11

Nicht ganz zwei Wochen später rief mich meine Großmutter an. Als ich ihre Stimme hörte, erschrak ich, denn sie meldete sich nur sehr selten telefonisch, und im Allgemeinen bedeutete ein solcher Anruf nichts Gutes. Meine Großmutter, die Hexe, war eine passionierte Überbringerin schlechter, oftmals katastrophaler Nachrichten. Sie sparte sich die üblichen Begrüßungsfloskeln und kam gleich zur Sache.

»Es ist etwas Grauenvolles passiert!«, schrie sie mir ins Ohr, sodass ich zusammenfuhr. Ich hielt den Hörer etwas weiter weg. »Stell dir vor, man hat eine Leiche im Fuchsweiher gefunden! In einem verheerenden Zustand, unkenntlich, man weiß nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Sie muss eine Ewigkeit im Wasser gelegen sein, diese Leiche. Eine Tragödie, Sissi, eine Tragödie! Wie steht unser Dorf da? Wie stehe ich da? Wie stehen wir da? Als eine Gemeinschaft von mutmaßlichen Selbstmördern – oder gar Verbrechern! An einen Unfall glaubt doch keiner, dieser unheimliche Weiher mitten im Wald ist die ideale Stelle für einen Freitod oder, noch besser, für einen Mord. Kein Mensch käme auf die Idee, darin zu schwimmen, das Wasser ist schwarz und schlammig. Ekelerregend!« Ich konnte geradezu sehen, wie es meine Großmutter schüttelte. Sie senkte ihre Stimme zu einem angestrengten Flüstern. »Ich sage dir, Sissi, der Ort ist verhext, davon bin ich überzeugt. Man spürt es körperlich, sobald man in die Nähe kommt.« Dann fuhr sie wieder in ihrem normalen, seit dem Trommelfellriss infolge des Blitzunfalls überlauten Tonfall fort. »Übrigens ist der Teich der Lieblingsplatz von Florian, du kennst ihn ja – der geistig umnachtete Bruder von Felix Temmel, dem Forstgehilfen. Er treibt sich ständig dort herum, hockt im Röhricht, sodass man ihn kaum sieht, und starrt stundenlang ins Wasser, hat die Leni Dirnböck gesagt. Tagelang. Und die Dirnböck muss es wissen, sie geht viel im Wald spazieren.« Die Großmutter hielt inne. »Sissi, ich habe ein sehr ungutes Gefühl«, sagte sie dann. In ihrer Ausdrucksweise lag zu gleichen Teilen falsche Besorgnis und Sensationslust. »Höchst ungut. Du weißt, ich habe den sechsten Sinn. Manche Menschen sind damit gesegnet – oder geschlagen, wie man es nimmt. Ich habe ihn jedenfalls von meiner Mutter, deiner Urgroßmutter, geerbt, mir blieb keine Wahl. Es liegt in der Familie. Dir wurde die Gabe leider nicht zuteil – oder zum Glück, das ist Ansichtssache. Jedenfalls hast du keinerlei Verbindung zum Übersinnlichen. Na ja, in deinem Beruf wäre das auch nur hinderlich. Und damit –«

Ich beschloss, meine Großmutter kurzerhand zu unterbrechen.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte ich.

Die Großmutter schwieg, verblüfft über diese ungebührliche Zwischenfrage meinerseits. Dann atmete sie tief ein. Wenn ich mich nicht irrte, bedeutete dies, dass sie zu einer längeren Erklärung ausholte, die atemtechnisch bewältigt werden wollte.

»Es war so«, begann sie. »Der Jakob Zirngast, der Enkel der Kusine zweiten Grades deines Großvaters, der seit drei Jahren mit der Susi Strohmaier zusammen ist, der Tochter des Fahrdienstleiters, neigt zur Melancholie, wie dir sicher bekannt ist.«

»Klar«, sagte ich, der Einfachheit halber. Denn es war mir nicht bekannt, ich hörte zum ersten Mal vom offenbar nicht ungetrübten Glück der beiden jungen Menschen.

»Eine unselige Veranlagung«, fuhr sie fort, »er ist nicht der Einzige in der Familie, der davon betroffen ist. Außerdem trinkt er und ist ein Raufbold. Kein Wunder, dass die junge Strohmaier – ein bildschönes Kind, das muss man ihr lassen – allmählich zugänglicher wird für die Annäherungsversuche der anderen Burschen im Dorf. Unglücklicherweise ist der Jakob auch noch krankhaft eifersüchtig, eine Eigenschaft, die nicht selten mit dem Hang zur Schwermut einhergeht. Du weißt ja, dass der Allmächtige auch die Familie deines Großvaters nicht vor dieser Heimsuchung verschont hat.«

»Ja, das weiß ich«, sagte ich und seufzte zur Sicherheit. Ich wusste es nicht. Doch solche kleinen Lügen kürzten einiges ab.

»Ich könnte dir Sachen erzählen, Sissi – na ja, ein andermal vielleicht.« Meine Großmutter schwieg, vermutlich Erinnerungen nachhängend, bedauerlicherweise nicht lange genug, als dass ich diese Pause zu dem Versuch hätte nützen können, ihren Bericht etwas zu raffen. »Beim letzten Kirchtag hat der Jakob jedenfalls befunden, dass die Susi zu oft mit dem jungen Rupp tanzt, dem Sohn des Tischlermeisters, worauf er sie und den Rupp auf dem Tanzboden zur Rede gestellt hat. In aller Öffentlichkeit! Eine solche Blamage, immerhin ist er entfernt mit uns verwandt, die Schande fällt auf uns zurück. Er hat die Susi gefragt, was sie davon halten würde, wenn er sich umbringt. Die Susi hat gelacht und gefragt, wie er das anstellen will. Da hat er angekündigt, dass er ins Wasser gehen wird, in den Fuchsweiher, und ist weinend weggelaufen. Daraufhin haben plötzlich alle geschwiegen, mit der lustigen Kirchtagsstimmung war es vorbei, die hat der Jakob uns gründlich verdorben. Denn jeder weiß, dass er nicht schwimmen kann und dass der Fuchsweiher an einer Stelle fast zwanzig Meter tief ist.«

»Genau«, sagte ich. Auch dies hatte ich nicht gewusst. Dann schaltete ich mich beherzt ein zweites Mal ein. Es musste sein.

»Und? Hat er sich ertränkt oder nicht?«

Wieder geriet meine Großmutter einen Moment aus dem Konzept.

»Wie? Was? Unterbrich mich nicht, Sissi, sonst verliere ich den Faden. Nein, er hat sich nicht ertränkt, wie sich aber erst nach Tagen herausgestellt hat. Der Jakob war nirgends zu finden, seine Eltern haben sich natürlich entsetzliche Sorgen gemacht und eine Abgängigkeitsanzeige erstattet. Auf diese hin hat die Polizei jeden Kubikzentimeter Wasser des Fuchsweihers durchsucht, auch den stinkenden Schlamm auf dem Grund, mit einem Spezialbagger und mit Schaufeln und Sondierstäben. Frage mich nicht, was ein Sondierstab ist, Sissi – ich glaube, diese Gerätschaften werden auch bei Lawinenabgängen eingesetzt. Das hat jedenfalls dein Onkel Hannes behauptet, aber auf den Verstand dieses Hohlkopfs ist nicht unbedingt Verlass. Schließlich haben dann die Leichensuchhunde angeschlagen, die Köter, die sie eigens aus Graz geholt haben, und man hat eine schauerlich verweste Leiche aus dem Wasser gezogen. Der Binder, unser Gendarm, der dabei war, liegt mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus. Wahrscheinlich werden sie ihn auf die Grazer Nervenklinik verlegen. Er hält nicht viel aus, wie du weißt, er hätte Schneider werden sollen.«

»Das stimmt, der hält nicht viel aus«, wiederholte ich erfreut. Diesmal war ich nicht völlig ahnungslos, denn der Forstgehilfe hatte mich bereits auf die mangelnde seelische Robustheit des Gendarmen hingewiesen, dessen linkes Augenlid zuckte, seit er, wie der Gehilfe behauptete, den Geist meiner Mutter erblickt hatte.

»Und der junge Zirngast?«

»Der ist mit einem Zechkumpan nach Slowenien gefahren und nach einer Sauftour von fünf Tagen aus Maribor zurückgekehrt, in einem fürchterlichen Zustand, wie man sich denken kann. Die Weber Hilde hat mir erzählt, dass die Susi ihm den Verlobungsring vor die Füße geworfen hat, vor allen Leuten, im Gasthaus Zur blauen Traube, wo er gleich weitergetrunken hat. – Aber stell mir nicht dauernd unwesentliche Fragen, es geht hier nicht um den jungen Zirngast, es geht um die Wasserleiche. Wie gesagt, der Binder Karl, der Gendarm, ist zu nichts zu gebrauchen, er liegt bei den Barmherzigen Schwestern und murmelt unverständliches Zeug. Die Polizisten, die am Teichufer herumstehen, ihre Kappen abnehmen und sich den Kopf kratzen, haben keine Ahnung, das sieht man gleich. Und der Amtsarzt, den man sofort gerufen hat – du weißt ja, der Doktor Absolon aus Leibnitz, der senile Trottel –, verrät keine Silbe.« Herr Doktor Absolon war fast zwanzig Jahre jünger als meine Großmutter. »Mit einem Wort, die Dorfbevölkerung tappt im Dunkeln, ein Skandal! Wir haben ein Anrecht auf Aufklärung, es ist schließlich unser Weiher und somit unsere Leiche! Du bist Gerichtsmedizinerin, Sissi, ich bitte dich, komm in deine Heimat und schau nach dem Rechten. Als eine der Unsrigen ist es deine Pflicht!«

Ich kannte meine Großmutter gut genug, um zu verstehen, dass dies keine Bitte war, sondern ein Befehl. Na ja, ich hatte ohnehin vorgehabt, zwei Tage später wieder in den Sausal zu fahren. Stefan hatte mich fast täglich in Wien angerufen, mir beteuert, wie sehr er mich vermisse, und mich beschworen, ihn wieder zu besuchen, sobald ich könne. Nach allem, was ich nun wusste, wäre es fraglos vernünftig gewesen, mich von ihm fernzuhalten, doch ich war nicht bereit, eine Beziehung, die sich endlich zum Positiven entwickelte und sexuell immer aufregender wurde, von einem Tag auf den anderen aufzugeben. Außerdem war ich neugierig. Bevor ich mich zu diesem Schritt entschloss, musste ich noch mehr über die Ehe meiner beiden Freunde herausfinden – und vor allem über das, was mit Regina geschehen war.

Wie gesagt, ich kannte meine Großmutter. Für sie war absolute Sippenloyalität eine Selbstverständlichkeit, sie würde mich nicht in Frieden lassen, bevor ich mit den zuständigen Beamten gesprochen hatte. Den Anfang würde ich mit dem Amtsarzt machen. Vielleicht war es auch möglich, Einblick in die Fotos des Polizeifotografen zu nehmen. Es war zu hoffen, dass man auf dem steirischen Land einem Profi auf dem Gebiet der Rechtsmedizin, der an der Universität Wien arbeitete und lehrte, den ihm gebührenden Respekt bezeugte. Selbst wenn es sich bei diesem Profi um eine Frau handelte.

Einmal mehr fuhr ich also in den Sausal. Diesmal mit Winterreifen.

»Ach, deine Großmutter übertreibt«, sagte Stefan, nachdem ich ihm von ihrem Anruf berichtet hatte. »Klarerweise hoffen die Leute hier, dass es sich um ein Verbrechen handelt – oder wenigstens um einen Selbstmord. Ein Mord wäre natürlich die Krönung, auch wenn er schon länger her wäre. Dann stünde der Ort endlich einmal im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, und das nicht nur als Bezirkssieger im Blumenschmuckwettbewerb. Zeitungsjournalisten, Fernsehleute und Neugierige kämen hierher, noch dazu im Winter, wo sich jeder im Dorf unsäglich langweilt. Ein echter Gewinn. Aber ich wette, die Sache stellt sich als relativ harmloser Unglücksfall heraus.«

Wir saßen in der Gaststube des örtlichen Kirchenwirts und aßen zu Abend. Ich hätte ein italienisches Restaurant vorgezogen, aber das nächste war einige Kilometer entfernt, und da viel Schnee gefallen war, wollten wir nicht mit dem Auto fahren. Stefan, der sich weiterhin von einer sehr einnehmenden Seite zeigte, bestand darauf, mich zum Essen einzuladen.

Das Lokal prangte im schönsten Weihnachtsschmuck. Beim Betreten des Gasthauses hatten wir uns nur mit Mühe an einer monumentalen Krippe in Form eines alpenländischen Bauernhofs, ausgestattet mit bunt bemalten, nahezu lebensgroßen Holzfiguren, vorbeidrücken können, über der ein Stern von Bethlehem mit ausladendem Schweif in allen Regenbogenfarben blinkte. Mitten in der Stube stand eine hohe und breite Tanne, an deren Ästen lange, ebenfalls farbenfroh blinkende Ketten hingen. Aus dem dicken Bauch eines etwa einen halben Meter hohen Weihnachtsmannes mit lachendem Plastikgesicht, der auf einem Fenstersims in unserer Nähe stand, drang in regelmäßigen Abständen das Lied Jingle Bells. Auf dem weißen Plüschrand seiner roten Mütze blinkten unaufhörlich Sterne. All das Blinken, Leuchten, Schillern, Funkeln und Spiegeln machte einen ganz nervös. Ging man durch den Raum, musste man unter den silbern und gülden glitzernden Girlanden durchtauchen, die ihn kreuz und quer durchzogen. Wir hatten gerade eine Schilcherrahmsuppe zu uns genommen und waren vom Genuss des feuerfarbenen Weines der Sorte Blauer Wildbacher, der offensichtlich in großzügigen Mengen zu ihrer Zubereitung verwendet worden war, nicht mehr völlig nüchtern.

»Weiß man inzwischen schon mehr über den Hergang des Todesfalles?«, fragte ich und ertappte mich dabei, wie ich Stefans Reaktion auf meine Frage einzuschätzen versuchte. Überhaupt beobachtete ich ihn nun genauer als sonst, musterte ihn öfter von der Seite, versuchte an seiner Miene abzulesen, was in seinem Kopf vorging. Doch falls er etwas zu verbergen hatte – und das hatte er höchstwahrscheinlich –, ließ er sich nichts anmerken.

»Polizei und Gendarmerie schweigen. Aber ich bin sicher, dass es ein Unfall war, allenfalls noch ein Selbstmord. An ein Verbrechen glaube ich nicht.« Er legte seine Hand auf meine und streichelte sie sacht. »Nicht hier. Nicht in dieser ländlichen Idylle. Ich kenne fast alle Dorfbewohner, es sind einfache, arbeitsame, gottesfürchtige Menschen. Wer würde den Mut zu einer so extremen Tat aufbringen? Ich kann mir wirklich niemanden vorstellen, außer vielleicht …«

Er hielt inne. Dem Wirt, einem kleinen, flinken, schwitzenden Mann mittleren Alters, den seine Frau um Haupteslänge überragte und der eben an unseren Tisch getreten war, um den Braten, Hirschmedaillons mit Sellerienudeln und gedünstetem Kürbis, zu servieren, war offenbar nicht entgangen, was Stefan zuletzt gesagt hatte. Er beugte sich zu uns herunter, seine Stirnglatze gleißte mit dem Weihnachtsschmuck um die Wette.

»Außer vielleicht? Außer vielleicht?«, wiederholte er leise und beantwortete die Frage gleich selbst. »Außer dem jungen Temmel, dem Verrückten, wollen Sie sagen, nicht wahr, Herr Doktor? Wer käme sonst in Frage? Vor drei Jahren ist die alte Frau Baumgartner verschwunden und nie wiederaufgetaucht, wie Sie wissen.« Ich nickte bejahend, obwohl ich es nicht wusste. Meine Wissenslücken im Hinblick auf das soziale Leben in meinem Geburtsort wurden mir langsam peinlich. »Zuletzt wurde sie beim Weiher gesehen. Es ist allgemein bekannt, dass Florian Temmel andauernd in der Nähe des Fuchsweihers umhergeschlichen ist.«

»Ja, jeder weiß das«, sagte ich, da meine Großmutter mich von dieser Tatsache unterrichtet hatte, und nickte wieder, diesmal vehement. Der Wirt blickte mich leicht irritiert an.

»Und dass er der Baumgartnerin nachgelaufen ist wie ein Hund«, setzte er fort. »Sie hat sich sogar beim Binder darüber beschwert. Aber dieser Jammerlappen von Gendarm hat nichts unternommen.«

Stefan nickte langsam zu den Worten des Gastwirts.

»Ich habe mich davor gescheut, es auszusprechen«, sagte er dann, »aber ich fürchte, Sie haben nicht unrecht. Der junge Mann ist stark verhaltensauffällig, das ist unbestreitbar. Er hat schon einige Frauen sexuell belästigt, erst vor kurzem wurde er gegenüber Imelda Fux gewalttätig. Ich bin kein Psychiater, aber ich muss sagen, ich halte ihn für ziemlich unberechenbar, um nicht zu sagen gefährlich.«

Ich starrte Stefan an. Offenbar war auch er zu all jenen zu zählen, die Florian die schändlichsten Handlungen zutrauten. Verfolgte er damit bestimmte Absichten? Der Wirt beugte sich noch tiefer zu uns, sodass ich die Schweißperlen auf seiner Stirn, die großen Poren auf Kinn und Wangen und die borstigen schwarzen Haare, die aus seinen Nasenlöchern ragten, überdeutlich wahrnahm, auch die roten Äderchen in den Augen und auf den Wangen.

Wahrscheinlich eine Bindegewebsschwäche. Oder Trunksucht. Aus nächster Nähe betrachtet, waren die wenigsten Männer schön.

»So ist es. So ist es«, flüsterte er. »Und wissen Sie was? Mein Schwager, der Gemeindesekretär, hat aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass der junge Temmel heute schon im Beisein seines Bruders von zwei Kriminalbeamten aus Graz verhört worden ist. Und zwar verdächtig lange.« Er richtete sich wieder auf und reckte triumphierend das Kinn. »Das sagt doch alles. Mir kann keiner was vormachen. Ich habe es kommen sehen. – Was sagen Sie übrigens zu unserem Festtagsschmuck? Wir sind sehr stolz darauf. Heuer haben wir uns selbst übertroffen.« Er verneigte sich kurz. »Guten Appetit zu wünschen, die Herrschaften!«

Hoffentlich waren die Hirschmedaillons inzwischen nicht kalt geworden.

Am nächsten Morgen rief ich den Amtsarzt Doktor Absolon, den ich flüchtig kannte, in seiner Privatwohnung in Leibnitz an. Stefan schlief noch, es war eine lange und leidenschaftliche Nacht geworden.

Der Arzt musste mittlerweile kurz vor seiner Pensionierung stehen. Er war mir schon vor einem Vierteljahrhundert alt erschienen. Ich hatte ihn als sanften, etwas umständlichen und gehemmten Mann in Erinnerung. Aufgrund meiner Tätigkeit an der medizinischen Fakultät Wien hatte er eine hohe Meinung von mir, und so hoffte ich, ihm die eine oder andere Information entlocken zu können.

»Also – selbstredend bin ich zu strengster Geheimhaltung verpflichtet, was diese Sache betrifft, liebes, verehrtes Fräulein Doktor Fux«, sagte er, nachdem ich mein Anliegen geäußert hatte, »aber ich denke, also, ich denke, in Ihrem Fall darf ich, hm, eine kleine Ausnahme machen. Schließlich sind wir Kollegen, wenn ich das, also, in aller Unbescheidenheit so ausdrücken darf. Viel kann ich Ihnen nicht verraten, ich bitte Sie um Verständnis. Ich habe die Leiche nur kurz besehen, gleich nachdem man sie aufgefunden hatte. An der tiefsten Stelle des Weihers. Sie war, hm, na ja, stark verwest, von Algen bewachsen und durch Tierfraß zum Großteil bereits skelettiert. Also, Sie können es sich ja vorstellen – Fische, Krebse, Schnecken, Blutegel, wahrscheinlich auch Ratten. Da es sich mir um einen verdächtigen Todesfall, also, um ein mögliches Tötungsdelikt zu handeln schien, habe ich sofort veranlasst, dass ein Gerichtsmediziner beigezogen wird. Es ist anzunehmen, dass der Körper sehr lange im Wasser lag. Mindestens, hm, na ja, zwei, drei Jahre. Mehr möchte ich, also, im Augenblick nicht preisgeben, meine Verehrteste. Wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie sich, hm, an Herrn Dozent Doktor Hasiba von der Grazer Gerichtsmedizin wenden, der Ihnen sicher bekannt ist.«

Herr Dozent Hasiba. Ausgezeichnet. Und ob er mir bekannt war. Noch von meiner Studienzeit in Wien. Er war etwa zehn Jahre älter als ich, hatte damals als Assistent am rechtsmedizinischen Institut gearbeitet und war später nach Graz, in seine Heimatstadt, zurückgekehrt. Eine Zeitlang waren wir recht gut miteinander befreundet gewesen, ich war ein paar Mal mit ihm ausgegangen, aber eine engere Beziehung hatte sich nicht ergeben. Zu seinem Leidwesen. Zwar standen wir seit Jahren nicht mehr in persönlichem Kontakt, aber ich war mir sicher, dass er gegen ein Treffen nichts einzuwenden haben würde. Im Gegenteil.

Am Sonntag fuhr ich schon gegen zwei Uhr nachmittags durch eine weite, tief verschneite Winterlandschaft auf der A9 nach Norden. Der Schnee auf den Feldern zu beiden Seiten der Autobahn glitzerte in der Sonne. Wie öfter beim Autofahren hatte ich eine der unzähligen mir von meinem Vater hinterlassenen CDs in den Player geschoben. Yessongs. Manchmal fand ich seinen Achtundsechzigergeschmack gar nicht so übel. A seasoned witch could call you from the depths of your disgrace … Und wenn ich mir seine Musik anhörte, wurde er wieder lebendig, saß neben mir auf dem Beifahrersitz und sang mit. In her white lace, you could clearly see the lady sadly looking, sangen wir gemeinsam mit Jon Anderson. Plötzlich fiel mir ein, dass meine Eltern einander auf dieser Strecke kennengelernt hatten, durch einen unglaublichen, gefährlichen Zufall. Ich hatte mein Leben der Existenz der Pyhrn-Autobahn zu verdanken. Down at the end, round by the corner / Close to the edge, just by a river, sangen wir mit Jon Anderson. Seasons will pass you by. Wirklich nicht übel, Yessongs. Nun weinte ich. Ich wischte mir die Tränen mit dem Ärmel meines Pullis aus den Augen. Die Lenkerin des Wagens, der mich gerade überholte, hupte und schüttelte den Kopf. Ich war auf der Fahrbahn viel zu weit nach rechts geraten. Rasch korrigierte ich den Kurs. Ich blickte auf den Beifahrersitz. Mein Vater saß nicht mehr neben mir.

Am Vortag hatte ich Fritz Hasiba telefonisch erreicht, er war meiner Bitte zugänglich, ja erfreut darüber gewesen, und wir vereinbarten, uns um drei Uhr im Café Erzherzog Johann in der Grazer Sackstraße wiederzusehen. Ich hatte überlegt, Stefan meine Absicht mitzuteilen, mehr über die Leiche im Fuchsweiher zu eruieren, es dann aber gelassen und denselben Vorwand wie bei meinem letzten Besuch gebraucht, um mein frühes Aufbrechen nach Wien zu rechtfertigen. Diesmal schien er mir die Ausrede nicht ganz abzunehmen. Mein Telefonat mit Doktor Absolon hatte ich ebenfalls nicht erwähnt. Wozu auch? Es war ein Auftrag, den ich für meine Großmutter zu erfüllen hatte. Abgesehen davon, dass mich die Sache selbst interessierte. Stefan brauchte nicht über jeden meiner Schritte Bescheid zu wissen. Und ich war mir sicher, dass es sich mit den Bewohnern des Sausal ähnlich verhielt wie mit denen der Insel Procida. Wir brauchen hier keine Schnüffler.

»Ich freue mich so, dich zu sehen, Sissi! Du hast dich überhaupt nicht verändert«, sagte Fritz Hasiba treuherzig und strahlte mich an.

Diese als Kompliment gemachte Behauptung überzeugte mich nicht, sicher war allerdings, dass er sich verändert hatte. Er saß mir seit einer Dreiviertelstunde im sogenannten Wintergarten gegenüber, dem überdachten, mehrere Stockwerke hohen Innenhof des barocken Palais, über dessen Balustraden sich üppige, mit roten und goldenen Weihnachtsgirlanden durchflochtene Grünpflanzen ergossen wie einst in den hängenden Gärten der Semiramis zu Babylon. Auch dieses relativ noble Restaurant war bereits weihnachtlich geschmückt, allerdings wesentlich dezenter als der Kirchenwirt im Sausal. Über uns hing, beunruhigend wie ein Damoklesschwert, ein funkelnder Kronleuchter. Wenigstens blinkte er nicht. Der ehemalige Assistent trank den dritten kleinen Braunen, verschlang in Windeseile sein zweites Stück Apfeltorte und versuchte, durch beständiges Fuchteln seines linken Arms die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu erregen, um ein weiteres zu bestellen. Das wunderte mich, denn er war viel dünner, als ich ihn in Erinnerung hatte, nahezu ausgemergelt. Offensichtlich ein guter Futterverwerter. Seine Gesichtszüge hatten Ähnlichkeit mit einem Totenkopf, die Augen lagen in tiefen Höhlen, die Wangen waren eingefallen, die Nase war klein und spitz, und er hatte fast alle Haare verloren. Vielleicht hatten die vielen Skelette, mit denen wir uns beruflich befassten, bereits auf sein Äußeres Einfluss genommen, was wusste man? Er strahlte mich weiter an, die kleinen Lücken zwischen seinen Zähnen waren mit gelblicher Tortenmasse ausgefüllt. Ich war rückblickend sehr froh, dass wir damals in Wien kein Verhältnis miteinander angefangen hatten.

»Du dich auch nicht«, log ich. »Kein bisschen.«

Er fuhr fort zu strahlen.

»Bist du verheiratet?«, fragte er dann.

»Nein.«

Das Strahlen nahm kein Ende. Der personifizierte Weihnachtsschmuck.

»Ich auch nicht«, gestand er und überlegte kurz. »Dann bist du ja noch zu haben!«, rief er freudig. Er beugte sich über den Tisch, näher zu mir. Zu nahe. »Ganz im Vertrauen, Sissi, du bist die einzige Frau, die ich je heiraten wollte. Bis heute. Die einzige, Ehrenwort.«

Die Kellnerin trat an unseren Tisch. Sie war jung und hübsch, hatte die Hände auf ihrer kleinen weißen Servierschürze übereinandergelegt und lächelte nonchalant.

»Haben der Herr Dozent noch einen Wunsch?«

»Ein Stück Apfeltorte, bitte.«

Das Mädchen blickte verblüfft.

»Noch eines?«, fragte sie.

Der Herr Dozent fuchtelte von neuem herum, offensichtlich mit dem Ziel, die Serviererin zu verscheuchen.

»So gehen Sie schon, gehen Sie schon!«, sagte er gereizt und strahlte nicht mehr. »Und noch einen kleinen Braunen!«

Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war höchste Zeit, das Thema anzuschneiden, das meiner Großmutter am Herzen lag und auch mich interessierte. Fritz Hasiba ging sofort darauf ein, lehnte sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Finger und begann zu dozieren. Unwillkürlich kam mir der Polizist Fausto Sacco von der Insel Procida in den Sinn. Dieser Mann hier war fast zum Gerippe abgemagert, der andere feist wie ein Mastschwein. Dennoch – in ihrer Selbstzufriedenheit glichen sie einander aufs Haar.

»Du weißt, dass ich nicht befugt bin, dir Informationen weiterzugeben. Aber ich kann dein Interesse an diesem ungeklärten Todesfall in deinem Heimatort natürlich begreifen.« Er lächelte mich verständnisvoll an. Die Tortenmasse saß noch immer zwischen seinen Zähnen. Steirische Apfeltorte. Vermutlich aufgeweichte Biskotten. »Man weiß nie, vielleicht kannst du sogar zu seiner Lösung beitragen! In Anbetracht unserer alten Bekanntschaft und der Tatsache, dass du vom Fach bist, halte ich es jedenfalls für gerechtfertigt, dir die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung mitzuteilen. Auf die Feinheiten werde ich nicht eingehen, du kennst dich ja aus.« Er atmete hörbar ein. Wie der italienische Sovrintendente hörte er sich gern reden. »Es handelt sich um ein Tötungsdelikt, Sissi, daran besteht kein Zweifel. Der Tod trat durch Schädelbruch infolge von stumpfer Gewalt ein. Die Leiche wurde mithilfe von Eisenketten mit einem dreißig Kilogramm schweren Betonständer für Sonnenschirme beschwert und im Weiher versenkt.«

Also doch Mord. Meine Großmutter würde sich freuen. Nicht nur sie, das ganze Dorf. Womöglich war es tatsächlich die vermisste Frau Baumgartner? Dann stand es nicht gut für Florian. Ich hatte mich in Regina und in Stefan getäuscht, vielleicht täuschte ich mich ja auch in ihm? Nichts mehr war sicher.

Die junge Serviererin kam mit der bestellten Apfeltorte und setzte den Teller mit schwungvoller Geste vor Fritz ab. Sie grinste ungeniert.

»Hier bitte, der Herr, der kleine Braune und das dritte Tortenstück. Mahlzeit!« Sie begann zu kichern, hielt sich die Hand vor den Mund und entfernte sich eilends. Der Herr Dozent ignorierte dieses respektlose Benehmen, trank einen Schluck Kaffee und sprach weiter.

»Es wird noch etwas dauern, bis aus der weitgehend skelettierten Leiche DNA aus Knochenmarksgewebe isoliert und mit Glück ein Profil erstellt werden kann. Damit wird auch das Geschlecht feststellbar sein. Und hoffentlich einiges Weitere. Fingerabdrücke können nicht mehr abgenommen werden, da sich die Waschhaut bereits vollkommen abgelöst hat und unbrauchbar ist. Aus der Beschaffenheit des Körpers kann geschlossen werden, dass er etwa zweieinhalb Jahre im Wasser gelegen ist. Der oder die Tote war bei Todeseintritt ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Wegen des sehr schlechten Zustandes der Leiche wird die Identifikation nicht einfach werden.«

Die alte Frau Baumgartner konnte es also nicht sein.

Wieder neigte sich Fritz Hasiba über den Tisch zu mir. Sein Atem roch nicht gut, und ich wich ein kleines Stück zurück. Er rückte nach, unerbittlich. »Aber wir haben zwei Besonderheiten entdeckt, Sissi«, verriet er wichtigtuerisch. »Ein Zahnimplantat aus Titan, der rechte mittlere Schneidezahn im Oberkiefer. Und einen schlecht ausgeheilten Drehbruch des linken Unterschenkels. Das Schienbein. Die Kriminalbeamten geben dieses Wissen den Medien allerdings noch nicht bekannt, sie ermitteln zunächst weiter, bis sie mehr in Erfahrung gebracht haben. Ich bitte dich also um absolute Verschwiegenheit.«

Ich sah ihn an. Er bleckte das Gebiss. Der vierte kleine Braune hatte einen Teil der Biskottenmasse weggespült.

»Entschuldige mich bitte einen Augenblick«, sagte ich und stand auf.

»Aber gern, aber gern«, sagte der Dozent und lachte. Ein wenig angenehmes, unechtes Lachen. »Solange du zurückkommst und mir nicht wieder wegläufst …«

Wie ich auf die Toilette gelangt bin, weiß ich nicht mehr genau, ich glaube, eine Kellnerin, die meinen verstörten Zustand bemerkte, begleitete mich hin. Ich betrat die Kabine gerade noch rechtzeitig, um mich nicht auf einem der schönen Teppiche des Palais, auf dem gepflegten Parkettboden oder den spiegelblanken Fliesen übergeben zu müssen. Nachher saß ich noch eine Weile auf dem Toilettensitz. Alle Kraft war aus mir gewichen, ich fühlte mich wie ausgesogen.

Das Implantat, das man ihr nach einem Sturz über die Treppe in der Villa in der Sternwartestraße eingesetzt hatte, bei dem der Schneidezahn ausgebrochen war. Der rechte, mittlere, obere. Der Drehbruch des linken Schienbeins, verursacht durch einen Skiunfall in Zermatt. Wir hatten den Urlaub zu dritt verbracht. Eines dieser Merkmale konnte man unter Umständen noch als Zufall werten. Beide zusammen nicht.

Die Tote war Regina.

Sie lag nicht auf dem Grund des Tyrrhenischen Meeres, vor der Westküste der Apenninenhalbinsel, sondern war erschlagen, in einen dunklen Weiher mitten in einem österreichischen Wald geworfen, von seinen Bewohnern langsam gefressen worden und in seinem fauligen Schlamm verwest. Im Lande ihrer Herkunft. Nicht die Fremde war das Gefährliche, es war die Heimat.

Ich ging nicht mehr zum Kaffeehaustisch im Wintergarten des Palais Erzherzog Johann zurück, an dem ich mit dem Herrn Dozenten Hasiba gesessen war, sondern verließ das Gebäude durch den Hoteleingang, irrte eine Zeitlang in den Grazer Straßen und Gassen umher, bis ich mein Auto gefunden hatte, und fuhr nach Wien weiter. Wie ich es schaffte, wohlbehalten dort anzukommen, ist mir ein Rätsel. Fest steht, dass ich gegen Abend wieder in meiner Wohnung in der Währinger Straße war. Ich stellte meine Tasche im Vorzimmer ab, ging ins Schlafzimmer und verkroch mich in meinem Bett.

Was sollte ich tun? Dass ich der Großmutter meine Entdeckung mitteilte, war für den Augenblick ausgeschlossen. Sollte ich die Kriminalpolizei von dem, was ich wusste, in Kenntnis setzen? Es war nicht anzunehmen, dass es ihr gelang, in absehbarer Zeit eine Verbindung zu Regina herzustellen. Wenn überhaupt. Sie galt offiziell als ertrunken, die italienische Polizei hatte ein Dokument ausgestellt, das dies bestätigte. Niemand zog diese Tatsache in Zweifel. Falls ich den Beamten mein Wissen über das Implantat, den schlecht vernarbten Drehbruch und den Kupferanhänger, den ich bei mir hatte, weitergab, würde Stefan augenblicklich unter schwerem Verdacht stehen. Und ich weigerte mich zu glauben, dass er Regina ermordet hatte. Der Mann, der sich an diesem Wochenende im Bett derart zartfühlend und anschmiegsam verhalten hatte, konnte nicht derselbe sein, der seine Frau mit einem schweren Gegenstand erschlagen und den toten Körper, mit Gewichten beschwert, an der tiefsten Stelle eines dunklen Weihers versenkt hatte.

Nein, es war nicht möglich. Und doch blieb ein Rest von Argwohn. Aber selbst wenn man das Undenkbare dachte und es nicht für gänzlich absurd hielt, dass Stefan dieses abscheuliche Verbrechen begangen hatte: Ich konnte meinem langjährigen Freund und jetzigen Geliebten eine solche Tat nicht zur Last legen. Was, wenn ich ihn zu Unrecht bezichtigte? Ich würde es mir nie verzeihen. Zu verwirrt, um einen klaren Gedanken zu fassen, versuchte ich zu schlafen. Kurz bevor ich einnickte, kam mir der Gedanke, mit Emma über die Angelegenheit zu sprechen.

»Bist du verrückt?« Emma blickte mich entgeistert an. »Du musst der Polizei mitteilen, was du weißt. Es ist doch völlig klar, dass dieser Mensch seine Frau umgebracht hat!« Sie dachte kurz nach. »Ehrlich gesagt, ich fand ihn von Anfang an unsympathisch, das hast du ja gemerkt. Und die Aversion war gegenseitig.«

Es war ein kalter Wintertag, wir saßen an einem Tisch am Fenster in Emmas Wohnung, die in einer ruhigen Seitengasse in der Nähe des Margaretenplatzes gelegen war, in einem kleinen Biedermeierhaus in schlechtem Zustand, und tranken Eisenkrauttee. Die Wohnung war nicht geräumig und auch nicht sonnig, aber man fühlte sich wohl darin. Alle Fenster gingen auf einen Innenhof hinaus, in dem Bäume und Sträucher wuchsen, deren Zweige sich unter dem vielen frisch gefallenen Schnee bogen. Auch auf dem abgenutzten Holztisch und den drei Plastiksesseln, auf denen nie jemand saß, lag eine dicke Schneeschicht. Es sah hübsch aus. Das Rosenbäumchen, das im Sommer dunkelrote, stark duftende Blüten trug, war gegen die Kälte mit Jute umwickelt. Nur die leuchtend blaue Rosenkugel ragte heraus. Im ersten Stock des Hauses gegenüber stand ein junger Mann an einem Fenster, blickte auf einen Notenständer und blies in ein Saxofon. Es war merkwürdig, ihn spielen zu sehen, aber nicht zu hören.

»Ich begreife dich nicht, Sissi«, sagte Emma und schenkte mir Tee ein. »Du darfst diesen Mann auf keinen Fall mehr sehen, auf keinen Fall, verstehst du?«

»Er hat mich über die Weihnachtsfeiertage zu sich eingeladen. Das ist mir wichtig, Emma. Es ist das erste Mal seit Reginas Tod, dass er dieses Fest nicht allein verbringt.«

Reginas Tod. Noch nie hatte ich dieses Wort, so wie jetzt, ohne Zögern ausgesprochen, ohne zu stocken, ohne einen anderen, umschreibenden, harmloseren, ungenaueren Ausdruck dafür zu verwenden.

»Ich werde nicht zulassen, dass du hinfährst!«, rief Emma, stieß in ihrer Erregung mit einer abrupten Handbewegung ihre Teetasse um, nahm eine Papierserviette und wischte den verschütteten Tee damit auf. «Versprich mir, dass du das nicht tun wirst. Dass du dich nicht bewusst in eine gefährliche Situation begibst. Es wäre Wahnsinn. Du musst es mir versprechen, Sissi! Auf der Stelle!«

Ich sah meine Freundin an, die vorhatte, Weihnachten mit ihrem Sohn und dessen Vater zu verbringen. Ihre schmalen grauen Augen mit den jadegrünen Einsprengseln, die ich nach wie vor bezaubernd fand, blitzten. Sie war ehrlich um mich besorgt und würde nicht aufhören, nicht nachgeben, bevor sie mir diese Zusicherung abgerungen hatte.

»Ich verspreche es dir«, sagte ich.