber, wie notwendig es sei, vorsichtig zu sein.

»Wir wissen nicht, auf welchem verdammten Schiff Scarry mitfährt, wenn er denn noch dabei ist«, sagte er. »Wir mussten das Gefolge auf drei Schiffe aufteilen. Der Großteil der Dienerschaft samt der Pferde fährt auf meiner größten Kogge, der ›La Trinité‹, die zusammen mit der ›Nostre Dame‹ bereits in See gestochen ist. Auf der ›Nostre Dame‹ fährt auch Herzog Richard, und Gott sei Dank Vater Adalburt. Scarry könnte auf beiden sein, aber er könnte sich auch auf der ›St. Patrick‹ versteckt halten. Ich selbst werde zu beschäftigt sein, um mich darum zu kümmern, was er im Schilde führt, muss ich mich doch um Wind und Wetter kümmern. Soweit wir wissen, tragen wir unsere Gans direkt in den Bau des Fuchses, wie meine alte Großmutter zu sagen pflegte.«

Er sah Adelia direkt in die Augen. »Seid ängstlich, die Angst hält euch auf dem Quivive.«

Es lag kein besonderes Gefühl in seinen Worten, keine Zärtlichkeit in seinem Blick. Er hätte genauso gut von einem zerbrechlichen Stück Fracht reden können, das besonders vorsichtig im Laderaum des Schiffes verstaut werden musste. Es war, als hätte er seine Liebeserklärung nie gemacht, und doch bedeutete sie eine Last für Adelia, jene Last, die es bedeutet, eine entgegengebrachte Liebe nicht erwidern zu können.

Hätte sie Rowley nicht früher getroffen, hätte sie diesen Mann lieben können, dachte Adelia. Mutig und selbstsicher, wie er war, mit einer gehörigen Portion Schläue, und darunter versteckt unendlicher Güte.

Aber wie er selbst gesagt hatte, besaß der Mensch so wenig Kontrolle über sein Herz wie über das Aufgehen und Untergehen der Sonne. Und ihres hatte sie bereits einem anderen geschenkt.

Das, was er gesagt hatte, sollte ihrer beider Geheimnis bleiben, nicht mal Fabrisse wollte sie davon erzählen, obwohl ihr dämmerte, dass die es schon die ganze Zeit gewusst hatte.

Lieber Gott, sie würde Fabrisse vermissen, die zu so etwas wie einer Zwillingsschwester von ihr geworden war. Als es jetzt endgültig Zeit für die beiden wurde, sich voneinander zu verabschieden, klammerten sie sich aneinander und wussten kaum ein Wort zu sagen, war doch so gut wie klar, dass sie sich niemals wiedersehen würden.

Endlich machte sich Adelia los. »Ich verdanke dir so viel … Ich kann nicht …«

»Nicht!« Fabrisse wischte sich die Tränen ab. »Du warst für mich … Ich werde nie wieder …«

»Fabrisse, pass auf dich auf! Bitte.«

»Du bist diejenige, die … Pass du auf dich auf!«

Aber als die erwartungsvoll kreischenden Möwen, die ihrem Boot folgten, Adelias Blick auf die kleiner werdende, energisch winkende Gestalt auf der Burgmauer sprenkelten, kam es ihr so vor, als sei nicht sie selbst in größter Gefahr, sondern vor allem diese Frau, die der Kirche trotzte und den Katharern so liebevoll Schutz bot. Für Sekunden loderte ein Scheiterhaufen in Adelias Vorstellung, und auf ihm verbrannte nicht Ermengarde, sondern die verwitwete Gräfin von Caronne.

 

Captain Bolt an Bord der »St. Patrick« hatte die Abwesenheit der Prinzessin, die er doch beschützen sollte, nicht einfach so weggesteckt und griff O’Donnell jetzt mit scharfen Worten an, weil er sie an Land gebracht hatte. So sehr es ihn freute, Adelia wiederzusehen, machte ihn sein Zorn doch unnahbar, und er brauchte ein, zwei Tage, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass sie über Rankins Abtrünnigkeit reden konnten.

Das hob seine Laune auch nicht gerade. »Glücklich ist er? Er hat kein Recht, glücklich zu sein, der verdammte Deserteur.«

Überhaupt waren Adelia und die anderen eher frostig begrüßt worden. Nur die Prinzessin wurde freudig willkommen geheißen, aber auf gewollte, übertriebene Weise, denn insgeheim wurde ihr die Bereitschaft vorgeworfen, unter Zauberern und Fremden wieder zu Kräften zu kommen, statt darauf zu bestehen, möglichst schnell zu ihrem Gefolge zurückzukehren.

Der Empfang, den Joannas Kinderfrau ihr bereitete, war noch der ehrlichste: »Du unartiges kleines Widderchen du. Warum hast du mich nicht mitgenommen? Was haben sie nur mit dir gemacht, so blass, wie du bist? Aber nun, mein Honigtöpfchen, du lebst, und das verdanken wir der Gnade Gottes.«

Blanche wurde von den beiden anderen Hofdamen äußerst schmallippig begrüßt. Sie hatte sich über alle Ränge hinweggesetzt, sich nicht mit ihnen beraten und einen Sarazenen und eine Hexe der Strenggläubigkeit des von Königin Eleonor ausgewählten Arztes vorgezogen.

Was sie sagen würden, wenn sie die Narbe auf Joannas Bauch entdeckten, daran wagte Adelia nicht einmal zu denken.

Der Bischof vom Winchester hielt Blanche und O’Donnell einen Vortrag über ihre Unbesonnenheit, die Prinzessin zu entführen. Joannas gute Verfassung ließ seinen Tadel jedoch gemäßigt ausfallen. Im Übrigen war es auffällig, dass er Mansur und Adelia in seine Dankesgebete für die sichere Rückkehr seiner Schutzbefohlenen nicht mit einschloss.

Vater Guy zeigte sich hart und weigerte sich, das Wort an die beiden zu richten.

Doktor Arnulf versuchte sich zurück in die königliche Gunst zu winden. Es war ein unglücklicher Zwischenfall gewesen, aber er war bereit, ihn zu übersehen. Unter seiner Aufsicht wäre die Prinzessin jedoch nicht so blass geworden und ginge auch nicht so steif.

Joanna wollte nichts davon hören. Sie verdankte Adelia ihr Leben und wusste es, auch wenn sie sich an die Geschichte hielt, dass es Mansur gewesen sei, der ihre Genesung herbeigeführt habe. Beide mussten in ihrer Gegenwart mit Ehrerbietung behandelt werden, und Mistress Adelia rückte sogar so weit auf, dass sie die königliche Kabine mit ihr teilte, und ja, der Hund mit ihr. (Ward wie auch ihr neuer Freund Ulf brachten Joanna zum Lachen.)

Die Narbe auf ihrem Bauch schien der Prinzessin keinerlei Sorge zu bereiten. Vielleicht dachte sie, dass sie niemals entdeckt würde. Nacktheit war für eine Edeldame infra dig, unter ihrer Würde, und sie trug selbst noch in der Badewanne ein leichtes Gewand. Adelia fürchtete, dass dem Mädchen nicht bewusst war, sich spätestens vor ihrem Ehemann ausziehen zu müssen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Joanna überhaupt etwas von der sexuellen Seite der Ehe ahnte.

Wann würde sie das lernen müssen? Was für ein Mann war William von Sizilien?

Als Edeva, Joannas Kinderfrau, Adelia in einem seltenen Ausbruch von Vertrauensseligkeit gestand, das sie ihr »Lämmchen noch nie so munter« gesehen habe wie an Bord dieses Schiffes, hofft Adelia, die Zeit auf der »St. Patrick« werde am Ende nicht die unbeschwerteste in Joannas ganzem Lebens bleiben.

Es war eine kalte Reise, aber unter klarem Himmel. Der Admiral nutzte den strengen Nordwind, setzte alle Segel, die er hatte, und schickte sein Schiff mit großer Geschwindigkeit über die Wellen. Joanna hatte sich an den Wellengang gewöhnt, und auch sonst schlug er niemandem auf den Magen. Adelia verspürte ein beruhigendes Gefühl von Sicherheit, das ihr sagte, dass Scarry nicht an Bord war.

Sie verbrachte so viel Zeit wie nur möglich mit Mansur und Ulf auf dem Achterdeck, sah Italien vorbeiziehen und fragte sich ob einer der Reiter auf der fernen Küstenstraße wohl ein ganz spezieller Mann auf dem Weg nach Sizilien war.

Nach zwei Tagen erbarmte sich der Kapitän. »Falls es St. Albans ist, nach dem Ihr Ausschau haltet, der wird längst ein ganzes Stück weiter südlich sein.«

»Wenn er in der Lombardei nicht aufgehalten wurde«, sagte sie.

»Ach, wie denn? Wenn er gehört hat, dass Ihr unterwegs nach Palermo seid, wird er sich nicht aufhalten lassen und auch dort sein.« Der Mund des Iren verzog sich. »Ich wär’s auf jeden Fall.«

Adelia zuckte zusammen und fragte schnell: »Werden wir Herzog Richard einholen?«

»Wenn’s so weitergeht, überholen wir ihn. Die ›Nostre Dame‹ ist nicht so schnell wie die ›St. Patrick‹. Die ›Dame‹ ist klobiger und muss zwischendurch Futter und Wasser für die Pferde bunkern. Deshalb habe ich dem Kapitän auch Locusta mit an Bord gegeben. Der weiß genau, welches die uns am freundlichsten gesonnenen Häfen sind.«

Noch jemand fehlte unter den Passagieren der »St. Patrick«. »Das war ’ne komische Sache«, sagte O’Donnell, »aber als wir uns in Saint-Gilles eingeschifft haben, wollte unser guter Vater Adalburt, der gar nicht so blöd ist, wie er aussieht, plötzlich unbedingt mit Herzog Richard auf die »Nostre Dame«. Warum, meint Ihr, will der Mann bloß von seiner Prinzessin und seinem Bischof weg?«

»Wenn Ihr mich fragt«, meldete sich Ulf düster zu Wort, »denkt er, die Aussichten beim Herzog sind besser. Da kann er mit auf Kreuzzug gehen, und am Ende wird er Bischof von Jerusalem.«

»Gott sei dem Heiligen Land gnädig!«, sagte O’Donnell, und Adelia lachte.

Dem Iren kam ein Gedanke. »Ein hölzernes Kreuz war das, oder?«, wandte er sich an Ulf und breitete die Hände aus. »So hoch etwa und so breit?«

»Ja.« Ulf hatte immer noch nicht aufgehört, den Verlust seines Kreuzes zu beklagen, nicht so sehr, weil er Angst hatte, Henry II. gegenüber den Verlust zugeben zu müssen – obwohl er sich davor natürlich gehörig fürchtete – sondern weil ihn der Gedanke quälte, dass Artus’ Excalibur in die falschen Hände geraten war.

»Nun, dann kann ich Euch sagen«, fuhr O’Donnell fort, »es wird mir jetzt erst bewusst, aber ich habe gesehen, wie in Saint-Gilles ein Kreuz dieser Größe auf die ›Nostre Dame‹ getragen wurde. Es war ein ziemlich grobes Ding, ganz anders als die mit Edelsteinen besetzten Kreuze, die ebenfalls mit verladen wurden.«

Ulfs Hände ballten sich zu Fäusten. »Wer hat es getragen?«

Der Ire zuckte mit den Schultern. »Einer von der Mannschaft, denke ich.«

Ulf sah Adelia an. »Scarry. Ich hab’s Euch doch gesagt. Ich hab’ doch gesagt, dass das im Stall Scarry war.«

»Lieber Gott. Das tut mir leid, so leid, mein Junge.«

»Warum muss Euch das leid tun? Ihr habt gesagt, Richard will es, und jetzt hat er es, weil dieser Drecksmörder es ihm sicher verkauft hat.«

Das Schiff kam etwas vom Kurs ab, und O’Donnell ging seinen Steuermann anschreien, dass er auf Wind achten solle.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Ulf.

»Ich weiß es nicht. Da gibt’s nichts, was wir tun könnten.« Außer an der Niedertracht der Männer und ihrer Machtgier zu verzweifeln.

 

Abends, als sie an der Bucht von Neapel vorbeisegelten, kamen alle an Deck, um den Vesuv zu bewundern. Aber der Vulkan sah oben flach und enttäuschend gewöhnlich aus.

Vater Guy nahm die Gelegenheit für eine Predigt aus dem Stehgreif wahr und erklärte, dass der von Plinius dem Jüngeren beschriebene Ausbruch Gottes Strafe für die Bürger Pompejis und Herculaneums gewesen sei, wegen ihres Frevels, keine Christen zu sein. »Ganz so, wie unser Herr die Städte des Gefildes verderbt hat.«

Joanna unterbrach ihn: »Mistress Adelia wurde auf den Hängen des Vesuv aufgefunden, richtig, Delia?«

»Ja, dort bin ich gefunden worden.«

»Wie romantisch«, sagte Lady Petronilla mit einem beißenden Unterton. »Wie Moses in seinem Körbchen, nur an trockenerer Stelle.«

»Wenn wir also Sizilien verpassen und aus Versehen in Ägypten landen, haben wir jemanden, der uns wieder hinausführen kann«, sagte Lady Beatrix.

Es wurde kühl. Alle bis auf Adelia und den aufmerksamen Mansur verließen das Achterdeck, weil es unten im Schiff wärmer war.

Wir kommen bald an Salerno vorbei. An den beiden besten Menschen dieser Welt. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben. Lieber Gott, lass sie noch leben, denn dann kann ich sie auf dem Rückweg vielleicht wiedersehen!

Eine Hand berührte ihre Schulter und ließ sie zusammenfahren.

Es war Blanche. »Es sind nur noch ein paar Tage bis Sizilien. Was sollen wir tun? Heilige Muttergottes, was sollen wir nur tun?«

»Ich weiß es nicht«, sagt Adelia. »Aber ich musste gerade an meinem Pflegevater denken. Vor einigen Jahren wurde er nach Palermo gerufen, um sich um König William zu kümmern. Er ist ein sehr guter Arzt, wisst Ihr.«

»William?«

»Mein Pflegevater.«

»Und er hat den König geheilt? Was hatte er?«

»Ich habe ihn nicht gefragt. Er hätte es mir auch nicht gesagt, die Krankheiten eines Patienten sind vertraulich.«

Blanche fing vor plötzlicher Hoffnung an zu stottern. »Vielleicht … vielleicht hat er auch aus William einen Wurm herausgeholt. Glaubt Ihr, der König hat die gleiche Narbe wie Joanna?«

»Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht.«

»Euer Vater könnte Einfluss auf den König haben, er könnte für Joanna ein Wort einlegen.«

Adelia reagierte gereizt. »Warum muss jemand für sie ein Wort einlegen? William hat Glück, er bekommt eine liebe junge Braut statt einer toten.«

Aber Blanche glaubte ein Rettungsboot für den sicheren Schiffbruch entdeckt zu haben, der Joannas Ehe in ihren Augen zweifellos ereilen würde. Innerhalb von Minuten bekniete sie den Admiral, in Salerno anzulegen, um Doktor Gershom an Bord zu holen.

Obwohl er keine weiteren Verzögerungen wollte, willigte der Ire am Ende ein, hauptsächlich, weil er sich Adelias Freude darüber vorstellte, ihre Eltern so bald schon wiederzusehen.

Aber es sollte nicht sein. Als die »St. Patrick« die Punta Campanella umrundete, blies sie ein typischer Mittelmeersturm nach Westen, und als er sie aus seinen Fängen entließ, war das Schiff nördlich von Sizilien und lief direkt in den Hafen von Cefalù ein.

Und dort bat Prinzessin Joanna ihre Freundin Adelia, erst nach der Hochzeit ihre Rückreise nach England anzutreten. »Versprecht es mir, versprecht es mir!«

»Ich verspreche es.«

 

Im dunklen Frachtraum der »Nostre Dame« findet ein Austausch zwischen Scarry und dem Sekretär von Herzog Richard statt, der ihm einen Beutel Gold für ein grobes Kreuz gibt.

Aber der Herzog ist nicht erfreut, wie er es sein sollte, sondern lässt Scarry zu sich rufen. »Es heißt, er ist krank.«

»Nein, Mylord. Es ist nur so, dass ich das Fahren auf dem Meer nicht so gut vertrage. Sonst geht es mir bestens.« Und tatsächlich fühlt sich Scarry schon wieder besser, obwohl er, wenn er allein ist, hin und wieder noch seinen Kopf abschraubt, um ihn zu erleichtern.

»Es heißt, er führt Selbstgespräche.«

»Ich rede nicht mit mir, Mylord, ich bete zu meinem Gott.«

Denn Scarry betet wahrhaftig zum Satan. Und zu Wolf, den er ständig beruhigen muss: »Sie wird in Sizilien sein. Dorthin ist sie befohlen, und dort wird sie sterben.«

Manchmal glaubt Wolf ihm, manchmal nicht, und dann zieht ihr Streit Aufmerksamkeit auf sich.

»Es ist gut, mit dem Allmächtigen zu sprechen«, sagt der Herzog, »aber achte er auf sich, er ist völlig verdreckt! Ich habe keine Verwendung für verirrte Geister.«

Scarry, der Momente herrlicher Klarheit hat, begreift in diesem Augenblick, dass Richard den Dienst vergessen hat, den er, Scarry, ihm erwiesen hat. Scarry ist verzichtbar geworden, der Herzog glaubt, dass das Schwert durch ein Wunder zu ihm gelangt ist: als hätte Gott die Wolken zerteilt und es ihm in die Hände gelegt, damit er es für Sein allmächtiges Ziel einsetzt.

»Mit wem spricht dieser Bastard?«, will Wolf wissen, als der Herzog davongeht.

»Mit dem falschen Gott«, sagt Scarry.